Das Schattencorps (eBook) - Bernd Ohm - E-Book

Das Schattencorps (eBook) E-Book

Bernd Ohm

4,4

Beschreibung

Hans Barkhusen hat viel verloren: die Zukunft, die ihm im "Dritten Reich" offenstand, den Kampf gegen den Kommunismus, den Anschluss an das bürgerliche Leben. Nach dem Krieg von den Briten für eine geheime Kampftruppe angeworben, arbeitet er 1962 desillusioniert als Taucher und hofft darauf, das vom Atomkrieg bedrohte Europa zu verlassen. Als er für die Suche nach dem sagenumwobenen "Rommel-Schatz" angeheuert wird, glaubt er zunächst an einen schlechten Scherz. Aber dann taucht plötzlich sein alter Agentenführer auf, und Hans erhält einen neuen Auftrag, der ihn von Hamburger Hafenkais und einsamen Heideforsten in die Sonne Italiens führt, wo die Jagd nach dem Schatz im Dickicht der Geheimdienstintrigen und internationalen Verschwörungen immer rasanter wird, bis schließlich der Friede der Welt selbst auf dem Spiel steht …

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Bernd OHM

 

Das

Schattencorps

 

 

Ein Spionageroman

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Mai 2017)

 

© 2017 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © dioxin/photocase.com

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-830-5

 

Inhalt

Más a Tierra

Der schlafende Löwe

Die Wolfsgänger

Flints Karte

Der Italienzug

Die Burg am Meer

Die Seeschlange

Der Affenzirkus

Atlantis

Der Autor

 

 

Für Marieluise

 

Más a Tierra

Den Anfang machen natürlich die verfluchten Schweine. Zuerst ist es nur ein kurzes, leises Grunzen, das irgendwie den Weg durch Waschküche und Diele findet, vielleicht ist eine der Sauen aufgewacht oder der Zuchteber, aber dann beginnen gleich die Ferkel zu quieken, und das Grunzen wird lauter, fordernder, bis schließlich der erste Jungeber mit dem Schädel gegen die Futterklappe kracht und ein Höllenlärm losbricht, der sich erst wieder legen wird, wenn jemand den Tieren eine Ladung Rüben oder Kraftfutter in den Trog schmeißt.

Mit Schlafen ist es jedenfalls nichts mehr. Hans zieht sich die Decke über die Ohren und versucht, wieder in den Traum hineinzukommen, aus dem ihn das hungrige Borstenvieh vertrieben hat, aber es hilft nichts. Irgendjemand, wahrscheinlich sein Vater, kommt polternd die Treppe heruntergestapft und geht in Richtung Schweinestall, aber bis die Rüsselschnauzen sich endlich wieder beruhigt haben, fangen schon die beiden Milchkühe an zu muhen, und draußen hat mittlerweile auch der Hahn gemerkt, dass es Tag geworden ist. Die ersten Amseln zwitschern, es ist Ende März.

Hans quält sich hoch und kneift die Augen zusammen, um möglichst wenig Licht hineinzuzulassen. Er ist gestern Abend bei Tangmann hängengeblieben, länger, als er wollte, und dann haben die älteren Männer wieder von ihrer Zeit mit Rommel in Afrika angefangen, bis ihm die Ohren geklungen haben vor lauter El Alamein und Feldmarschall Montgomery und heldenhaften Landserabenteuern, bei denen er nicht mithalten kann, weil er das eine entscheidende Jahr zu spät geboren ist. Seine eigenen Heldentaten behält er lieber für sich, weil die früher oder später ja doch immer auf diverse Gastspiele in Internierungslagern und Untersuchungsgefängnissen hinauslaufen, und was sonst noch passiert ist, müssen die hier in Darkum erst recht nicht wissen.

Immerhin gewöhnt man sich im Knast an, immer fein säuberlich die Klamotten zu sortieren, bevor man sich schlafen legt, weswegen Hans auch keine größeren Probleme hat, seine Hose zu finden und sie überzustreifen, um zur Toilette zu gehen. Auf dem Flur ist noch niemand, aber hinter der Tür zu den beiden Kammern, wo sein Bruder und seine Schwägerin mit ihren Kindern wohnen, ist schon abwechselnd Hermanns dahingeknurrtes Niedersachsenplatt und Magdas pommerscher Singsang zu hören. Bald nach der Taufe wollen sie anfangen, das Dachgeschoss auszubauen, damit die beiden Großen endlich ein eigenes Zimmer haben. Das Schweinefutter wird im neu gebauten Stall gelagert, da muss der Kornboden nicht mehr so groß sein, sogar ein Wasserklosett soll oben eingebaut werden.

Momentan muss man noch in das Häuschen draußen neben der Scheune. Hans ärgert sich, dass er kein Hemd angezogen hat, nachts hat es wieder gefroren, und alles ist mit einer dicken Schicht Raureif bedeckt, aber es ist dringend, also läuft er schnell über den Hof und erledigt bibbernd sein Geschäft.

Nachher geht er in die Waschküche, lässt den Hahn über der Spüle so lange laufen, bis das Wasser eiskalt ist, und spritzt sich dann wieder und wieder einen ganzen Schwall davon ins Gesicht, um wach zu werden. Als er sich abtrocknet, kommt Magda in die Küche, gut gelaunt pfeifend und den Säugling auf dem Arm. Jemand hat schon Feuer unter dem Herd gemacht, es ist mollig warm.

»Ach Morjen, Hans!«, ruft sie ihm durch die offene Tür zwischen Küche und Waschküche zu. »Das is jut, dass du schon auf bist. Wir wollen in der Stube den großen Tisch ausziehen, damit dort alle frühstücken können.«

Hans nickt, während er sich die Haare nach hinten kämmt.

»Moin! Ich pack gleich meine Sachen zusammen und klapp das Sofa ein, dann kann’s losgehen.«

»Hat Fritz gestern Abend noch was gesagt?«

Hans schüttelt den Kopf.

»Die waren müde von der langen Fahrt und sind gleich auf ihr Zimmer im Gasthof. Ich hab dann noch kurz in die Gaststube geguckt …«

»Soso«, macht Magda, und Hans ahnt, dass sie sich ein Grienen verkneifen muss. »Na, du weißt schon, was du machst. Wenn Hermann und euer Vater mit dem Vieh fertig sind, könnt ihr ja den Tisch ausziehen und Stühle holen. Die Münchner wollen bis halb neun hier sein. Ich muss jetzt erst mal den Kleinen füttern …«

Hans geht durch die Küche in Richtung Wohnzimmer, während seine Schwägerin sich auf die Küchenbank setzt und dem lütten Martin, der jetzt mächtig am Brüllen und Weinen ist, die Brust gibt. Eigentlich hätte Martin als Stammhalter ja Hermann heißen sollen, wie bei den Barkhusens seit Generationen üblich, aber Magda hat sich mit Händen und Füßen gewehrt dagegen, ihre Kinder sollen nicht solche altmodischen Namen haben, und da ihr Mann von der nachgebenden Sorte ist und die Schwiegermutter nicht mehr lebt, hat sie sich durchgesetzt.

Sie hat sich überhaupt in vielen Sachen durchgesetzt, denkt Hans, während er sich Socken und Hemd anzieht. Mit den Kindern wird Hochdeutsch geredet, und Ingrid, die älteste Tochter, darf auf die Realschule in Heustedt, dabei hat der alte Hermann Barkhusen nach der so unglücklich geendeten Karriere seines zweiten Sohnes auf der Napola geschworen, dass nie wieder ein Mitglied seiner Familie eine Schulbildung erhalten soll, die über die Darkumer Dorfschule hinausgeht. Doch dann wird er Witwer, sein erster Sohn heiratet ein bettel­armes pommersches Flüchtlingsmädchen mit einer Verwandtschaft, die über ganz Deutschland verstreut lebt, und alles läuft anders als geplant. Was ja für Hans ganz genauso gilt.

Überraschend taucht der Alte selbst auf, und sie klappen schweigend gemeinsam das Sofa zusammen und ziehen den Tisch aus, wie Magda es gewünscht hat. Viele Worte sind nicht gefallen zwischen ihnen in den letzten Jahren, eigentlich schon seit der Zeit gleich nach dem Zusammenbruch, als Hans sich in Hamburg herumtrieb und nur sporadisch nach Hause kam, um sich den Bauch mit schwarz geschlachtetem Schwein und Darkumer Kartoffeln vollzuschlagen.

»Brukst vandaage nich arbeiten?«, sagt sein Vater schließlich doch, und Hans zuckt zusammen, weil die Worte durch die Stube knallen wie ein Peitschenhieb.

»Nee, ick hebb mi freinaamen«, stößt er schließlich zwischen den Zähnen hervor und vermeidet es, seinem Vater ins Gesicht zu sehen, während er sich an seiner Reisetasche zu schaffen macht, die neben dem Sofa auf einem Stuhl steht. Er sagt auch nicht, warum er sich schon den Sonnabend freigenommen hat, obwohl die Taufe erst am Sonntag ist, denn wenn der Alte mitkriegt, dass er Dahlsen besuchen will, den pensionierten Dorflehrer, der ihn damals gegen den Willen der Eltern auf die Napola gebracht hat, dann knallt hier noch ganz was anderes. Gauleiter von Vandalenland hätte Hans werden sollen oder Gouverneur von New York. Und was ist er geworden?

 

*

 

Schließlich gibt es Frühstück. Die Münchner sind von ihrem Quartier in Tangmanns Gasthof gekommen, in ihrem silbergrauen, fast neuen Borgward Isabella, für den Magdas Bruder letztes Jahr extra aus Süddeutschland angereist sein soll, um ihn günstig direkt aus der Konkursmasse des Bremer Werks zu erwerben. Dabei sieht Fritz nicht so aus, als ob er auf Sonderangebote angewiesen wäre: eleganter Filzhut, Nadelstreifenanzug, seidene Krawatte, teure Manschettenknöpfe – was man sich so leisten kann, wenn man beim bayerischen Landeskriminalamt arbeitet. Magda hat stolz erzählt, ihr Bruder sei in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gewesen und habe dort »perfekt« Englisch gelernt, das sei ihm nach dem Krieg zugutegekommen. Hans hat immerhin zwei Jahre in Australien verbracht und gelernt, »goodonyermatey« und »waddayawant« zu sagen, das ist allerdings weder perfekt noch kommt es ihm in irgendeiner Weise zugute.

Während er sich schweigsam mit einem gekochten Ei beschäftigt, unterhalten die anderen sich über John Glenns Raumflug letzten Monat und den Sputnik, den die Russen gestern in die Erdumlaufbahn geschickt haben. Bald kommt die Rede auf Kennedys große Rede letztes Jahr, in der er eine amerikanische Mondlandung bis zum Ende des Jahrzehnts angekündigt hat.

»Ich kann das immer noch nicht glauben«, meint der junge Hermann Barkhusen, während er eines der Wurstbrötchen mit Gurke verdrückt, die seine Frau vorbereitet hat. »Was soll denn erst sein, wenn unser Lütter hier groß ist? Urlaub auf dem Mond, oder was?«

Wie auf Bestellung kräht der kleine Martin, den Magda im Arm hält, und alle lachen. Oder fast alle: Hans vergräbt sich noch ein Stück tiefer in seinen Kaffee, schwarz und ohne Zucker, und denkt sich seinen Teil.

Magdas Schwägerin Hilde, die ihre weißen Handschuhe erst ausgezogen hat, als es schon zu Tisch ging, lächelt milde und deutet mit einem Kopfnicken auf ihren Mann.

»Fritz hat uns einmal mit Sondererlaubnis in die amerikanische Offiziersmesse in Harlaching mitgenommen, damit die Jungens einen Fernsehfilm sehen konnten, den Walt Disney mit Professor von Braun gemacht hat! Ich habe kein Wort verstanden, aber mein lieber Mann hat uns alles übersetzt …«

Der liebe Mann winkt ab.

»Ach was, das war doch keine Sache … Vor allem, wo der von Braun so einen schrecklichen deutschen Akzent hat, den kann man wirklich leicht verstehen. Eine Raumstation wollen sie bauen, die aussieht wie ein riesiges Rad und außerhalb der Atmosphäre die Erde umkreist. Und von dort soll es zum Mond gehen. Ich glaube …«

Den Rest hört Hans nicht mehr, oder besser gesagt: will er nicht mehr hören. Es ist schlimm genug, dass die Astronauten des ersten Mondflugs sich nicht in der Sprache Luthers und Goethes unterhalten werden. Aber muss man den neuen Herren der Welt auch noch in den Hintern kriechen und von Brauns schlechtes Englisch bemängeln …?

Die anderen reden jetzt irgendetwas über Professor Haber und einen anderen, natürlich auch mit Sondererlaubnis angeschauten Disney-Film, in dem lauter Mausefallen verwendet wurden, um eine atomare Kettenreaktion zu demonstrieren – »Die Kinder wollten das gleich zu Hause nachbauen!« –, und da kriegt Hans nicht nur schlechte Laune. Nachtschwarze Galle senkt sich über sein Gemüt, denn er muss unweigerlich an Australien denken, an den Höllendonner und den schwarzen Rauch, der über die Nullarbor-Wüste gekrochen kam auf ihn und die Darkies zu, weil da jemand eine Mausefalle zuschnappen ließ, an das Wimmern der Kinder und Frauen, die sich ins nächste Erdloch kauerten, und schließlich denkt er sich, dass er jetzt lange genug gefrühstückt hat.

Er steht auf, nimmt die Schachtel Reval, die neben seinem Teller auf dem Tisch liegt, und nickt Magda entschuldigend zu, während er die Zigaretten hochhält. Sie nickt kurz lächelnd zurück und hört dann wieder ihrer Schwägerin zu, die jetzt das Deutsche Museum und dessen naturwissenschaftliche Sammlung anpreist. Sogar den Original-Arbeitstisch Otto Hahns könne man dort bewundern, viele wüssten ja heute gar nicht mehr, dass man die Kernspaltung in Deutschland erfunden habe.

 

Draußen auf dem Hof steckt Hans sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen, hastigen Zug. Magda hat darum gebeten, drinnen nicht zu rauchen, wegen des Säuglings, und eigentlich würde er sich ärgern, weil es auf dem Hof so nasskalt und ungemütlich ist, aber jetzt ist es ihm gerade recht.

So richtig Frühling wird es heute jedenfalls nicht mehr. Hans zieht noch mal an der Zigarette und versucht auf andere Gedanken zu kommen … Der Wagenschauer hinten am Seeufer wird jedes Jahr schiefer, aber bei all den anderen Bauprojekten der Barkhusens wird es wohl noch eine Weile dauern, bis sich jemand darum kümmert.

Da hört Hans hinter sich Schritte, und die breitschultrige Gestalt von Magdas Bruder tritt durch die große Dielentür ins Freie. Fritz ist gut in Form, das muss man ihm lassen, früher soll er sogar mal geboxt haben, nur hier und da kommt schon auch mal der Wohlstandsspeck durch, vor allem an den Seiten.

Der Schwippschwager aus München holt eine Schachtel Ami-­Zigaretten aus der Hosentasche. Hans greift automatisch nach seinem Feuerzeug und bietet ihm Feuer an. Schließlich stehen beide nebeneinander in der Hauseinfahrt und blasen Rauch in die feuchtkalte Luft.

»Ein Hund ist er schon, der von Braun«, sagt Fritz schließlich. Wenn man genau hinhört, merkt man, dass er schon länger in Bayern lebt.

»Hmh«, macht Hans. Der Münchner hat sicher mal von seiner Vergangenheit bei der Reichspartei gehört und glaubt nun, er sei wegen von Braun aus der Stube geflüchtet. Aber der Raketenjunker ist Hans ganz egal, er ist ja auch der Letzte, der anderen Leuten vorwerfen könnte, für die Siegermächte zu arbeiten. Die Mausefallen und die Kettenreaktion, die sind ihm nicht egal.

»Sind überhaupt Hunde, diese Peenemünder«, fährt Fritz fort. »Aber was soll man machen? Europa lebt nun mal von der Gnade der Amerikaner.«

Hans sieht dem Dampf hinterher, der über dem Misthaufen neben der Hofeinfahrt aufsteigt.

»Eigentlich nur ein Teil Europas«, sagt er schließlich.

Fritz setzt zu einer Antwort an, macht dann aber bloß einen schiefen Mund und tritt seine Kippe aus.

»Na ja. Eigentlich wollte ich dich ja was ganz anderes fragen.«

Hans trennt sich ebenfalls von seiner Zigarette und steckt die Hände in die Hosentaschen.

»Ja?«

Fritz streicht sich mit einer Hand über den Nacken und dreht sich federnd auf dem Schuhabsatz hin und her. Wenn er ein paar Zentimeter größer wäre und Schmisse im Gesicht hätte, könnte man ihn beinahe mit dem großen Otto in Spanien verwechseln. Aber nur beinahe.

»Tja, wie soll ich anfangen? Ich weiß nicht, hast du irgendwas vor heute? Ich hatte erst morgen auf der Taufe mit dir gerechnet, aber so ist es sogar noch besser.«

Hans spürt ein leichtes Kribbeln den Nacken hochkommen.

»Ich, äh … wollte eigentlich jemanden besuchen heute.«

Fritz winkt ab.

»Ach Gott, dann mach mal. So richtig losgehen sollte es ohnehin erst am Montag.«

»Losgehen, was denn?«

Der Polizist lacht auf.

»Oh, na ja. Ich fürchte, ich hab mir ein bisschen Arbeit mitbringen müssen. Im Prinzip ist es so, dass ich einen Seemann suche.«

Hans ist so verblüfft, dass er nicht gleich antwortet. Er nimmt sogar eine von den amerikanischen Zigaretten, als Fritz ihm die Packung hinhält, obwohl er das sonst nie tun würde. Eine Lucky Strike, in der Trümmerzeit mal harte Währung, jetzt nur noch Tabak und Papier drumherum.

Fritz hüstelt und fährt fort.

»Das ist alles eine ziemlich lange Geschichte. Hast du mal zufällig von Heinrich Klausner gehört?«

Hans zuckt mit den Achseln und schüttelt den Kopf. Da war mal jemand auf einer Parteiversammlung damals, der könnte so geheißen haben. Aber das braucht Fritz nicht zu wissen.

»Müsste seinerzeit in den größeren Zeitungen gestanden haben. Ein Waffenhändler, der die algerischen Aufständischen mit Gewehren und Munition beliefert hat. Büros in Tunis und München. Vor knapp zwei Jahren hat er den Betrieb zwangsweise eingestellt, weil ihm jemand eine Bombe unter das Auto montiert hat.«

»Ist er tot?«

»Nein, nur schwer verletzt. Einen Arm hat er verloren. Das LKA wurde eingeschaltet, weil wir für Sprengstoffanschläge zuständig sind. Aber dummerweise schweigt Klausner wie ein Grab.«

Hans nimmt einen Zug. Im Stall grunzen die Schweine. Er versteht immer noch nicht, was das mit ihm zu tun hat.

»Wir haben dann natürlich ermittelt und herausgefunden, womit er sein Geld verdient. Und außerdem, dass es noch ein paar weitere Bomben gegen Leute wie ihn gegeben hat, hauptsächlich in Frankfurt und Hamburg.«

»Und da kommt dann der Seemann ins Spiel?«

»Genau. Mit einer der Bomben wurde im Hamburger Hafen ein Schiff auf Grund gesetzt, das Waffen nach Algerien transportieren sollte. Wahrscheinlich haben Froschmänner das Ding unter Wasser angebracht.«

Hans weicht einen Schritt zurück.

»He, Moment mal! Nur weil ich als Taucher arbeite …«

Fritz wehrt heftig ab.

»Um Gottes willen, ich verdächtige dich doch nicht! Aller Wahrscheinlichkeit nach steckt der französische Geheimdienst hinter der Sache. Aber es gibt einen Matrosen, der seinerzeit der Hamburger Polizei ein paar komische Dinge erzählt hat, und ich würde mich gerne mit ihm unterhalten. Er soll, genau wie das Schiff, aus Bremen kommen, und ich dachte, du könntest mir vielleicht sagen, wo sich hierzulande so die Seeleute herumtreiben, die gerade nicht ›auf großer Fahrt‹ sind oder wie ihr das nennt. Du kennst dich doch im Hafen ganz gut aus, oder?«

Hans kommt wieder ein Stück näher.

»Wie man’s nimmt. Ich hab von ’58 bis ’60 bei einer Bergungsfirma oben in Vegesack gearbeitet. Jetzt bin ich aber wieder in Hamburg. Und von der Bombe haben wir natürlich alle gehört damals. Ein paar Kollegen haben beim Aufräumen geholfen.«

Fritz lächelt freundlich.

»Ah, sehr gut! Jetzt ist es so, dass meine Frau und die Jungens Montagmorgen mit dem Zug zurückfahren werden, länger als einen Tag können wir sie nicht aus der Schule nehmen. Aber ich werde hierbleiben und mich ein wenig im Hafen umhören. Meine Vorgesetzten wollten mir keine Dienstfahrt extra deswegen genehmigen, aber wo ich sowieso wegen der Taufe hier oben bin, geben sie mir zwei Tage für die Ermittlungen. Von daher dachte ich, dass du mir vielleicht sagen kannst, wo ich mit meiner Suche beginnen soll. Gemeldet ist der Seemann gerade anscheinend nirgendwo, und die Heuerstellen in Hamburg und Bremen, die wir angeschrieben haben, wussten auch nichts.«

Hans verschränkt die Arme vor der Brust. Ihm wird langsam kalt, so ganz ohne Jacke.

»Tschä … Am besten an der ›Küste‹ anfangen.«

Jetzt ist es an Fritz, verblüfft zu sein. Das gefällt seinem norddeutschen Schwippschwager.

»›Küste‹ sagen sie in Bremen zu dem Nachtjackenviertel oben in Walle, direkt neben dem Holzhafen.«

Wo der Fußgängertunnel zum Freihafen anfängt, will er nachschieben, kurz vor der Rolandmühle, aber das kennt Fritz natürlich alles nicht.

»Und da soll ich dann in jede Rotlichtbar rein und fragen …?«

Hans zuckt mit den Achseln. Er wundert sich für einen Augenblick, dass der Münchner weiß, was ein Nachtjackenviertel ist, aber vielleicht haben sie das zu Hause in Pommern ja auch gesagt.

»Das sind nicht einfach Rotlichtbars. Mehr so eine Art zweites Zuhause. Wer immer in Bremen mit Seefahrt, Hafen oder den Werften zu tun hat, hat da schon mal im Rinnstein gelegen und La Paloma gepfiffen …«

»Hui«, macht Fritz. »Klein-St.-Pauli, was? So was haben wir bei uns nicht.«

Kann Hans sich schon denken. Wahrscheinlich hätte der Papst auch was dagegen.

»Da ist so eine kleine Polizeiwache, Ecke Nord- und Bogenstraße. Frag doch einfach deine Bremer Kollegen.«

Fritz zieht einen Flunsch und kratzt sich am Kopf.

»Die kennt da ja wahrscheinlich jeder. Ich würde lieber nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und mich erst mal sozusagen inkognito umhören.«

Hans muss an sich halten, um nicht unwillkürlich laut loszulachen. Der feine Herr Landeskriminalbeamte aus München, und dann Ermittlungen bei Fisch-Luzi oder Diamanten-Else im Krokodil? Auf ein Beck’s mit Nutten-Gerdes? Das könnte lustig werden …

Er überlegt einen Moment. Dahlsen, sein alter Lehrer, hatte letzten Monat seinen Siebzigsten, deswegen hat er sich entschieden, nach vier Jahren endlich mal wieder vorbeizuschauen und ein Geschenk abzugeben. Aber ob er das jetzt sofort oder heute Nachmittag macht, ist eigentlich egal. Und die Versuchung ist doch recht groß, herauszufinden, wie das Münchner Sprachgenie wohl mit dem räudigen Missingsch zurechtkommt, das an der »Küste« gesprochen wird … Er setzt ein möglichst freundliches Lächeln auf.

»Hm, also pass mal auf. Wenn wir jetzt losfahren, sind wir in einer Dreiviertelstunde da. Dann zeige ich dir alles, und wenn wir mit dem Seemann kein Glück haben, kannst du Montag wieder alleine hinfahren, weißt aber wenigstens Bescheid.«

Fritz nickt langsam und anerkennend.

»Das würde mir natürlich sehr helfen. Und unsere Schwester aus Gifhorn kommt sowieso erst morgen zur Kirche mit ihren Lieben, da reicht es, wenn ich den heutigen Nachmittag der Familie widme …«

Er blinzelt Hans verschwörerisch zu und hält die Dielentür auf.

»Holen wir unsere Jacken, und dann auf geht’s?«

Hans nickt, und auf geht’s, wie man wohl in Bayern so sagt.

 

*

 

Später, im Auto, fängt der Schwippschwager natürlich an, ihn auszuquetschen. Kein Wunder, einmal Polente, immer Polente, aber Hans hat schon das eine oder andere Verhör unbeschadet überstanden und lässt sich von neugierigen Fragen nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Auch wenn sie relativ bald von den Sturmflutschäden im Hamburger Hafen letzten Monat zu seinem Privatleben übergehen.

»Nach Australien? Na ja, das war eigentlich ganz einfach. Ich hatte hier in Bremen in der Innenstadt zu tun, und gleich hinter dem Rathaus hatten die Australier so ein Anwerbungsbüro, da bin ich zufällig vorbeigekommen. Sie hatten Prospekte mit Bildern von Wellenreitern und Palmen, das sah schon ganz schön aus, und eine nette Dame vom australischen Konsulat erzählte einem, wie händeringend dort unten Arbeitskräfte gesucht würden. Ich hatte sowieso nix Besseres vor und dachte mir dann, ich versuch’s einfach mal. Man bekam sogar einen Zuschuss für die Schiffspassage.«

Fritz schaltet hektisch am Lenkradhebel seines Borgward, während sie sich bei Achim durch eine Baustelle quälen, um auf die neue Autobahn Richtung Norden zu kommen. Hans wollte vermeiden, durch die Innenstadt zu fahren, aber das Gegurke hier ist auch nicht viel besser.

»Und, wie war es dann dort unten? Entschuldige, dass ich so neugierig bin, aber Australien tät mich schon auch mal reizen.«

»Ach ja? Dann musst du aber in der Gewerkschaft sein.«

»In der Gewerkschaft?«

»Ja, die haben da alles unter ihrer Kontrolle. ›Skilled labour jobs‹ erst, wenn du Mitglied bist. Und Mitglied wirst du nur, wenn dich ein Arbeitgeber empfiehlt. Was bei Einwanderern in den ersten zwei Jahren so gut wie ausgeschlossen ist.«

»Das heißt, du hast gar nicht als Taucher gearbeitet?«

»Ach was. Auf dem Bau, Balken schleppen. Beim Staudammbau war ich auch und bei der Obsternte. Sogar Motorrad-Viehtreiber und bei der Eisenbahn, im Outback Schienen ausbessern. Die nette Dame vom Konsulat hatte schon recht, es gibt überall Arbeit, aber eben nur Hilfsarbeit. Falls man nicht dableibt.«

»Und du bist nicht dageblieben …«

Jetzt kommt der schwierige Teil.

»Nee, war mir einfach zu heiß. Palmen gibt’s nur im Nordwesten, ansonsten Wüste, vierzig Grad im Schatten und eigentlich so gut wie überhaupt keine Bäume. Und wenn, dann nur so komische Sorten, die man nicht kennt. Ich hatte richtig Sehnsucht nach norddeutschem Schmuddelwetter …«

Fritz lacht und zeigt dann mit dem Finger in Fahrtrichtung.

»Übrigens, wie fahre ich da vorne? Richtung Bremerhaven?«

»Genau. Die Autobahn geht bloß bis Ihlpohl, vorher kommen die Ausfahrten zu den Häfen.«

Hans lehnt sich im Sitz zurück und blickt schweigend nach vorn. Fritz hat zwar vermutlich keine Ahnung, was Ihlpohl ist, aber er hat jetzt keine Lust, es ihm zu erklären. Immerhin hat er eine schöne Geschichte erzählt, die nur den einen Nachteil hat, vollkommen erstunken und erlogen zu sein. In Wirklichkeit wäre er liebend gerne da unten geblieben, weit weg von russischen Divisionen und taktischen Atomwaffen und der »King’s German Legion« und der Partisanenschule in der Lüneburger Heide und Spanien und einem Land, das ihn verraten und das er verraten hat, aber dann kam der Tag mit dem schwarzen Rauch und den wimmernden Darkie-Kindern, und am Ende haben sie ihn auf ein britisches Kriegsschiff verfrachtet, das nach Southampton fuhr, von dort im Lkw nach Harwich eskortiert und schließlich in eine Fähre in Richtung Festland gesetzt. Die Chancen, dass er noch mal irgendwann die Passkontrolle in einem australischen Hafen passieren wird, sind gleich null.

»Welche Ausfahrt?«

»Nimm ›Freihafen‹, das ist die nächste. Der neue Zubringer müsste jetzt fertig sein. Bist du nicht letztes Jahr mit meinem Bruder hier gewesen, als ihr dein Auto geholt habt?«

Fritz macht eine Grimasse.

»Ja mei, das könnte schon sein. Aber das war das erste und bisher einzige Mal hier, und ich kann mich nicht so richtig erinnern, auf einer Autobahn waren wir jedenfalls nicht.«

Hans lacht spöttisch auf.

»Nee, das wäre Hermann wohl auch zu hektisch. Jetzt müssen wir raus.«

Sie geraten auf eine vierspurige, frisch asphaltierte Straße, die mit sanftem Schwung durch Kleingartenanlagen und ein neues Gewerbegebiet von der Autobahn wegführt. Überall verraten Hinweisschilder, dass es hier zum Hafen geht, dessen vieltürmigen Kränewald sie aber erst sehen können, als sie schon fast auf dem Waller Ring sind. Hans bemerkt erstaunt, wie viele neue Häuser allein in den zwei Jahren, in denen er nicht mehr hier war, gebaut worden sind. Und wie sehr manche davon den hell gestrichenen neuen Wohnblöcken ähneln, die er in Adelaide und Melbourne gesehen hat.

»Wer wohnt hier?«

»Hafen- und Werftarbeiter, Barkassenführer, Lademeister, Kranführer und so weiter und so fort. Und jede Menge Nutten, Kneipiers und Mietwagenfahrer.«

»Mietwagenfahrer?«

»Na ja, in ihre Wohnung können die Damen vom Ballett ja nich, von wegen Kuppeleiparagraf und so. Also gibt’s da so n paar Spezialisten, die immer mit ihren Mietautos vor der Wurstbude in der Wißmannstraße auf Kundschaft warten. Lange warten sie meistens nicht.«

Fritz schüttelt lachend den Kopf.

»Ah ja … Na, das läuft dann in München durchaus ähnlich. Wir schauen allerdings schon, dass es nicht so ein Ausmaß annimmt.«

»Und was macht ihr mit den Leuten, die sich mal so richtig amüsieren wollen?«

»Die setzen wir in einen Zug Richtung Norden …«

Jetzt lachen sie beide. Fritz hält schließlich kurz vor der Einmündung in die Nordstraße und stellt die Isabella am Straßenrand ab, wo sich eine schäbige Bar an die andere reiht und tatsächlich bereits diverse junge und alte Dockschwalben auf hochhackigen Schuhen und in Nylons auf- und abschlendern und auf Kunden warten.

»Na, Süßer?«

»Hallo, kommst du mal?«

Nee, bestimmt nicht. Hans hat sein Lebtag nicht verstanden, warum man mit einer Frau schlafen soll, die nur so tut, als ob sie Lust dazu hätte. Andererseits weiß er natürlich nicht, ob Ira nicht damals mit ihm manchmal genau die gleiche Nummer abgezogen hat wie mit ihren Kunden.

Fritz kommt auch nicht mal eben. Man merkt außerdem ziemlich schnell, dass er mit dem hiesigen Dialekt kein größeres Problem haben wird. Als ihn eine der Damen mit »Ach, Hinnerk, machs nich mal an min Honnigpott lecken?« neckt, kommt wie aus der Pistole geschossen »Nee, dat is keen Honnig, dat is fuulen Fisch!« zurück, und Hans fällt ein, dass man in Pommern ja auch Platt geredet hat … Fritz’ Blick bekommt so etwas leicht Lauerndes, er taxiert unauffällig die Umgebung und wirkt plötzlich, als wäre eine Sprungfeder in ihm drin.

»Wo fangen wir an?«

Hans streift seine alte Lederjacke über, die er auf dem Rücksitz abgelegt hat, und zeigt auf die andere Seite der Nordstraße.

»Da gegenüber, wo der Fußgängertunnel zum Hafen unter der Eisenbahn anfängt, ist Tante Lotti. Kein Animierschuppen, stattdessen deftige deutsche Küche und ein Keller voller Steinhäger. Da gehen die Kapitäne und Steuermänner viel hin, und Lotti weiß in der Regel, wer wo was mit wem. Wie heißen eigentlich dein Seemann und sein Schiff?«

Fritz holt einen Zettel aus der Innentasche seines Mantels, während sie mit schnellen Schritten die Nordstraße überqueren. Vor dem Krokodil lungert eine Meute sturzbetrunkener Matrosen der US Navy herum, wahrscheinlich liegt ein Kriegsschiff im Hafen.

»Richard Kastens. Das Schiff war die Kronos, von der Kronos-­Syrien-Linie.«

Sie haben die andere Straßenseite erreicht. Hans hält einen Moment inne und denkt nach.

»Die Kronos? Ja, klingt bekannt. Habe ich sicher mal vorbeischippern sehen, während ich irgendwo gearbeitet habe.«

»Sie soll repariert worden und jetzt wieder im Einsatz sein. Aber offenbar nicht mit diesem Kastens, jedenfalls sagt das die Reederei. Vielleicht muss ich da auch noch hin, sie hat ihren Sitz in der, Moment … Langenstraße.«

»Das ist in der Innenstadt. Die Reedereien haben ihre Hauptbüros natürlich nicht hier draußen. Aber jetzt konzentrieren wir uns mal auf das Angebot vor Ort.«

Er zeigt auf die Eingangstür der Kneipe und setzt sich in Bewegung. Eigentlich ganz schön, dass er Lotti mal wiedersieht.

Drinnen herrscht ein Betrieb, den man um diese Zeit nicht erwarten würde. Alle Tische sind besetzt, und vor dem Tresen drängeln sich amerikanische Matrosen und Männer mit Ballonmützen auf dem Kopf, die lautstark diskutieren und alle ein Glas Hemelinger oder eine Zigarette in der Hand halten. Oder beides. Die Rauchschwaden sind so dicht, dass man kaum Lotti erkennt, die wie üblich mit zwei Zentnern Lebendgewicht und einer alten Kittelschürze gewandet hinter dem Tresen hockt und ihr Bestes gibt, den Bier- und Steinhäger-Nachschub nicht versiegen zu lassen. Hans hat das unbestimmte Gefühl, nach Hause zu kommen.

Was man von Fritz nicht sagen kann, der hier mit seinem Kamelhaarmantel und dem Filzhut tatsächlich in etwa so gut hereinpasst wie ein Pfau in Omas Hühnerstall. Prompt dreht sich ein Ami zu ihnen um und kommt einen Schritt vor.

»Hey! They don’t serve any oysters here, buddy!«

Und wieder verändert sich irgendetwas an Fritz, jetzt ist es mehr so eine Art Ruck, ja, man muss wirklich an den großen Otto denken, wie der Jagdverbandsführer vor dem alten, halb zerfallenen Gutshaus am Fuße der Sierra Morena steht und es mit der ganzen Welt aufnehmen will, jedenfalls mit dem Teil, der dem Obersten Sowjet hörig ist.

»From what I hear, they do serve knuckle sandwiches though«, sagt Fritz schließlich mit kaum verhüllter Aggressivität in der Stimme. »Maybe we should ask the shore patrol for some help …«

Der Ami, der ziemlich einen im Tee hat, ist sofort auf hundert­achtzig und kommt bedrohlich auf sie zu. Fritz schiebt Mantel und Jackett ein bisschen zur Seite, man sieht, dass er ein Schulterholster trägt. Da bemerkt Hans aus den Augenwinkeln, wie ein anderer Matrose sich von hinten nähert und dem Münchner sein Bierglas auf den Schädel hauen will. Augenblicklich schießt seine Rechte zur Seite und drückt den Kehlkopf des Amerikaners nach hinten. Nur ein kleines bisschen, aber genug, um den Betrunkenen röchelnd zu Boden gehen zu lassen. Hans ist zweifellos nicht mehr so in Form wie seinerzeit als Legionär des Königs, aber die Reflexe und die kleinen Tricks funktionieren anscheinend noch ganz gut.

Das allgemeine Palaver ist leiser geworden, die Leute werden auf sie aufmerksam. Die US Navy lässt sich diese Behandlung nicht bieten und formiert sich zu einer schlagkräftigen Kampfeinheit, die es den frechen Deutschen zeigen will. Fäuste werden geballt, wilde Blicke verschossen, und einer der Amerikaner schiebt die Umstehenden zur Seite, um sich auf Hans zu stürzen.

Da öffnet sich die Tür, und es kommt tatsächlich die »Shore Patrol« herein, eine Streife der Militärpolizei, die hier in der amerikanischen Enklave Bremen unter den US-Soldaten nach dem Rechten sieht. Jedes Gespräch erstirbt. Die Matrosen halten erschrocken inne, dann lassen sie ihre Fäuste sinken, helfen ihrem zu Boden gegangenen Kameraden wieder auf die Beine und verziehen sich in ihre Ecke. Fritz wechselt in lässigem Kaugummi-Englisch ein paar Worte mit den Militärpolizisten, man entspannt sich, es wird gelacht, alles ist in bester Ordnung.

Und damit sind Hans’ Pläne, den Schwippschwager hier als feinen Pinkel auflaufen zu lassen, endgültig begraben. Stattdessen steht Fritz da wie eine Eins und fängt sich die bewundernden Blicke der Damen ein, die mit den Kapitänen und Steuermännern an den Tischen sitzen und aussehen, als hätte man ihnen mit Kajal und Lippenstift Masken ins Gesicht gemalt. Schließlich verabschiedet sich die Militärstreife, und das Palaver setzt wieder ein. Hans saugt geräuschvoll die Luft ein und peilt angestrengt zwischen den Gästen hindurch in Richtung Tresen, bis er endlich den Blick der Wirtin erhascht.

»Lotti, machst du uns mal zwei Kaffee?«

Ohne ihm direkt zu antworten, dreht sie sich, so gut es ihre Fleischberge erlauben, halb nach hinten zur Küche um.

»Heinz? Zwei Jacobs! Einer schwarz, den anderen weiß ich nicht.«

»Auch schwarz«, sagt Fritz und macht seine Jacke wieder zu. Die Ami-Matrosen stehen jetzt etwas abseits und scheinen zu beratschlagen. Den Bierglasschläger haben sie auf einen Stuhl bugsiert, wo er sich leise fluchend den Hals reibt.

Hans nutzt den dadurch entstandenen Platz und rückt mit Fritz im Schlepptau näher an den Tresen heran. Bei Gelegenheit muss er mal fragen, was ein »knuckle sandwich« ist.

Ein kahlköpfiger Kerl in Kochmontur kommt aus der Küche und stellt zwei Kaffeegedecke auf den Tresen. Er nickt Hans kurz zu und verschwindet dann wieder. Das Gerede ist mittlerweile so laut wie vorhin. Irgendjemand wirft zwei Groschen in die Musikbox, und Freddy legt los: Es kommt der Tag, da will man in die Fremde …

»Du machst dich ja ganz schön rar, mein Süßer.«

Lotti kann entzückend sein, wenn sie nur will. Auch wenn ihre Stimme klingt, als ob sie täglich Glasscherben gurgelt.

»Tja, was soll man machen? Du bist ja auch selten in Hamburg …«

Die kleinen Äuglein der Wirtin sind plötzlich weit aufgerissen.

»In Hummel-Hummel sein’ Arsch??!!« Sie schleudert den Spottnamen heraus wie einen bösen Fluch. »Da musst du mich in Ketten legen und auf n Lkw verladen, bevor du mich zu den Filzläusen da krisst!«

Hans nimmt einen Schluck Kaffee und bemüht sich, nicht zu grinsen. Bei der Vorstellung, dass Lotti mit einem Kran auf einen Lkw verladen wird, ist das allerdings schwierig. Man sagt ihr ohnehin nach, dass sie ihren Platz nie verlässt und nur gegen Morgen mal kurz mit den Armen auf dem Tresen ein Nickerchen macht. Für weitere Bedürfnisse soll es einen alten Blecheimer geben.

»Und wer ist dein Kumpel da?«, fragt sie schließlich mürrisch und nickt in Richtung Fritz. »Hab ich bei den hiesigen Tschakos noch nie gesehen …«

Lotti kann man natürlich nichts vormachen, einen Bullen erkennt sie auf drei Meilen gegen den Wind.

»Nee, der ist aus München. Er sucht wen.«

»Aus München?«

Lotti kneift die Augen zusammen. Der Name der bayerischen Landeshauptstadt klingt an diesem Ort exotischer als Schanghai oder Montevideo.

»Und weswegen sucht er wen?«

Fritz hat inzwischen den Hut abgenommen und genehmigt sich ebenfalls einen Schluck Kaffee.

»Weil derjenige wahrscheinlich illegale Ladung auf sein Schiff geschmuggelt und dadurch seine Kollegen in Gefahr gebracht hat. Weil es ihm auch nichts ausgemacht hat, dass eine Bombe an Bord explodiert ist.«

Lotti blickt von Hans zu Fritz und wieder zurück.

»Und so n Arschloch soll ich kennen …?!?«

 

*

 

Kurze Zeit später stehen sie in einer engen Straße, in der sich niedrige, zweistöckige Gebäude Wand an Wand drängen und erkennbar nicht von reichen Leuten bewohnt werden. Besonders alt sehen die Häuser nicht aus.

»Wie war das nach dem Krieg hier?«

»Alles platt. Haben sie dann aber relativ schnell wiederaufgebaut.«

Fritz nickt anerkennend.

»Da haben wir schon was geleistet in Deutschland, was?«

Hans zuckt mit den Achseln.

»In der Hinsicht schon.«

»Kann man aus den Häusern nach hinten raus?«

»Ja, da sind normalerweise kleine Gärten zwischen den Häuserzeilen. Und ein schmaler Gang nach beiden Seiten raus.«

Fritz blickt nach rechts und links. Sie befinden sich ungefähr auf halber Strecke zwischen zwei Querstraßen, auf die er jetzt nacheinander zeigt.

»Hm. Also, man kann entweder dort oder dort raus?«

»Würde ich sagen.«

Fritz überlegt und zeigt dann noch mal nach rechts.

»Was kommt dahinten?«

»Der Hafen.«

»Und auf der anderen Seite?«

»Geht’s eher in die Stadt.«

»Da, wo die Straßenbahn fährt?«

»Genau.«

Fritz nickt.

»Gut. Falls irgendwas passiert, läufst du zur Stadtseite und passt auf, ob er da rauswill. Alles klar?«

Hans hebt verblüfft die Augenbrauen. Haben sie vereinbart, dass er Anweisungen entgegennimmt …? Er kommt nicht dazu, seiner Empörung Ausdruck zu verschaffen, weil Fritz bereits mit seiner Polizeimarke in der Hand vor der Adresse steht, die Tante Lotti ihnen gegeben hat, und klingelt.

Nach einer Weile öffnet sich die Tür einen Spalt, und man kann schemenhaft ein halbwüchsiges Mädchen mit blonden Zöpfen erkennen, das sie fragend anblickt.

»Ist dein Papa da?«

»Joa, kleinen Moment …«

Sie geht ein paar Schritte zurück, und Fritz drängt sich hinter ihr in den Flur hinein, in dem gleich vorne eine Treppe nach oben führt. Hans ärgert sich noch mehr. Braucht man für so etwas nicht einen Durchsuchungsbefehl? Und warum muss er hier den Hilfssheriff spielen, wenn Fritz doch einfach bei der nächsten Polizeiwache um Unterstützung bitten könnte?

Im Halbdunkel des Flurs taucht eine untersetzte, vierschrötige Gestalt in Manchesterhosen und einem dünnen Pullover auf.

»Was’n los hier?«

»Lehmann, Kripo. Können wir Sie mal sprechen?«

Augenblicklich dreht sich der Mann um und hastet in den rückwärtigen Bereich des Hauses. Fritz hat offenbar damit gerechnet und setzt ihm sofort nach. Das Mädchen rettet sich mit einem Sprung auf die Treppe, bevor der Polizist sie umrennt. Hans bleibt vor der Tür stehen und weiß nicht, was er machen soll. Hinten im Haus hört man es poltern. Dann ruft Fritz:

»Er flieht, schnell!«

Soll das etwa bedeuten …? Hans schluckt seinen Ärger herunter und nimmt die Beine in die Hand. Wo sollte er noch mal hin? Ach ja, zu der Querstraße, die in Richtung der Stadt liegt … Schon nach wenigen Schritten merkt er, dass zwar seine Reflexe noch ganz gut funktionieren, aber die Ausdauer schwer zu wünschen übrig lässt. Und als er keuchend um die Ecke biegt und vor dem Ende des Gangs ankommt, der hinten zwischen den Häuserzeilen durchführt, muss er auch noch feststellen, dass er sich umsonst angestrengt hat, denn der Vierschrötige ist offenbar in die andere Richtung geflohen.

Hans bleibt stehen und stützt sich mit schmerzenden Lungen auf den Knien ab. Er raucht wirklich zu viel … Was wird der Flüchtige, vermutlich ist es dieser Kastens, machen? Über den Zaun in den Freihafen ist zu umständlich, da könnte man ihn leicht einholen. Eher wird er die Querstraße ein Stück weiter bis zum nächsten Häuserblock und dem Gang darin rennen, um dort dann doch noch in Richtung Stadt abzubiegen. Hans muss also nur ein Stück in dieselbe Richtung gehen, bis er das diesseitige Ende des bewussten Ganges erreicht, um ihm den Weg zu versperren … Und siehe da, zwischen Mülltonnen und zum Trocknen aufgehängter Wäsche kommt ihm keuchend und schnaufend Kastens entgegen, während dahinter schon Fritz um die Ecke biegt.

Der Seemann versucht noch, ihn umzurennen, aber wenn man wie Hans jeden Tag in einer schweren Taucherausrüstung unter Wasser herumhantiert, braucht man über schwache Muskeln in der Regel nicht zu klagen. Und da die Tommys ihm damals neben den Kehlkopfschlägen noch jede Menge andere Nahkampftricks beigebracht haben, liegt Kastens bald mit umgedrehtem Arm auf dem Boden und flucht in den Rinnstein hinein, während Hans ihm das Knie in den Rücken drückt.

Dann ist endlich auch Fritz da. Er hat seine Waffe gezogen und setzt sie dem Seemann an den Kopf.

»Komm, steh auf! Du musst keine Angst haben, wir tun dir nichts. Einfach nur ein bisschen reden …«

Er nickt Hans zu, der Kastens wieder freigibt. Der Seemann rappelt sich auf, blickt wütend von einem zum anderen, lässt sich dann aber willenlos von Fritz am Kragen packen und mit erhobenen Händen abführen. Sie gehen schweigend zu der Stelle, wo sie den Borgward geparkt haben. Hans hat langsam das Gefühl, dass die Sache gewaltig stinkt. Oder die üblichen Polizeimethoden in Bayern unterscheiden sich in maßgeblichen Nuancen von den hiesigen.

 

Fritz gibt ihm den Autoschlüssel und bedeutet ihm, den Wagen aufzuschließen. Nachdem Hans das erledigt und die Fahrertür geöffnet hat, klappt Fritz den Sitz vor, drückt den Seemann auf die Rückbank und quetscht sich daneben. Dann nickt er Hans zu und deutet mit seiner Waffe kurz auf den Fahrersitz.

»Kannst du uns ein bisschen rumfahren?«

Hans hat zwar kein eigenes Auto, aber die britische Armee hat damals die Legionäre des Königs sämtliche Führerscheine machen lassen, die es so gibt. Für den Fall der Fälle. Er klappt also den Sitz wieder zurück und will sich gerade ans Steuer setzen, als er sieht, dass das blonde Mädchen, dreizehn ist sie vielleicht, vor dem Eingang zu Kastens’ Haus steht und sie erschrocken anblickt. Ein kleiner Stich geht ihm durchs Herz, weil es niemanden auf der Welt gibt, der seinetwegen solche Angst hätte.

»Fritz, was machen wir mit der Kleinen?«

»Mit wem? Ach so, sag ihr, wir sind gleich wieder da.«

Hans geht zu dem Mädchen, sagt ihr ein paar beruhigende Worte und kehrt zum Borgward zurück. Langsam sollte er für den Hilfssheriffjob ein Gehalt einfordern … Als er einsteigt, sieht er, dass sie wieder ins Haus gegangen ist. So weit, so gut. Er steckt den Zündschlüssel ins Schloss und dreht um.

»Irgendein bestimmtes Ziel?«

»Nee, einfach eine kleine Spritztour.«

Hans fährt los und biegt kurz darauf in die Utbremer Straße ein, die von hier aus Richtung Norden führt. Kann ja nicht schaden, mal zu gucken, wie seine alte Arbeitsstätte in Vegesack die Sturmflut überstanden hat. Fritz kümmert sich unterdessen um ihren unfreiwilligen Fahrgast.

»Warum bist du gerade nicht in Bremen gemeldet, obwohl du hier wohnst?«

Es dauert eine Weile, bis Kastens antwortet.

»War im Ausland und hab vergessen, mich anzumelden … außerdem sag ich eh nix mehr ohne Anwalt!«

»Den brauchst du jetzt nicht.«

»Sagense mal, hamm wir schon mal zusammen Schweine gehütet, oder was? Für Sie immer noch Herr Kastens!«

Hans sieht im Rückspiegel, wie Fritz ein Glucksen unterdrücken muss.

»So förmlich? Aber dann vielleicht doch eher ›Monsieur Cattin‹, oder?«

»Woher zum –?«

Hans nimmt aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung wahr, dann rumpelt es hinten, und er tritt auf die Bremse.

Er dreht sich um: Kastens hält sich die Nase, aus der Blut läuft. Fritz grinst.

Hinter ihnen wird gehupt. Jemand ruft laut »Fahr weidah, du Tünbüdel!«, also konzentriert Hans sich wieder auf die Straße und gibt Gas. Groß mitkommen tut er sowieso nicht mehr. Ist das hier überhaupt eine Polizeiaktion?

»Unser Herr Kastens war nämlich länger in der Fremdenlegion und hat dort einen französischen Namen angenommen, nicht wahr, mon sergent? Hat eine Weile gedauert, bis ich das raushatte …«

Kastens antwortet nicht.

»Und dann ist er vor ein paar Jahren plötzlich in Deutschland aufgetaucht, unter seinem richtigen Namen, versteht sich, und hat in seinem alten Beruf als Leichtmatrose angefangen. Ziemlich komisch, wenn man schon Unteroffizier war und in Dien Bien Phu gekämpft hat …«

Sie sind jetzt auf Höhe des Industriehafens, und man kann die große Verladeanlage sehen, auf der Tausende von neuen Volkswagen darauf warten, nach Übersee verschifft zu werden. Hier geht es aufwärts, hier ist gut sein.

»Aber was ich nicht ganz verstehe: Warum dann die Frau hier in Bremen? Und die Tochter? Oder ist das nur eine Stieftochter?«

»Was geht dich das an?«, raunzt Kastens jetzt endlich. »Lasst mich raus hier! Ihr seid doch gar keine Bullen …!«

Fritz geht gar nicht darauf ein.

»Und was wäre, wenn man dich wieder über die Grenze schickt, weil du für einen ausländischen Geheimdienst arbeitest? Und eigentlich längst französischer Staatsbürger bist? Was würden die Frau und die Tochter sagen?«

»Du Schwein! Was willst du von mir?«

»Siehst du? Duzen ist doch viel gemütlicher … Hör mal, ich will gar nicht wissen, wie ihr das Ding gedreht habt. Irgendwie haben die dich auf dem Schiff untergebracht, und irgendwie hattest du mit der Sprengstofflieferung zu tun, egal. Irgendwie verstehe ich euch auch. Was mischen sich diese Leute in Algerien ein …? Was ich aber eigentlich wissen will: Hatte Klausner bei der Waffenlieferung seine Finger im Spiel oder nicht?«

Einen Moment lang ist wieder Stille, dann fängt Kastens mit einigermaßen ruhiger Stimme an zu reden.

»Finger im Spiel? Er hat alles eingefädelt! Eigentlich wäre er schon damals selbst dran gewesen, in die Luft zu fliegen, aber der Hund hat im letzten Moment seine Pläne geändert. Also wurde nur das Schiff versenkt. Zufrieden?«

Hans sieht im Rückspiegel, wie sich Fritz mit der Zunge über die Lippen fährt.

»Beinahe. Nehmen wir mal an, ich würde dich aus irgendwelchen Gründen nicht als Zeugen laden, zum Beispiel, damit du hier in Bremen weiter deine Ruhe hast und gemütlich mit deiner Familie leben kannst – wie könnte ich dann beweisen, dass Klausner mit dringesteckt hat?«

»Ha! Frag in Paris nach … Caserne des Tourelles, Monsieur Lazard. Allerdings …«

»Ja?«

»Klausner hat seine illegale Lieferung unter den Rücksitzen von VWs versteckt, die nach Ägypten verschifft werden sollten. Und er hat immer einen Heidenaufstand veranstaltet, dass wir die Dinger ja pfleglich behandeln, weil er sie tatsächlich schon verkauft hatte. Er konnte eben den Hals nicht vollkriegen …«

»Und?«

»Na ja, wenn du die Firma findest, die damals den Frachtraum für die Autos gechartert hat, müsstest du eigentlich automatisch auf Klausner kommen. Keine Ahnung, warum eure Hamburger Kollegen das damals nicht gemacht haben.«

Fritz lacht höhnisch auf.

»Ich glaube, da hat jemand aus Bonn angerufen …«

»Was?«

»Schon gut. Hans? Wir bringen Herrn Kastens besser mal wieder nach Hause. Er hat sicher noch zu tun …«

Zu dumm. Gleich wären sie über die Lesum gekommen, Hans hat sich schon gefreut, dass er mal wieder einen Blick auf die Lesmona Bergungsgesellschaft werfen kann, die ihm zwei Jahre lang Arbeit und Brot gegeben hat. Andererseits ist er erleichtert, wenn er diese seltsame Fahrt so schnell wie möglich hinter sich hat.

Sie verbringen eine weitere Viertelstunde schweigend mit der Rückfahrt. Hans kann sich nicht so richtig erklären, was der Schwippschwager eigentlich im Schilde führt. Dass für das Bombenattentat der französische Geheimdienst verantwortlich war, hat er heute Morgen schon gesagt – warum ist es so wichtig, die Beteiligung eines Waffenhändlers an einem Waffenhandel beweisen zu können? Dass die Algerier von Westdeutschland aus mit Waffen beliefert werden, interessiert doch hierzulande keine Sau … Gott sei Dank werden sie bald zurück in Darkum sein.

 

Denkt er jedenfalls. Als sie Kastens vor dem niedrigen Haus abgesetzt haben, übernimmt Fritz wieder das Steuer. Anstatt sofort loszufahren, dreht er sich zu Hans und macht ein undurchsichtiges Gesicht.

»Sag mal, ich hab einen schrecklichen Kohldampf. Die rechnen doch zu Hause sowieso nicht mit uns, können wir nicht hier in der Stadt was essen? Ich lad dich ein! Familie haben wir ja später noch genug …«

Das sagt er jetzt schon zum zweiten Mal. Lässt ja tief blicken. Aber Hans geht’s natürlich genauso.

»Am Bahnhof gibt’s ein Fischrestaurant, das soll ganz gut sein. Für Bremer Verhältnisse jedenfalls.«

Fritz lacht.

»Da spricht wohl der Hamburger … na, denn man tauh!«

Was auch auffällt: Wenn er in Aktion ist, kann man Fritz nicht im Geringsten anhören, dass er schon länger in München lebt.

 

*

 

Nachdem sie die Empfehlung des Hauses, Scholle mit Petersilienkartoffeln, verdrückt haben, macht sich bei Hans eine gewisse Müdigkeit breit, die auch durch den Kognak, den Fritz gerade bestellt hat, nicht vertrieben wird.

Sie prosten sich zu und ziehen an ihren Zigaretten. Dann lehnt Fritz sich zufrieden grinsend zurück. Und wenn er jetzt nicht wie der große Otto Skorzeny aussieht, will Hans lang hinschlagen. Fehlen wirklich bloß noch die Schmisse im Gesicht.

»So, jetzt kommen wir mal zum Geschäft, oder?«

Hans runzelt die Stirn.

»Hatte mit keinem gerechnet.«

Fritz nickt langsam und bedächtig.

»Kann ich mir vorstellen. Ging auch alles ein bisschen schnell heute. Normalerweise hätte ich noch ein wenig gewartet, bis ich dich frage. Aber das hat sich erledigt. Noch ein paar Sachen abklären, dann kann es losgehen.«

Hans antwortet nicht. Der Kognak läuft ihm warm die Speiseröhre herunter. Vielleicht braucht er noch mehr davon, um endlich zu kapieren, worauf Fritz eigentlich hinauswill.

»Was würdest du sagen, wenn ich dir einen Tauchauftrag verschaffen könnte?«

Hans starrt ihn an und versteht immer noch Bahnhof.

»Ja, klar«, sagt er schließlich. »Ihr habt ja Seen da unten. Starnberger See. Chiemsee. Und so weiter.«

Fritz beugt sich vor.

»Es geht eigentlich mehr ums Mittelmeer.«

Hans beugt sich auch vor.

»Ums Mittelmeer …?«

Fritz lacht unvermittelt los. Er lehnt sich wieder zurück und lacht noch mehr. Hans lacht auch. Die Leute fangen an zu gucken. Ein Riesenspaß, die ganze Geschichte.

»Also, pass auf«, sagt Fritz, nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt haben. »Klausner hat natürlich eine Vorgeschichte. Im Krieg, meine ich. Und vorher.«

Hans nickt und hört zu. Aha.

»Jurastudium, SA, SS, Reichssicherheitshauptamt. In verschiedenen Einsatzkommandos, zum Beispiel in der Ukraine. Wo er Befehle erteilt, die später andere Leute vors Kriegsverbrechertribunal bringen werden.«

Täuscht sich Hans, oder ist da mit einem Mal eine gewisse Bitterkeit in Fritz’ Stimme? Aber als er weiterredet, ist nichts mehr davon zu bemerken.

»Was uns interessiert, ist allerdings das Einsatzkommando in Tunis, wo er unter Obersturmbannführer Curt Bröhl gedient hat. Schon mal gehört?«

»Ich weiß nicht, war da nicht letztes Jahr was?«

»Richtig. Der Name fiel bei Eichmanns Verhandlung in Jerusalem. Bröhl spielte im Reichssicherheitshauptamt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der, äh, Vernichtung der Juden.«

Dem Anschein nach hat Fritz Probleme, das Wort »Juden« auszusprechen. Aber wie auch immer.

»Die Bundesanwaltschaft hat Bröhls Auslieferung aus Chile beantragt, und es gibt einen Haftbefehl, aber das ist nicht so wichtig.«

»Was ist denn wichtig?«

Jetzt beugt sich Fritz wieder vor.

»Das Einsatzkommando in Tunis sollte eigentlich die Vernichtung der dortigen Juden vorbereiten. Allerdings ist es dazu aufgrund des Kriegsverlaufs nicht gekommen. Nur eines haben sie noch geschafft.«

Eine Pause entsteht. So langsam verliert Hans das warme Gefühl, das ihm der Kognak gemacht hat. Tunis, Juden, SS – das hat er doch irgendwie alles schon mal gehört …

»Nämlich den Juden dort unten alles an Geld, Gold und Schmuck abzunehmen, was sie in die Finger bekommen konnten«, fährt Fritz fort. »Und da die beklagenswerten Opfer nicht zu den Ärmsten des Landes gehörten, soll es sich um ziemlich viel Geld, Gold und Schmuck gehandelt haben. Wir reden hier von einem Gegenwert von zehn Millionen Englischen Pfund.«

Hans rechnet im Kopf nach: Ein Pfund sind acht D-Mark, für achtzig Millionen davon bekommt man eine ganze Starfighter-Staffel.

Fritz lehnt sich wieder zurück und zündet sich eine neue Zigarette an.

»Soviel wir herausbekommen konnten, wurde Klausner im April 1943 beim Herannahen der britischen Truppen damit beauftragt, alles auf ein U-Boot zu verladen und nach Italien zu bringen. Dort wurde es auf Lkw umgepackt und nach Norden verfrachtet. Und dann –«

»– wegen der unsicheren Lage in Norditalien von irgendeinem Hafen in Mittelitalien aus nach Korsika verschifft«, führt Hans den Satz ungerührt fort. »Wo der Schatz dann bei einem Fliegerangriff der Amerikaner im Meer versunken ist, direkt vor Bastia. Man muss praktisch nur hinfahren und ihn sich holen.«

Fritz sieht ihn verblüfft an. Der Polizist braucht eine Weile, bis er seine Sprache wiedergefunden hat.

»Gut, du weißt also so einiges.«

Hans lächelt. Er muss sich sogar beherrschen, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.

»Wie wohl jeder im Tauchgewerbe, der mal irgendwann im Leben vom guten, alten Rommel-Schatz gehört hat.«

Fritz holt tief Luft. Schließlich nickt er langsam.

»Gut, nicht meine Welt offensichtlich. Aber was weißt du genau?«

Hans wiegt den Kopf.

»Dass ein paar Jahre nach dem Krieg ein Deutscher, ich weiß den Namen nicht mehr …«

»Peter Fleig.«

»… ah ja, so hieß er wohl, in Bastia aufgekreuzt ist und so eine ähnliche Geschichte erzählt hat wie du gerade. Er hat da eine Weile herumgetaucht, wohl auf Kosten des französischen Staates, aber nichts gefunden. Und dann ist er wieder verschwunden.«

Fritz nickt.

»Wir haben den mal unter die Lupe genommen. Behauptet, Sudetendeutscher zu sein, aber wie die Leute aus Eger und Karlsbad so reden, weiß ich zur Genüge von meiner Frau und ihrer Verwandtschaft. Die Mundart des angeblichen Fleig dagegen ist definitiv schwäbisch.«

»Und?«

»Vermutlich ist der echte Fleig im Krieg umgekommen, hat aber diesem Schwaben noch von dem Schatz erzählt. Und der hatte zwar keine Ahnung, wo er suchen soll, ist aber trotzdem nach Korsika, weil er dachte, er schafft das schon irgendwie. Und dabei hat er sich dann als Fleig ausgegeben.«

»Klingt plausibel. Also weiß dieser Schwabe gar nicht, wo der Schatz liegt.«

»Er nicht. Klausner allerdings schon.«

Hans antwortet nicht. Aber jetzt spitzt er doch die Ohren. Fritz nimmt einen Schluck Kognak.

»Wir gehen davon aus, dass der Schatz eigentlich nach Berlin sollte. Aber irgendetwas muss schiefgelaufen sein, und als die Amerikaner dann auf Sizilien gelandet sind, haben Bröhl und Klausner wohl schon geahnt, wohin die Reise gehen würde. Also haben sie beschlossen, die Kisten auf dem Meeresboden zu deponieren, um nach dem Krieg ein kleines Startkapital zu haben.«

Oder jemand hat euch einen Bären aufgebunden, denkt Hans, schweigt aber weiter.

»Was dann direkt nach dem Krieg passiert ist, haben wir noch nicht so richtig herausbekommen. Bröhl scheint in Italien gewesen zu sein, Klausner vermutlich auch. Es gibt Leute, die sie in Syrien gesehen haben wollen, aber da ist man letztendlich im Reich von Tausendundeiner Nacht. Bröhl hält sich jetzt jedenfalls in Chile auf, Klausner ist einfach irgendwann wieder in Deutschland aufgetaucht. Mit Persilschein und allem Drum und Dran.«

»Ich denke, der war bei der SS?«

Fritz lacht höhnisch auf.

»Das waren viele. Aber wenn sie nach dem Krieg für die Amerikaner gearbeitet haben, hat man nicht mehr so genau hingeschaut.«

Hans nimmt auch noch einen Schluck. Jetzt bloß nichts anmerken lassen, es gab nach dem Krieg ja nicht nur die Amerikaner, für die man arbeiten konnte.

»Und was genau hat dieser Kastens damit zu tun?«

Jetzt grinst Fritz über das ganze Gesicht.

»Ich war mitten in den Ermittlungen wegen dem Attentat auf Klausner, als ich Besuch von einem Vorgesetzten bekam. Ob nicht die Arbeit an anderen Fällen zurzeit wichtiger wäre – du verstehst?«

Hans nickt. Da hat wohl auch jemand aus Bonn angerufen.

»Ich muss also etwas wirklich Belastbares gegen Klausner in die Hand bekommen, damit wir ihn trotzdem beim Wickel kriegen. Oder besser gesagt: kriegen könnten, wenn wir denn wollten.«

»Das wollt ihr aber nicht?«

Fritz schüttelt leicht den Kopf.

»Wir wissen aus sehr sicherer Quelle, dass er uns zu dem Schatz führen kann. Aber dazu muss man ihn natürlich zum Reden bringen.«

Hans lehnt sich wieder zurück und sieht aus dem Fenster. Draußen wuseln Straßenbahnen und Menschenmengen über den Bahnhofsvorplatz. Ein Schutzmann in weißer Kleidung regelt den Verkehr auf der großen Kreuzung, wo der Herdentorsteinweg in die Innenstadt führt. Eines geht ihm schon die ganze Zeit im Kopf herum.

»Wer ist eigentlich ›wir‹?«

Fritz sieht ihn verständnislos an.

»Na ja, du redest immer von ›wir‹: ›Wir haben herausbekommen‹, ›wir kriegen ihn beim Wickel‹ …«

Fritz lächelt ein sehr feines Lächeln.

»Sagen wir mal, es handelt sich um eine Gruppe von Freunden, die schon seit Längerem im Polizeidienst Bayerns oder dem anderer Bundesländer tätig sind, aufgrund der aktuellen politischen Entwicklungen aber damit rechnen müssen, dass sie nicht bis zur Pension durchhalten werden.«

»Warum nicht?«

Da beugt sich Fritz plötzlich vor und wird eindringlich.

»Hans, du warst doch selbst im nationalen Widerstand! Und du weißt, was gerade los ist: Eichmann hat noch mal Revision eingelegt, aber die Chancen, dass er durchkommt, sind praktisch null. In Frankfurt sammeln sie Material für einen großen Prozess wegen den Lagern in Polen, in Hamburg wird gegen die Ordnungspolizei ermittelt. Glaubst du, wir waren alle Unschuldsengel im Krieg?!«

Hans sitzt da wie der Fisch, den er gerade verspeist hat, und kriegt den Mund nicht zu. Was hat Fritz da gesagt? Nein, nicht das mit den Unschuldsengeln, auch wenn es nicht gerade üblich ist, jemanden so offen über seine Vergangenheit vor dem Zusammenbruch reden zu hören. Du warst doch selbst im nationalen Widerstand? Woher weiß Fritz, was er und seine Napola-Kameraden da im Mai ’45 angestellt haben …? Natürlich, die Engländer haben ja Akten, die hat man ihm schon in Australien unter die Nase gehalten. Aber das würde ja bedeuten, dass Fritz ihn, Hans Barkhusen, überprüft hat …

»Komm schon«, drängt Fritz, der seine Stimme weiter senkt. »Die Tommys haben deinen Werwolf-Trupp hochgenommen, das willst du doch wohl nicht abstreiten. Ganz schön mutig für ein paar fünfzehnjährige Hosenscheißer mit Panzerfaust und Maschinenpistole! Aber völlig umsonst, das waren sowieso alles Verbrecher, ob Hitler oder sonst wer, und wir kleinen Leute müssen es ausbaden …«

Du gehörst nicht mehr zu den kleinen Leuten, flüstert es in Hans. Aber er sagt es nicht laut, schon allein, weil ihm die schiere Angst durch die Glieder jagt – Fritz weiß also das mit der Werwolf-Aktion, einmal Bulle, immer Bulle, aber was weiß er genau …? Der Tag im Emsland, als Hans der Mumm gefehlt hat, verjährt erst in drei Jahren, bis jetzt hat sich kein ordentliches Gericht der Sache angenommen, und Captain Rowland von dem Greifkommando, das die Tommys auf deutsche Partisanengruppen angesetzt hatten, hat damals versprochen, dass die Sache niemals in die Akten kommen werde. Er müsse nur immer schön brav bleiben …

»Was habt ihr denn … vor?«, bringt Hans schließlich heraus.

Fritz grinst säuerlich.

»Wir haben natürlich alle keine Erfahrung mit dem Tauchen. Oder überhaupt mit der Arbeit auf dem Meer. Und wir wollen auf keinen Fall Einheimische mit dabeihaben. Die Geschichte ist inzwischen zu bekannt auf Korsika, und auf der Insel hat eine gut organisierte Mafia das Sagen.«

»Und stattdessen?«

Fritz sieht ihn einen Moment lang durchdringend an, dann ascht er seine Zigarette ab.

»Sagen wir mal, wir sehen da eher einen italienischen Ansatz. Über Genaueres reden wir am besten, wenn die Sache konkreter wird. Was uns jetzt fehlt, wäre ein Schiff, technische Ausrüstung, jemand, der damit umgehen kann, ein Schiffsführer natürlich.«

Er macht noch mal eine vielsagende Pause, dann lächelt er. Aber nur mit dem Mund.

»Es wäre schön, wenn du uns dabei helfen könntest, die richtigen Verbindungen herzustellen. Und noch besser, wenn du selbst es wärst, der die Taucharbeiten übernimmt …«

Hans weiß nicht, was er antworten soll. Ja sagen will er nicht, Nein sagen traut er sich nicht. Und heute Morgen noch war ein mittelschwerer Kater sein größtes Problem.

 

*

 

In Darkum lässt er sich von Fritz bei den anderen entschuldigen und wirft sich in Montur, dann holt er seine Norton aus dem Wagenschauer und fährt erst Richtung Örstedt, dann auf den Fährweg zur Weser, bis er an die Stelle kommt, wo bis zum Bau der neuen Brücke vor ein paar Jahren die Wagenfähre auf die Verdener Seite ging. Hier ist er ganz allein, der Fährponton rostet auf dem gegenüberliegenden Ufer vor sich hin, und auch die große, flache Grube, an der in seiner Kindheit ein Bremer Unternehmen mit einem großen Bagger Baukies und Sand gefördert hat, ist seit einiger Zeit verlassen und mit Unkraut überwuchert. Wie man hört, hat Vossböhls Willem die Grube gekauft und will hier nächstes Jahr seine Rinder weiden lassen.

Als Kinder haben sie sich hierhergeschlichen, dem Fährmann ihre gesparten Groschen Taschengeld in die schwieligen Hände gedrückt und sind übergesetzt, um sich in Verden Bonschen zu kaufen, obwohl sie eigentlich draußen in der Marsch Rüben hacken sollten. In dem Schaukasten in der Großen Straße prangten Sondermeldungen über den erfolgreichen Vorstoß in der Panzerschlacht um Kursk, gleich daneben war von heldenhaften Abwehroperationen auf Sizilien gegen die Amis und die Tommys zu lesen, und die waren ja nur nötig, weil Rommel Afrika verloren hatte und die Feinde des Reiches das Mittelmeer überquert hatten. Wenn Fritz recht hat, müssen Bröhl und Klausner kurz vorher den U-Boot-Transport von Tunesien organisiert haben.

Das Schöne an einem Fluss ist, dass man sich ans Ufer setzen und dem Wasser hinterhersinnieren kann. Ab und zu kommen Schiffe vorbei, hin und wieder sogar ein ganzer Schubverband, der Kohlen oder Erz nach Bremen zu Klöckner fährt und auf der Rückfahrt schwedisches Schnittholz geladen hat. Manchmal laufen die Frau des Schiffsführers und kleine Kinder auf dem Deck herum und winken Hans zu, dann winkt er zurück.

Es ist nicht gerade beruhigend, dass jemand in seiner Vergangenheit herumgewühlt hat. Nicht nur, was den toten Ortsvorsteher angeht … Was könnte Fritz denn noch alles herausgefunden haben? Das mit dem Saalschutz bei der Sozialistischen Reichspartei, na ja, das war damals noch nicht illegal, und alle in der Familie wissen, dass Hans dort mitgemacht hat. Aber dann Captain Rowlands kleiner Plan zur Rekrutierung zuverlässiger deutscher Kräfte? Die Partisanenschule in der Heide? Die Reise nach Spanien? Die »King’s German Legion«? Die nächtlichen Schnellbootfahrten nach Lettland, die illegalen Ausflüge über die Zonengrenze? Jetzt fällt Hans auch ein, wo er den Namen »Klausner« schon mal gehört hat. Das muss auf einer Wahlveranstaltung in Verden gewesen sein, Remer war auch da, Hans einer von den Ordnern, und alle waren aufgeregt wie junge Backfische, weil sie noch nie jemanden gesehen hatten, der im Reichssicherheitshauptamt gearbeitet hatte.

Nein, das kann Fritz nicht wissen. Das darf er nicht. Wenn he­rauskommt, was die Briten damals im Geheimen zusammen mit dem »nationalen Widerstand« getrieben haben, geht es nicht nur Hans an den Kragen.

Wenn er wenigstens daran glauben könnte, dass an dem albernen Schatz etwas dran ist! Er wäre letzten Endes heilfroh, genug Geld zu haben, um wieder nach Übersee zu kommen, Hamburg ist ihm so einerlei wie Bremen, Verden oder sonst ein verregnetes Mistloch hier, wo nichts ist, das ihn halten könnte – Australien wäre die Optimallösung: keine Heimat, für die er sterben wollte, aber wenigstens kann man dort als Einzelner mit harter Arbeit zu etwas kommen, ohne sich verbiegen zu müssen … Und mit Startkapital ginge natürlich alles einfacher. Aber Rommels Millionen sind bis jetzt immer nur eine Fata Morgana gewesen, die verkrachte Glücksritter und Naivlinge in ihren Bann gezogen hat. Er kann sich kaum vorstellen, dass sich die Lage durch das Auftauchen dieses Klausner grundlegend geändert hätte.

 

Schließlich setzt er sich seine Lederkappe wieder auf und fährt ins Dorf zurück, diesmal aber auf dem Weg, der beim Hof der Jönsmeyers auf die Dorfstraße trifft. Von dort ist es nicht mehr weit zu dem Häuschen, in dem der pensionierte Dorflehrer Dahlsen lebt, der aus dem Südhannoverschen stammt, aber die Tochter eines hiesigen Bauern geheiratet hat und nun auch seinen Lebensabend in Darkum verbringt.

Helene Dahlsen ist es dann auch, die ihm öffnet.

»Ach Mensch, Hans! Schön, dass du dich mal wieder blicken lässt! Komm man rein, mein Mann sitzt gerade über seinen Büchern …«