Das runde Kreuz - Nikolaus Minas - E-Book

Das runde Kreuz E-Book

Nikolaus Minas

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Beschreibung

Peter führt ein ganz normales Leben als Single. Er arbeitet für ein Reisemagazin und liebt es, in seiner Freizeit Machimasu zu spielen, eine neuartige Indoor Sportart. Sein Leben ändert sich jedoch, als er von drei Zwergen auf eine rasante Schlittenfahrt mitgenommen wird. Die Zwerge sind unmittelbar darauf wieder verschwunden, aber die blauen Flecken an Peters Hinterteil beweisen ihm, dass dieses Erlebnis wirklich stattgefunden hat. Als er kurze Zeit später die Bekanntschaft einer sprechenden Gelbbauchunke macht, wird ihm klar, dass um ihn herum etwas im Gange ist, das die Welt für immer verändern kann. Zusammen mit der Bibliothekarin Annabelle stürzt er sich in das Abenteuer seines Lebens, in dem von Kitzelmücken und Kleiderwürmern noch die geringste Gefahr ausgeht...

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Nikolaus Minas

Das runde Kreuz

Inhaltsverzeichnis

( ) ( ) Teil I. Geheimnisse ( ) ( )

1. Buch Frühling

1. Kapitel Die etwas andere Schlittenfahrt

2. Kapitel Der sprechende Teich

3. Kapitel Das Spiel im Dunkeln

2. Buch Sommer

1. Kapitel Die Frau in Grau

2. Kapitel Der ewige Wettstreit

3. Kapitel Die große Suche

( ) ( ) Teil II. Gut und Böse ( ) ( )

1. Buch Sommer

1. Kapitel Das runde Kreuz

2. Kapitel Die Pforte

3. Kapitel Das Reich der Feen

2. Buch Herbst

1. Kapitel Das verschlossene Tor

2. Kapitel Der blaue Tunnel

3. Kapitel Die Entscheidung

Impressum

( ) ( ) Teil I. Geheimnisse ( ) ( )

1. Buch Frühling

1. Kapitel Die etwas andere Schlittenfahrt

Draußen vor dem Fenster wirbelte ein schneidend kalter Wind dicke Schneeflocken durch die Luft, wütend darüber, dass er der Wärme, die in Peters Arbeitszimmer herrschte, nichts anhaben konnte. Peter stand an einem der beiden Fenster des Turms, in dem sich sein Arbeitszimmer befand, und starrte missmutig hin­aus. Er seufzte vernehmlich; nun war es bereits Anfang März und ein Ende des langen und verschneiten Winters (eines "Jahrhundertwinters", wie die Meteorologen sagten) war ebenso wenig in Sicht wie ein Meteorologe, der wirklich voraussagen konnte, wie am nächsten Tag das Wetter werden würde. Die Wettervoraussagen verkündeten schon seit einer Woche, dass mildere Meeresluft den Schneemassen und den tiefen Tempera­turen endlich ein Ende setzen würde. Aber am nächsten Tag mussten sich die Wetterkundler dann jedes Mal entschuldigen und verschoben den Wetterwechsel um einen weiteren Tag.

Peter beobachtete den kleinen Hof, der sich zwischen dem Rundturm, seinem kleinen Haus und der noch intakten Scheune, die er als Garage und als Geräteschuppen verwendete, befand. In der Dunkelheit, die nur durch die große Außenlaterne neben der Haustür ein wenig erleuchtet wurde, sah es aus, als kämpften die Schneeflocken, die sich zu zwei dichteren, wolken­artigen Gebilden formiert zu haben schienen, miteinander. Eine Wolke wälzte sich über die andere, verschmolz scheinbar mit ihr, um dann aber, Schneeflocken ausspuckend, zur Seite zu schießen und erneut auf die andere Wolke loszufahren.

Peter, von dem Schauspiel fasziniert, fröstelte es trotz der behaglichen Wärme im Inneren des Turms. Dies konnte von der Vorstellung herrühren, dass es wirklich Wesen aus Kälte und Schnee sein könnten, die dort unten einen heftigen Kampf austrugen. Aber vermutlich lag es einfach daran, dass er gleich durch dieses eisige Wetter gehen musste, um in das Haus zu gelangen – mit einem lockenden warmen Bett und vielleicht noch einem heißen Grog und einigen Seiten in einem guten Buch vor dem Schlafengehen.

Er seufzte nochmals, wandte sich vom Fenster ab und beschloss, doch noch ein wenig zu arbeiten.

Er setzte sich an seinen alten Kirschholzschreibtisch und ver­suchte, seine Gedanken auf die Arbeit zu konzentrieren. Peter war Journalist bei einem Reisemagazin und unter anderem umfasste sein Arbeitsgebiet eine Aufgabe, die ihm besonderen Spaß bereitete, weil er sich dabei oft amüsieren konnte (ja manchmal lauthals herauslachen musste). Er musste das Material, dass „normale“ Reisende einsandten, die sich von der Muse geküsst fühlten, prüfen, ob es für einen Abdruck in dem Magazin in Frage kam, und es in eine geeignete Form bringen. Vor ihm lagen einige Fotos und ein sechsseitiges "Manuskript". Diese waren von einer älte­ren Dame eingereicht worden, die es (möglicherweise durch einen Buchungsfehler im Reisebüro, wie er boshaft dachte) nach Mauritius ver­schlagen hatte. Die Fotos zeigten im wesent­lichen Landschaftsaufnahmen und waren durchaus an­sehnlich. Das "Manuskript" aber bestand aus ziemlich zusam­menhanglosen Stichwörtern, in denen es vor sehnsüchtigen Vergleichen mit der Insel Mallorca nur so wimmelte. Peter hielt das Schriftstück für absolut unbrauchbar. Sein Vorge­setzter, dem wohl der Gedanke gefiel, dass eine ältere Frau ihr Einkommen durch Reisebe­richte aufbessern könnte, hatte ihn je­doch gebeten, zumindest einen Versuch zu wagen, das Gestam­mel in einen lesbaren Arti­kel zu verwandeln.

An diesem Freitag hatte er sich dazu aufgerafft, das Material für den entscheidenden Alles-oder-nichts-Versuch mit nach Hause zu nehmen. Den ganzen Abend über hatte er an seinem Computer jedoch nur einige Anfänge zustande gebracht und wenige Minuten spä­ter wieder gelöscht. Er nahm eins der Bilder in die Hand, auf dem ein Hafen zu sehen war, in dem auch ein alter großer Turm stand.

Da er ohnehin nicht bei der Sache war, schweiften seine Gedanken unwillkürlich in die Zeit ab, in der er den Turm, in dem er jetzt saß, zum ersten Mal seit seiner Kindheit wiedergesehen hatte. Als Kind war er in den Schulferien regelmäßig auf dem kleinen Bau­ernhof, der seinem Onkel Bert gehört hatte, zu Besuch gewesen. Zur Ausbildung hatte es ihn aber in eine weit entfernte Großstadt im Norden des Landes verschlagen. Währenddessen war der Kontakt zu seinem Onkel bis auf die Standard-Grußkarten „Weihnachten-Ostern-Geburtstag“ eingeschlafen. Onkel Bert war vor drei Jahren gestorben und hatte den Hof ihm als einzigem noch lebenden Verwandten vermacht. Als Peter im Frühjahr vor drei Jahren nach langer Zeit das Anwesen zum ersten Mal wiedergesehen hatte, war er zunächst entsetzt gewesen. Der Hof hatte sich in einem erbar­mungswürdigen Zustand befunden: eine der beiden Scheunen war ganz eingestürzt, die andere halb verfallen, das Dach des Hauses war undicht gewesen und das Fachwerkholz schrie nach Renovierungsmaßnahmen. Nur der Turm war in einem verhältnismäßig guten Zu­stand gewesen. Seine Wände bestanden bis kurz oberhalb der Eichentür aus hellbraun-ockerfarbenen Felssteinen, auf die dann eine etwa sieben Meter hohe Konstruktion aus Fachwerk gesetzt war. Das kupferverkleidete Dach, das schon von der Talstraße aus zu sehen war, schimmerte im Son­nenschein in vielfachen Grüntönen, von dem Farbton verdorrenden Grases über Smaragdgrün bis hin zu dem dun­kelgrünen Farbton, der in Tannenwäldern vor­herrscht, wenn sie von dem Licht einer tiefstehenden Sonne durchflutet werden.

Peter hatte sich damals gefragt, ob er den Hof nicht einfach ver­kaufen und dann vergessen sollte. Als er jedoch ein wenig auf dem kleinen Wiesenstück, das vor dem Hof lag, entlang schlenderte, traurig über den Tod des Onkels und frustriert über den Verfall, dem der Hof seit seinem letzten Aufenthalt ausgesetzt gewesen war, stellte er wieder einmal fest, was für ein wunderschöner Ort dies hier war. Er stand inmitten eines blühenden saftig-grünen Teppichs voller satt-rotem Klatschmohn, dezent-violettem Wie­sen-Schaumkraut, frühlingssonnengelbem Löwenzahn und hell­rosafarbenem Wiesen-Klee. Als er die kleine Straße heraufge­kommen war, die von der Talstraße Richtung Engelskirchen abzweigte und hangaufwärts in mehreren Kurven zunächst durch Laub-Mischwald führte, be­vor sie dann kurz vor dem Hof über die kleine Wiese verlief, war ihm die Blütenpracht gar nicht richtig bewusst geworden. Als er sich nun aber bückte und unter den Wiesenblumen auch einige purpurrot blühende Narrenkäppchen – eine Orchideenart, deren Blüten wie eine kleine Narrenkappe geformt sind – entdeckte, kam ihm der Gedanke, ob es sich nicht doch lohnen würde, den Hof wieder in Schuss zu bringen und hier zu leben.

Als er dann auf einem kleinen Waldspaziergang noch einige Ex­emplare einer weiteren Orchideenart fand, nämlich des Roten Waldvögleins, war er überzeugt, dass er nicht so bald wieder eine Chance bekommen würde, in einer derart herrlichen Umgebung ein eigenes Anwesen zu besitzen. Sein Entschluss stand fest: er würde jemanden, der sich in Altbaurestau­rierungen auskannte, fragen, ob sich der Hof mit vertretbarem finanziellem Aufwand wieder in einen bewohnbaren Zustand versetzen ließ. Er konnte seine Arbeit von jedem Ort der Erde ausüben, der mit einer Internetverbindung gesegnet war, also warum nicht von hier aus.

Direkt am nächsten Tag begab er sich in die nahe gelegene Kleinstadt Mauckewicke. Dort führte ein früherer Freund namens Jorek Jordanek inzwischen ein Reisebüro. Jorek, oder „Jojo“, wie er überall genannt wurde, war einige Jahre älter als Peter und früher so etwas wie ein großer Bruder für ihn gewesen. Peter hatte ihn gerade wegen seines handwerklichen Geschicks und Einfallsreichtums immer be­wundert – und Jojo war sofort bereit gewesen, Peter bei seiner Entscheidung behilflich zu sein.

Er schaute sich noch am gleichen Nachmittag den Hof an und nannte für das erforderliche Baumaterial überschlagsmäßig einen Betrag, der Peters Bankguthaben ungefähr zur Hälfte verschlingen würde. Als Jojo ihm anbot, an den Wochenen­den mit Hand anzulegen und Peter beim Einkauf der Materialien zu unterstützen, stand seine Entscheidung fest.

In den folgenden beiden Monaten nahmen sich die beiden erst den Turm vor (in den erstaunlich wenig investiert werden musste) und rissen die ohnehin eingefallene Scheune ganz ab und legten stattdessen einen Gemüsegarten an. Jojo war ganz be­geistert gewesen, als Peter auf seinen Vorschlag eingegangen war, diese Scheune zu "renaturieren". In weiteren zwei Monaten wurde die andere Scheune wieder gebrauchsfähig gemacht und schließlich das Wohngebäude restauriert, wobei sich herausge­stellt hatte, dass die Schäden hier nur den Außenbereich, nämlich das Dach und das außenliegende Fachwerk, betrafen.

Diese Zeit, in der die beiden Männer auch in ihrer Freizeit einiges unternahmen, Sport trieben, Schach spielten und inten­sive Diskussionen führten, hatte die Freundschaft zwischen ihnen wieder vertieft.

Peter hatte sich für Jojos Hilfe vor allem mit einer Ge­schäftsidee bedankt, welche ihm schon vor einigen Jahren ge­kommen war: es handelte sich um das Organisieren von Erleb­nisreisen, in denen der bzw. die Reiseteilnehmer (zumeist Pär­chen oder Familien mit Kindern) die gewünschte Reisedauer, das gewünschte Fortbewegungsmittel und den gewünschten Reise­zielbereich angeben mussten und dann einen Spielplan ausge­händigt bekamen, der die Reiseroute und den Aufenthalt am Zielort beeinflusste. Ge­genstand des Spielplans war immer, dass die Reisenden im Verlauf der Reise eine Aufgabe lösen musste. Meistens nahmen sie die Rolle von Detektiven oder Forschern ein und mussten Hinweisen folgen, die sie im Laufe der Reise von verschiedenen Personen erhielten. In dem Spielplan waren auch Sehenswürdigkeiten aufgeführt unter Angabe der Zeit, die man durchschnittlich für eine Besich­tigung bzw. einen Besuch verwenden sollte. Gelang die Lösung der Aufgabe, wurde man mit einem Geldgutschein belohnt, den man einlösen oder für die nächste Reise oder den nächsten Aus­flug als Anzahlung nutzen konnte. Diese Idee war bei der Kund­schaft derart überwältigend angekommen, dass Jojo schließlich nur noch wenig Freizeit blieb. Er plante immer neue Strecken mit immer neuen Auf­gaben und hatte die Grund-Idee noch weiter ausgebaut. Er hatte z.B. et­liche ältere Damen als "Hinweisgeberinnen" verpflichtet, die zugleich die Reisenden mit Kaffee und – meist selbstgebackenem – Kuchen bewirteten und denen er Pauschalhonorare pro Reisen­dem zahlte. So war es gekommen, dass sie sich jetzt eher selten sahen.

Peter seufzte ein drittes Mal und dachte, dass er im Nachhinein sehr glücklich sein musste über die Entscheidung, sich hier häuslich niederzulassen. Zu allem Überfluss hatte er sehr schnell eine bessere Arbeitsstelle in ei­nem Verlag in Immerbach gefunden. Er hatte nach Abschluss der Renovierungs­arbei­ten den Hof teils mit seinen eigenen, teils mit den Möbeln seines Onkels (von denen er einige guterhaltene Stücke Jojo ver­macht hatte) eingerichtet, wobei er darauf geachtet hatte, den Wohnraum nicht allzu sehr mit Möbelstücken einzuengen. Der Turm war hierfür ein Musterbeispiel.

In dem Turmzimmer befanden sich lediglich sein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Papierkorb, ein Bücherregal, ein Ölgemälde, ein Heizlüfter und eine Pflanze.

In der Mitte des Raumes befand sich der alte Kirschholzschreib­tisch, den er selbst zu Beginn seiner Ausbildungszeit auf einem Flohmarkt erstanden hatte und mit sehr viel Arbeitsaufwand (unter peinlichster Beachtung der Anweisungen in einem Buch für Hobby-Restaurateure) wieder aufgearbeitet hatte. Um den Schreibtisch hier aufstellen zu können, hatte er ihn unten im Hof zerlegen und hier oben wieder zusammenleimen müssen. Auf dem Schreibtisch befand sich sein Computer und ein großer Monitor. Der Drucker stand neben dem Schreibtisch vor einem kleinen Papierkorb aus Flechtkorb.

In nicht besonders großem Abstand seitlich des Schreibtischs befanden sich die beiden Fenster des Turms. Die Fensterbank des Fensters, welches zum Hof zeigte (und unter dem sich die Falltür be­fand, die den Zugang zum Turmzimmer darstellte), war völlig frei, auf der anderen Fensterbank stand Wilfried in seinem blauen Übertopf. Wilfried war ein Baumfarn (lateinisch Dicksonia antarctica), den Peters Vater ihm zu seinem neunten oder zehn­ten Geburtstag geschenkt hatte. Wilfried hatte ursprünglich sei­nen Standort im Wohnzimmer des Hauses gehabt, war dort je­doch den Attacken von St. Benedict Junior, kurz Junior genannt, schutzlos ausgeliefert gewesen. Junior war ein pechschwarzer Kater mit dunkelbernsteinfarbenen Augen, der Peter während der ersten Renovierungsphase zugelau­fen war. Von der Zeichnung des Fells her hatte ihn die Katze an St. Benedict erinnert, eine von Onkel Berts Hofkatzen. Er dachte sich, dass dies sehr gut ein Nachfahre von St. Benedict sein könnte und hatte den Kater St. Benedict Junior getauft und später der Einfachheit halber nur noch Junior genannt. Junior hatte es sich zum Sport gemacht, seine überschüssige Energie (oder den Ärger über Peters Sparsamkeit mit den teuren "Gourmet-Leckerbissen für die anspruchsvolle Katze") an Wilfried auszulassen: Jedes Mal, wenn Ju­nior das Haus verließ, verpasste er einem der Wedel des Baum­farns mit ausgefahrenen Krallen einen kräftigen Seitenschwin­ger. Wenn Junior das Haus betrat, pirschte er sich vorsichtig über den Bo­den kriechend an die Pflanze heran und sprang dann mitten ins Grün, wobei er mit seinen spitzen Zähnen mal hierhin und mal dorthin biss. Nachdem Wilfrieds natürliche Eleganz und Vitalität deutlich nachgelassen hatten, hatte sich Peter entschie­den, ihm hier oben im Turm ein katzensicheres Exil zu verschaf­fen. Dieser Schritt hatte Wilfrieds vollständige Genesung bewirkt. Junior hatte seine anfängliche Verbitterung über Wilfrieds plötz­liche Flucht aus seinem Machtbereich dann schnell damit über­wun­den, dass er sich Peters Hausschuhe als Opfer auserkoren hatte. Lediglich ein paar markante Kratzspuren an der Türe des Turms zeugten von seinen Versuchen, "Kontakt" mit Wilfried aufzu­nehmen.

An der Wand zwischen der Falltür und dem anderen Fenster stand das Bücherregal, welches nur einige wenige ältere Bücher beherbergte. Wenn man den Blick dann der runden Wand folgen ließ, erblickte man in der Mitte zwischen den beiden Fenstern ein Ölgemälde. Es handelte sich um eine Kopie des Bilds "Die Blan­kovollmacht" des belgischen Malers René Magritte, dessen Original in der Na­tional Gallery of Art in Washington hing. Das Bild, das sein Onkel Bert in den siebziger Jahren von einem Freund erworben hatte, da es ihn ungemein fasziniert hatte, war mit Öl auf Leinwand gemalt und war etwa 80 cm hoch und 60 cm breit. Es zeigte eine aufrecht sitzende Dame, gekleidet mit einem grau-vio­letten Kostüm, die auf einem hellbraunen Pferd durch einen Laubwald ritt. Das Besondere an dem Bild war, dass Pferd und Reiterin durch die Bäume bzw. die Zwischenräume zwischen den Bäumen regelrecht zerstückelt wurden: während das Hinter­teil des Pfer­des hinter einem Baum verschwand, der sich im Hintergrund des Bilds befand, befand sich der Mittelteil des Pferdes mit Sattel und Dame vor einem Baum, der sich eher im Vordergrund des Bilds befand. Eine Lücke zwischen den Bäumen ließ nur das grüne Blattwerk im Hintergrund des Waldes und Waldboden durchscheinen (und "verdeckte" so den Teil zwi­schen Sattel und Kopf des Pferdes), bevor dann wiederum vor einem Baum im Vordergrund des Bilds der Kopf des Tiers und die Vorderbeine zu sehen waren.

Zwischen diesem Bild und dem Fenster zur Hofseite stand der elektrische Heizlüfter.

Der Lüfter sprang nun wieder an, nachdem die Raumtemperatur unmerklich gesunken war, und holte mit seinem leisen Rauschen Peter in die Gegenwart zurück. Er sah sich nochmals das Ur­laubsbild der Mauritius-Reisenden an und schaute auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor Mitternacht und er merkte, dass er ziemlich müde geworden war. Heute würde er bestimmt nichts Vernünftiges mehr zusammenbringen, so dass er beschloss, dem Schneetreiben zu trotzen und ins Haus hinüber zu gehen. Er schaltete Computer und Deckenstrahler aus, drehte den Heizlüfter auf knapp über Frostschutz herunter, öffnete die Falltür und kletterte die schmale Wendeltreppe hinunter, die von einer spärlichen Beleuchtung mehr schlecht als recht erhellt wurde. Er machte sich darauf gefasst, dass ihm der Wind unangenehme Kälte und Schneeflocken ins Gesicht werfen würde und öffnete die Turm­tür. Der Wind blies ihm sogar entsetzlich strenge Kälte ins Ge­sicht und überhäufte ihn geradezu mit Schneeflocken. Dazu zerrte er wild an seinen Kleidern und seinen Haaren. Er schloss ganz schnell die Tür zu und lief – wahrscheinlich mit persönli­chem Geschwindigkeitsrekord – zum Haus hinüber. Ohne sich nochmals umzublicken schloss er die Tür auf und ver­schwand im Inneren, um ins Bett zu gehen.

Hätte sich Peter nach dem Aufschließen der Haustür nochmals umgedreht und zum Turmfenster hochgeblickt, hätte er viel­leicht trotz des starken Schneetreibens erkennen können, wie oben im Turm der Monitor wieder in Betrieb ging.

Während der Nacht wurde Peter mehrmals wach. Der Wind hatte sich verstärkt und heulte lautstark ums Haus. Peter meinte, zwi­schen dem Heulen des Windes noch andere, irgendwie knir­schende und ächzende Geräusche zu hören, aber der Himmel mochte wissen, welcher Sparren der Scheune sich gelockert hatte und nun meinte, im Konzert des Wintersturms mitspielen zu müssen. Er lag jedenfalls im warmen Bett (in das sich kurz nach Peter auch Junior verzogen hatte, der sich am Fußende zusam­mengerollt hatte) und interessierte sich überhaupt nicht dafür, was zurzeit draußen vorging.

Gegen Morgen legte sich der Sturm dann, was Peter nur im Halb­schlaf registrierte. Auch, dass Junior sich zu diesem Zeitpunkt er­hob, um draußen nach dem Rechten zu sehen und eventuell eines seiner Geschäfte zu verrichten, kurz danach aber mit einem verwirrten und verängstigten Ausdruck in seinen bernsteinfarbenen Augen maunzend wieder zurückgeschlichen kam, bekam Peter nicht mit.

Am Samstagmorgen stellte er fest, dass der Wind eine ordentliche Menge Schnee zurückgelassen hatte. Nach dem Frühstück begab sich Peter nach draußen, um die Hoffläche freizuschaufeln, bevor er mit seinem Geländewagen in die Stadt einkaufen fuhr. Die Luft war beißend kalt, der Schnee knirschte ganz leise unter den Füßen und der Himmel war von einem leicht gelblich eingefärb­ten Grau, welches eher noch weitere Schneefälle vermuten ließ, nicht aber ein nahes Winterende. Peter stellte fest, dass der Schnee an manchen Stellen der Hoffläche regelrecht plattge­drückt war und leichte Kuhlen bildete. An diesen Stellen musste er die Schneeschaufel deutlich fester in den Schnee hineindrücken. Einen Reim auf diese Erscheinung konnte er sich nicht ma­chen. Seltsam fand er auch, dass in dem Schnee Spuren eines Tiers zu erkennen waren, die zu der Turmtür führten und dort einige Kreise bildeten. Diese hätten ja ohne weiteres von Junior stammen können, wären sie nicht aus dem Wald unterhalb der Wiese gekommen, wo sie auch wieder hinführten. Bei nähe­rer Untersuchung stellte er fest, dass die Spuren wahrscheinlich von einem Fuchs stammten. Schleierhaft war allerdings, was das Tier dort wohl gesucht hatte.

Peter blieb bis über den Mittag in Mauckewicke. Er kaufte zunächst Lebensmittel für die ganze kommende Woche ein und aß dann in einem kleinen griechischen Restaurant zu Mittag. Während es im Laufe des Vormittags noch ganz leicht geschneit hatte, lockerte sich die Wolkendecke während des Mittagessens auf und die Sonne spähte zwischen den Wolken hindurch. Peter beschloss, durch das kleine Städtchen zu schlendern und Jojo mit einem Überraschungsbesuch zu beehren, um den Nachmittag vielleicht mit einem Schachspiel oder einigen Partien Carrom zu verbringen. Vielleicht könnte er seinen Freund auch in eines der gutbestückten Cafés einladen. Als er am anderen Ende von Mauckewicke angekommen war, teilte ihm Jojos Vermieterin, die im gleichen Haus wohnte, allerdings mit, sein Freund sei wieder in "irgend so einer Reisesache" unterwegs. Sie prophezeite Peter, sein Freund werde, wenn er nicht das Wo­chenende als Zeitspanne der Erho­lung zu respektieren begänne, nichts von dem mühsam erarbei­teten Geld haben, da er dann si­cherlich in den nächsten drei Jah­ren einem Herzinfarkt erliegen werde. Peter blieb nichts anderes übrig, als wieder zurück zu ­spazieren, was ihm jedoch nicht be­sonders leidtat, da er es ge­radezu genoss, nach den Wochen nur grauen Himmels wieder ein paar Sonnenstrahlen abzubekom­men, auch wenn diese die kalte Luft in keiner Weise aufwärm­ten. Er aß allein in einem Café ein Stück Marzipantorte mit kan­dierten Früchten und genehmigte sich dazu eine kleine Kanne Kakao, der hier noch richtig mit Milch und Sahne gemacht wurde.

Dann fuhr er wieder nach Hause, wobei er die kleine Seitenstraße zum Hof nur im Vierradantrieb bewältigen konnte, da der klare Himmel gerade jetzt am späten Nachmittag für strenge Kälte und dementsprechende Glätte sorgte. Er stellte den Wagen in die Scheune und ging zum Haus hinüber. Dabei fiel ihm auf, dass auf der leichten Schneedecke, die sich vormittags gebildet hatte, wieder Tierspuren – diesmal offenbar die von zwei Füchsen – zur Turmtür führten und dann wieder im Wald verschwanden. Er beschloss, Juniors Katzentür in dieser Nacht sicherheitshalber verschlossen zu halten.

Peter schaute sich während des Abendessens, das aus einigen Scheiben eines heute frisch gekauften Sesambrots bestand, die Nachrichten im Fernseher an. Die Wettervorhersage wurde von einem resignierten Meteorologen vorgetragen, der mit einem müden Lächeln zu dem Ergebnis kam, dass der Winter sich wohl doch nicht so bald vertreiben lasse. Peter nahm danach ein ausgedehntes heißes Bad und ging früh zu Bett. Er schaute vorher noch kurz aus dem Schlafzimmerfenster auf den Hof und zum Turm hin, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Es war Vollmond und der Hof war so hell erleuchtet, wie dies nachts nur ein voller Mond mit Unterstützung der Re­flektion des Lichts durch den Schnee schaffen kann. Alles lag friedlich da. Mit einem beruhigten Brummlaut wandte sich Peter vom Fenster ab und schlüpfte unter die Bettdecke. Junior, der mitten auf dem Bett gelegen hatte, miaute protestierend, weil er den schon angewärmten Platz im Zentrum verlassen musste, ku­schelte sich dann jedoch in Peters angewinkelte Beine.

Wenige Minuten später ging im Turm wieder das Licht des Monitors an, und eine weitere Viertelstunde später näherte sich aus dem Wald unterhalb der kleinen Wiese ein drei Füchse zählender Trupp, der sich zu dem Turm begab. Die Füchse starrten zu dem Fenster hoch, das über ihnen lag, und steckten dann beratschla­gend die Köpfe zusammen. Sodann sprang das schwerste der Tiere zu der Türklinke hoch und klammerte sich dort mit Zähnen und Pfoten fest. Die Klinke bewegte sich dabei nach unten. Die anderen beiden Füchse scharrten mit ihren Vorderpfoten an dem Türspalt herum und versuchten, die Tür auf diese Weise zu öff­nen. Da sie abgeschlossen war, misslang dieser Versuch und die Tiere gaben schließlich auf. Sie schlichen wieder in den Wald zu­rück, wobei sie sich öfter herumdrehten und zu dem Turm zu­rückblickten, als ob dort jeden Augenblick etwas Neues passieren könnte.

Ein leichter Wind hüllte einige Zeit später den Mond in dünne Wolken, so dass er nur noch als silbrige Silhouette zu sehen war. Der Wind strich über den Hof und verwehte die Spuren der Füchse...

Der nächste Morgen begrüßte die Welt um Mauckewicke und Engelskirchen mit einer strahlenden Sonne und herrlich blauem Himmel, allerdings auch mit Temperaturen von einigen Grad Mi­nus. Nachdem Peter die Turmtür inspiziert hatte und dort nichts Verdächtiges finden konnte, ließ er Junior an die fri­sche Luft und beschloss, einen ausgedehnten Waldspazier­gang zu unternehmen.

Er zog sich eine dicke Winterjacke, Handschuhe und seine dun­kelblaue Zipfelmütze aus Angorawolle an, die er sich an einigen langweiligen Ta­gen während der Ausbildung selbst gestrickt hatte, was ihm den Spott seiner Freunde eingetragen hatte, die ihm einige Tage lang für seine Perfektion in "Mädchenhobbies" gratuliert hatten und ihn gefragt hatten, ob er auch für ein Date zur Verfügung stünde. Heute war er stolz auf diesen nützlichen Beweis künstlerischer Schaffenskraft. Er machte sich auf den Weg an der Scheune vorbei zu dem hinter dem Hof weiter berg­aufwärts führenden Wald. Als er an der Scheune vorbeikam, hörte er aus deren Innerem kratzende und schabende Geräusche. Er dachte, dass sich dort irgendein Tier befände (möglicherweise ein Wiesel oder ein Marder) und dass er vor dem Spaziergang besser nach dem Rechten sehen sollte. Er öffnete die Tür zur Scheune und ging an seinem Geländewagen vorbei in den hinteren Teil, aus dem die Geräusche kamen – und prallte vor Überraschung ein Stück zurück. Das, was er sah, kam ihm derart grotesk vor, dass er auf dem Weg zu ­Lachen oder Schreien gar keinen Laut herausbrachte: vor ihm standen augenscheinlich drei Zwerge!

Die drei hatten völlig klischeehaft grüne Zipfelmützen an, waren in dun­kelgrüne Mäntel gehüllt, von rundlicher Figur und reichten Peter noch nicht einmal bis zum Bauchnabel. Sie stan­den um einen al­ten Schlitten versammelt, den sie aufrecht hin­gestellt hatten und versuchten nun offenbar, die rostigen Kufen mit Holz­stücken wieder blank zu reiben. Sie sahen Peter allerdings kein bisschen ängstlich oder überrascht, sondern eher fragend an.

Nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens gelang es Peter, erste fragende Laute her­vorzubrin­gen, die er dann schließlich doch mit den Worten "Wer zum Teufel seid ihr?" in einer für alle verständlichen Form zusammenfassen konnte.

"Wie sehen wir denn aus?", fragte einer der Zwerge, der ein we­nig älter und rundlicher aussah als die beiden anderen. Zudem trug er als einziger eine Brille, eine silbrige runde Brille, die so nah an den Augen saß, dass sie Gefahr lief, seine buschigen Au­genbrauen platt zu drücken. Die Frage war mit einer dunklen, klu­gen Stimme gestellt und durchaus freundlich betont, wenn auch – wie es Peter schien – mit einem leisen sarkastischen Unterton.

"Ja, wie sehen wir denn wohl aus?", fragte der zweite der Zwerge, der so aussah, als ob er jeden Augenblick in lautes Gelächter ausbrechen wollte. Die Enden seines dicken, nach oben gezwir­belten Schnurrbarts zitterten schon verdächtig. Er betonte seine Frage mit merklichem Spott.

"Nun, Mensch, wer oder was könnten wir deiner Meinung nach wohl sein?", fragte der dritte Zwerg, der etwas schlanker und jünger aussah als die beiden anderen. Er stellte diese Frage mit schon fast höhnischem Unterton. Dies bereitete dem zweiten Zwerg offensichtlich Probleme, sich zu beherrschen. Er prustete los, nachdem er vergeblich versucht hatte, seine Lippen fest aufein­anderzupressen; ein nachsichtig-ermah­nender Blick des Al­ten und ein vorwurfsvoll-überheblicher Blick des Jüngeren brachten ihn aber wieder zur Ruhe.

Peter sah von einem zum anderen und fragte dann ganz zaghaft:

"Z-w-e-r-g-e?"

"Eine wahrhaft einsteinisch zu nennende Schlussfolgerung, Mensch", sagte der älteste der Zwerge, den Zeigefinger seiner linken Hand hebend und bewundernd mit dem Kopf nickend. Die beiden an­deren Zwerge nickten sich lächelnd zu und derjenige mit dem gewaltigen Schnurrbart sagte erleichtert:

"Er hat‘s!"

Peter hatte nun seine erste Überraschung überwunden und fragte:

"Was macht ihr hier und woher kommt ihr? Gibt es euch wirklich oder leide ich jetzt an Halluzinationen?"

"Erstens: das siehst du doch, zweitens: das geht dich gar nichts an, drittens: ja und viertens: nein", sagte der älteste Zwerg, der wohl so etwas wie der Wortführer des seltsamen Trupps war.

"Aber ich verstehe überhaupt nichts mehr. Ich denke, ihr seid mir doch eine etwas ausführlichere Erklärung schuldig", meinte Peter.

Der jüngste Zwerg, der zum Schluss die Kufen wieder mit einem Holzstückchen bearbeitet hatte, sagte jetzt kurzangebunden:

"Wollen wir hier Wurzeln schlagen? Anstatt hier weiter Konver­sation zu treiben, solltest du lieber mithelfen, Mensch."

Mit diesen Worten schickten sich die Zwerge an, den Schlitten zu dritt anzuheben und damit die Scheune zu verlassen. Peter hatte zwar gewusst, dass hier hinten in der Scheune ein alter Schlitten von früher herumlag, aber mit einem Mal kam ihm der Schlitten recht lang vor. Er fasste also mit an, da er – zumindest jetzt – keine längere Erklärung erwarten konnte, und trottete den Zwergen hinterher. Gleichzeitig tastete er in seinen Taschen nach seinem Smartphone, um ein Foto der drei Zwerge zu machen. Es war ja klar, dass ihn jeder für verrückt halten würde, dem er von diesem Ereignis erzählen würde. Er suchte jedoch vergeblich. Dann fiel ihm ein, dass er das Gerät auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte und er stöhnte verärgert auf. Die Zwerge verließen die Scheune und wand­ten sich in Richtung des Waldes, der oberhalb des Hofes lag. Sie gingen zielstrebig auf eine Stelle zu, die sich bei näherem Hin­kommen als Höhleneingang entpuppte. Peter wusste ganz genau, dass sich hier noch nie eine Höhle befunden hatte, aber er war noch so perplex, dass ihn im Mo­ment gar nichts mehr wundern konnte. Die Zwerge stellten den Schlitten vor dem Höhleneingang ab. Wenige Zen­timeter dahinter war es stockdunkel. Peter konnte nichts erken­nen, außer, dass der Höhleneingang und auch die Wände mit dickem Eis bedeckt waren.

"Nun, Mensch, bist du mit von der Partie oder bist du zu feige für eine kleine Schlittenfahrt?", fragte der jüngste der Zwerge in ei­nem überheblichen Ton, Peter dabei neugierig musternd.

"Ihr wollt da hineinfahren?", fragte Peter, "wo geht‘s denn da überhaupt hin?"

"Wenn du nicht mitfährst, Mensch, wirst du dies nie erfahren", sagte der ältere Zwerg, wobei er den linken Zeigefinger wieder belehrend in die Höhe hielt.

"Nun, von Brünn, wollt ihr ganz vorne sitzen?", fragte er sodann den jüngsten Zwerg, der den Schlitten an den Höhleneingang herangeschoben hatte. Dieser nickte kurz und setzte sich als er­ster auf den Schlitten.

"Von Oggenfock? Wollt ihr als zweiter Platz nehmen?", wandte sich der älteste Zwerg nun an denjenigen mit dem Schnauzbart.

"Sicherlich, Professor", sagte dieser und setzte sich hinter den wartenden von Brünn.

"Dann wollen wir mal" sagte der älteste, nahm Platz und fragte über seine rechte Schulter hinweg:

"Ein Platz ist noch frei. Entscheide dich, Mensch!"

Peter überlegte nicht lange und quetschte sich hinter den älte­sten, der mit "Professor" angesprochen worden war. Viel Platz blieb ihm nicht gerade und er dachte schon daran, doch lieber wieder abzusteigen, als die drei Zwerge laut "Huiiii!" riefen und sich mit ihren Füßen abstießen und den Schlitten in die Dunkel­heit schoben.

Die Höhle, die eisige Kälte ausströmte, führte schon nach etwa wenigen Metern steil in die Tiefe. Der Schlitten gewann rasch an Tempo und sauste auf dem eisigen Untergrund immer schneller voran. Peter glaubte zu spüren, dass die Höhle einen verhältnismäßig kleinen Durchmesser hatte. Er duckte sich, so tief er konnte und klammerte sich an das Holz des Schlittens, da der Untergrund stellenweise leichte Unebenheiten auf­wies und er Gefahr lief, vom Schlitten zu rutschen. Nach kurzer Zeit führte die Höhle nicht ein­fach nur geradeaus, sondern begann in Kurven zu verlaufen. Die Zwerge mussten die Stelle mit der ersten Kurve irgendwie ken­nen, da sie kurz vorher laut lachend "Hoho!!" und "Jaaahuuuuu!!!" brüllten. In der Höhle hallten die Rufe vielfach wider, so als ob Peter mit einer ganzen Busladung von Zwergen unterwegs sei.

Die erste Kurve beschrieb einen weiten Linksbogen, in dem sich der Schlitten wie in einer Zentrifuge vom Höhlenboden wegbe­wegte und nun an der rechten Wand entlangfegte. Peter begann zu ahnen, wie man sich als Bobsportler wohl fühlen mochte, wenn der Bob in eine Steilkurve hereinsauste. Allerdings saßen die Bobsportler im Gegensatz zu ihm sicher umhüllt, während ihn eine leichte Unauf­merksamkeit von seinem Gefährt werfen konnte, das außerdem alles anders als die Stabilität eines Bobs aufwies. Peter hoffte, dass der Schlitten sich nicht plötzlich in seine Bestandteile auflöste. Die Kurve zog sich spiralartig immer weiter zu und führte dann noch steiler nach unten. Der Schlitten wurde dabei bis an die Höhlendecke gepresst und Peter dachte an frühere Fahrten in Freizeitparks mit Achterbahnen, die manchmal auch seitliche Spiraldrehungen enthalten hatten. Ge­gen die jetzige Fahrt er­schienen ihm diese Erlebnisse allerdings so harmlos wie eine Runde auf dem Kinderkarussell.

Mit einem halben Looping abwärts beschrieb der Höhlengang einen runden Bogen und die Höhlendecke wurde wieder zum Höhlenboden.

Unter anderen Umständen wäre es Peter vielleicht übel gewor­den, aber die eisige Kälte, die seine Finger trotz der Handschuhe taub werden ließ, seine Nase in einen gefühllosen Eiszapfen ver­wandelt hatte und seine Ohren trotz Angora-Mütze schmerzen ließ, wirkte jeder Übelkeit entge­gen.

Eine kleine Strecke lang verlief der Eiskanal fast waagerecht, al­lerdings war er mit abwechselnden Rechts- und Linkskurven ge­spickt, so dass der Schlitten in rasanter Fahrt die Seitenwände nach links und rechts erkletterte. Peter betete, dass der Schlitten nicht umkippte – sein Kopf jedenfalls wurde abwech­selnd zur rechten und zur linken Schulter gerissen.

Dann näherte sich ein runder Lichtfleck, auf den der Schlitten zuhielt, mit kaum fassbarer Geschwindigkeit. Hierbei stellte Peter fest, dass sich der Höh­lengang deutlich erweiterte und schließlich in eine gigantische Halle führte. Diese war von einem stahlblauen Licht erfüllt, des­sen Herkunft nicht ersichtlich war. In dieser diffusen Beleuch­tung erblickte Peter über sich riesige Eiszapfen, die von einer nicht zu erkennenden Decke herabhingen. Neben der Fahrspur wuchsen größere und kleinere "Termitenhügel" aus Eis aus dem Hallenbo­den, so dass es schien, als bewege sich der Schlitten durch eine Heidelandschaft mit Sträuchern und zypressenartigen Gewächsen aus Eis.

Ihr mittlerweile vernehmlich knarrender fahrbarer Untersatz trug die drei Zwerge und ihren menschlichen Begleiter durch diese Wun­derwelt aus Kälte und gefrorenem Wasser, die durch immer neue Formen und hellere und dunklere Lichtreflexe von unterschiedli­chen Blautönen zu faszinierter Ehrfurcht zwang. Selbst die Zwerge, die immer wieder quietschende Laute und grölendes Gelächter von sich gegeben hatten, wenn der Schlitten sich in eine neue Kurve legte oder über eine Un­ebenheit des Bodens hopste, bestaunten nun still die Eisgebilde über und neben ihnen.

Die Halle wies zahlreiche Verzweigungen auf, aber der Schlitten fuhr unbeirrt einen Hauptgang entlang. Peter schien es plötzlich, als ob die Luft noch eisiger würde und der Fahrtwind stärker würde, obwohl der Untergrund sich nicht stärker geneigt hatte. Ein singendes Windgeräusch machte sich bemerkbar und ver­stärkte sich zu einem leisen Fauchen. Die Quelle des pustenden Winds lag schließlich an einer Stelle, von der mehrere Seiten­gänge abzweigten. Dort kam der Wind von der Seite und es schien Peter, als ob er im Hintergrund riesige, weiße, länglich runde Wesen mit großen schwarzen Knopfaugen erkennen könne, die wie gigantische Robben ohne Flossen aussahen und dem vorbeigleitenden Eindringling verwundert nachglotzten.

Peter hatte jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, ob dies nur eine weitere Illusion aus Licht und Eis war, da er vor sich eine dunkelblau-schwarze Wand aus hartem Eis aufragen sah, auf die der Schlitten mit unverminderter Geschwindigkeit zuhielt!

Ein Ausweg war nicht in Sicht und Peter schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er an ein so groteskes Ende seines nicht be­sonders langen Lebens niemals gedacht hätte. Für die Außenwelt würde er sich schlicht in Luft aufgelöst haben. Er schloss die Au­gen, damit er nichts davon merken würde, wenn er in wenigen Sekunden mit drei anscheinend irrsinnigen und selbstmörderi­schen Gnomen und einem Haufen aus Holz und Eisen an der Eis­wand zerschmettert würde.

Als allerdings die Zwerge plötzlich wie auf ein Kommando laut

"Haaaiiiiiijaah!" schrien, öffnete Peter die Augen wieder. Er sah die riesige Eiswand geradewegs weiter auf sich zurasen. Die Zwerge stemmten zugleich mit ihrem Ruf die linken Füße auf den Boden und der Schlitten schwenkte mit seinem Hinterende nach rechts aus und schleuderte in einen kleinen Gang, der sich an der linken Fußseite der Wand befunden hatte. Dieser führte in einem Win­kel von etwa 45 Grad nach unten, so dass der Schlitten schnell wieder beschleunigte. Die Wände dieses Gangs wiesen lauter Eiskri­stalle auf, die stecknadel- bis faustgroß waren. Sie glitzerten in einem hellen, mittelblauen, intensiven Licht und erweckten die Illusion, durch eine Kammer von lauter blauen Edelsteinen zu fahren.

Plötzlich erschien es Peter, als ob eine tonnenschwere Last auf seine Schultern drückte, denn der Schlitten durchfuhr mit Höchstgeschwindigkeit ein tiefes „U“ und bewegte sich dann nach oben. Offenbar ging es sehr, sehr steil nach oben. Und zwar so steil, dass sich Peter mit seinen na­hezu gefühllosen Händen an die Sitzbretter klammern musste, um nicht hinten vom Schlitten zu rutschen.

Bei dieser Bergfahrt wurde das Gefährt kontinuierlich lang­samer. Vor bzw. über ihnen konnte man die Spitze dieses „Hügels“ erkennen, die sich nun jedoch immer langsamer näherte.

Peter verspürte ein kitzelndes Kribbeln im Bauch, als er daran dachte, dass der Schlitten seine Fahrt ganz verlieren könnte und rückwärts den Berg wieder hinabrutschen könnte. Der vor ihm sitzende Professor brummte:

"Sollten wir uns getäuscht haben und unser neuer Freund doch ein wenig zu leicht gewesen sein? Nun, wie dem auch sei, sollte unsere beschleunigte Masse nicht genügend Schwung mitbringen, könnte sich das Ganze doch noch zu einem recht spaßigen und spannenden Abenteuer entwickeln."

Die Betonung der letzten Worte machte allerdings deutlich, dass der Professor auf diese Form von unterirdischen Erlebnissen gerne verzichten würde.

Der Schlitten kroch mittlerweile ganz langsam auf die gerundete Spitze des Bergs zu und bremste in dem Moment ab, als der Bug des Schlittens die Spitze überragte. Der Schlitten kam pendelnd zum Stillstand und die vier Passagiere hielten erwartungsvoll den Atem an. In der Sekunde, als sich der Schlitten rückwärts zu neigen begann, warf Peter instinktiv die Arme nach vorn und drückte mit dieser Bewegung auch die Zwerge ein kleines Stück auf der Sitzfläche nach vorne. Der Vorderteil bekam dadurch ein klares Übergewicht und mit einem dreistimmigen "Yieeeehh!" (Peter konnte vor Herzklopfen noch nicht einmal einen leisen Piepser herausbringen) gewann der Schlitten wieder rasch an Tempo. Der vorne sitzende von Brünn hob seine linke Hand und drehte seine Handfläche nach hinten dem in der Mitte sitzenden von Oggenfock zu. Dieser hob zunächst seine rechte Hand hoch und drehte deren Handfläche dem Professor zu. Dann klatschten zeitgleich der Professor seine rechte Hand gegen von Oggenfocks rechte und dieser seine linke Hand gegen die linke von Brünn. Dabei riefen sie begeistert "Juuhaaaahhh!" und duckten sich auf den Schlitten, damit dieser noch schneller werden konnte.

Der Schlitten erreichte eine höllische Geschwindigkeit und stürzte eine schnurgerade Eisrinne hinunter. Diese war von einem glimmenden tiefen Blau. Die Rinne führte an ih­rem unteren Ende auf eine nur schattenartig erkennbare, flach aussehende Strecke.

Beim Näherkommen wurde Peter plötzlich bewusst, dass diese Strecke zwar tatsächlich flach war, aber dafür von einer Beschaf­fenheit, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte (wozu aber auch bei der sibirischen Kälte ohnehin nicht mehr viel fehlte). Das Stück, welches sich vor ihnen in der Dunkelheit verlor, war nichts anderes als die gratartig verlaufende, langge­zogene Spitze eines Bergs aus Eis. Wenige Meter unterhalb die­ser Spitze konnte man nichts mehr sehen, aber jedem der vier war klar, dass links und rechts der spitzen Bahn, die sich vor ih­nen auftat, ein tiefer Abgrund lag. Der Schlitten sauste von der Rinne aus derart auf diesen Grat, dass die Schlittenkufen jeweils knappe zwanzig Zentimeter seitlich rechts und links unterhalb der Spitze aufsetzten und die rasier­messer­scharfe Spitze selbst nur ein bis zwei Zentimeter unter der mitt­leren Sitzreihe bedrohlich vorbeischrammte.

Die Zwerge und der Mensch handelten in stillschweigender Übereinkunft – indem sie überhaupt nicht handelten. Sie hielten sich mit beiden Händen an dem Schlitten fest, sagten (oder schrien) kein Wort und atmeten sehr, sehr vorsichtig ein und aus. Sie versuchten bewusst, sich ganz steif zu machen und bloß nicht durch irgendeine unbedachte Bewegung den Schlitten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dieser wäre dadurch unweigerlich zur einen oder anderen Seite gekippt und sie wären irgendwo tief unten zerschellt.

Ihr Gefährt zischte mit einem gefährlich klingenden, singenden Ton über die zum Glück nur geradeaus führende spitze Bahn; jede Kurve hätte ihr Ende bedeutet, da die Fliehkräfte den Schlitten in den Abgrund geworfen hätten. Plötzlich wurde es von vorne heller. Ein schneller Luftstoß riss ihnen allen die Mützen vom Kopf, doch keiner dachte auch nur eine Sekunde daran, eine Hand hochzureißen, um die Kopfbedeckung festzuhal­ten. Auch Peters selbstgefertigtes Stück konnte diesem Windstoß nicht widerstehen. Die Mützen segelten in den Abgrund und waren für immer verloren – doch diesen Preis zahlte Peter gern, wenn er dafür am Leben blieb!

In dem heller werdenden Licht konnte Peter sehen, dass die spitze Bahn wieder auf breiteres Terrain führte, in dem aller­dings schwarze Einsprengsel zu erkennen waren. Da der Schlit­ten mit ungebremstem Tempo auf diese Stelle zuhielt, war schon rasch zu erkennen, dass die schwarzen Einsprengsel Felsstücke waren, die an manchen Stellen die eisige Oberfläche durchbrachen. Die Wände der Höhle, die dort wieder recht eng wurde, waren ebenfalls fels­durchzogen. Stellenweise ragten Felsbrocken in den Gang hinein.

Der Schlitten brauste von der spitzen Eisbahn auf diesen beruhi­gend standsicheren Untergrund, der, wie sich zeigte, wieder bergauf führte, wenn auch nur ganz leicht.

Peter ließ einen Stoßseufzer der Erleichterung, um sich dann darüber bewusst zu werden, dass dieser neue Boden zwar nicht derart gefährlich war, dafür aber neue Verletzungsgefahren mit sich brachte. Der Schlitten brauchte nur an eine der Höhlen­wände zu geraten – und eine leichte Rechtskurve näherte sich auch bereits – und er würde mit Sicherheit umkippen. An den Felsstücken dürfte man sich in diesem Fall ordentlich, wenn nicht sogar lebensgefährlich verletzen.

Die Zwerge, die sich allesamt wieder fest in der Hand hatten, brüllten begeistert "Iiiijukk!" und lenkten mit ihren Füßen den Schlitten so, dass er um die Rechtskurve herumdriftete. Peter hatte genug damit zu tun, den Felsbrocken, die von oben in den Gang hineinragten, mit seinem Kopf auszu­weichen.

Hinter der Rechtskurve wurde es wieder merklich heller und man konnte geradeaus eine helle Stelle sehen, auf die der Schlitten sich zubewegte. Dieser hatte mittlerweile bereits einige Stellen passiert, an denen der eisige Untergrund spürbar von Felsen durchzogen war. An diesen Stellen wurden die vier Passagiere ordentlich durchgerüttelt und es gab jedes Mal ein kreischendes Geräusch, welches von Funken begleitet wurde, die hinter dem Schlitten hochstieben. Die kreisförmige helle Stelle wurde immer größer und Peter hoffte innigst, dass sie das Ziel dieser teuflischen Fahrt darstellte. Etwa fünfzehn Meter vor dieser inzwischen blendend hell gewordenen Stelle ragte ein runder Fels aus dem Untergrund, der die Fahrspur mehr als zur Hälfte von der linken Seite aus einengte.

Die Zwerge versuchten, rechts um dem Stein herum zu lenken, aber der verbleibende Platz war einfach zu knapp. Es gab einen har­ten Stoß, als der Schlitten den Felsen mit dem linken Hinterende berührte und Peter wäre sicherlich heruntergefallen, wenn er nicht seine letzten Kraftreserven mobilisiert und sich krampfhaft festgeklammert hätte und dabei mit seinem linken Bein dem Felsen ausgewichen wäre.

Der Schlitten wurde durch diesen Zusammenprall in eine heftige kreiselnde Linksdrehung versetzt. Er wirbelte, immer noch mit einer ordentlichen Geschwindigkeit, auf die helle Stelle zu. In dem Moment, in dem es Peter bedrohlich schwindlig wurde, und er kurz davor war, den Halt zu verlieren, erreichte das lädierte Gefährt die blendende Stelle und hopste durch sie in die Außenwelt zurück.

Der Höhlengang war auch noch während des letzten Stücks schräg nach oben verlaufen und wirkte im Zusammenhang mit der Geschwindigkeit des Schlittens wie ein Kanonenrohr – allerdings wie eines, in das zu wenig Pulver geladen wurde und bei dem die Kugel nur knapp aus dem Rohr fliegt und dann senkrecht zu Boden fällt.

Der Schlitten hüpfte dementsprechend ein kleines Stück aus dem Höhlenausgang heraus und krachte dann auf eine harte glatte Eisfläche. Diese entpuppte sich als die gefrorene Oberfläche eines kleinen Teichs. Als der Schlitten auf die Eisfläche knallte, brach er in drei Stücke und die Insassen wurden auf das Eis gewirbelt. Die Eisfläche protestierte gegen diese Störung der winterlichen Ruhe mit einigen Ächzern. Zudem bildeten sich einige Risse auf der Oberfläche, begleitet von singenden Splittergeräuschen.

Peter blieb eine kurze Weile benommen auf der hartgefrorenen Teichoberfläche liegen und rappelte sich dann auf. Er stellte fest, dass es sich bei dem "Landeplatz" um einen kleinen Weiher han­delte, der nicht sehr weit von dem Hof entfernt auf einer der hü­geligen Wiesen in Richtung Mauckewicke in der Nähe eines Wald­randes gelegen war. Hier hatte er als Junge oft gespielt; ihm fiel ein, dass er hier einmal in den Osterferien einen männli­chen Bergmolch gefangen hatte. Von dessen herrlich blaugefärb­tem Rücken mit gelben Einsprengseln in dem kleinen Rücken­kamm und dem knallig orangefarbenen Bauch war er so fasziniert gewesen, dass er das Tier vorsichtig in seine Jackentasche steckte und mit zum Hof nahm. Als er Onkel Bert um ein großes Glas mit Wasser bat, in dem der Molch fortan wohnen solle, machte dieser ihm klar, was Gefangenschaft für Tiere bedeutet. Er ging mit Peter zu dem Teich zurück und er fragte ihn, ob er nicht auch der Mei­nung sei, dass dieses herrlich schöne Wesen einen besseren Platz verdient habe, als nur ein Glas, in dem er sich zweifellos sehr einsam fühlen werde. Hier in dem Teich habe er Gesellschaft und hier könne Peter das Tier in seiner natürlichen Umgebung beob­achten. Peter hatte den Molch daraufhin vorsichtig in das Was­ser zurückgesetzt. Onkel Bert hatte die Hände auf Peters Schul­tern gelegt und gesagt:

"Mein Junge, ich bin stolz auf dich. Du hast die richtige Entschei­dung getroffen."

Und jetzt war er als erwachsener Mann nach einer irrwitzigen Schlittenfahrt mit drei ebenso irrwitzigen Begleitern auf eben diesem Teich gelandet. Die Zwerge hatten sich bereits erhoben und bei den Trümmern des Schlittens versammelt. Als Peter nä­herkam, verbeugte sich der Professor fast bis zum Boden und sagte:

"Nun, Mensch, wir können nicht umhin, dir zu deinem Mut zu gratulieren. Auch wenn es nichts anderes als eine nette kleine Sonntagsschlittenpartie war" – bei diesen Worten schmunzelten die anderen Zwerge – "hätte so mancher deiner Sorte sicherlich lieber auf die Fahrt verzichtet."

Das hätte ich im Nachhinein vielleicht lieber auch, dachte Peter, der sich all­mählich wieder sicher auf seinen Beinen fühlte und langsam wieder Gefühl in seinen Händen, die er heftig aneinander rieb, seinen Ohren und seiner Nase bekam.

"Du aber", fuhr der Zwerg fort, "hast die Fahrt gewagt und sie auch nicht etwa zwischendurch abgebrochen."

Warum hat mir denn bloß keiner erklärt, dass das möglich war, dachte Peter, und hoffte, dass die Zwerge keine Gedanken lesen konnten. Der Professor setzte hinzu:

"Erlaube mir, Mensch, dass ich dir deine Reisegefährten näher vorstelle. Der jüngste und kräftigste von uns ist Flotto von Brünn, der den ersten Platz auf dem Schlitten einnahm."

Von Brünn lächelte Peter nicht zu, aber er deutete eine knappe Verneigung an.

"Den zweiten Platz nahm Digga von Oggenfock ein" – dieser ver­schränkte mit einem selbstzufriedenen Grinsen seine Arme –

"und ich bin Professor Hugeminus von Knotth."

Peter sah die Zwerge erwartungsvoll an, aber das schien zunächst die einzige Erklärung zu sein. Jedenfalls starrten ihn die Zwerge ihrerseits erwartungsvoll an und Peter stellte sich selbst vor:

"Und ich bin Peter Feldman", sagte Peter. Die Zwerge schauten etwas irritiert und der Professor fragte:"Ähh, Feldman? Einfach Feldman?"

"Von Feldman", beeilte sich Peter zu korrigieren, da die Zwerge an­scheinend nur etwas mit Namen anfangen konnten, in denen das Prädikat "von" vorkam. Diese atmeten denn auch beruhigt auf und der Professor wollte soeben wieder etwas sagen, als von Brünn, der ständig den weiter oben bergaufwärts gelegenen Wald beobachtete, diesem mit einer raschen Handbewegung das Wort abschnitt und zischte:

"Professor! Seht, dort oben! Ein Fux!"

Peter sah zu dem Wald hoch und fragte:

"Ein Fuchs? Sagt bloß, Zwerge, die eine kleine nette Sonntags­schlittenfahrt unter der Erde veranstalten, fürchten sich vor ei­nem Fuchs."

"Kein Fuchs, Dummkopf, ein Fux!", stieß von Brünn aus, wobei er das letzte Wort wie "Fuk-s" aussprach. Peter fiel erst beim zwei­ten Mal, als der Zwerg dieses Wort aussprach, diese merkwür­dige Betonung auf. Er fragte:

"Ein Fux?" - mit besonders deutlicher Betonung sprach er das Wort wie "Fuk---sss" aus. "Was soll denn das sein?"

Er spähte angestrengt zu dem Wald hoch, wobei er merkte, dass es bereits Nachmittag war und die Fahrt mit dem Schlitten Stun­den gedauert haben musste. Das Einzige, was er erkennen konnte, war, dass hinter einem Baum in der ersten Baumreihe eine rötli­che Schnauze hervorlugte. Diese schien von einem Fuchs zu stammen, der sich dort verborgen hielt.

"Also doch nur ein Fuchs", rief er und wandte sich nach den Zwergen um.

Diese waren jedoch fort! Sie waren einfach verschwunden!

Peter sah verwirrt von der Stelle, an der sie gerade noch gestan­den hatten, zu dem Fleck, an dem sich der Höhlenausgang befun­den hatte. Auch dieser war nicht mehr zu sehen. Dort befand sich nur schneebedeckte Wiesenfläche. Nur die kümmerlichen Überreste des Schlittens lagen auf dem Eis verstreut – ansonsten deutete nichts mehr darauf hin, dass Peter soeben die seltsamste Erfahrung seines Lebens hinter sich gebracht hatte. Er blickte rasch zu dem Wald hoch – auch dort war nichts mehr zu sehen. Er konnte sich das Ganze zwar nicht erklären, aber immerhin zeugten die Reste des Schlittens und die auf dem Eis noch deutlich zu erkennende Aufprallstelle davon, dass die eigentümliche Schlittenpartie wirklich stattgefunden hatte.

Als er die Bruchstücke aufsammelte, wurde ihm klar, dass es ihm auch nichts gebracht hätte, wenn er das Handy dabeigehabt hätte: das hätte sich, wenn nicht schon während der Fahrt, spätestens beim Aufprall auf dem Eis in seine Bestandteile aufgelöst. Peter zuckte die Achseln und wanderte gedankenverloren zu dem Hof zurück, wobei er sich immer wieder danach umschaute, ob er die Zwerge (oder ir­gendetwas anderes Außergewöhnliches) entdecken konnte. Doch überall war nur die winterliche Landschaft zu sehen.

Wieder zu Hause angekommen, stellte er mit einem Blick fest, dass der Eingang der Höhle verschwunden war. In der Scheune, in dem Turm und auch in dem Haus sah alles wie gewohnt aus. Einfach nichts deutete mehr darauf hin, was sich hier und heute ereignet hatte. Auch Junior ließ durch nichts erkennen, dass ihm irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Mit dem gleichen vorwurfsvollen Miauen wie immer, wenn seine Futterschüssel leer war wies er Peter, der sich direkt auf die Couch fallen gelassen hatte, auf diesen Missstand hin. Dann stupste er Peter mit der Schnauze solange an, bis sich dieser erhob und das „Vakuum“ in dem Futternapf beseitigte.

Nachdem er eine heiße Dusche genommen hatte, musste er im Spiegel feststellen, dass sein Hintern am nächsten Tag von blauen Flecken nur so gespickt sein würde. Bei zwei heißen Tassen Früchtetee grübelte Peter darüber nach, was dieses Abenteuer wohl bedeuten mochte. Währenddessen suchte er im Internet nach Informationen über ähnliche Erlebnisse. Er konnte jedoch nur offensichtlichen Unsinn finden, der von irgendwelchen realitätsfernen Spinnern zur „Eigentherapie“ ins Netz gestellt worden war.

Seine Gedanken schweiften immer wieder zu der Dunkelheit der unterirdischen Höhle zurück und er erlebte an diesem Abend noch mehrmals die Schrecksekunden des Beinahe-Aufpralls auf die Eiswand und des "Tanzes" auf dem schmalen Grat.

In der Nacht schlief er sehr schlecht. Er träumte von drei gewal­tigen Eisbären, die während eines Waldspaziergangs plötzlich hinter den Bäumen auftauchten und ihn verfolgten. Sie ließen ihm nur einen Ausweg offen und der führte zu einem sofagroßen Schlitten. Die Eisbären nötigten ihn dazu, sich vorne auf den Schlitten zu setzen und schoben diesen in bester Bobfahrerma­nier an. Einer nach dem anderen sprangen die Bären auf den Schlitten auf und dieser raste durch den Wald, immer haarscharf an den Bäumen vorbei. Schließlich steuerte der Schlitten auf eine Schlucht zu, über die nur eine schmale Schneebrücke führte. Mehr als einmal geriet die Schlittenspitze über den Abgrund und Peter blickte in schwindelerregende Tiefen. Plötzlich hörte er ein dumpfes Grollen vor sich und sah, dass von vorne eine riesige Schneekugel auf die Brücke zugerollt kam. Die Bären lachten und zeigten mit ihren gewaltigen Pfoten nach hinten. Peter sah starr vor Schrecken, dass die Schneebrücke hinter ihnen eingebrochen war und in großen Stücken in die Schlucht stürzte. Als die Schneekugel auf die Brücke gerollt war, erzitterte diese spürbar und brach nun auch von vorne ein. Alles stürzte in die Tiefe. Die Bären stimmten ein dumpfes Gelächter an, welches von den Wänden der Schlucht drohend zurückgeworfen wurde. Peter schrie gellend "Neeeiiiin!!!" - und wachte auf.

Er lag schweißgebadet auf dem Boden neben dem Bett, vor ihm hockte St. Benedict Junior, leckte sich seine Vorderpfoten und schaute Peter mit mildem Mitleid an.

Dieser kletterte wieder ins Bett zurück und schlief schließlich wieder ein. Er träumte nichts mehr, wachte aber noch mehrmals ruckartig auf, so als ob er Geräusche gehört hätte. Das Einzige, was er jedoch wahrnehmen konnte, waren Geräusche von leichtem Regen, der aufs Dach fiel.

In dieser Nacht wurde die Außenluft deutlich wärmer; gleichzei­tig mit dem Einsetzen des Regens begannen die Schneemassen langsam zu schmelzen. Ein langer Winter ging zu Ende.

2. Kapitel Der sprechende Teich

Am nächsten Morgen konnte sich Peter durch einen Blick aus dem Fenster davon überzeugen, dass er die nächtlichen Regenge­räusche nicht geträumt hatte: auch jetzt regnete es noch, aller­dings fielen keine schweren dicken Tropfen mehr, sondern es nieselten nur feine Tröpfchen in einem dichten Gewirr vom Himmel herab. Von den Schneeflächen stieg ein leichter Dunst auf, der sich stellenweise zu Nebelbänken verdichtete. Obwohl es angefangen hatte zu tauen, waren die Straßen sehr glatt, da der festgefah­rene Schnee zunächst den Regen gefrieren ließ.

Auf der Fahrt zur Arbeit hatte Peter zwei Beinahe-Unfälle, die jedoch glimpflich ausgingen. Auf der Strecke zur Talstraße hinab musste er wegen eines rötlichbraunen Tiers (wahrscheinlich einem Fuchs) bremsen und wäre fast gegen einen Baum gefahren, und auf dem Stück durch Mauckewicke nahm ihm ein Porsche die Vorfahrt, der hin und her schlitternd aus einer Einfahrt gesaust kam. Peter bremste und wurde dafür prompt von der Fahrerin ei­nes antiken gelben Citroën 2CV (im Volksmund „Ente“ genannt) mit einem temperament­vollen und ausdauernden Hupkonzert bedacht.

Wegen dieser Ereignisse und eines Staus vor Immerbach kam er völlig gereizt im Büro an. Seine Laune verschlechterte sich noch mehr, als ihm einfiel, dass er den Reisebericht der älteren Dame noch anfertigen musste.

Während er den Bericht in Angriff nahm, fiel ihm immer wieder die Schlittenfahrt mit den Zwergen ein. Er konnte sich einfach nicht damit abfinden, dass er nichts Aktives tun konnte, um Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Dann fiel ihm ein, dass er immerhin der örtlichen Bücherei einen Besuch abstatten könnte. Dort musste es ja irgendwelche Bücher geben, welche die hiesige Märchen- und Sa­genwelt abhandelten. Vielleicht ergab sich daraus irgendetwas.

Mit dieser Idee verbesserte sich seine Laune wieder ein wenig und als er den Mauritius-Bericht schließlich fertig hatte, war seine gute Laune wiederhergestellt. Da ihm so gut wie nichts von dem Gekritzel der Einsenderin zugesagt hatte, hatte er die Bilder für sich sprechen lassen und den Wortbeitrag auf ein Minimum beschränkt.

Nach Feierabend fuhr er zur Bibliothek, die in einem der älteren Stadtteile von Immerbach lag. Sie war in einer alten Stadtvilla untergebracht, deren schmucke Außenwände irgendein Irrer mit den in roter Farbe aufgesprayten Parolen "Ausländer raus" und "Keine Asylanten in Immerbach" verschandelt hatte.

Die hohen Räume, in denen die Bücher untergebracht waren, wirkten durch ihre dunkle Möblie­rung ziemlich düster und eher abweisend. Peters Schuhsohlen quietschten auf dem Parkettbo­den, und zwar auch dann noch, als er seinen Elan, mit dem er in die Bücherei hereingestürmt war, stark bremste und mehr oder weniger durch die Räume schlich. Die Leute, die sich in dem Le­sesaal und an den Buchregalen aufhielten, starrten ihn strafend an. Peter lä­chelte entschuldigend zurück – und quietschte weiter in Rich­tung Zentralkartei.

Die Stichwort- und Autorenregister befanden sich im Kellergeschoss, wo sich außer Peter niemand aufhielt. In dem Stichwortregister ging er die Begriffe "Märchen", "Sagen", "Legenden", "Zwerge", "Gnome" und "Kobolde" durch. Unter den letztgenannten Stichwörtern fand er nichts, dafür aber vierzehn Buchtitel, die sich mit Märchen, Sagen und Legenden befassten. Er notierte sich die Standorte in den Regalen und machte sich leicht quietschend auf die Suche. Die ersten sieben Bücher standen nicht im Regal, mussten also be­reits ausgeliehen sein. Eine fünfbändige Reihe ausländischer Märchen war vorhanden, die ihm jedoch nichts nutzte. Das vor­letzte Buch auf seiner Liste war wieder ausgeliehen – und mit dem letzten Titel erging es ihm genauso.

Märchenbücher mussten in Immerbacher Leserkreisen ja der letzte Renner sein, dachte Peter leicht enttäuscht. Er wollte die Flinte nicht direkt ins Korn werfen und begab sich zu dem Pult mit den beiden Bibliothekarinnen, um nachzufra­gen, ob es eine Möglichkeit gäbe, wie er kurzfristig an die Bücher kommen könnte. Der normale Weg war ihm zu umständlich und zu langwierig. Dieser bestand darin, die Bücher vorzubestellen und dann darauf zu hoffen, dass sie möglichst schnell wieder zu­rückgegeben wurden und die Bibliothekarinnen entsprechend reagieren würden und die Bücher auch wirklich für ihn zurück­legen würden

Eine der beiden Bibliothekarinnen war eine ältere Frau, die ihn mit einem langen missbilligenden Blick bedachte, als er quiet­schenderweise auf das Pult zukam. Peter verlangsamte bis auf Schneckentempo, um die Geräuschkulisse so gering wie möglich zu halten und wandte sich schließlich an die jüngere der beiden Frauen, die etwa so alt wie er selber sein mochte, vielleicht auch ein bis zwei Jahre jünger. Diese hatte ihn im Gegensatz zu ihrer Kollegin sogar angelächelt, wenn auch mit einem leicht spöttischen Ausdruck in ihren Augen.

"Hallo", sagte Peter in einer Lautstärke, die er für angemessen hielt, aber ein heftiges und gebieterisches "Psssst!" der älteren Frau zur Reaktion hatte.

"Hallo", versuchte es Peter flüsternd von neuem, wobei er der älteren Bibliothekarin einen prüfenden Blick zuwarf, um festzustellen, ob seine jetzige Lautstärke den Angemessenheitstest bestand. "Ich suche ei­nige Bücher. Diese müssen wohl ausgeliehen sein. Könnten Sie mir eventuell sagen, wer diese Bücher ausgeliehen hat, da ich sie dringend benötige?"

Die ältere Bibliotheksangestellte schüttelte, obwohl die Frage nicht an sie gerichtet war, resigniert den Kopf über eine derart unsinnige Frage. Sie war wohl mit Peters Flüsterton einverstan­den und verschwand in Richtung Lesesaal, um dort nach dem Rechten zu sehen. Die weitere Behandlung dieses offensichtlich unerfahrenen und unverschämten Büchereibenutzers überließ sie ihrer Kollegin, die ihrer Meinung nach noch viel zu lernen hatte. Mochte sie mit diesem dreisten, lauten Kerl ihre Erfahrun­gen sammeln.

"Guten Tag", antwortete die Bibliothekarin in einer routiniert klingenden Lautstärke, die nur ein wenig über Peters Flüsterni­veau lag, aber doch schon als "Sprechen" bezeichnet werden konnte.

"Leider kann ich Ihnen nicht sagen, wer die Bücher, die Sie gerne lesen möchten, ausgeliehen hat. Dies wäre zum einen mit einem großen Aufwand verbunden und zum anderen würde es natür­lich gegen die Regeln des Datenschutzes verstoßen."

Sie fügte zögernd hinzu: "Das verstehen Sie doch?"

Peter überlegte sich, wie er antworten sollte. Ihm war bewusst, dass die junge Frau ihm die Namen der Entleiher strenggenommen nicht nennen durfte, aber er hatte irgendwie gehofft, dass sie es dennoch tun würde. Er versuchte es nochmals, indem er an ihr Mitleid appellierte:

"Ich benötige die Bücher dringend für eine wissenschaftliche Ar­beit. Können Sie denn da keine Ausnahme machen?"

Die Frau schüttelte ihren Kopf.

"Nein, ich bedauere. Die einzige Möglichkeit, die Sie haben, wäre, die Bücher vorzubestellen."

Peter schaute sich sein Gegenüber genauer an. Die Frau war einen guten Kopf kleiner als er. Ihre Figur konnte man unter dem weiten langen Sweatshirt nicht erahnen, obwohl sie nicht gerade die schlankeste zu sein schien. Allerdings hatte sie ein schmales Ge­sicht, in dem ihre grau-grünen Augen und ihre rela­tiv lange Nase dominierten. Ihre Lippen waren eher schmal. Mit dieser Dame, so schien es Peter, war wohl nicht gut Kirschen es­sen. Ihre knapp schulterlangen, dunkelblonden, glatt frisierten Haare verstärkten den strengen Eindruck. Er versuchte es ein letztes Mal, bevor er klein beigeben und die Bü­cher vorbestellen würde:

"Und wenn ich Ihnen nun sage, dass diese Bücher geradezu le­benswichtig für mich sind?"

"Was möchten Sie denn für Bücher haben? Haben Sie in den Buchregalen wirklich genau nachgesehen?"

"Nun.... es sind Märchenbücher. Die Standorte in den Regalen habe ich ganz genau überprüft, aber die Bücher sind alle ausge­liehen. Können Sie mir wirklich nicht helfen? Bitte...", schloss er sein Plädoyer und sandte einen warmen Blick in ihre grau-grünen Augen. Dort regte sich wirklich etwas. Ihm schien, als ob sich ein wachsamer und interessierter Aus­druck in ihren Augen eingestellt hätte.

"Wenn Sie mir verraten, warum die Bücher für Sie derart wichtig sind, dass Sie nicht einige wenige Wochen darauf warten können, werde ich mein Bestes versuchen. Nun?", fragte sie und legte ih­ren Kopf leicht schief und sah ihn erwartungsvoll und gespannt an.

"Den wahren Grund würde mir ohnehin keiner glauben", murmelte Peter zu sich selbst und sprach dann laut:

"Also, es ist so, dass ich Ende dieses Monats eine Arbeit über die örtliche Welt der Sagen und Märchen abliefern muss – oder ich bin meinen Job los", log Peter, der bei wirklichen Notlügen keine Gewissensbisse verspürte. Immerhin ging es hier um sein Seelenheil.

Ob dieser Vorwand wirkte oder die Frau ihrerseits eine be­stimmte Absicht verfolgte, konnte er sich später selbst nicht er­klären. Jedenfalls sagte sie:

"Also, wenn es so ist... Ich kann Ihnen zwar die ausgeliehenen Bücher nicht schneller beschaffen, als dies bei einer Vorbestel­lung möglich ist. Aber ich habe zurzeit ein Märchenbuch aus dem Archiv zu Hause, welches von einem ehemals hier lebenden Autor stammt. Dieses Buch ist allerdings schon sehr alt – es stammt aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts – und in einem entsprechend mi­serablen Zustand. Ich habe das Buch zu Hause, um zu sehen, ob ich es restaurieren kann."

Sie fügte mit einem kleinen Lächeln hinzu:

"Dies ist eines meiner Hobbies."

Oh, dachte Peter, welch eine angenehme Duplizität der Ereignisse. Nicht nur draußen taut es, nein, auch diese kühle Person hier drinnen scheint langsam aufzutauen.

Er war über dieses Angebot begeistert und es kostete ihn keine Mühe, einen entsprechend dankbaren Ausdruck in seine Augen zu legen, als er fragte:

"Und wann und wie könnte ich mir dieses Buch einmal an­schauen? Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn ich kurz­fristig an das Buch käme."

Sie überlegte hörbar:

"Tja, bei mir wäre es leider erst nächste Woche möglich. Diese Woche habe ich schon mehrere Verabredungen. Aber am näch­sten Dienstag würde es gehen. Vielleicht könnten Sie nachmittags bei mir vorbei­schauen?"

Sie blickte ihm unverwandt in die Augen und wartete auf eine Antwort. Ihr Blick schien zu verraten, dass sie seine Notlügen durchschaut hatte und er fing plötzlich an zu stottern.

"Ja..., also..., das ließe sich sicher einrichten..., wirklich..., ich... wäre, äh... bin sehr dankbar über Ihr freundliches Angebot..."

Peter gewann seine (wie er fand) unantastbare Stärke gewöhn­lich schnell wieder zurück – so auch jetzt und deshalb fügte er souverän hinzu:

"Ich werde sehr gerne kommen. Was würden Sie davon halten, wenn ich Kuchen mitbringe und Sie den dazu passenden Kaffee liefern? Ich könnte so gegen vier Uhr bei Ihnen sein."