Das Ratstöchterlein von Rothenburg - Else Ury - E-Book

Das Ratstöchterlein von Rothenburg E-Book

Else Ury

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Beschreibung

Deutschland im Jahr 1914: Die 16-jährige Magda Toppler will ihren Traum verwirklichen, das Abitur zu schaffen und zu studieren. In jeder freien Minute sitzt die mutige junge Frau dafür an ihren Schulbüchern und lernt fleißig. Doch ihr Vater, der Ratsherr von Rothenburg, hat ganz andere Pläne für seine Tochter – wie alle Frauen aus der Familiendynastie der Topplers soll Magda Hausfrau werden. Magda will sich damit nicht abfinden und kämpft heimlich weiter für ihre Ziele, doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus und stellt alles auf den Kopf. Kann Magda sich gegen die Härten ihrer Zeit behaupten und ihr Glück finden? -

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Else Ury

Das Ratstöchterlein von Rothenburg

Eine Erzählung für junge Mädchen

Saga

Das Ratstöchterlein von Rothenburg

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1917, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726883718

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

1. Kapitel

Draußen fiel der Schnee, leis und dicht. Er setzte den trutzigen Wehrtürmen der alten Stadt Rothenburg silbernfunkelnde Helme auf das graue Steinhaupt, daß sie so reckenhaft auf das verschneite Taubertal herabblickten wie einst vor sechshundert Jahren. Mit lichtem Hermelin schmückte er die rissigen Festungsmauern, welche die Stadt noch heute umgürten und stülpte den verschlafenen Toren riesige weiße Nachtmützen über die Ohren. Jeden mittelalterlichen Giebel, jeden Erker und jedes Gesims zeichnete er als echter Künstler mit zartfeinem Schneegriffel nach. Flocke auf Flocke glitt hernieder – still, lautlos.

Vor dem runden Mansardenfensterchen des alten Patrizierhauses wuchs das lichtweiße Schneepolster. Junge Augen blickten nachdenklich durch die bleigefaßten Butzenscheiben in das langsame, unaufhörlich sich erneuernde Herabgleiten der Silbersternchen. Wie sicher und unbeirrt ein jedes seinen Weg ging! Ohne Aufenthalt, ohne Rücksicht auf seine Gefährten, in stiller Selbstverständlichkeit seinem Ziele zu.

Den schlanken Kopf mit den schweren rötlich goldenen Flechten in die Rechte stützend, seufzte Magda tief auf. Ach, wer doch auch so selbstsicher seinen Weg verfolgen könnte wie die Schneeflocken da draußen! Wer doch nicht auf Schritt und Tritt von engen Mauern und veralteten Vorurteilen in seinem Streben gehemmt würde!

Die großen, tiefschwarzen Mädchenaugen, die seltsam zu dem Goldton des Haares stimmten, lösten sich von dem steten Flockengeriesel da draußen und wanderten wieder zu dem umfangreichen Wörterbuch, den Büchern und Heften zurück, welche die Schreibtischplatte bedeckten.

Es war ein merkwürdiger Schreibtisch, wie man ihn gewöhnlich wohl nicht in einem Mädchenzimmer zu sehen bekam. Nichts Zierliches hatte er, auf starken, geschweiften Beinen stand er breit und wuchtig in seinem alten Nußbaumkleide da, mit hohem Aufsatz und schwerer Klappe, mit vielen, vielen Fächern, Kästen und Schüben. Der geschnitzte Löwenkopf, der ihn bekrönte, hatte sicher schon dereinst auf ehrwürdige Ratsherren mit der Zopfperücke herabgeblinzelt, auf dicke Lederfolianten, Gänsekiel und Schnörkelschrift.

Viele Generationen des Patrizierhauses Toppler hatte der alte Sekretär kommen und gehen sehen. Manch kluger, ernster Mann hatte von ihm aus die Stadt Rothenburg regiert. Aber eine Frau, nein, eine Frau hatte niemals das Haupt über seine blankpolierte Platte gebeugt.

Oder doch – vor vielen Jahrhunderten ... hatte er da nicht schon mal auf solch goldflimmerndes Frauenhaar herabgeschaut? Aber das war so lange, lange her ... der alte Geselle konnte sich nicht mehr darauf besinnen, denn sein Gedächtnis hatte schon arg nachgelassen.

Was wollte der junge, liebreizende Mädchenkopf da bloß mit all der Gelehrsamkeit? Mißbilligend blickte der alte Schreibtisch auf die lateinische Ausarbeitung, auf Virgil und Mathematikaufgaben. Trotzdem es nun schon fast ein Jahr war, daß Magda ihn aus der Vergessenheit des Rumpelkammerlebens gezogen hatte, daß er seinen Platz hier in ihrem Mansardenstübchen bekommen, konnte er sich noch immer nicht mit diesem neumodischen Kram abfinden. Solch junges Ding gehörte an den Nähtisch drüben auf dem Fenstertritt. Da hatten ihre Großmütter und Urgroßmütter die fleißigen Finger geregt, wenn sie nicht im Haus und am Herd schafften. Aber der Nähtisch, der aus demselben hellen Nußbaumholz und nicht viel jünger war als er, erfreute sich lange nicht so der Zuneigung des jungen Fräuleins wie er selbst. Dabei sah er doch mit seinem weißen Häkeldeckchen und dem Rubinglas darauf mit Kiefergrün und roten Beeren einladend genug herüber.

Unzufrieden knarrte der alte Schreibtisch in allen seinen Fugen. Aber das machte auf Magda Toppler nicht den geringsten Eindruck. Emsig eilte ihre Feder über die weißen Blätter, nur hin und wieder eine kleine Pause zum Nachschlagen im Lexikon oder zum Stirnkrausziehen lassend.

So vertieft war das junge Mädchen in seine Arbeit, daß es nicht merkte, daß die alte Pendeluhr unter der Glasglocke, die den Platz auf der schön geschnitzten Kommode inne hatte, vier dünne Schläge mit altersschwacher Stimme durch das Stübchen schwingen ließ. Es hörte nicht das Tappeln von kleinen Kinderfüßen draußen auf der Holzstiege. Erst als die Tür ohne Umstände aufgerissen und ein blondes Dingelchen, gefolgt von einem genau so großen schwarzen Pudel, ins Zimmer stürmte, fuhr Magda erschreckt aus ihrer Versunkenheit empor.

»Tante Brigitte läßt fragen, wo du denn steckst, und Vater, was du wieder treibst, daß du nicht zum Kaffee herunterkommst. Werner ist auch noch nicht zu Haus, trotzdem die Schule schon um drei aus ist. Und Tante Brigitte will mich nicht mit meinem neuen roten Weihnachtsschlitten in den Schnee hinauslassen, sie sagt, ich hole mir bestimmt den Tod. Ach, liebstes, aller-aller-allerbestes Magdachen, sag' ihr doch, daß ich mir den Tod nicht holen werde!« Zärtliche kleine Arme schlangen sich um den Hals der großen Schwester, schwarze Hundepfoten legten sich auf ihren blauen Blusenrock. Das Tintenfaß geriet bei dem unvorhergesehenen Ansturm bedenklich ins Wanken.

»Ich komme schon, Trautchen – da hab' ich doch tatsächlich die Uhr überhört.« Magda schlug das Lexikon eiligst zu. Denn in bezug auf Pünktlichkeit verstand der Vater keinen Spaß.

»Was arbeitest du denn bloß immer – du bist doch schon groß!« Fragend sahen die strahlendblauen Kinderaugen auf die beschriebenen Blätter. Auch Peter, Tante Brigittes Pudel, schnupperte neugierig.

Hastig, wie auf einer verbotenen Tat ertappt, schloß Magda Hefte und Bücher in den alten Sekretär, trotzdem das Kleinchen noch gar nicht lesen konnte. Klapp – machte der und ließ dröhnend seine schwere gewölbte Holzklappe herunterrasseln.

Trautchen jauchzte, als geschehe dies eigens zu ihrem Privatvergnügen. Sie vergaß darüber, daß die Schwester ihre Frage überhaupt nicht beantwortet hatte. Nachdem die Kleine noch ganz geschwind das bunte Fensterglasbild, durch das die Schneeflocken draußen so schön blau, rot und grün aussahen, bewundert hatte, nachdem Magda nun schon zum drittenmal »komm, Liebling!« gerufen, trennte sie sich endlich von dem Stübchen der großen Schwester, in dem Trautchen nur gar zu gern weilte.

Um die Wette ging es zwei- und vierbeinig die gewundene, schwereichene Treppe mit den schöngeschnitzten Holzpuppen herab. Über die Diele, in der die großen Nürnberger Schränke die dunklen Nischen füllten, zum Eßzimmer. Dasselbe war ein großer, ziemlich niedriger Raum, holzgetäfelt, mit klosterartiger Deckenwölbung. Zinnteller und Humpen blitzten aus den Wandbrettern im Schein der elektrischen Glühbirnen, die wie aus einer anderen Welt die altererbten Familienmöbel des Patrizierhauses bestrahlten. Elektrisches Licht – das war das einzige Zugeständnis, das der mit allen Fasern am Hergebrachten hängende Ratsherr der modernen Zeit gemacht hatte.

Er hob den schmalen, scharfgeschnittenen Charakterkopf, der fast allen Topplers eigen, beim Eintritt seiner beiden Töchter nicht von der Zeitung. Nur an dem Runzeln der blondbuschigen Augenbrauen erkannte Magda, daß der Vater ärgerlich war.

Auf dem grünen Ripssofa mit weißgehäkelten Schonern saß Tante Brigitte. Ihre zierlichen Finger warfen das Elfenbeinschiffchen hin und her zu kunstvoller Frivolitätenarbeit. Das war aber wohl auch das einzige, was die alte Tante jemals in ihrem Leben mit diesem Worte zu tun gehabt hatte. Denn ihr gütiges Herz konnte keiner Fliege ein Leid antun. Auch jetzt blickte sie unter der schwarzen Spitzenbarbe, die sie über dem grauen Scheitel trug, ängstlich von der unpünktlichen Großnichte zu dem Ratsherrn, ehe sie behutsam den Kaffeewärmer mit Perlstickerei von der bauchigen Kanne hob.

Entschuldige, Vater,« wandte sich Magda zu dem Zeitunglesenden. »Ich war so vertieft, daß ich das Schlagen der Uhr überhört habe.«

»Vertieft – worin, Magda? Welche wichtige Beschäftigung kann dich derart in Anspruch genommen haben, daß du die Pünktlichkeit, die stets alle Topplers ausgezeichnet, und auf die ich daher ganz besonderen Wert lege, außer Acht lassen konntest?«

Magda schwieg verlegen.

Klein-Trautchen aber rief lachend: »Schularbeiten hat sie gemacht, die große Magda – hahaha – Schularbeiten wie der Werner!«

Das zarte Mädchengesicht übergoß dunkle Röte. Es versuchte möglichst hinter der großen Blümchentasse, die Tante Brigitte sorglich mit duftendem Kaffee gefüllt, zu verschwinden.

»Hör' mal, mein Kind,« der Vater blickte ernsthaft auf die verlegene Tochter. »Es ist ja ganz gut und schön, daß du das in der Schule Gelernte noch fleißig wiederholst und vertiefst. Aber du bist nun fast siebzehn Jahre alt, da gibt es doch weiß Gott für dich wichtigeres hierzu schaffen, als die Nase in Schulbücher zu stecken. Sorge lieber dafür, daß der Werner das tut, anstatt sich in dem Schneewetter herumzutreiben und die Kaffeestunde zu versäumen. Gehe Tante Brigitte mehr zur Hand, sie ist nicht die Kräftigste und den Anforderungen des großen Haushaltes kaum noch gewachsen. Wenn die Siebzig nicht mehr so recht wollen, müssen die Siebzehn einspringen, was, Tante?« Ratsherr Toppler griff dankbar nach der Hand der alten Dame, die ihn selbst, den früh Verwaisten, den rechten Weg geleitet und sich später auch seiner mutterlosen Kinder angenommen.

»Es geht schon noch, Heinrich, es geht schon noch,« nickte Tante Brigitte mit verschämtem Lächeln und zupfte ihre weiße Spitzenmanschette, welche die derbe Männerhand etwas zerdrückt, wieder tadellos. »Laß nur das Magdachen bei ihren Büchern, wenn es ihr Freude macht. Ich schaffs schon noch ein Weilchen allein. Nur die schwarzen zerlöcherten Kinderstrümpfe – ja, da wollen die alten Augen abends nicht mehr ihre Schuldigkeit tun.« Sorgenvoll ruhte Tante Brigittes Blick auf einem altmodischen mit bunter Rosenflickerei verzierten Korbständer, in dem sich ein ansehnlicher Berg Strümpfe türmte.

»Ja, wozu ist denn die Magda da, wenn sie nicht im Haushalt hier ihre Pflicht tun sollte! Nimm dir den Strumpfkorb vor, Kind, der ist mir lieber für meine Tochter als Blaustrümpfigkeit. Die gehört nicht in die Topplersche Familie. Was, Tante – die Frauen aus unserem Hause waren alle ehrsame, tugendsame Hausfrauen, wie sie nicht so bald wieder in ganz Rothenburg zu finden gewesen sind!« Stolz glitt des Ratsherrn Auge die stattliche Bilderreihe über dem grünen Ripssofa entlang. Es waren die Ahnenbilder, alte Ölgemälde. Schmale, scharf geschnittene Männergesichter, wie es auch Magdas Vater aufwies, und blonde Frauen in reicher Patrizierkleidung, blauäugig, sanft und milde.

»Ja, ja – so ist's l« Tante Brigittes Schiffchen, das unaufhörlich zwischen den weißen Fäden hin- und herflog, durfte ein wenig verschnaufen. »Die Topplerschen Männer haben Rothenburg einst groß und berühmt gemacht, und die Frauen inzwischen daheim in stiller Arbeit durch sparsames Walten den Wohlstand gemehrt.«

»Auch jene, Tante?« Magda, in deren offenem jungen Gesicht das Blut kam und ging, als kämpfe sie mit einem aufregenden Entschluß, wies mit dem ausdrucksvollen Kinn, das sie vom Vater geerbt, zu einem kleinen ovalen Frauenbildchen an der Wand. Es war stark nachgedunkelt, aber trotzdem erkannte man noch ein liebreizendes, junges Gesicht mit großen, schwarzen Augen, die im Gegensatz zu allen den andern sanften Frauenaugen feurig den Beschauer anblitzten. Rotgoldenes Haar lockte sich um die weiße Stirn.

Tante Brigitte ließ den milden Blick zwischen dem alten Bild und dem jungen Großnichtchen langsam hin- und herwandern. Und was sie schon oft empfunden, drängte sich ihr wiederum in diesem Moment auf – die unverkennbare Ähnlichkeit, die Magda mit jenem Bilde hatte.

»Ja, die – die war anders, als die Topplerschen Frauen es zu sein pflegten. Die hatte welsches Blut von ihrer Mutter her in den Adern – das ließ sie die Grenzen der Weiblichkeit überschreiten und – – –«

»Und hat die Stadt, den Rat, ja ganz Rothenburg durch ihre sogenannte Unweiblichkeit errettet,« rief Magda, und ihre schwarzen Augen flammten zum Bilde der Urahne hin. »Du selbst, Tante Brigitte, hast mir oft genug die Heldentat der schönen Magdalena Hirsching, nach der ich heiße, erzählt. Oh, ich wünschte, ich wäre wie sie!«

»Da decken sich unsere Wünsche nicht, mein Kind. Ich möchte, daß meine Tochter sich weiblichere Vorbilder unter den Topplerschen Frauen sucht. Vor allem deine Mutter, die leider zu früh von uns gegangen.« Der Ratsherr fuhr mit der Hand über die Augen.

Magda löste den Blick von dem Bilde der Urahne und wandte ihn dem feinen Pastellbilde zu, das in der Mitte den Ehrenplatz unter all den Porträts innehatte. Grüner Efeu schlang sich um den schmalen Goldrahmen.

Nein, sie bekam es jetzt nicht fertig, dem Vater das zu sagen, was ihr das Herz und die Zunge abdrückte, und was sie schon monatelang kämpfend mit sich herumtrug. Vorhin, als von der mutigen Heldentat der Magdalena Hirsching die Rede gewesen, ja, da hatte sie die Kraft in sich gespürt, es mit den Vorurteilen, die hier in allen Winkeln und Ecken des alten Hauses nisteten, aufzunehmen. Da hätte sie es herausrufen mögen: »Vater, laß mich studieren, schicke mich aufs Gymnasium, ich bin anders als die Topplerschen Frauen waren, ich bin ein Kind der neuen Zeit!«

Aber jetzt, wo der Vater ihr von der frühverstorbenen Mutter gesprochen, da sein Blick, der sonst stahlhart sein konnte, voll ungewöhnlicher Weichheit die verlorene Vergangenheit zu suchen schien, nein, da brachte sie es nicht über sich, ihn derart zu betrüben und zu erzürnen. Denn zornig würde der Vater unbedingt werden, wenn er erfuhr, daß sie, seitdem sie die Schule verlassen, heimlich Latein und Mathematik in ihrem Mansardenstübchen trieb. Daß Heinz, der um ein Jahr ältere Bruder, der in dem nahen Würzburg vor dem Abiturium stand, jedesmal bei seinen Sonntagsbesuchen ihr Aufgaben stellte, die sie in der kommenden Woche dann zu lösen hatte. Unter seiner Anleitung, mit seinen Büchern hatte sie das Schwere unternommen, sich heimlich allein bis zur Prima oder wenigstens Obersekunda eines Mädchengymnasiums vorzubereiten. Aber wann würde der Tag kommen, wo sie es wagte, dem Vater mutig ihre Wünsche zu offenbaren? Sie ersehnte ihn und fürchtete ihn zugleich, diesen Tag.

Das junge Mädchen, das weltverloren in die leere Kaffeetasse gestarrt, fühlte plötzlich ein leises Zupfen an dem weißen Stickereischürzchen. Wie sie es haßte, dieses Schürzchen, das so gar nicht zu mathematischen Formeln und lateinischem Ablativ paßte. Und doch mußte sie es tragen; nicht nur Tante Brigitte hielt darauf, auch der Vater pflegte zu sagen: »Ein Mädchen ohne Schürze, das ist wie ein Topf ohne Boden – nutzlos. Unsere Topplerschen Frauen trugen stets stolz ihr Schlüsselbund am Schürzengurt!«

Das Zupfen wurde stärker, ein bettelndes Stimmchen flüsterte: »Du wolltest es ihr doch sagen, Magda, daß ich mir nicht den Tod holen werde – bitte, bitte, Magdachen, ehe es dunkel wird.«

Da schob die große Schwester zugleich mit der Kaffeetasse die quälenden Gedanken von sich. Zärtlich blickte sie in das runde bittende Kindergesicht.

»Ich gehe jetzt zur Ursel Mergentheimer, das Trautchen darf mich doch mit ihrem Schlitten begleiten, nicht wahr, Tante Brigitte?« wandte sie sich aufstehend zu der alten Dame.

»Kinder, bei dem Wetter – wo man keinen Hund vom warmen Ofen jagen möchte,« zusammenfröstelnd hüllte sich Tante Brigitte trotz der behaglichen Zimmertemperatur in ihren gehäkelten wolligen Seelenwärmer, während Peter, ihr großer schwarzer Pudel, beifällig knurrte.

»Es ist ja wundervoll draußen, am liebsten machte ich jetzt eine Schlittenfahrt ins Taubertal hinein,« rief Magda, in das dichte Schneegestöber hinausschauend.

»Ja, wundervoll ist es!« Trautchen, die schon gewonnenes Spiel zu haben glaubte, klatschte glückselig in die Händchen.

»Und der Strumpfkorb da drüben, mein Fräulein?« mischte sich jetzt der Vater in die Debatte.

Trautchens Gesicht ward ängstlich.

»Der läuft nicht davon, bis ich wiederkomme, Vater. Aber die Ursel läuft davon, die will heute mit der Änne nach Würzburg ins Theater. Und ich – ach, wie gern möchte ich – – –«

»Ins Theater ...?« Der Ratsherr schüttelte den Kopf.

»Ich möchte ihnen gern noch ganz geschwind etwas für unsern Heinz mitgeben,« vollendete Magda schnell den Satz. Sie hatte den Freundinnen ja gleich gesagt, daß sie nie und nimmer mit durfte.

»Auch wieder solche neumodischen Sachen, daß die jungen Mädchen ins Theater fahren müssen! Wer hätte früher hier jemals daran gedacht? Bis nach Würzburg, das bedeutete eine Reise. Jedes Jahr, wenn zur Messe einmal die Komödianten nach Rothenburg kamen, ging man früher ins Theater – und das war reichlich genug. Ja, ja, die Zeiten haben sich geändert, was, Tante Brigitte? Aber besser sind sie nicht geworden. Anspruchsvoll und vergnügungssüchtig haben sie unsere heutigen Mädchen gemacht.«

Tante Brigitte nickte mit ihrem schwarzen Spitzenhäubchen wehmütig den vergangenen besseren Zeiten nach. Die junge Magda aber rief blitzenden Auges: »Nein, Vater, das kannst du wirklich nicht sagen. Weder ich noch meine Freundinnen sind anspruchsvoll und vergnügungssüchtig. Wann bin ich überhaupt schon aus unsern engen alten Mauern herausgekommen? Und Ursel, die den ganzen Tag so fleißig in der Apotheke arbeitet, und die Änne, die ebenso eifrig ihre Malstudien treibt, denen ist doch eine kleine Abwechslung mal zu gönnen. Ich wünschte, ich dürfte mit ihnen mit!« Voll Sehnsucht klang es.

»Ei ei, Magda, mir scheint's, die Freundinnen mit ihren verdrehten modernen Ansichten von Selbständigkeit und Frauenberufen haben schon ansteckend gewirkt. Aber solange du unter meiner Botmäßigkeit stehst, wird nichts aus solchem vergnügungssüchtigen in die Welt Hineinfahren. Eine Haustochter gehört ins Haus – so haben wir Toppler es allezeit gehalten.« Der Ratsherr begab sich schweren Tritts in sein Arbeitszimmer.

Magda, welche derartige Auseinandersetzungen des Vaters bereits kannte, seufzte hörbar.

Die alte Tante auf dem grünen Ripssofa deutete den Seufzer anders. Sie lächelte ihr gütigstes Lächeln: »Na, lauft nur Kinder, lauft nur! Für den Strumpfkorb findet sich heute abend wohl noch ein Stündchen. Aber die Pelzgummischuhe anziehen, Trautchen, und das Käppchen aufsetzen, daß du dir nicht die Ohren erfrierst, mein Seelchen. Und vergiß bloß nicht, Magda, dem Heinz die wollene Unterwäsche mitzuschicken, der arme Junge kann sie bei dem Wetter brauchen!«

Wenige Minuten später trat Magda Toppler, das dunkle Pelzbarett fest auf das Goldhaar gestülpt, Klein-Trautchen an der Hand, durch das schöngeschwungene Rundbogenportal, das mit seiner kunstvollen Schmiedearbeit jedem Vorübergehenden schon sagte, daß es ein vornehmes Patrizierhaus bewache.

2.Kapitel

Welch junges Auge vermag trübselig in die Welt hineinzublicken, wenn die Schneeflocken so lustig um einen wirbeln und stieben. Es hätte gar nicht der Jubelrufe des kleinen Schwesterchens bedurft, das auf seinem roten Weihnachtsschlitten sich glückselig von Magda ziehen ließ, um ihr die eben noch trüben Gedanken aus dem Kopf zu jagen. Das alte Rothenburg mit seinen hohen Zuckergiebeln, den schneeüberpuderten Erkern und weißbemützten Türmchen machte heute einen so lustigen, ja übermütigen Eindruck, als hätten die würdigen alten Häuser allen Ernst der Jahrhunderte abgestreift. Und da sollte ein junges Menschenkind noch an Vorurteile, an zu eng gezogene Grenzen denken?

Leuchtenden Blicks schaute Magda um sich. Nie war ihr ihre Heimatstadt schöner erschienen, nie hatte sie dieselbe mehr geliebt. Durch enge Gäßchen und verschneite Gärtchen lugte allenthalben die Stadtmauer mit ihrem furchigen Steinantlitz, heute eine schlohweiße Gottesmauer.

Die Herrengasse hinunter fiel die bergige Straße zum Marktplatz ab, eine tadellose natürliche Rodelbahn bildend. Das Ratstöchterlein konnte der Lust nicht widerstehen, auf Trautchens Schlitten mit aufzusitzen, stimmte es auch nicht so recht zu der Jungdamenwürde.

Juchhu – da sauste das große und das kleine Fräulein Toppler mitten unter der ausgelassenen Schuljugend die glatte Bahn wie der Wind herab. Vorüber an dem herrlichen Renaissancebau des Rathauses, der sich heute in ein schneeglitzerndes Märchenschloß verwandelt hatte. Der heilige Georg daneben auf dem alten Herterichbrunnen schaute ganz verschlafen aus seinem Flockenpelz heraus auf das helle Lachen, übermütige Rufen und Jubeln ringsum, das ihn trotz der Schneewatte in den Ohren aus seinem Winterschlaf aufgeweckt. Noch eben hatte er von alten, alten Zeiten geträumt, von Holzesel und Drehhäuschen, Galgen und Pranger, den furchtbaren Strafen des Mittelalters, die man ihm zur Seite einst zu vollstrecken pflegte. Kannte denn die neue Welt gar keinen Ernst? Gern hätte er sich den Schnee aus den Augen gerieben, um das lachende junge Leben da zu seinen Füßen besser in Augenschein nehmen zu können. Es war doch noch nicht Kirmes heute.

»Holla – Achtung – aufgepaßt – – –« ein kecker Bub kam in toller Fahrt hinter Trautchens kleinem Schlitten hergebraust – zu spät – da war das Unglück schon geschehen. Mit Mann und Maus versanken die beiden Schlitten zum nicht endenwollenden Jubel der umstehenden Jungen und Mädel in der Unterwelt.

Magda krabbelte sich als erste aus dem kühlen Lager wieder heraus. »Trautchen – hast du dir auch nicht weh getan, Liebling?« fragte sie halb besorgt, halb belustigt. Nachdem sie sich davon überzeugt, daß sowohl des Schwesterchens wie ihre eigenen Knochen einwandsfrei heil geblieben, wollte sie sich grade temperamentvoll dem tollkühnen Schlingel, der sie der Lächerlichkeit der Stadtjugend preisgegeben, zuwenden, als es vom Fenster der Marienapotheke her unter gemütlichem Lachen klang: »Da hätten wir ja das Topplersche Kleeblatt beisammen, frisch aus dem Schnee gewachsen – na, wohlgeruht, meine jungen Herrschaften?« Es war Ursels Vater, der Apotheker Mergentheimer selber, der schmunzelnd der Rutschpartie zugeschaut.

Das Topplersche Kleeblatt? Magda vergaß in ihrer Bestürzung beinahe den Vater der Freundin gebührend zu begrüßen. Jäh wandte sie sich zurück und – »Werner – Bengel – das warst du? Na, warte nur, mein Junge! Anstatt daheim Latein zu lernen, treibst du hier Unfug und gefährdest Rothenburgs ehrsame Bürger – marsch jetzt nach Haus!« Es sollte strafend klingen, aber der Humor der Sache hatte schon wieder die Oberhand bei der großen Schwester gewonnen.

Werner wußte denn auch genau, wie's gemeint war. Sein bildhübsches lachendes Jungengesicht unter dem blonden Kraushaar schnitt der Schwester eine ulkige Grimasse, und ehe die sich's versah, saß er auch schon wieder auf seinem hölzernen Schlittengaul und galoppierte – hast du nicht gesehen – die Schmiedegasse herunter. Als Magda sich von ihrem Staunen über solche unverfrorene Dreistigkeit noch kaum erholt hatte, winkte er ihr bereits vom Kobolzeller Tor her einen Abschiedsgruß zurück.

Ei, den jungen Herrn wollte sie sich heute abend mal langen. Sie konnte es ja verstehen, daß er das lustige Wintertreiben hier draußen den Schulaufgaben daheim vorzog, aber die Pflicht über alles! Darin war Magda eine echte Toppler.

»So, Trautchen, du darfst mit deinem Schlitten noch ein wenig hier auf dem Marktplatz bleiben. Wenn dir kalt wird, kommst du in die Apotheke. Aber daß du mir nicht weitergehst!« Magda nickte dem Schwesterchen noch einmal zu und zog dann den weißporzellanenen Klingelgriff an der erkergeschmückten Marienapotheke.

Hier war sie bereits von Herrn Mergentheimer angemeldet. Kaum durchschrillte die heisere Schellenstimme die Stille des Hauses, da riß auch schon die Ursel in höchsteigener Person die Haustür auf. Jubelnd zog sie die Freundin über die historische Schwelle, über die dereinst Kaiser Maximilian als Ritter Teuerdank ein- und ausgegangen.

»Famos, Magda, daß du mitkommst – hast du deinen alten Herrn wirklich herumgekriegt? Lohengrin wird heute abend gegeben – fein, nicht? Bleibst du über Nacht in der Pension bei deinem Bruder? Sonst kannst du auch bei meiner Tante schlafen. Das Fremdenzimmer hat zwei Betten und ein Sofa. Änne schläft auch dort – ach du, das soll mal ein Jokus werden!« Die kleine bewegliche Ursel ließ die fast um einen Kopf größere Freundin überhaupt nicht zu Worte kommen. »Einen Augenblick, Magda, ich muß ganz schnell noch mal in die Apotheke, ein Rezept ausfertigen. Leg' ab und komm nach.« Die zwei, die von klein auf befreundet waren, pflegten wenig Umstände miteinander zu machen. Auch jetzt verschwand Ursels brauner Kopf über dem weißen Apothekerkittel schleunigst wieder hinter der zur Offizin führenden Glastür.

Mit geteilten Gefühlen hängte Magda inzwischen Mantel und Mütze an die Riegel des altertümlichen Steinflurs. Die Annahme Ursels, daß der Vater ihr die Erlaubnis zum Theaterbesuch erteilt haben könnte, entlockte ihr ein schmerzliches Lächeln. Wie gut hatten es doch die Freundinnen, deren Leben nicht von einer Familienchronik gegängelt wurde! Was hätte sie darum gegeben, wenn sie nicht als Ratstöchterlein zur Welt gekommen wäre!

»Ei, die Magda – grüß dich Gott, Kind.« Frau Apotheker Mergentheimer, klein und rundlich wie die Ursel, steckte aus der zu Ende des langen Ganges gelegenen Küchentür den freundlichen Kopf heraus. »Geh nur inzwischen ins Wohnzimmer, die Ursel wird gleich soweit sein. Ich will euch nur noch ganz geschwind ein paar Schnitten für die Fahrt zurechtmachen, du hast doch kein Abendbrot bei dir?«

»Ich darf ja gar nicht mit, Frau Apotheker,« beinahe hätte die Magda jetzt geweint. Auch Ursels Mutter, die kluge Frau, hielt es für ganz selbstverständlich, daß sie das Theater mitbesuchte. Nicht einmal den Vater richtig darum zu bitten, hatte sie sich getraut. Wußte sie es ja schon im voraus, wie er darüber dachte.

Noch ehe Magda Frau Mergentheimers Aufforderung, näherzutreten, nachkommen konnte, ging aufs neue die Türschelle.

Änne Griebel erschien mit kälteroten Backen und einem nicht weniger rosig leuchtenden Näschen.

»Tag, Änne – so, Kinder, da wären wir ja versammelt – ich habe schon Feierabend gemacht. Kommt nur gleich mit in meinen Vogelbauer, ich muß mich noch ganz fix umziehen.« Lebhaft sprang Ursel den Freundinnen die steile, schmale Treppe zum Obergeschoß vorauf.

»Der Vogelbauer« war ein allerliebstes, winziges Erkerzimmerchen, in fränkischem Bauernstil möbliert. Leuchtend blaue Holzmöbel mit bunten Streublumen bemalt, Blümchengardinen und Vorhänge machten Ursels Stübchen ganz besonders traulich.

»Erst muß ich euch aus dem Wege räumen, damit ich mich überhaupt hier in meinem Vogelbauer umdrehen kann,« damit drückte Ursel die Änne auf den mit Rosenbüschen und Magda auf den zweiten mit Kornblumen bemalten Holzstuhl. »Was sagst du bloß dazu, Änne, daß die Magda heute mal mit darf? Geht da nicht die Welt unter?«

»Ginge sie nur unter und ich dazu!« halb lachend, halb jämmerlich klang's zurück. »Wer sagt euch denn bloß, ihr Schlauköpfe, daß ich mit nach Würzburg fahre? Ein Paket für den Heinz will ich euch nur mitgeben. Meine lateinische Ausarbeitung und seine wollene Unterwäsche ist darin. Kannst es deinem Bruder übermitteln, Ursel, der sieht doch den Heinz morgen im Gymnasium.«

»Also wirklich nicht?« Ursels ausdrucksvolles Gesicht zeigte grenzenlose Enttäuschung.

»Weiß denn dein Vater, daß Lohengrin gegeben wird, und daß eine Opernsängerin aus München heute gastiert?« fragte Änne eifrig.

»Als ob das an seinen Ansichten etwas ändern könnte. Hat das ehrsame Geschlecht der Toppler jemals danach gefragt? Sicher nicht – folglich ist das auch noch für mich im Jahre 1914 maßgebend. Ach, Kinder, ihr wißt es ja nicht, wie viel besser ihr es habt. Es ist schon ein Unglück, als Ratstochter von Rothenburg zur Welt gekommen zu sein!«

Die Magda machte dazu solch ein drollig verzweifeltes Gesicht, daß sich die beiden Freundinnen nicht helfen konnten. Hellauf mußten sie lachen.

»Ja, ihr habt gut lachen, Kinder« – aber das Ratstöchterlein stimmte dabei selbst schon wieder mit ein. In Ursels »Vogelbauer« war man stets guter Dinge.

»Es fragt sich noch, wer von uns es besser hat,« meinte Änne sinnend, nachdem man sich einigermaßen beruhigt. »Du hast es nicht nötig, Magda, ums tägliche Brot zu arbeiten wie ich! Die Grillen eines wunderlichen Onkels in den Kauf zu nehmen und noch dazu »danke schön« sagen zu müssen. Du hast deinen Vater, der für dich sorgt, deine Geschwister und ein schönes Zuhause. Wenn du Lust hast, kannst du den ganzen Tag das gnädige Fräulein spielen, während unsereins sich im Schweiße seines Angesichts placken muß, was Ursel?«

»Kannst es glauben, Magdachen,« fiel diese lebhaft ein, »es ist auch nicht immer ein Vergnügen, Vaters Apothekerlehrling zu spielen. Wenn ich Dummheiten mache, was dem intelligentesten Menschen mal passiert, dann setzt's ein Himmeldonnerwetter, das sich hören lassen kann.«

»Meine Farben und Pinsel wollen auch nicht immer, wie ich will. Da sieht man nun das Rothenburg und das Taubertal so schön, so unsagbar schön vor sich, und wenn man fertig ist mit der Kleckserei – prosit Mahlzeit – auf der Leinwand ist nichts von all dem Zauberhaften zu sehen.«

»Gewiß, Enttäuschungen wird jeder Beruf bringen« – gab Magda zu. »Aber ihr habt doch wenigstens einen Beruf. Ihr seid doch keine Drohne wie ich – ihr dürft eure Arbeit offen leisten und findet Anerkennung dafür, während ich die meine wie ein Verbrechen verheimlichen muß.«

»So tritt doch endlich damit heraus, ich hab's dir schon so oft geraten, Magda. Den Hals wird es ja doch nicht gleich kosten. Dein Vater ist so ein netter Mann, wenn er ausgebullert hat, ist er wieder gut.« Ursel setzte sich den Hut auf.

»Ich habe das Gefühl, als ob unser altes Haus in seinen Grundmauern zusammenstürzen würde und sämtliche hochwohlgeborene Topplers sich im Grabe umdrehen müßten, wenn ich es wagte, solch einen zeitgemäßen Wunsch in unserm vorsintflutlichen Gemäuer zu äußern. Oben in meinem Mansardenstübchen, da habe ich jedesmal die löblichsten Absichten: Heute faßt du aber Mut, heute schenkst du dem Vater reinen Wein ein – – – und sitze ich dann unten auf dem Stuhl, der schon vor hundert Jahren so gestanden, sehe ich die alten Möbel, die Ahnengalerie, Tante Brigittes unmodernes Häubchen – nein, dann ist es mir, als wage ich an dem Heiligsten des Hauses mit frevler Hand zu rühren – an seinen jahrhundertalten Traditionen. Ihr könnt mir das nicht so nachfühlen, Kinder, ihr haltet mich sicherlich für feige. Aber ihr wißt eben nicht, wie das ist, wenn die Geister der Vorzeit in die lebendige Gegenwart hineinspuken. Ach, ich sage euch, lieber Straßenkehrer in irgendeiner Stadt, als Ratstöchterlein hier in Rothenburg!«

»Ei, Magda, mach' uns unser schönes Rothenburg nicht schlecht – – –«

»Wir sind nur zugezogen, nicht alteingesessenes Patriziergeschlecht wie du, und trotzdem lieben wir es – – –«

»Sicher nicht mehr als ich – – – arbeiten, mir selbst leben möchte ich hier – und – – –«

»Und wir versäumen bestimmt den Zug und das Theater, wenn du noch länger Vorträge hältst, Magda. Flink, gib die lateinischen Unterhosen für deinen Bruder Heinz her. Bist du fertig, Änne? Dann en avant – hiermit schmeiße ich dich feierlichst raus, Magda.« Das Vogelbauertürchen klappte hinter den drei Freundinnen zu.

»Himmel, ich habe ja schon viel zu lange geschwatzt. Trautchen wird mir inzwischen draußen angefroren sein. Lebt wohl, Kinder, viel Vergnügen! Paßt gut auf, daß ihr mir alles erzählen könnt. Nein danke, Frau Apotheker, ich kann heute wirklich nicht länger bleiben, Trautchen wartet – – –« Noch ein Händeschütteln, noch ein sehnsüchtiger Blick auf die Glücklichen, die ins Theater durften, dann trennten sich die Freundinnen.

3. Kapitel

Draußen hatte sich das Bild inzwischen verändert. Die alabasterweißen Schneesäulen des Rathauses leuchteten nur noch ganz verschwommen in der Halbdämmerung des aufziehenden Winterabends. Der lustige Schlittenkorso war eingestellt; mit beginnender Dunkelheit traten die Schularbeiten in ihre Rechte. Nur ab und an kam noch ein kleiner Faulpelz mit hellem »Juchhu« die vereinsamte Bahn herabgerutscht.

Nirgends Trautchens grünes Käppchen, ihr roter Schlitten. So angestrengt auch Magda über den Marktplatz in die schmalen Gäßchen hineinäugte, nicht die geringste Spur von dem Schwesterchen. Ob die Krabbe auf eigene Faust nach Hause gegangen war, anstatt, wie ihr angesagt, in die Apotheke zu kommen?

Kein Mensch zu sehen, der ihr Auskunft geben konnte. Der heilige Georg auf dem Herterichbrunnen war der einzige, der Bescheid wußte um Trautchens Verbleib. Aber der träumte schon wieder von mittelalterlichen Zeiten, träumte und – schwieg.

Magda hastete schnell vorüber, die Herrengasse hinauf heimwärts. In der schönen alten Diele des Hotels Eisenhut saßen die guten Rothenburger beim Dämmerschoppen. Auch der Vater war wohl darunter. Da er selbst Weinberge besaß, liebte er einen guten Tropfen Tauberwein.

Wie um Mitternacht lag das verschneite Städtchen still schlummernd in seinen weißen Federbetten. Ab und zu huschte gelblicher Lampenschein aus einem unverhangenen Fenster über den Schnee. Und doch hallten von der benachbarten Jakobskirche erst sechs Schläge, schwer und dumpf.

Auch Magdas Vaterhaus reckte seine hohen Giebelzacken gleich einer gewaltigen Schneetreppe verschlafen in die Winterdämmerung. Alles dunkel. Nur durch die schöne alte Kunstschmiedearbeit der Fenstergitter des Eckzimmers zitterten Lichtflecke hinaus. Dort war Tante Brigittes Reich.

Die Kinderzimmer lagen nach dem Hof zu. Magdas Finger setzten ungestüm die blitzblank gehaltene Türklingel in Bewegung.

Es dauerte lange, bis sich schlürfende Schritte auf der Diele hören ließen. Das junge Mädchen verging vor Ungeduld. Mechanisch las sie zum soundsovielten Male die Inschrift der Steintafel über dem Portal, die besagte, daß Kaiser und Könige dereinst in diesem Hause zu Gaste gewesen. Sonst war das Ratstöchterlein stolz darauf; heute ließ es sie völlig gleichgültig.

»Bärbchen, sind die Kinder zurück – ist Trautchen zu Hause?« kaum hatte das Portal in den Angeln gequietscht, da rief es Magda schon mit gedämpfter Stimme durch die Türspalte.

Aber sie hatte in ihrer Aufregung nicht mit der Schwerhörigkeit der alten Dienerin gerechnet.

Bärbchen, oder vielmehr Barbara, erschien den Topplerschen Kindern von kleinauf, als sei sie das älteste Inventar des uralten Hauses. Sie hatte schon bei den Großeltern gedient und wußte in der Familiengeschichte fast so gut Bescheid wie Tante Brigitte.

Bärbchens runzliges Gesicht unter einer vorsintflutlichen weißen Faltenhaube nickte dem jungen Fräulein freundlich zu.

»Zieh dir nur die Überschuhe gleich hier draußen aus, daß du keine Schneetapfen auf meine schön gebohnerten Dielen machst – willst du heißen Tee, Magdachen?« Es war Bärbchens stillschweigend zugestandenes Recht, alle Topplerschen Kinder bis zu ihrer Verheiratung zu duzen.

Magda mußte sich dazu bequemen, die ihr am Herzen liegende Frage lauter zu wiederholen. Wenn nur Tante Brigitte nichts merkte! Ihre Herzensgüte war mit einer geradezu lächerlichen Ängstlichkeit gepaart. Die wäre sicher sogleich aus dem Häuschen.

»Bärbchen, ist unser Kind zu Haus?«

»Ja, ja, der Wind draußen, bei solchem Wetter bleibt man am besten daheim,« pflichtete Bärbchen bei.

»Das Trautchen – ob Trautchen da ist?« ganz langsam und akzentuiert sprach es Magda, trotz ihrer Ungeduld, damit ihr die Alte die Worte von den Lippen lesen konnte.

Und wirklich – Bärbchen verstand.

Die schöngetollte Haube geriet in aufgeregte pendelartige Bewegung. »Nein, Kind, das Trautchen ist doch mit dir fortgegangen. Um aller Heiligen willen, es wird ihm doch nichts zugestoßen sein?«

»Was soll Trautchen denn in unserem Nest hier passieren!« trotzdem Magda es möglichst leichthin sagte, war ihr nicht ganz wohl dabei zumute.

»Und der Junge, Bärbchen?«

»An der Lunge? Du lieber Gott, meinst du wirklich, daß sich unser Kind was an der Lunge holen kann?« Bärbchen packte entsetzt Magda bei ihrem Flauschmantel.

Da gab diese endgültig eine Verständigung auf. Den Zeigefinger auf die Lippen gelegt, wies sie mit der andern Hand zu der dunkelgebeizten Ecktür, die zu Tante Brigittes Zimmer führte.

Bärbchen begriff. Wenn ihre Ohren auch nicht immer mehr ihre Schuldigkeit taten, mit dem Herzen war die treue Alte gewöhnt, jedem im Hause seine Wünsche abzulauschen. Die Haube geriet in heftigere Schwankungen, beteuernd legte Bärbchen die Hand auf die Brust.

»Schön – schön Bärbchen – ich bin bald wieder da,« das Ratstöchterlein trat aufs neue in den Winterabend hinaus.

Aber noch einer hatte sich mit durch die geöffnete Tür durchgeklemmt – Peter, Tante Brigittes Pudel. Es schien, als habe das kluge Tier, das dem Gespräch in der Diele gefolgt, mehr davon begriffen als die alte Barbara. Aufmunternd bellend umsprang er seine junge Begleiterin.

Die hielt ziemlich ratlos in der ausgestorbenen Straße Umschau. Es hatte aufgehört zu schneien. Aus jagenden Wolkenfetzen lugte ab und an die fast volle Mondscheibe auf das krause Giebelgewirr der alten Stadt Rothenburg hernieder. Die bildete die Hauptbeleuchtung. Denn die spärlichen Gaslaternen blinzelten müde und trübselig.

Wo nun hin? Wieder zum Innern der Stadt zurück oder hinaus auf die Wälle, die mit ihren heimlichen Verstecken zu jeder Jahreszeit den liebsten Tummelplatz der Stadtjugend bildeten.

»Ja, Peter, wo gehen wir hin – wo ist Trautchen?« unbewußt wiederholte Magda die Frage, die ihr am Herzen lag, noch einmal laut.

Der Pudel sah sie mit fast menschlichem Verständnis an. Er begann in die klare Luft zu schnuppern. Dann lief er mit gesenkter Nase ein Endchen in der Richtung des Marktplatzes zu, kam wieder zurück, schnupperte, wandte sich zu dem gegenüberliegenden Franziskanerkloster und schlug nun auffordernd bellend den Weg zum Burgtor hinaus ein.

»Peter – Peter – hierher – zurück!« Es war ja nicht denkbar, daß die Kleine, die so furchtsam war, sich in der Dunkelheit zur Stadtmauer hinausgewagt hatte. Sicher war sie irgendwo bei Bekannten, um sich aufzuwärmen.

»Peter – hierher!« Aber das sonst so gehorsame Tier rührte sich nicht von der Stelle. Nur sein kurzes überzeugungsvolles Geblaff erklang in Zwischenräumen.

Ob sie sich Peters Führung überließ? Magda kreuzte die Straße und trat zu dem jetzt freudig wedelnden Hunde.

»Zu Trautchen, Peter – führ' mich bloß zu Trautchen!« Der Schwester große Sorge löste sich in diesem an ein unvernünftiges Tier gerichteten Hilferuf.

Der Hund senkte aufs neue die Nase. Dann lief er spornstreichs Magda voran, der Stadtmauer zu. Hin und wieder wandte er den zottigen Kopf, ob sie ihm auch folge.

Ja, Magda folgte. All ihre Hoffnung setzte sie auf den schwarzen, wolligen Knäuel da vor sich, der eiligst über den weißen Schnee dahinrollte.

War dort nicht eine Schlittenspur? Sicher, eine ganz schmale, daneben eine etwas breitere – und hier, das waren doch Tapfen von kleinen Füßen. Magda strengte die Augen bis aufs äußerste an ... Da aber löschte eine große dunkle Wolke die Mondlaterne am Himmel aus – stockfinster war's plötzlich. Nur das weiße Rund des gewaltigen Burgtors und die riesigen Schneehauben der uralten Wachtürme verbreiteten ein wenig Helligkeit.

Magda war ein beherztes Mädchen. Aber es wurde ihr doch unheimlich hier draußen in der menschenverlassenen Gegend. Und da sollte sie ihren kleinen Liebling suchen? Die verschneiten Weinberge außerhalb der Stadtmauer fielen zur Tauber ab. Dieselbe war jetzt vereist, aber wenn sie doch irgendwo noch offene Stellen hatte ... wenn Trautchen mit ihrem Schlitten dort hineingeraten ... Magda fühlte, wie ihr Herz bei dieser Vorstellung aussetzte.

»Lieber Gott – du, mein lieber Gott, strafe mich nicht so hart. Ich will mich ja nie wieder über mein Los beklagen, ich will ja zufrieden sein in der Enge unseres alten Hauses, nur das Kind gib mir unversehrt wieder!« Schon als Zwölfjährige hatte Magda das hilflose quakende Bündel, das die sterbende Mutter zurückließ, getreulich gewartet und behütet. Heute, zum erstenmal hatte sie bei den Freundinnen ihre Pflicht dem Schwesterchen gegenüber vernachlässigt.

Da – ein leises Weinen – alles Blut jagte es Magda zum Herzen.

Peter schlug an. Er blieb vor einem Schneetreppchen, das zum Wehrgang des inneren Mauerringes führte, stehen und blaffte freudig.

»Trautchen ...?« Magda vermochte es kaum, den Namen in die Stille hineinzurufen. Die herzklopfende Erwartung schnürte ihr die Kehle zusammen.

»Hier bin ich –« schluchzend klang es von der obersten Treppenstufe herab – »ach, bitte, bitte, hole mich doch, ich graule mich ja so sehr!«

»Gottlob!« mit ein paar Sätzen war Magda oben. »Kind – Trautchen – wie kommst du denn bloß hierher?« sie riß die Kleine an sich und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

»Mir ist so kalt – au, meine Hände und Füße sind ganz erstarrt – und ich habe mich ja so gefürchtet,« weinte es statt jeder Antwort weiter.

»Aber Trautchen, wie konntest du denn bloß so unartig sein, fortzulaufen und noch dazu in aller Nacht hier auf die Wälle.« Magda nahm das leichte Dingelchen auf den Arm und trug es durch den hohen Schnee die Treppe herab.