Geheimauftrag im Schattenreich - Kerstin Saure - E-Book

Geheimauftrag im Schattenreich E-Book

Kerstin Saure

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Beschreibung

Nach einem Verkehrsunfall fällt der dreizehnjährige Ben ins Wachkoma. Seine Eltern und die kleine Lisa sind verzweifelt. Was sie nicht ahnen: Ben findet sich in einer anderen Welt wieder, wo er den mysteriösen Auftrag erhält, das Universum vor dem Zerfall zu retten. Die Zeit drängt! Sein "Geheimauftrag im Schattenreich" führt ihn in die geheimnisvolle Unterwelt. Die Aufgabe, die ihn dort erwartet, erscheint unlösbar. Doch Ben gibt nicht auf. Denn wenn er erfolgreich ist, darf er zurückkehren. In seine Welt. Das ist der Deal. Ein mystischer Jugendroman (12+)

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Seitenzahl: 150

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Kerstin Saure, Jahrgang 1959, studierte in Köln Betriebswirtschaft und Wirtschaftspädagogik. Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern im Rheinland und ist als Lehrerin tätig.

Das Schicksal einer Freundin hat sie dazu bewegt, dieses Buch zu schreiben. Es ist Monika gewidmet, die in der Blüte ihres Lebens ins Wachkoma fiel und nie mehr aus dem Schattenreich zurückkehrte.

(bei BoD bereits erschienen: Das Rätsel der villa rustica – Auf Zeitreise im Römischen Reich)

„Spannend! Nicht nur für Jugendliche geeignet ... auch Erwachsene bekommen auf sehr lesenswerte Weise viele Denkanstöße.“ (Heike Herrmann für Radio Erft und Radio Bonn/ Rhein-Sieg)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Prolog

Dieser Tag hätte auch glücklich werden können. Niemand ahnte, was geschehen würde. Es sollte nicht nur Bens Leben, sondern auch das seiner Familie auf den Kopf stellen. Komplett. Von einem Tag auf den anderen.

Zu allem Überfluss war es ein herrlicher Morgen und die Sonne lachte am wolkenlosen Himmel. Im tiefen Schlaf wälzte sich Ben unruhig im Bett hin und her. Das Buch der Klassischen Altertumssagen, über dem er gestern Abend eingeschlafen war, lag aufgeschlagen neben dem Kopfkissen.

Rrrrrrrrrrrr! Schon sieben Uhr? Schlaftrunken schreckte der Junge aus dem Tiefschlaf, tastete nach dem Wecker, stellte ihn ab. Müde setzte er sich im Bett auf und streckte sich. Dann folgte ein herzhaftes Gähnen. Morgens brauchte er ziemlich lange, bis er aus dem Wirrwarr seiner lebhaften Träume erwachte und in die raue Wirklichkeit zurückfand. Und so erging es ihm auch heute. Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, dass dies ein besonderer Tag war. Aber warum? Weil es noch früh war, lief Bens Gehirn auf Sparflamme, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel: Er hatte Geburtstag und wurde dreizehn Jahre alt.

Na, wenn das kein Grund zum Aufstehen war! Fröhlich sprang er aus den Federn. Die Müdigkeit war mit einem Schlag verflogen.

Da ließ sich auch der langweilige Vormittag, der ihn in der Schule erwartete, ohne Murren ertragen. Ben konnte sich wahrlich etwas Interessanteres vorstellen, als Mathe zu lernen.

Für den Nachmittag hatte er Freunde eingeladen. Berge von Mutters selbst gebackenem Schokoladenkuchen warteten darauf, von ihnen vertilgt zu werden. Und zum Abschluss sollte es zur Bowlingbahn gehen. Den Geburtstag in der nahe gelegenen Kletterhalle zu feiern, wäre für Ben niemals in Frage gekommen. Er war nämlich nicht schwindelfrei. Wie er es hasste, von schwindelnder Höhe ins Bodenlose zu blicken! Allein der Gedanke drehte ihm den Magen um. Nicht so wirklich mein Ding, dachte er schaudernd. Aber beim Bowling, da war er fit wie ein Turnschuh. Nicht einmal Philipp, sein bester Freund, kam auch nur annähernd an die hohe Punktzahl heran, die Ben locker erreichte. Sicher lag das nicht nur am Ballgefühl und an der hohen Treffsicherheit. Mit 1,80 Meter war Ben ungewöhnlich groß für sein Alter.

Im Bowling bin ich unschlagbar, dachte er, ich werde sie alle besiegen! Gut gelaunt hüpfte er ins Bad, schlüpfte in die Jeans und zog sich das coole dunkelgraue T-Shirt über. Zur Feier des Tages gönnte er sich heute die funkelnagelneuen Turnschuhe. Nun noch der Haarkleister ... Der Blick in den Spiegel offenbarte es ihm wenig später: Die dunkelblonde Mähne stand nach allen Seiten ab. Auch der Wirbel am Hinterkopf zeigte sich extrem widerspenstig. Na super. Er seufzte und streckte sich selbst die Zunge heraus. Er griff erneut zum Styling Gel, wobei er sich schwor, sich an diesem Tag von nichts und niemanden die gute Laune vermiesen zu lassen. Schließlich war heute sein Geburtstag.

Aus einer Laune heraus steckte er das Multifunktionsmesser mit dem Kompass in die Hosentasche. Man konnte nie wissen. Onkel Martin hatte es ihm zu Weihnachten geschenkt. Billig ist dieses Taschenmesser bestimmt nicht gewesen, dachte Ben stolz. Es eignete sich für so viele Zwecke ... Die Magnetnadel des Kompasses war mit grüner Leuchtfarbe beschichtet und selbst in stockdunkler Nacht gut sichtbar.

Im Treppenhaus wehte ihm der Duft von frisch gebackenem Kuchen entgegen. Als er wenig später die gemütliche Wohnküche betrat, saßen die Eltern und die jüngere Schwester Lisa am festlich gedeckten Frühstückstisch und erwarteten bereits ungeduldig das Geburtstagskind. Mitten auf dem Tisch stand ein Gugelhupf. Im Geburtstagskranz brannten dreizehn Kerzen und verbreiteten behagliche Wärme.

„Na endlich“, rief die zehnjährige Lisa, die Geduld nicht gerade zu ihren Stärken zählte. Wie ein Wirbelwind stürzte sie auf den Bruder zu und umarmte ihn stürmisch: „Guten Morgen, du Langschläfer. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“

Sie betrachtete ihn näher, stutzte: „Wow, siehst du heute chic aus. Bist wohl in den Geltopf gefallen“, neckte sie ihn. Sie gluckste belustigt, schaute ihn erwartungsvoll an.

Cool bleiben, sagte sich Ben und so bestand seine einzige Reaktion darin, gelangweilt die Augen zu verdrehen. Lisa guckte enttäuscht.

Sie ging in die letzte Klasse der Grundschule. So sehr er die kleine Schwester auch liebte: Manchmal war sie ganz schön nervig, fand er. Vor allem, wenn er sich nachmittags mit Freunden traf, um Computer zu spielen. Nicht nur die Spiele, sondern alles rund um den PC machte Ben einen irren Spaß. Deshalb wollte er später einmal – wie der Vater – Informatiker werden.

„Alles Gute, Junge“, wünschten ihm nun auch die Eltern und standen vom Tisch auf. Der Vater schloss ihn fest in die Arme und die Mutter drückte dem Sohn, der an diesem Geburtstag zum Teenager wurde, dezent ein Küsschen auf die Backe. Verlegen wischte sich Ben über die Wange.

Weil die Mutter unbestritten am musikalischsten war, stimmte sie das obligatorische Happy Birthday an. So war es an den Geburtstagen bei Familie Müller seit Jahren Tradition. Laut schmetternd fielen der Vater und Lisa in das Lied mit ein.

Der Vater sang besonders laut. Seine Stimme erinnerte Ben an eine rostige Türangel. Wie schräg ist denn das, dachte er frech.

Der Junge stützte sich auf die Ellenbogen und blies vorsichtig die Geburtstagskerzen aus. Ein liebevoll verpacktes Geschenk lag neben dem Frühstücksteller. Neugierig betrachtete er es. Was mochte da drin sein? Vorsichtig schüttelte er das flache Päckchen, horchte auf das klappernde Geräusch. Er war gespannt wie ein Flitzebogen.

„Na los, mach auf“, ermunterte ihn der Vater. Ihm war die Ungeduld des Sohnes nicht verborgen geblieben.

War es das brandneue Computerspiel, das er sich so sehr gewünscht hatte? Ungeduldig riss Ben die Verpackung auf, musterte mit leuchtenden Augen den Inhalt. Sein Wunsch war in Erfüllung gegangen.

„Wie cool!“ Zufriedenes Strahlen. Die haselnussbraunen Pupillen versprühten eine unbändige Lebenslust. Die Eltern, die dies bemerkten, lächelten. Sie waren sehr stolz auf den großen Sohn. Mutter schnitt für jeden ein extradickes Stück vom ofenwarmen Kuchen ab. Dann setzte sich die Familie fröhlich an den Frühstückstisch. Die Stimmung war ausgelassen.

Bald wurde es für das Geburtstagskind Zeit, zur Schule zu gehen. Ben warf sich rasch die Fleecejacke über. Der Weg war nicht weit, und wenn er sich beeilte, konnte er in zehn Minuten dort sein.

Als er das Elternhaus verließ, blickte er zum Morgenhimmel hinauf. Am klaren Horizont zeigte sich noch immer kein Wölkchen. Es versprach, ein angenehmer Frühlingstag zu werden. Doch nicht alle Versprechen werden wahr.

Unterwegs ging dem Jungen so manches durch den Kopf. Wenn ich mein Leben mit dem von Philipp vergleiche, grübelte er, geht es mir echt super. Vati verdient ‘ne Menge Kohle bei der Bank. Philipps Familie hat Geldsorgen, seit sein Vater arbeitslos ist. Das bisschen Geld, das sie auf der hohen Kante haben, reicht für Urlaub nicht aus, hat Philipp gesagt. Hart. Hoffentlich findet sein Vater bald einen neuen Job! Da darf ich mich wirklich nicht beklagen, dachte Ben. Auch wenn Vati einen Ordnungstick hat und Mutti mit der ewigen Hausaufgabenkontrolle nervt. Meine Eltern sind ganz o.k., und selbst Lisa ist in Ordnung, wenn sie nicht gerade ihre zickigen Fünf-Minuten hat.

Und dann nahm das Verhängnis seinen Lauf. Tief in seine innere Gedankenwelt verstrickt betrat der Junge den Überweg an der verkehrsreichen Straßenkreuzung in Neustadt. Er bemerkte nicht, dass die Fußgängerampel auf Rot umsprang. Schon fuhren die ersten Fahrzeuge an. Plötzlich unterbrach ein quietschendes Bremsgeräusch Bens Überlegungen. Vergeblich versuchte der Fahrer eines Lastkraftwagens, das schwere Gefährt vor dem Jungen zum Halten zu bringen.

Erschrocken wollte Ben auf den Bordstein zurückspringen, sich rasch in Sicherheit bringen. Zu spät! Ein dumpfer Knall. Er segelte einige Meter durch die Luft. Während des Fluges, der nur wenige Sekunden dauerte, vernahm er die aufgeregten Schreie der Menschen. Alles ereignete sich so schnell, dass er gar nicht recht merkte, wie ihm geschah. Sein Körper prallte auf der Straße auf und ihn durchzuckte heftiger Schmerz. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Als er das Bewusstsein verlor, breitete sich eine friedvolle Stille in ihm aus. Die Stimmen um ihn herum verloren sich im Nichts.

Schlagartig kam der Verkehr auf der Kreuzung zum Stillstand. Der Unglücksfahrer des Lastautos und die anderen Autofahrer verließen eilig die Fahrzeuge. Alle liefen zu dem Jungen hin, der ohnmächtig auf dem Asphalt lag. Aus seiner Nase rann ein dünner Blutfaden.

„Er blutet“, rief jemand aufgeregt, „schnell, ruft einen Arzt!“

Einer der Passanten zückte unverzüglich das Handy, und einige beherzte Leute begannen, dem Verunglückten am Unfallort Erste Hilfe zu leisten. Kurz darauf hörten die mutigen Helfer erleichtert das Tatütata des Krankenwagens näherkommen.

Keiner von ihnen bemerkte das silberblonde Mädchen, das an den Straßenrand geeilt kam. Es trug ein schneeweißes Gewand. Mit weit aufgerissenen Augen starrte es auf die schreckliche Unfallszene und schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund.

Kapitel 1

Im ersten Moment war er völlig durcheinander. Was war das für ein Knall gewesen? Wieso war es mit einem Mal so kühl? Und warum lag er auf dem Erdboden?

Verwirrt schlug Ben die Augen auf. Blinzelte. Zuerst erkannte der Junge im trüben Licht nur wenig, außer, dass viele Bäume um ihn herum standen. Ein Wald? Völlig schräg. Wie konnte das sein? Er war doch auf dem Weg zur Schule. Warum war es plötzlich so neblig? Wo war die Frühlingssonne geblieben? Irgendetwas stimmte nicht.

Verstört begriff Ben, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste. Etwas total Krasses. Aber was? Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.

Jetzt bloß cool bleiben, dachte er aufgeschreckt. Irritiert bemerkte er einige Nebelschwaden, die wie finstere Irrlichter orientierungslos umherwallten, um dann in die Höhe zu schweben.

Immer noch auf dem Boden liegend, sah er den seltsamen Schatten verwundert nach. Tänzelnd trieben sie in die hohen Kronen der Bäume empor. Dort vereinten sie sich und legten sich über die Baumwipfel, als grauer Dunst, der das Licht der Sonne verdunkelte und deren Wärme erbarmungslos abschnitt. Deshalb also war es so kalt und verhangen hier unten.

Wie unheimlich ist denn das, dachte er. Seine Beklemmung wuchs. Wo war er? Nicht in Neustadt, soviel war ihm mittlerweile klar. Verdammt, wo war er?

Immer noch benommen, rappelte er sich auf, klopfte sich mechanisch ein paar vertrocknete Blätter von der Kleidung ab. Das Frösteln, das ihn durchlief, bewog ihn, die wärmende Fleecejacke fester um den schlotternden Körper zu ziehen. Alles erschien so fremd. Wohin war er bloß geraten?

Er spürte, dass ihn jemand aus dem Verborgenen beobachtete. Zum Unbehagen gesellte sich nun auch Furcht. Verunsichert drehte er sich um die eigene Achse und ließ den Blick im bedrohlichen Halbdunkel umherschweifen. Wer – war – da? Wie aus dem Nichts stand ihm plötzlich eine zierliche Lichtergestalt im weiten Gewand gegenüber. Erschrocken wich er zurück.

Das junge Mädchen mit dem lockigen Silberhaar starrte ihn nicht weniger erschüttert an. Es mochte etwa in seinem Alter sein und trug ein völlig abgefahrenes Kleid. Die eine Hand hielt es fest vor den Mund gepresst. Aus den veilchenblauen Augen sprach tiefste Bestürzung. Da war aber noch etwas anderes. Ben konnte sich zunächst keinen Reim darauf machen. Es dauerte ein Weilchen, bis ihm klar wurde: Das Mädchen sah aus, als wäre es ertappt worden. Wobei?

Einen Augenblick lang blieben sie stumm, fixierten sich gegenseitig. Eine Schweigemauer des Entsetzens.

Der Junge fasste sich zuerst. „Wo bin ich?“, fragte er.

Auf den Wangen des Mädchens zeichnete sich eine zarte Röte ab. „In der geheimen Zwischenwelt, wie ich befürchte“, erwiderte es leise. Die sanftmütige Stimme klang verwundert und fassungslos zugleich.

Erst schwieg er verdutzt. Dann fragte er: „Wo soll ich sein? In der Zwischenwelt? Was denn für eine Zwischenwelt?“

„Ein Niemandsland zwischen dem Sein und dem Nichtsein.“

Die ist ja völlig durchgeknallt, dachte er alarmiert. „Niemandsland? Sein und Nichtsein?“, fragte er beunruhigt. „Was meinst du?“

„Etwas Unwirkliches, Irreales, Ben. Etwas, das nur in den Köpfen der Menschen und ihren Träumen existiert, ein Produkt menschlicher Fantasie ...“

Das Gespräch wurde immer unheimlicher. Obwohl die Furcht noch verschwommen war, verdichtete sie sich allmählich und begann, langsam Gestalt anzunehmen.

„Woher kennst du meinen Namen?“, fragte er verwirrt. „Wer bist du?“ Er sah dem fremden Mädchen geradewegs ins Gesicht, bohrte nach: „Wer – bist – du?“

Es seufzte „So viele Fragen auf einmal. Fangen wir ganz vorne an: Ich heiße Angela, und ich bin dein Schutzengel.“

Erst jetzt bemerkte Ben das silberne Flügelpaar. Augenblicklich wandelte sich seine Furcht in greifbare Angst. Sprachlos starrte er das geflügelte Wesen an.

Bin ich wach oder träume ich, fragte er sich. Er kniff die Augen fest zu, um sie danach zaghaft zu öffnen. Im Vertrauen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war, hoffte er, im nächsten Moment zu Hause im warmen Bett aufzuwachen. Vergeblich. Nichts hatte sich verändert: Er befand sich nach wie vor in dem nebligen Wald. Das Mädchen mit den silbrig glänzenden Federn auf dem Rücken hatte sich keineswegs in Luft aufgelöst, sondern stand noch immer wie das leibhaftige schlechte Gewissen direkt vor ihm.

Ben verspürte plötzlich eine unerklärliche Eiseskälte im Rücken. Ihm war, als würde sich dort ein eisiger Brocken lösen und sich den Weg bahnen. Der Brocken glitt gemächlich an Bens Rücken hinunter und folgte der feinen Furche der Wirbelsäule.

„Die geheime Zwischenwelt ist die Schwelle zum Schattenreich“, erklärte das seltsame Wesen.

Ben erstarrte. „Schwelle zum Schattenreich?“, fragte er ungläubig. Wo zur Hölle war er?

Das Eis rutschte behäbig weiter. Ohne Hast, aber unaufhaltsam.

„Was bedeutet das alles?“, flüsterte der Junge mit hohler Stimme.

Das Mädchen mit den Flügeln auf dem Rücken erwiderte: „Im Großen Buch der Ewigkeit ist der Name eines jeden Erdenmenschen vermerkt. Ebenso der genaue Zeitpunkt des ihm vorbestimmten Eintreffens in dieser Welt. Aber das Datum hinter deinem Namen stimmt nicht mit deiner tatsächlichen Ankunft überein. Seltsam. Da ist jemand ein grober Fehler unterlaufen. Du bist nicht für eine Reise ins Schattenreich vorgesehen. Noch nicht ... Du bist zu früh hier!“ Sie schnalzte mit der Zunge, schüttelte missbilligend den hübschen Kopf: „Viel zu früh!“

„Zu früh? Für eine Reise ins Schattenreich?“ Rätsel über Rätsel. Bens Verwirrung stieg. Er verstand nichts von dem, was das geheimnisvolle Mädchen von sich gab. Und noch immer war das Grauen im Inneren des Jungen namenlos.

Die beklemmende Stille hielt nur kurz an. Dann, als würde ein Kippschalter umgelegt, machte irgendetwas Klick! in ihm und er wurde leichenblass. Seine Gedanken begannen sich zu überschlagen.

„Du meinst … zu früh, um ins Totenreich zu gehen“, murmelte er fast tonlos.

Wortlos nickte das silberblonde Wesen.

Fassungslosigkeit und Grauen ergriff den Jungen. Er hoffte immer noch, dass ihn seine Ahnung trog.

„Willst du etwa behaupten, dass ich gestorben bin? Tot?“ Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.

Das Mädchen schwieg. Die veilchenblauen Augen flossen über vor Mitgefühl.

Sie ist verrückt, dachte Ben erleichtert. Das war die einzig denkbare Lösung: Diese Angela musste verrückt sein!

Aber das panikartige Gefühl im Bauch sagte ihm etwas anderes. Zaghaft sah er an sich herunter und zuckte im selben Moment zusammen: Die Hose hatte über dem Knie einen Riss, die teure Fleecejacke war verschmutzt und auf dem Marken-T-Shirt prangte breitflächig ein undefinierbarer rostbrauner Fleck.

„Das alles bilde ich mir bloß ein“, flüsterte er beschwörend, „es ist nicht wirklich! Nur ein Alptraum.“ Er zwickte sich so fest in den Arm, dass ihm der Schmerz Tränen in die Augen trieb.

Und wenn es doch kein Alptraum war? Diese bizarre Welt, in der er sich wiedergefunden hatte, konnte keine Gaukelei lebhafter Fantasie sein. Sie erschien zu wirklich. Ebenso wie das eigenartige Mädchen vor ihm, das behauptete, sein persönlicher Schutzengel zu sein. Der Angstschweiß auf seiner Stirn fühlte sich kalt wie der Tod an.

Jäh kam ein Teil der Erinnerung zurück. Das Hupen des Lastwagens ... Quietschende Bremsen ... Der hohe Flug quer durch die Luft ... Der Aufprall auf dem Asphalt ... Der dumpfe Knall ...

Als er sich den schrecklichen Unfall ins Gedächtnis zurückrief, durchzuckte ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Sie kam ohne Vorwarnung und gab dem Grauen endlich den richtigen Namen: Er war – tot.

Tot? Mit dreizehn Jahren? Sein junges Ich weigerte sich, sich dem Unglaublichen zu fügen. Wie konnte es sein? In diesem Alter lag einem doch das ganze Leben zu Füßen. Und seines sollte schon zu Ende sein? Er hatte sich so viel vorgenommen und zahlreiche Pläne für die Zukunft geschmiedet. Er spürte, wie ihm die Kontrolle entglitt. Heiße Tränen schossen ihm in die Augen und brannten unter den Lidern wie Feuer. Er fühlte sich so hilflos und konnte nicht verhindern, dass er am ganzen Leib zu zittern begann. Verzweifelt kauerte sich nieder und zog die Knie an den Körper heran, die Beine mit beiden Armen umschlingend. Ganz fest, wie um sich selbst Halt zu geben. Es ist so ungerecht, empörte er sich im Stillen, mein Leben beginnt gerade erst. Ich darf noch nicht sterben, der Tod muss warten!

Er rätselte über die unerwartete Kehrtwendung, die sein Schicksal genommen hatte. Fragte sich fassungslos, wie das alles hatte passieren können. Er fühlte sich grenzenlos einsam, hineingeworfen in eine unwirkliche Welt, die nicht die seine war. Aber, überlegte er plötzlich, wie war es möglich, dass er echte Tränen weinte? Konnten Tote überhaupt weinen? Und Schmerz empfinden? Das kam ihm sehr unwahrscheinlich vor. Vielleicht war er doch nicht tot ... Nur, wie ließ sich das überprüfen?

Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf, und den probierte er sofort aus: Er zwickte sich erneut kräftig in den Arm. Auaaa!! Das entsetzliche Schweigen war endlich gebrochen