Lilli Liliput - Else Ury - E-Book

Lilli Liliput E-Book

Else Ury

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Beschreibung

Lilli und Ludwig sind Zwillinge, aber sehr unterschiedlich. Lilli ist ein Träumer und liebt es Märchen zu erfinden, die sie ihrem Bruder abends auf dem Märchensofa erzählt. Ihre Mutter ist von dieser Eigenschaft weniger begeistert und versucht sie auf dem Boden der Tatsachen zu halten, im Gegensatz zu ihrem Vater, der sich in ihr wieder erkennt. Er beruhigt seine Tochter und erzählt ihr, dass kleine Menschen genauso ein gutes Herz haben können, wie große Menschen und dass es nicht auf das Aussehen ankommt. Aber kann Lili das glauben? Wird es ihr jemals gelingen, ihren Spitznamen "Liliputchen" loszuwerden? Und was passiert, wenn sie und Ludwig um 1000 DM wetten, dass kleine Menschen mehr unter Größenwahn leiden als große Menschen? -

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Else Ury

Lilli Liliput

 

Saga

Lilli Liliput

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1920, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726883732

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Liliputchen

Als Lilli Steffen das Licht der Welt erblickte, war sie nicht viel kleiner, als es im allgemeinen neugeborene junge Damen zu sein pflegen. Gegen ihren um drei ganze Stunden jüngeren Bruder Ludwig allerdings, der als Riesenkind seinen Einzug in das weinumrankte Lehrerhäuschen hielt, sah unsere Lilli wie ein Püppchen aus.

»Der Junge könnte der Vater von dem kleinen Wurm sein,« sagte Doktor Ernst Steffen und wiegte lachend in jedem Arm ein quakendes Bündel.

Frau Mieze aber lächelte.

»Mach mir mein kleines Mädchen nicht schlecht, Ernst! Das wird schon sein Recht in der Welt zu behaupten wissen.«

Als ob Klein-Lilli der Mutter Verteidigungsrede verstanden hätte, begann sie im selben Augenblick mit erhobener Stimme zu schreien, so laut und kräftig, daß man es dem zarten Dinge gar nicht zutraute.

Und so blieb es: Lilli hatte die erste Stimme im Hause! Während das Brüderchen still am Daumen lutschte und den größten Teil seines ersten Lebensjahres verschlief, zeigte sich Lilli als ein aufgewecktes, munteres Dingelchen, das bald laut krähte und jauchzte.

Selten waren Zwillinge so verschieden. Wenn Frau Mieze mit ihrem weißen Kinderwagen durch die Villenstraße des Berliner Vorortes fuhr, blieben oft die Vorübergehenden stehen, um sich am Anblick der reizenden Kinder zu freuen. Aber niemand wollte glauben, daß die beiden Zwillinge seien.

Geruhte der Junge ausnahmsweise mal seine Augen aufzumachen, so schien es zweifelhaft, welches das schönere von beiden Kindern sei. Brüderchen war ein rosiger Pausback mit tiefblauen Augen und seidenweichen dunklen Haaren; das Schwesterchen dagegen hatte ein zartes Gesicht, von goldenen Löckchen umrahmt. Wen Klein-Lilli aus ihren braunen Schelmenaugen anlachte, der mußte ihr gut sein.

Noch bevor das Pärchen den ersten Geburtstag feierte, tappelte das kleine Mädchen, in seinem lichten Kleid wie ein weißer Punkt anzuschauen, durch Haus und Garten, während die dicken Beine des Bruders noch lange das Gehen für zu anstrengend hielten.

Auch beim Sprechen bewies Lilli, daß sie die Ältere war. Papa – Mama – Lulu – eine Welt von Zärtlichkeit wußte die Kleine in die drei ersten Worte ihrer Sprechkunst zu legen. Besonders das Wort »Lulu« – so nannte sie ihr Zwillingsbrüderchen – plapperte sie von morgens bis abends, und bald wurde der Kleine allgemein mit diesem Namen gerufen.

Lilli und Lulu liebten sich abgöttisch. Darin zeigten sie, trotz ihrer äußerlichen Verschiedenheit, daß sie echte Zwillinge waren. Sobald Klein-Lilli auf eigenen Füßen in die Welt hineinmarschierte, fühlte sie eine Art mütterliche Sorge und Verantwortung für den unbeholfenen Bruder. Jeden Zwieback, den sie bekam, hielt sie zuerst ihrem Lulu hin; jedes Spielzeug, nach dem er das dicke Patschhändchen ausstreckte, überließ sie ihm großmütig.

»Unsere Lilli ist viel zu gut zu dem Jungen,« sagte die Mutter oft, ihre Zwillinge beobachtend. »Wenn der Lulu erst merkt, daß er der bei weitem stärkere ist, wird er die Kleine für all ihre Liebe oft genug verhauen.«

Mit dieser Weissagung behielt aber die Mutter nicht recht. Die Kinder vertrugen sich großartig. Lulu liebte seine Lilli fast mehr als die Eltern. Ja, als der Vater eines Tages der Kleinen, die schon früh ihr Köpfchen für sich hatte, einen Klaps gab, um ihren Eigenwillen zu brechen, schlug der noch nicht zweijährige Lulu, als getreuer Ritter seiner Lilli, sogar nach dem Vater. Da bekam auch Lulu sein Teil ab, und nun heulten sie im Duett.

An der Hand Lillis, die selbst noch ein wenig unsicher auf ihren Beinen einhertorkelte, machte Lulu seine ersten Gehversuche, bis sie schließlich alle beide auf dem Näschen lagen.

»Puttchen« nannten die Eltern das winzige Dingelchen, das wie ein Sonnenstrahl durch das Haus tanzte, überall Lachen und Frohsinn verbreitend.

»Putt« rief auch Lulu, als er sich endlich zum Sprechen bequemte, und wenn sie darauf noch nicht hörte: »Lilli-Putt«.

Vater saß an seinem Schreibtisch und verbesserte lateinische Hefte, als der Name »Liliput« zum erstenmal von den Lippen seines Sprößlings durch das Haus flog. Lachend sprang er auf und eilte zur Mutter.

»Mieze, Frau, hast du gehört, wie der Junge eben die Kleine rief? Liliput – eine treffendere Bezeichnung gibt es nicht für sie. Da« – er hielt das kleine jauchzende Ding in die Höhe – »schaut sie mit ihren zierlichen Gliedern nicht aus, als ob sie wirklich dem Lande Liliput entstammte?«

»Mein Liliputchen!« Die Mutter fing kosend das nach ihr angelnde Töchterchen auf.

»Liliput!« rief Lulu noch einmal und hing sich eifersüchtig an das Kleid der Kleinen.

Das war der entscheidende Augenblick in Lillis Leben. Von diesem Tage an hatte sie ihren Beinamen, der ihr später im Lauf der Jahre noch so manche Träne auspressen sollte.

Liliputchen! Vater und Mutter riefen sie von nun an so. Großmama bemächtigte sich voll Zärtlichkeit dieser Koseform. Die Onkel und Tanten nahmen sie an, die Freunde des Hauses, ja, auch die Dienstboten. Kein Name hätte besser für die kleine Lilli gepaßt.

Die Jahre vergingen. Liliputchen ritt auf Lulus Schaukelpferd, und Lulu schob den Puppenwagen des Schwesterchens. Dann kam ein Morgen, an dem das Zwillingspärchen Hand in Hand, die Schulmappe auf dem Rücken, voll ungeheurem Stolz neben dem Vater hertrabte – der erste Schultag! Mutter schaute ihren Kleinen mit schwimmenden Augen nach. Wie sie lachend und glücklich in das neue Leben hineinsprangen, ohne eine Ahnung, daß sich mit diesem Tage das eigentliche Kindheitsparadies, das Reich des unbewußten, sorglosen Spieles, hinter ihnen schloß! Ja, jetzt kam auch für ihre Zwillinge der Ernst und die Pflicht.

Mutter mußte unter Tränen lächeln. Was sie da gerade vor sich sah, war noch recht weit entfernt von Ernst. Liliputchen, deren Schulmappe fast größer erschien als sie selbst, versuchte Lulu, dem sie gerade bis zur Schulter reichte, das Gesicht mit ihrem heraushängenden Tafelschwamm zu waschen. Jetzt schien Vater Einspruch zu erheben – nun bogen sie um die Ecke – das letzte Zipfelchen von Lillis rotem Mantel grüßte noch einmal, ehe es dem Mutterauge entschwand.

Frau Mieze ging wieder an die Arbeit, aber ihre Gedanken wandelten mit ihren beiden Kleinen ins fremde Leben hinein. Und als von der nahegelegenen Station der Pfiff des Zuges herüberschrillte, der ihre Lieblinge jetzt täglich in das große Berlin zur Schule bringen sollte, drängte sich doch wieder eine fürwitzige Träne ihr ins Auge. Aber sie wurde entschlossen fortgewischt.

Die Zeitenspule schnurrte unentwegt weiter. Aus den kleinen Abcschützen wurden ein eifriges Schulmädel mit langen blonden Zöpfen und ein tüchtiger Lateiner.

Freilich, die Blondzöpfe waren, wie Vater lachend zu sagen pflegte, das Längste an seinem Liliputchen. Sie hingen der jungen Besitzerin weit über den Rücken herab, und da sie sich niemals im Ruhezustand, sondern immer in hüpfender Gangart befand, hopsten die langen Zöpfe stets mit ihr um die Wette. Es war, als ob alles Wachstum in Lillis Blondhaar hineingegangen wäre.

Während Lulu ein großer schlanker Junge wurde, beim Turnen der Anführer seiner Riege, bildete Lilli stets den Schwanz der Turnschlange in ihrer Schule. Sogar als sie ein Halbjahr lang mit der unteren Abteilung zusammen turnte, mußte sie die schmerzliche Erfahrung machen, selbst da noch die Letzte zu sein.

Dafür war sie aber in den anderen Stunden allen voran. Durch sämtliche Klassen war sie die Erste. Keine war so lernbegierig, aufmerksam und fleißig wie Lilli Liliput.

Ja, das war der einzige dunkle Punkt in der Schule: sie wurde auch dort Lilli Liliput genannt! Wer es zuerst aufbrachte, ob eine Schulfreundin, die den Namen in Lillis Elternhaus gehört hatte, oder ob eine der Lehrerinnen auf die sehr naheliegende Bezeichnung für das zierliche Persönchen kam, war später nicht mehr festzustellen.

Gleich in der untersten Klasse riefen die Lehrerinnen das winzige Ding, das noch viel zu klein für den Schulbesuch erschien, Lilli Liliput, und dies Wort folgte ihm getreulich durch alle Klassen.

Solange die Kleine noch nicht in die Schule ging, hatte sie ihren Namen Liliputchen als etwas Selbstverständliches hingenommen. Im Gegenteil, wenn Vater oder Mutter sie mal ausnahmsweise »Lilli« riefen, wurde es ihr unbehaglich zumute. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß sie irgend etwas auf dem Kerbholz hatte.

Aber in der Schule – nein – dort wollte sie nicht kleiner sein als die übrigen Kinder! Wie sie geistig beim Lernen alle überflügelte, so hätte sie es auch gern körperlich getan. Aber da half nichts, weder das stundenlange Hängen an den Schaukelringen, bis sie Blasen an den Händen bekam, noch das Recken und Strecken der Beine abends im Bett. Lilli war und blieb ein Liliputchen.

»Ach, Lulu, könntest du mir doch etwas von deiner Größe abgeben; du behieltest immer noch genug übrig,« seufzte sie oft, zu dem stattlichen Zwillingsbruder emporsehend.

»Ich würde es gern tun, Liliputchen!«

Zärtlich schlang der Große den Arm um die kleine Schwester. Und das war gewiß: Lulu hätte keinen Augenblick geschwankt, sich ein Stück von seinen langen Beinen abzuschneiden, wenn er damit seiner Lilli hätte helfen können.

Als die Zwillinge ins neunte Jahr gingen, bekamen sie noch ein Schwesterchen, eine kleine Margot. Heller Jubel schallte durch das Haus.

»Nun bin ich endlich die Große,« frohlockte Lilli.

Sie wurde es nicht müde, an dem mullumbauschten Korb zu stehen, in dem das Schwesterchen schlief, und das kleine Wesen zu bewundern. Ganz behutsam legte sie ihre Hand neben das rosige Fäustchen des Kindes. Wirklich, es war ein größerer Unterschied, als wenn sie ihre Hand mit Lulus derber Jungenfaust verglich. In diesem Augenblick fühlte sich Lilli ungemein groß.

»Nun halte dich aber 'ran, Liliputchen, daß dir Klein-Margot nicht etwa über den Kopf wächst,« scherzte der hinzutretende Vater.

Lilli wurde rot und dann blaß. Um ihren erhebenden Stolz war es geschehen. Daran hatte sie noch nicht gedacht, daß das Schwesterchen nicht so klein blieb, sondern sie am Ende noch überholen könnte. Das war der erste bittere Tropfen in Lillis Glück.

Na, vorläufig hatte es aber damit gute Wege. Die kleine Margot war so hilfsbedürftig, daß Lillis zärtliche Fürsorge, die sie bisher nur ihren Puppen, den Hühnern, Vögeln, Blumen und allenfalls noch Schnauzel, dem Dackel, hatte angedeihen lassen, aufs lebhafteste sich betätigen konnte.

Mutter hatte wirklich Freude an ihrem umsichtigen Liliputchen. Hoch oben auf der Fußbank thronte es – denn sonst langte es nicht heran – und gab dem Schwesterchen geschickt die Flasche zu trinken. Es reichte der Mutter beim Baden Schwamm und Seife zu und beruhigte das Kleinchen zärtlich, wenn es weinte. Lillis Sonnenaugen bewiesen ihre Kraft selbst dem Schwesterchen gegenüber. Wenn sie es anschaute, verzog sich das noch eben weinerliche Mäulchen sogleich zum Lachen.

Sobald die Schularbeiten beendigt waren, hockte Lilli an Margots Wagen. Wie glücklich war sie, als sie die Kleine zum erstenmal eigenhändig herumfahren durfte! Zuerst freilich nur auf den Gartenwegen, später aber auch in den baumbestandenen Straßen. Da trabten allerdings Lulu und Schnauzel als Wächter noch nebenher. Es war erstaunlich, wie geschickt die kleine Lilli den großen Kinderwagen meisterte; nur an den Dammübergängen griff der stärkere Bruder helfend ein.

Man kannte die hübschen Zwillinge, die so liebevoll ihre kleine Schwester spazieren fuhren, da draußen in dem stillen Vorort allgemein. Manch freundliches Wort wurde ihnen; ja, auch manches Stück Schokolade spendete man den reizenden Kindern. Besonders in dem großen Sanatorium an der Ecke hatten Oberlehrers Vier – denn auch Schnauzel wurde mit zur Familie gerechnet – viele gute Freunde. Dort mußte die weiße Kutsche von Klein-Margot stets haltmachen.

Lulu wurde eifersüchtig. Das heißt, so weit kam es eigentlich gar nicht bei ihm; dafür war er ein viel zu guter Junge. Aber er fand, daß Lilli sich jetzt viel mehr um Klein-Margot kümmerte als um ihn selbst. Sie hatte entschieden mehr Aufmerksamkeit für Margots Kunststücke als für seine neueste indische Briefmarke. Dabei hatte er dieselbe doch gegen ein ganzes Stück Gummizucker, zwei neue Löschblätter, fünf Knallerbsen und mehrere Murmeln glücklich in der Klasse eingetauscht.

Eines Tages kam es denn auch zur Aussprache zwischen den Zwillingen. Die Mütze auf dem Kopf, durchschritt Lulu mit möglichst gleichgültiger Miene den Vorgarten, in dem Lilli in Gemeinschaft mit Schnauzel das schlafende Schwesterchen behütete.

»Wo gehst du hin, Lulu?« fragte Lilli erstaunt.

»Was kümmert dich denn das noch?« wollte der Junge schon aus dem Gefühl des Zurückgesetztseins heraus antworten; da sah er seiner Lilli zum Glück in das liebe Gesicht, und merkwürdig: den fragenden Braunaugen der Schwester gegenüber brachte er das unfreundliche Wort nicht über die Lippen.

Nur ein hastiges: »Kümmerst du dich denn überhaupt noch um mich?« stieß er hervor.

Lilli lachte hell auf. Sie hob sich auf die Zehen, packte den größeren Bruder am Genick und schüttelte ihn, als ob er der Schnauzel wäre.

»Lulu – Junge – du hast ja 'nen Piepmatz!« Lilli tippte mit nicht mißzuverstehender Gebärde gegen die Stirn. »Was, ich kümmere mich nicht mehr um dich?«

»Nein,« versetzte Lulu ein wenig kleinlaut. »Margots Windeln sind dir jetzt tausendmal wichtiger als meine Angelegenheiten! Hast du meinen neuen Drachen etwa schon bewundert?«

Er zog aus der Laube einen weißen selbstgefertigten Papierdrachen mit prächtigem langem Schweif.

Lilli schaute nun doch betroffen auf das sie mit runden gemalten Tintenaugen anglotzende Drachenungetüm. Ihrem liebevollen Herzen tat es weh, daß Lulu sich vernachlässigt fühlte. Und ohne sie wollte er diesmal auf die Wiese hinaus zum Drachensteigen, was doch bisher stets ihr schönstes gemeinsames Frühlingsvergnügen gewesen war?

»Junge, du hast ja 'nen Piepmatz,« sagte sie noch einmal, aber es klang nicht mehr so übermütig lachend, sondern leise, fast weinerlich.

Jetzt war es an Lulu, ein betroffenes Gesicht zu machen. Er sah, daß er ihr wirklich unrecht tat.

»Liliputchen, ich wollte dich doch nicht kränken; sei wieder gut und lache wieder, ja?« Damit schlang der Große reuevoll den Arm um die kleine Schwester, während sich seine blauen Augen mit Tränen füllten.

Aber auch zwei Braunaugen standen voll Wasser, soviel sich der rote Mund darunter Mühe gab, zu lächeln. Und die einzige, die lachte, war die Frühlingsonne. Die lachte die dummen Zwillinge tüchtig aus, die da beide im Garten standen und abwechselnd heulten und sich küßten.

Bald aber machten es Lillis Augen der lieben Sonne nach.

»Quatsch,« sagte sie, »du bleibst doch immer mein Bester, Lulu!« Dann sahen sie sich an, und dann lachten sie, und alles war wieder gut ...

Klein-Margot vertauschte den Kinderwagen mit dem Sportwägelchen; sie lernte laufen, lernte sprechen. Da geschah es eines Tages, daß auch sie, die jetzt Dreijährige, die große Schwester mit dem allgemein im Hause üblichen Namen »Liliputchen« rief.

Lilli glaubte zuerst, nicht recht gehört zu haben. Margot pflegte zu ihr, der bei weitem Älteren, sonst mit wohltuender Bewunderung aufzusehen. Nein, das ging doch nicht, daß auch das Kleinchen sich den gräßlichen Namen angewöhnte! Wo blieb da der »schuldige Respekt« vor der großen Schwester?

»Ich bin für dich nicht Liliputchen, sondern Lilli,« sagte sie ärgerlich, wie sie sonst nie zu dem Kinde sprach.

Aber damit reizte sie Klein-Margot in ihrer ausgelassenen Stimmung nur um so mehr.

»Liliputchen – Liliputchen,« sang die Kleine nun erst recht und tanzte dazu, ihren Bären im Arm, im Zimmer lachend auf und ab.

Da geschah es. In einer jähen zornigen Anwandlung hob Lilli die Hand gegen das Schwesterchen. Ein tüchtiger Klaps brannte auf Klein-Margots noch eben lachendem Mündchen. Das lachte nicht mehr, sondern verzog sich zu jämmerlichem Gebrüll.

»Pfui,« rief entrüstet Lulu, der an seinem Pult Schularbeiten machte. »Schäme dich, so ein kleines Wurm zu verwichsen!« Zum erstenmal war er mit seiner Lilli nicht einverstanden.

Aus dem Nebenzimmer aber trat der Vater. In seiner liebevollen Art beschwichtigte er das weinende Nesthäkchen und wandte sich dann seiner erglühenden Ältesten zu.

»Warum hast du das Kind geschlagen? Was hat es dir getan?«

Lilli wagte den Vater nicht anzusehen.

»Margot hat mich Liliputchen genannt – und das soll sie nicht – nein, das kommt solchem kleinen Jör nicht zu, mich so zu rufen! Das lasse ich mir nicht gefallen – ich will überhaupt nicht mehr Liliputchen genannt werden! Was kann ich denn dafür, daß ich so klein bin?«

Lilli schlug die Hände vor das Gesicht, während das ganze kleine Persönchen von wildem Schluchzen geschüttelt wurde. Sie war außer sich.

»Geh in dein Zimmer, Lilli,« sagte der Vater in ernstem Ton, »und denke dort erst allein mal darüber nach, was für ein törichtes Mädchen du bist. Hernach magst du in meine Studierstube kommen; dann will ich weiter mit dir sprechen.«

Lilli wagte keine Widerrede. Sie warf noch einen schnellen Blick zu Lulu hin, ob der ihr nicht wenigstens beistand. Aber der Bruder hatte den dunklen Kopf tief über das Heft gebeugt. So wollte nicht einmal Lulu mehr etwas von ihr wissen!

In schluchzendem Schmerze eilte sie aus dem Zimmer, vorüber an der nichtsahnenden Mutter, die eben mit den ersten selbstgeernteten Kirschen aus dem Garten kam. Frau Miezes erschrecktes »Aber Liliputchen!« verklang ungehört. Die Treppe ging es hinauf zu der netten Mansardenstube, die Elternliebe dem Töchterchen zum elften Geburtstage eingerichtet hatte.

Lilli sah heute nichts von all dem, was sonst ihre Freude und ihren Stolz bildete. Nicht das große altmodische Ledersofa, das Großmama zu ihrem Reich gespendet hatte, nicht die großen bunten, Muttchen abgebettelten Fächer an der Kornblumentapete. Nicht einmal ihr »Goldschopf«, der von Onkel Martin zum Geburtstag gestiftete Kanarienvogel, bekam einen Blick. Das goldgelbe Vögelchen flatterte erschreckt von der Stange und riß die schwarzen munteren Äuglein erstaunt auf. Was war denn heute mit seiner kleinen Herrin los, die sonst noch heller sang und jubilierte als er selbst?

Da kauerte sie in einer Ecke von Großmamas Sofa, preßte den Blondkopf gegen die kalte schwarze Lehne und weinte herzbrechend.

Goldschopf begann zu singen. Erst ganz leise, als ob er seine kleine Freundin in ihrem Kummer trösten wollte, dann lauter, immer lauter, als müßte er ihr Weinen übertönen.

Und wirklich – Lillis Schluchzen wurde ruhiger. Der wilde Trotz, der sich in dem Schütteln und Stoßen der jungen Brust Luft machte, besänftigte sich allmählich. Lilli begann auf das Zwitschern und Tirilieren ihres Vögelchens zu lauschen. Sie hob den zerzausten Blondkopf und trat zum Bauer. Goldschopf flatterte zutraulich näher und sah sie aus seinen schwarzen Perläugelchen mitleidig an.

»Doch wenigstens einer, der es gut mit mir meint – der mich noch lieb hat,« murmelte Lilli halblaut; aber gleich darauf schämte sie sich ihrer häßlichen Äußerung.

Was – Vater und Mutter, Lulu und Margot hätten sie nicht lieb? Das war ja heller Unsinn! Wenn Vater unzufrieden mit ihr war, dann hatte er sicherlich Grund dazu.

Lilli begann über ihr Tun nachzudenken, und je länger sie darüber nachsann, um so purpurner färbte sich ihr zartes Gesicht. Die Schamröte stieg ihr bis an die blonden Stirnlocken empor.

Pfui – Lulu hatte ganz recht mit seinem Ausruf! Das arme kleine Schwesterchen, das nichts Böses getan und nur ausgelassen den Namen gebraucht hatte, mit dem man sie allgemein rief, das hatte sie zum erstenmal geschlagen!

»Sie sollen mich aber nicht Liliputchen nennen – nein!«

Da meldete er sich wieder, der böse Trotz von vorhin. Lilli stampfte mit dem Fuße auf, warf die langen Zöpfe zurück und trat an die Tür. Ein leichter Bleistiftstrich war an dem weißen Holz zu sehen, ein kaum wahrnehmbares Strichlein. Und doch für unsere Lilli von ungeheurer Wichtigkeit!

Ihr Größenmaß zeigte das Bleistiftzeichen an. Am Ersten eines jeden Monats mußte Bruder Lulu es frisch ziehen, nachdem er festgestellt hatte, ob Lilli in den letzten vier Wochen gewachsen war. Ach – leider veränderte der Bleistiftstrich nur ganz, ganz langsam seinen alten Platz. Oft rückte er kaum um einen Millimeter aufwärts, soviel auch Lilli den Blondkopf reckte. Ja, neulich hatte Lulu steif und fest behauptet, daß sie im letzten Monat wieder kleiner geworden sei. Wirklich, sie reichte nicht mehr ganz an ihren Größenzeiger heran! Aber daran waren sicherlich nur die neuen Schuhe mit den abscheulich niedrigen Absätzen schuld.

Lilli und Lulu bewahrten tiefes Stillschweigen über ihre Messungen. Lulu hatte ihr die rechte Hand darauf geben müssen, nichts davon zu verraten. Es war das einzige Geheimnis, das Lilli vor den Eltern hatte. Aber sie schämte sich, daß sie so unglücklich über ihre Winzigkeit war.

Auch heute machte Lilli, als sie an der Tür stand, wieder einen Hals so lang wie eine Giraffe. O Wonne! Lulus Strich ging ihr bis an den Haaransatz – ganz bestimmt! Sie war also in der letzten Zeit ungeheuer gewachsen! Und da wagte es noch Margot, so ein kleiner Quack, sie »Liliputchen« zu nennen!

Das erfreuliche Ergebnis der Messung zauberte wieder Sonnenschein auf Lillis verweintes Gesicht. Nur ein Rest unbehaglicher Stimmung blieb zurück, wenn sie an die Unterredung in Vaters Studierstube dachte.

Ach was! Feige war sie nicht, und Mutter sagte immer, das, was einem am schwersten würde, solle man zuerst tun. Lillis weiches Herz hielt es auch gar nicht aus, länger als eine Stunde mit jemandem in Unfrieden zu leben. Nun gar mit ihrem Vater, den sie über alles liebte und verehrte!

Es war schon schummerig, so recht die Stunde zur Aussprache, als es leise an die Tür von Vaters Studierstube klopfte.

Doktor Steffen schrieb sein Buch über griechische Dichtkunst, an dem er in den Freistunden daheim arbeitete. Er hob lauschend den klugen Gelehrtenkopf. Aha, die kleine Sünderin!

Lilli kam langsam und etwas unsicher auf Vaters »Herein« näher. Es ging einem merkwürdig in Vaters Stube. Wenn man draußen auch noch so verstockt und von seiner Vortrefflichkeit überzeugt war, da drinnen kam einem das begangene Unrecht mit einem Male ganz deutlich zu Bewußtsein. Waren die ernsten Bücher daran schuld, die bis zur Decke die Wände bedeckten? Oder Vaters ernste Augen, die so durchdringend bis auf den Grund der Seele zu forschen schienen und dabei doch soviel Güte offenbarten?

Vater sprach nicht. Er wartete auf Lillis Entschuldigungsworte.

Aber bei solchen Gelegenheiten fand Lilli es für ratsamer, überhaupt nicht zu sprechen. Ihre Arme, die sich fest um Vaters Hals strickten, und ihr tränennasses Gesicht, das sich gegen seine blondbärtige Wange preßte, baten mehr um Verzeihung als tausend Worte.

»Es tut dir also leid, Lilli, das arme Kleinchen, das dich so lieb hat, geschlagen zu haben?«

Lilli nickte. Ja, jetzt in Vaters Stube kam ihr ihre Handlungsweise geradezu sträflich vor.

Da hob Vater ihren Kopf zu sich empor und sah ihr in die feuchten Braunaugen.

»Ich bin davon überzeugt, Lilli, daß du an unsere heutige Unterredung denken wirst, wenn dir die rasche Hand wieder mal gegen das Schwesterchen emporzuckt. Du bist noch zu klein, um beurteilen zu können, ob das Kind Schläge verdient oder nicht.«

Das Wort »klein« traf Lilli wieder an ihrer empfindlichen Stelle.

»Ach, warum bin ich klein – warum bin ich nicht so groß wie Lulu?« Der heißeste Wunsch ihres Lebens, den sie bisher keinem anderen als dem Zwillingsbruder offenbart hatte, löste sich ihr von den Lippen.

»Aber, Liliputchen« – es wurde Vater schwer, ein Lächeln zurückzudrängen – »das ist doch ganz gleich, ob man klein oder groß ist. Jeder Mensch muß so bleiben, wie unser Herrgott ihn geschaffen hat. Dazu bist du doch nicht zu klein, um zu wissen, daß es auf derartig Äußerliches überhaupt nicht ankommt. Ein gutes Herz, ein aufgeweckter Geist können in einem kleinen Körper geradeso wohnen wie in einem großen. Unsere bedeutendsten Forscher und Gelehrte waren oft kleine unscheinbare Menschen. Ich habe mein Liliputchen für klüger gehalten – habe geglaubt, mein Mädel strebe danach, die fehlende körperliche Größe durch geistiges Wachstum zu ersetzen.«

Lilli schmiegte den blonden Kopf fest an Vaters Hals. Jetzt, da der Vater in diesem Ton zu ihr sprach, so ernsthaft und liebevoll, schämte sie sich ihres kindischen Leids.

»Ich will aber nicht mehr Liliputchen genannt werden – auch von euch nicht – von keinem hier zu Hause – nein, Vatchen?«

Das mußte doch trotz alledem noch ausgesprochen werden. Zu lange trug Lilli diesen Wunsch auf dem Herzen.

»Kind, was bist du für ein törichtes Mädel! Vielleicht bittest du uns noch mal darum, dich wieder wie früher mit dem Kosenamen zu rufen. Also beherzige das, was ich dir gesagt habe – verstanden, Lilli?«

Bei dem aus Vaters Munde ungewohnten Namen zuckte Lilli zusammen. Nun hatte sie ja, was sie so heiß ersehnte. Woran lag es nur, daß der freudige Stolz ausblieb, den sie dabei zu fühlen geglaubt hatte? Daß sie ganz tief im Herzen die Empfindung hatte, als ob Vater sie jetzt nicht mehr so lieb habe wie sonst, da er sie stets »Liliputchen« rief?

Leise schlich sie sich hinaus und in die Kinderstube. Klein-Margot schlief schon; süß und friedlich lag das Schwesterchen unter der weißen Himmelbettgardine. Es lächelte im Schlaf; längst hatte es den Schlag der großen Schwester vergessen.

Aber Lilli dachte daran. Sie neigte sich über das Mündchen, dem sie weh getan, und drückte zur Sühne einen leisen Kuß darauf. Nun erst war alles gut.

Eine halbe Stunde später saß man beim Abendessen. Süßer Jasminduft wehte vom Garten in die offene Veranda; rosige Wolken lugten neugierig durch das grüne Laubwerk auf den gemütlichen Familientisch.

»Liliputchen, spring mal in die Küche und hole noch ein paar Scheiben Schwarzbrot,« sagte die Mutter.

Das Töchterchen erhob sich. Es war röter als die purpurnen Wolken droben am Himmel; unsicher sah es zum Vater hin.

»Ach ja, richtig,« erinnerte sich dieser. »Also unser Fräulein Tochter hat gestreikt, Mieze. Sie wünscht von nun an Lilli und nicht mehr Liliputchen genannt zu werden. Ich bitte, das nicht zu vergessen. Merk dir's auch, Lulu, und sage es unserer Minna draußen ebenfalls!«

Vater schmunzelte in seinen hellen Bart hinein, und auch Mutter nahm das Mundtuch vor den Mund, als wolle sie ihre Heiterkeit verbergen. Lulu aber lachte hellauf.

»Du bist ja nicht gescheit, Liliputchen – entschuldige, Lilli,« verbesserte er sich mit scheinheiligem Ernst.

Lilli entwich flink in die Küche.

Ach, hätte sie doch bloß nicht ihren Wunsch laut werden lassen! Nun wurde sie deshalb verlacht und gehänselt. Selbst Lulu neckte sie.

»Gute Nacht, Lilli!«

Dreistimmig ertönte es von den Lippen der Eltern und des Bruders. So fremd, so wenig zärtlich klang der ungewohnte Name, daß auch Lillis Gutenachtkuß lange nicht so innig ausfiel wie sonst.

Aber als sie dann in ihrem Bett unter den großen bunten Fächern lag und die Augenlider ihr schwer und schwerer wurden, empfand sie doch wieder freudige Genugtuung über ihre Namensänderung.

»Nun werde ich auch bestimmt wachsen – ganz sicher, wenn sie mich nicht mehr Liliputchen nennen!«

Ein hoffnungsvolles Lächeln um die Lippen, schlief sie ein, mit rosigen Erwartungen für die Zukunft.

Sommerfäden

Auf der Bahnstation Schlachtensee war es trotz der frühen Stunde schon recht belebt. Mädel und Jungen, den Schulranzen auf dem Rücken oder unter dem Arm, Männer und Frauen, die der Beruf nach Berlin hineinführte, gingen auf dem Bahnsteig auf und nieder.

Es war ein wonniger Septembermorgen. Tiefblau lag der Schlachtensee unter der in wolkenloser Bläue strahlenden Himmelskuppel. Kaum wahrnehmbar kam leiser Herbstduft von den schwarzen Kieferwaldungen herüber; weiche, schimmernde Sommerfäden zogen durch die klare Morgenluft.

Doktor Steffen, der mit seinen Zwillingen schon geraume Zeit auf dem Bahnsteig auf und ab marschierte, zog ungeduldig die Uhr.

»Wieder Verspätung – und gerade heute lag mir daran, möglichst früh im Gymnasium zu sein!«

»Mir auch,« sagten Lilli und Ludwig wie aus einem Munde.

Der Vater sah von seinem zierlichen Töchterchen zu seinem großen Jungen. Er zog die Augenbrauen hoch.

»Nanu – etwa nicht ordentlich zu Hause präpariert?«

»Ach wo, Vaterchen« – die jetzt dreizehnjährige Lilli schüttelte den Kopf, daß die blonden Zöpfe nur so flogen – »aber wir haben heute von acht bis neun Uhr Physik; da muß ich als Klassenerste alle notwendigen Apparate herbeitragen.«

»Na, und du, Ludwig, etwa auch Physik?« Dem Vater kam die Geschichte nicht recht geheuer vor.

»Nein,« sagte der Herr Tertianer und wurde etwas verlegen.

»Also was dann?«

Wenn Vater erst eine Sache untersuchte, kam man nicht so leichten Kaufes frei. Das wußte Ludwig.

»Ich möchte es nicht sagen,« stieß er schließlich rotwerdend hervor und sah dann unschlüssig auf Lilli.

»Es ist nichts Schlechtes, Vatchen, wirklich nicht,« beeilte sich die Schwester, schnell ihrem Bruder zu Hilfe zu kommen.

»Das nehme ich an, wenn ich jetzt nicht weiter forsche. Ich kenne dich, Lulu, als fleißigen, gewissenhaften Schüler, und ich habe so viel Vertrauen zu dir, daß du deinem Vater keine Unehre machen wirst,« sagte der Oberlehrer und sah seinem Großen in die Augen.

Was er da in den ehrlichen Blauaugen seines Jungen las, mußte wohl ein Vaterherz zufriedenstellen. Doktor Steffen fragte denn auch nicht weiter.

Ludwig hatte einen Schüler; das war sein Geheimnis. Lilli natürlich wußte es, denn Zwillinge dürfen keine Heimlichkeiten voreinander haben. Er hatte sich erboten, dem armen, etwas zurückgebliebenen Klassenletzten, der allenthalben von den Tertianern wegen seiner Denkfaulheit gefoppt wurde, in Mathematik Nachhilfestunde zu geben, jeden Tag vor Schulanfang eine Viertelstunde. Neulich hatte Lulu schon die Freude, daß Kurt Weber nicht mehr das allerschlechteste Extemporale schrieb. Da der Vater am selben Gymnasium unterrichtete, das auch Ludwig besuchte, wollte letzterer aus Bescheidenheit darüber strenges Stillschweigen bewahren. Das Lehrerkollegium brauchte nicht zu erfahren, daß Weber seine Erfolge ihm zu verdanken hatte.

Der Zug kam immer noch nicht. Allenthalben sah man ungeduldige Gesichter. Unweit von Doktor Steffen und seinen Kindern stand ein braunhaariges Mädchen im weißen Matrosenkleid. Unter dem breitrandigen Strohhut lugte es angelegentlich zu den Geschwistern hin. Ihm schien es ganz recht zu sein, daß der Zug noch auf sich warten ließ.

Auch Lilli warf öfters einen Blick zu der niedlichen Braunen hinüber. Sie mochte zwölf oder dreizehn Jahre zählen und war groß und kräftig gewachsen. Lilli hatte sie schon öfters des Morgens auf dem Bahnsteig beobachtet. Sie fuhr ebenfalls nach Berlin zur Schule, aber es war eine andere als die, welche Lilli besuchte. Zum Gruß war es Zwischen den beiden Mädchen nie gekommen; dazu waren sie beide zu schüchtern. Sie sahen sich nur stets aufmerksam an, und ihre Augen lächelten sich wohl auch kaum merklich zu. Besonders die Braunhaarige freute sich von einem Morgen auf den anderen, das Geschwisterpaar wieder zu sehen. So lieb war der große Bruder stets zu der kleineren Schwester; nie empfand es die dunkelhaarige Ilse trauriger, daß sie weder Schwester noch Bruder besaß, als in diesen Augenblicken.

Auch heute hatte die kaum zehn Schritte entfernt Stehende die Unterredung zwischen den fremden Kindern und ihrem Vater mitangehört. Die klare Herbstluft trug jedes Wort ihr zu. Ihre Zuneigung zu dem blonden allerliebsten Mädelchen, das so zierlich wie ein Püppchen ausschaute, wuchs dadurch noch. Wie getreulich sie sich des Bruders annahm! Ach, wenn sie selbst nur wenigstens solch eine Freundin hätte!

Immer noch ließ der Zug auf sich warten. Man versäumte sicherlich den Schulanfang. Wenn es auch bei den auswärts wohnenden Schülern, die von der Pünktlichkeit der Eisenbahn abhingen, nicht gerügt wurde, unangenehm war es doch für eine Klassenerste!

Wieder schritten Lilli und Ilse aneinander vorüber. Ein silbern flimmernder Sommerfaden hing sich an Ilses welliges Braunhaar und flatterte herüber zu Lillis blonden Zöpfen.

Beide sahen das zarte Gespinst, das sie aneinanderband; beide zögerten, weiterzugehen und den Sommerfaden zu zerreißen. Sie lächelten einander zu.

Da hörte man das Rollen des herannahenden Zuges. Wie ein Ruck ging es durch Lilli. Das luftige Fädchen, das die beiden Mädchen sekundenlang miteinander verbunden hatte, flog davon. Lilli sah nur noch, wie Ilse leichtfüßig in ein Abteil zweiter Klasse hineinsprang, während sie selbst dem Vater und Lulu in die dritte Wagenklasse folgte.

Zum erstenmal empfand es Lilli betrübend, daß sie nur eine Fahrkarte dritter Klasse hatte. Nicht etwa, daß sie eine falsche Scham vor dem fremden Mädchen gefühlt hätte; nein, dafür war sie zu verständig. Aber sie wäre so gern mit ihr zusammen gefahren. Vielleicht hätte sich heute eine Anknüpfung ergeben; hatte doch der Sommerfaden sie beide schon miteinander verknüpft!

Lilli saß in ihrer Ecke und träumte. Der zum Bahnfenster hereinflirrende Sonnenstrahl verwandelte sich vor ihren Blicken in eine goldene Brücke. Auf dieser schritt zur Erde eine gütige Fee hernieder, die in der Hand eine glänzende Spule hielt. Davon flatterten die Fädchen, zart und leichtbeschwingt, in die Welt der Menschen hinein, und an wem solch ein Sommerfaden haften blieb, dem wurde er zu einem Faden des Glücks. Wenn aber das Feenfädchen zwei Menschenkinder zu gleicher Zeit streifte, so wurden sie Freunde fürs Leben, und die gütige Fee schützte ihren Bund.

So träumte Lilli, während der Zug mit ihr den rußgeschwärzten Dächern Berlins entgegenrollte.

»Ei, Lilli, schläfst du mit offenen Augen?« scherzte der Vater, dem die ungewöhnliche Schweigsamkeit seines sonst so regen Töchterchens auffiel.

Lilli fuhr empor und strich sich über die Augen, als wolle sie das Märchenbild fortwischen, das sie noch immer zum Greifen deutlich vor sich sah.

»Wenn Lilli am Tage mit offenen Augen schläft, dann erzählt sie mir immer abends in der Dämmerstunde, was sie dabei geträumt hat,« berichtete Ludwig, von seinem Julius Cäsar aufblickend, in dem er das Tagespensum noch einmal durchflog.

»Nun, Lilli, was träumst du denn gewöhnlich?« Vater griff nach den blonden Zöpfen und zog Lillis sich verlegen abwendendes Gesicht zu sich herum.

Lilli faßte seine Hand und schwieg. Dabei sah sie den Vater bittend an. Unbewußte Scheu ließ sie über ihr Innenleben schweigen; bloß Ludwig gegenüber offenbarte es sich manchmal – aber auch nur in der Dämmerstunde, wenn der Abend seine Schattentücher ausbreitete.

»Von Feen und Zwergen träumt sie, von Gnomen und Elfen; Lilli kennt diese Herrschaften alle persönlich, und die Sprache der Blumen und Vögel versteht sie auch!«

Ein kräftiger Fußtritt ließ Ludwig plötzlich innehalten. Man hätte es Lillis kleinem Fuß gar nicht zugetraut, daß er so kräftig zu treten verstand. Erschreckt sah Ludwig seiner Schwester ärgerliche Miene. O je, nun würde sie ihm gewiß nichts wieder erzählen! Und böse war sie außerdem mit ihm, daß er ihre Märchenabende ausplauderte!

Lilli schielte in stummer Verlegenheit zum Vater hin. Der machte ein ganz merkwürdiges Gesicht. Ein versonnenes Lächeln spielte um seine Lippen, und die Augen suchten etwas, ganz in der Ferne.

Vaters Augen suchten seine eigene Jugend. Geradeso hatte auch er einst im Reiche der Phantasie gelebt, hatte davon geträumt, ein Dichter zu werden, bis die Sorge um das tägliche Brot ihn in die Wirklichkeit zurückzwang. Da hatte er den Lehrerberuf ergriffen, um wenigstens mit der Jugend sein Herz jung zu erhalten. Sollte seine Tochter seine dichterische Veranlagung geerbt haben? Phantastische Spiele hatte sie schon als Kind mit ihren Puppen aufgeführt, und jetzt fiel ihm auch ein, wie oft er sich früher darüber zu freuen pflegte, daß die Kleine mit jedem Gegenstand plauderte und ein lebendes Wesen in ihm zu erblicken schien. Vielleicht wurde seinem Liliputchen einst, was ihm selbst versagt geblieben war! Aber sie durfte sich nicht im Lande der Träume verlieren, durfte nicht die Wirklichkeit darüber vergessen. Na, dafür würde die Mutter daheim mit ihrer hauswirtschaftlichen Tüchtigkeit schon Sorge tragen.

Vorläufig schien Lilli selbst dafür zu sorgen, daß sie die Wirklichkeit nicht außer acht ließ, oder vielmehr ihr Magen tat es. Denn als des Vaters Blick jetzt wieder auf sie fiel, biß sie mit ihren weißen Zähnen hungrig in die große Schnitte ein, die eigentlich erst für die Schulpause bestimmt war.

Das Brot war aufgegessen und der Zug in die Bahnhofshalle eingefahren. Heute gab es nur einen flüchtigen Abschied. Vater machte lange Schritte, um zum Gymnasium zu kommen, und Ludwig sprang ihm mit noch längeren Sätzen voraus. Nach der anderen Seite aber lief Lilli, daß die Blondzöpfe hinter ihr herwehten. Sie nahm sich nicht mal mehr Zeit, einen Blick nach der ebenfalls zur Schule jagenden Braunhaarigen zurückzuwerfen.

Alles war still in dem großen Schulgebäude, der Hof mit seinen herbstfarbigen Kastanienbäumen wie ausgestorben. Ein Viertel nach acht wies der Zeiger auf der großen Turmuhr bereits. Es war der phantastischen Lilli, als ob er ihr mißbilligend drohe.

Herzklopfend huschte sie die Treppen hinauf. Aus den Klassenräumen hallten junge Stimmen. Nun stand sie endlich vor ihrer III  M. Der dunkelblaue Hut flog an den ihr zugewiesenen Haken, und da klopfte sie auch schon mit schüchternem Finger an die Klassentür. Sie war so aufgeregt, als ob sie wirklich schuld an ihrem Zuspätkommen wäre.

Doktor Schuster erklärte gerade den elektrischen Akkumulator und hantierte mit allerlei Apparaten. Lillis leises Klopfen verhallte ungehört; sie mußte noch einmal weniger bescheiden anpochen.

Jetzt endlich vernahm sie, wie die Letzte, die nicht allzuviel Interesse für Physik hatte, glückselig über die willkommene Störung, meldete: »Herr Doktor – Herr Doktor, es hat geklopft.«

»Herein!« rief Doktor Schuster unter dem Surren seiner elektrischen Maschine und schaute über die goldene Brille auf die im Türrahmen erscheinende Lilli, die blutübergossen knickste.

»Ei, unsere Erste hat wohl heute nicht aus dem Bett finden können? Na, hast du jetzt wenigstens ausgeschlafen, Lilli Liliput?« empfing sie der liebenswürdige Herr.

Die Klasse lachte, und Lilli stimmte mit der ihr eigenen Unbefangenheit darin ein. Erst als sich die Wogen der Heiterkeit gelegt hatten, konnte sie hervorbringen: »Der Zug hatte starke Verspätung, Herr Doktor; bitte, entschuldigen Sie!«

»Nein, das kann ich wirklich nicht entschuldigen,« – Doktor Schuster setzte eine strenge Miene auf, die im merkwürdigen Gegensatz zu seinen lustigen Augen stand – »das finde ich ganz unerhört – ich meine natürlich, daß der Zug so unpünktlich gewesen ist,« setzte er lächelnd hinzu, als er Lillis erschrecktes Gesicht sah. »Daß unser Liliputchen pünktlich und gewissenhaft ist, das wissen wir ja,« setzte der beliebte Lehrer noch hinzu, als Lilli erleichtert ihren ersten Platz einnahm.

Wirklich, zu nett war Doktor Schuster! Die ganze Klasse hatte ihn gern; die meisten der III  M schwärmten sogar für ihn. Lilli mit ihrem begeisterungsfähigen Herzen hätte sich sicherlich diesen Schusterschwärmerinnen angeschlossen, doch – die Sache hatte noch einen Haken. Er nannte sie nämlich fast immer Liliputchen, das fraß an ihrem Herzen und hinderte sie, in die allgemeine Verehrung mit einzustimmen. Ja, sie hatte sich sogar »gerächt«, indem sie seinen Namen in »Schusterchen« verwandelte, und jubelnd hatten die Mitschülerinnen von dem Spitznamen Besitz ergriffen. Da hätte Lilli es gern ungeschehen gemacht; es war ihr peinlich, die Veranlassung zu dieser Angehörigkeit gegeben zu haben.

Durch besondere Aufmerksamkeit beim Unterricht suchte sie heute ihre Verspätung wieder wettzumachen. Sie folgte den Ausführungen des Lehrers mit lebhafter Anteilnahme und klarem Verständnis. Das Netteste aber war, daß sie, trotzdem sie sich bei jeder Frage meldete, doch bescheiden und zurückhaltend wirkte.

Die Schülerinnen mußten jetzt zu einem Versuch nach vorn treten. Sie reichten sich die Hände zur langen Kette, und durch diese pflanzte sich der elektrische Strom von einer zur anderen fort. Lise Neubert und Anni Lehmann hatten Angst und wollten nicht mittun. Aber Doktor Schuster nahm sie bei den Ohren und sagte: »Ei, die Löffel von den beiden Angsthäschen sind doch gar nicht so lang!« Da schämten sie sich und traten mit an.

»Rrrrr«, surrte es – ein Ruck – und »au!« tönte es von den meisten Mädchenlippen. Dann lachten sie über den gelungenen Versuch.

Lilli aber ging verträumt auf ihren Platz zurück. Gerade solchen Ruck durch den ganzen Körper hatte sie heute morgen gefühlt, als das Sommerfädchen erschreckt davongeflattert war. Lilli dachte jetzt nicht mehr an positive und negative Pole, sondern an das braunhaarige fremde Mädchen im weißen Matrosenkleid. Ob sie heute mittag wohl wieder zusammentreffen würden?

Herrn Doktor Schuster entging die Unaufmerksamkeit der sonst so lebhaft am Unterricht teilnehmenden Ersten nicht.

»Ei, hat das Liliputchen wirklich heute noch nicht ausgeschlafen?« fragte er, als sie sich bereits bei der dritten Frage nicht gemeldet hatte.

Es lag, trotzdem er die wohlwollende Anrede wie sonst gebrauchte, Mißbilligung in seinem Ton. Lillis Gedanken machten denn auch einen erschreckten Satz in die III  M zurück, und sie selbst sprang mit einem ebenso erschreckten Satz von ihrem Platz auf.

»Nun, kannst du meine Frage beantworten?« forschte der Lehrer weiter.

Lilli blickte verwirrt um sich. Sie hatte die Frage gar nicht gehört.

»Nee,« stieß sie plötzlich unter heißem Erröten als echte Berlinerin hervor.

»Na ja, es stimmt ja – nur immer weiter,« sagte Doktor Schuster wieder freundlicher. »Negativ wolltest du doch sagen, nicht wahr? Also der negative Pol ist es.«

Lilli kämpfte mit sich. Sie konnte Doktor Schuster nicht belügen; sie hatte ja gar nicht an den negativen Pol gedacht. Aber den Irrtum aufklären und sich auslachen lassen, das war gleichfalls recht schwer, besonders für eine Klassenerste, die den anderen sonst immer als Muster und gutes Beispiel hingestellt wurde.

Mit größter Aufmerksamkeit folgte sie jetzt einer jeden Frage, doch das häßliche Gefühl, unehrlich gehandelt zu haben, verließ sie nicht.

»Doktor Schuster weiß es ja nicht; der hat die Sache überhaupt schon längst vergessen,« beschwichtigte sie die unangenehme Stimme in ihrer Brust.

Die ließ sich indessen nicht zum Schweigen bringen. »Ob er's weiß oder nicht, das ändert nichts daran; vor dir selbst bist du unwahr gewesen!« Deutlich vernahm Lilli dies innere Mahnen.

Als das Klingelzeichen das Ende der Stunde anzeigte, trat die Erste an den Katheder. Doktor Schuster glaubte, sie wollte, wie sie das sonst immer zu tun pflegte, so auch jetzt die gebrauchten Apparate forträumen. Aber sie zögerte damit. Statt dessen stieß sie schnell, ehe es ihr wieder leid wurde, hervor: »Herr Doktor, ich habe vorhin, als ich ›nee‹ sagte, nicht den negativen Pol gemeint; ich wollte nur damit sagen, daß ich nicht aufgepaßt hatte.«

Ob Herr Doktor Schuster wohl sehr böse war? Ob er sie wohl nun nachträglich noch für ihre Unaufmerksamkeit bestrafen würde? Lilli hielt den Blondkopf tief gesenkt; sie wagte nicht, den Lehrer anzusehen.

Da fühlte sie seine Hand leicht über ihr Haar streichen.

»Brav, Lilli Liliput!« sagte Doktor Schuster und sah sie dabei freundlich an. »Deine Ehrlichkeit freut mich mehr, als mich deine Unaufmerksamkeit schmerzte. Letztere ist nur ein Fehler der Gedanken, erstere aber eine Eigenschaft des Herzens.«

Glücklich über das Lob des Lehrers, trug Lilli die physikalischen Geräte davon.

Der deutsche Aufsatz

Es herrschte große Aufregung während der Neunuhrpause in der III M. In der nächsten Stunde sollten die deutschen häuslichen Aufsätze zurückgegeben werden.

»Ein schöner Herbsttag« hieß das Thema. Jede hatte versucht, ihr Bestes zu leisten, und erwartete nun mit Spannung das Ergebnis. Aber Professor Heinze war ein strenger Herr, der sich nicht so leicht zufriedenstellen ließ.

Da trat er bereits in die Klasse, unter dem Arm den großen Pack Mädchenweisheit.

Die Schülerinnen erhoben sich von ihren Plätzen. Ein Stoßgebet rang sich aus manchem Herzen, denn es war der letzte Aufsatz vor der Versetzung und daher wichtig für das Oktoberzeugnis.

Auch Lilli war aufgeregt. Zwar pflegte sie immer gute Aufsätze zu schreiben, aber ob er auch diesmal Professor Heinze gefallen würde? Freilich, mit besonderer Liebe hatte sie ihn ausgearbeitet; das Thema verlockte so zum Träumen, und das tat sie ja mehr als gern.

Zuerst kamen die schlechten, die Dreier, an die Reihe. Das war ein umfangreicher Stoß, den der Lehrer da durchzusprechen hatte. Ungeschickte grammatikalische Wendungen, trockene Sätze ohne jede Ausschmückung und Beiworte, nüchterne Aufzählung von Begebenheiten, ja sogar orthographische Fehler liefen in der III M noch unter.

Hier und da sah man ein Taschentuch auf der Bildfläche erscheinen; dahinter barg sich ein weinendes Mädchengesicht. Manches Schicksal des Nichtversetztwerdens hatte der Aufsatz besiegelt.

Die Zweier und Eins-bis-Zwei wickelten sich schon schneller ab. Hin und wieder ein Wort der Anerkennung, der Aufmunterung und glänzende junge Augen als Antwort.

Lilli wartete noch immer. In begreiflicher Aufregung versuchte sie, ihr Heft zu erspähen. Aber die Deckel trugen alle dieselbe blaue Uniform wie Soldaten. Lilli mußte sich gedulden.

Alle ihre Freundinnen hatten ihr Heft schon vor sich liegen, und das ihre stand noch immer aus. Jetzt war auch der Stoß der Eins-bis-Zwei zu Ende. Ein einziges Heft harrte noch der Erledigung. Das mußte das ihre sein. War dies nun ein gutes Zeichen oder ein schlimmes? Manchmal behielt Professor Heinze die beste, oft aber auch die schlechteste Arbeit bis zum Schluß zurück. Lilli wagte in ihrer Bescheidenheit nur das letztere anzunehmen.

Wie ein Sünder, der seinen Richtspruch erwartet, saß sie auf ihrem Platz. Jetzt griff die Hand des Lehrers nach dem letzten Heft. Ach, wie langsam ging das, bis er es aufgeschlagen hatte! Nun blätterte er darin, sagte aber noch immer nichts. Die arme Lilli stand Folterqualen aus.

»Lilli Steffen!«

Lilli schnellte von ihrem Sitz; sie war ganz blaß.

»Eine hübsche Arbeit – wenigstens doch eine in der ganzen Klasse, die Phantasie besitzt – ganz allerliebst geschildert – Nummer Eins!« Damit überreichte ihr der gestrenge Herr Professor, der selten ganz zufrieden war, das Heft.