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Eine spannende Entführungsgeschichte quer über das Mittelmeer hält Rufus, Filine und No in Band 3 der „Akademie der Abenteuer“ in Atem. Zusammen mit einem jungen Glasmacher, Sklaven und Piraten finden sich die Lehrlinge der ,Akademie des leibhaften Studiums vergangener Zeiten‘ in der Zeit der Phönizier wieder. Und der junge Glasmacher scheint ein kostbares Geheimnis zu hüten … Doch auch in der Gegenwart geht es turbulent zu: Der wertvolle Kopf der Nike, den Rufus dem Fluthändler James McPherson anvertraut hatte, ist verschwunden. Hat womöglich seine Mutter die Finger im Spiel? Und was sind die Pläne der finsteren Coralia? Die Zukunft der Akademie steht auf dem Spiel.
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Seitenzahl: 350
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Band 1: Die Knochen der Götter
Band 2: Die Stunde des Raben
Band 3: Das Schiff aus Stein
Band 4: Das Erbe des Rings
Flutkunde
Die Wasser des Paktolos
Der zornige Junge
Meister Otomos Haus
Unheimliche Botschaft
Das dunkle Auf und Ab
Der geheime Garten
Das Schiff aus Stein
Der Wind im Glas
Das schwarze Fort
Zündende Idee
Windwärts
Dankesopfer
Ein klarer Morgen
Am Grund des trockenen Kanals, der unterhalb des Rochusturms einen weiten Teil der Akademie der Abenteuer durchschnitt, hatte sich eine Gruppe Lehrlinge versammelt und wartete zwischen den verwitterten Mauern auf den nächsten Unterricht.
Aus unerfindlichen Gründen hatte sie Direktor Saurini, der Leiter der Akademie für sein Spezialfach Flutkunde hierher bestellt.
Die Wartenden waren Rufus, Filine und No, die neuesten Lehrlinge an der Akademie des leibhaftigen Studiums vergangener Zeiten, und Lucy und Ottmar, mit denen sie sich hier angefreundet hatten.
Neugierig sah Rufus sich um.
Rechts und links des Kanalbetts erhoben sich die Rückseiten alter Wohnhäuser. Die Mauern hatten verblichene Farben, in denen tiefe Risse prangten. Ab und zu saß ein schiefer Balkon vor einem Fenster und direkt vor den Häusern führte ein gemauerter Absatz entlang, der fast wie eine alte Hafenmauer wirkte.
»Komisch, so ein trockener Kanal«, meinte No. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum der Unterricht ausgerechnet hier stattfinden soll. Hier ist doch gar nichts.«
»Das stimmt nicht so ganz!« Lucy deutete nach oben und zeigte auf die Hauswände. »Siehst du die Regalbretter da? Die sind alle voll mit Fragmenten. Und über die Leitern, die an den Häusern angebracht sind, kann man dort hochklettern.«
Tatsächlich führten an mehreren Stellen Leitern an den Hauswänden in die Höhe.
No schüttelte verwundert den Kopf. »Habt ihr hier schon mal Unterricht gehabt?«
»Nein«, sagte Ottmar. »Direktor Saurini unterrichtet Flutkunde nicht so oft hier. Und er nimmt auch immer nur sechs Lehrlinge.Warum weiß ich nicht. Lucy und ich wollten uns auch anmelden, doch es waren schon alle Plätze besetzt.«
»Danke auf alle Fälle, dass ihr uns hergebracht habt«, lächelte Filine und ihre tiefgrünen Augen blitzten fröhlich.
»Ach, das war reine Neugier«, grinste Lucy. »Ich dachte, vielleicht ist Meister Saurini schon da und wir würden wenigstens ein bisschen von dem mitkriegen, was ihr hier macht. Aber das war wohl ein Irrtum.« Sie blickte zu einigen alten Holzkähnen, die an einem der Mauervorsprünge festgemacht waren und auf dem trockenen Kanalboden lagen. »Da ist sogar ein großes Floß dabei«, bemerkte sie. »Ihr müsst uns später unbedingt erzählen, wie der Unterricht abgelaufen ist.«
»Klar!«, nickte Rufus. »Wer wohl die anderen drei sind, die heute mitmachen?«
Wie auf ein Stichwort erschienen in diesem Augenblick zwei Köpfe über der Brüstung der Rochusturmbrücke, die den Kanal überspannte. Es waren ein blonder und ein rot gelockter Junge, die auf den Kanal hinabsahen.
»Da ist es, Bent!«, rief der Rothaarige. »Da unten sind sie!«
Der schmale blonde Junge nickte knapp. »Ja, wir sind noch rechtzeitig gekommen, Saurini ist noch nicht da. Los, wir müssen da vorne runtergehen!« Die beiden Köpfe verschwanden wieder hinter der Brüstung.
»Anselm und Bent«, entfuhr es Rufus. »Ausgerechnet die!«
»Wieso?«, fragte Lucy.
»Ach!« Rufus winkte ab. »Es ist nur … na ja, die beiden hängen ständig mit Coralia zusammen. Und Coralia …«
„… nervt meistens!«, vollendete Filine den Satz. »Aber es ist ja nur für heute. Und sie selbst scheint auch nicht dabei zu sein!«
»Hoffentlich«, brummte No.
Rufus, Filine und No hatten mit Coralia und ihren beiden Helfern bisher keine besonders guten Erfahrungen gemacht.
Unruhig sah Rufus sich um. Wenn jetzt auch noch Coralia käme, würde die Freude, mit der er sich auf den Weg zum Unterricht gemacht hatte, wohl nur von kurzer Dauer sein.
Doch stattdessen tauchte aus einem der alten Hauseingänge jemand ganz anderes auf. Der stumme Lehrling Oliver. Seine graublauen Augen wirkten wach und gespannt, als er aus der Tür trat und dann über den Vorsprung locker in das Kanalbett sprang und zu ihnen kam. Er nickte allen zu.
Im nächsten Moment traten auch Anselm und Bent aus einem der Häuser.
»He!«, rief Anselm. »Wieso sind wir denn zu acht? Ich denke, bei Flutkunde hier dürfen immer nur sechs mitmachen! Also, Bent und ich haben uns ganz bestimmt rechtzeitig angemeldet.«
»Jetzt reg dich mal nicht unnötig auf«, sagte Lucy. »Ottmar und ich haben nur Filine, Rufus und No herbegleitet. Wir gehen gleich wieder.«
»Na, dann ist ja gut!« Anselm schlenderte langsam heran und musterte dabei Rufus’ Hirschlederbeutel, der schwer an dessen Gürtel hing. In diesen Beuteln bewahrten die Lehrlinge üblicherweise ihre Fragmente auf, an denen sie forschten, um herauszufinden, von was für einem Artefakt aus der Vergangenheit sie stammten.
»Du hast wohl was ziemlich Schweres in deinem Beutel. Was ist denn das? Hast du da ein Hufeisen drin?«
Rufus stockte. Normalerweise trugen die Lehrlinge nur ihre Fragmente in ihren Beuteln. Doch Rufus hatte tatsächlich noch zwei weitere Dinge in seinem. Nämlich eine Locke vom Haar seiner Mutter und einen keltischen Wendelring. Diesen goldenen Schmuckreif hatte Rufus von einem Flutwesen in einer Traumflut erhalten. Genauer gesagt von der keltischen Prinzessin Aili.
Nicht alle Lehrlinge hatten die seltene und von einigen Meistern auch gefürchtete Gabe, eine Traumflut herbeizurufen. Rufus allerdings besaß sie.
Doch weder das eine, noch das andere ging Anselm etwas an. Rufus überlegte sich gerade eine passende Antwort, als eine rundliche Gestalt aus dem Tunnel hinter der Rochusturmbrücke trat und über den Kanalboden rasch näher kam.
Es war Direktor Saurini, der Leiter der Akademie und Meister für Flutkunde. Er trug ein schwarz-grün gestreiftes Jackett, aus dessen Ausschnitt ein rotes Hemd hervorsah, über dem eine lila Krawatte leuchtete. Die weiten Hosen des Direktors steckten in hohen Gummistiefeln.
In der Hand trug Saurini ein dickes, in Leder gebundenes Buch. Mit blitzenden Augen stiefelte er auf die Lehrlinge zu, blieb dann plötzlich stehen, sah sich in alle Richtungen um und nickte zufrieden.
Er hob die freie Hand und winkte: »Flutkunde! Wer angemeldet ist, möge bleiben. Die übrigen bitte ich jetzt, uns zu verlassen.«
Ottmar wandte sich Rufus, Filine und No zu. »Na, dann bis später. Ich gehe jetzt zu Historische Mahlzeiten bei Meister Spitznagel. Er will uns heute zeigen, wie man antiken Honigkarpfen zubereitet. Angeblich hatten die Sumerer abgerichtete Pelikane, mit denen sie auf Karpfenjagd gingen. Mal sehen …«
»Okay, Leute, ich mach mich auch auf den Weg.« Lucy schloss sich Ottmar an. »Ich gehe zu Antike Gewandkunde bei Meisterin Caspari. Wir haben da gerade chinesische Kaiserroben in der Mache, und ich hoffe, dass ich meine heute endlich fertig bekomme. Sie ist aus grüner Seide mit einem gelben Weintraubenmuster.«
»Ist da nicht auch Coralia dabei?«, erkundigte sich Anselm.
Lucy nickte. »Sie macht sich auch eine Kaiserinnenrobe.«
»Dann grüß sie schön von mir.«
»Von mir auch! «, fügte Bent hastig hinzu.
»Sonst noch irgendwelche Grüße?« Lucy blickte grinsend in die Runde. »Ich meine, ihr seht euch doch heute Abend in der Mensa wieder. Oder seid ihr beide so in sie verknallt, dass ihr es bis dahin nicht mehr aushalten könnt?«
»Überhaupt nicht!« Anselm wurde rot. »Aber es ist ja wohl nichts dabei, wenn man jemanden mal grüßen lässt!«
»Das finde ich allerdings auch!« Bent sah Lucy scharf an.
Lucy zuckte die Schultern. »Wie ihr meint, ich werde sie also ganz besonders von euch beiden grüßen!« Lucy zeigte wieder ihr typisches breites Grinsen und folgte Ottmar, der schon losmarschiert war, sich jetzt aber zu ihr umdrehte.
»Erzähl mir doch noch ein bisschen von deinem Gewand, Lucy.
Grüne Seide mit gelben Trauben … Das klingt ja zum Anbeißen.«
»Warte ab, bis du Coralias Robe siehst«, kicherte Lucy. »Die ist aus dunkelblauer Seide mit einem wahnsinnigen Muster aus goldenen Drachenköpfen und Wellen. Ich habe vergessen, wie diese Drachen heißen, aber sie winden sich wie Schlangen um den Körper.«
Ottmar verzog das Gesicht. »Das passt ja mal wieder. Aber ehrlich gesagt, ziehe ich süße Weintrauben bitterem Drachenfleisch vor.«
»Ach, ja? Woher willst du denn wissen, dass Drachenfleisch bitter schmeckt?«
»Na, Krokodil schmeckt doch auch wie alter überbrühter Hund.«
»Das ist nicht wahr. Es schmeckt sehr zart. Und außerdem ist es sehr fettarm. Und das ist doch gesund, gerade wenn man abnehmen will.«
»Wer sagt denn, dass ich abnehmen will …«
Die Stimmen der beiden entfernten sich, während sie einige Stufen hinaufstiegen. Die übrigen Lehrlinge wandten sich Direktor Saurini zu. Dessen Blick fiel auf Bents Schwert aus feinem Damaszenerstahl, das dieser seit einiger Zeit immer bei sich trug.
»Bent, leg das Schwert bitte für den Unterricht in Flutkunde ab.« Er blickte die Lehrlinge der Reihe nach an. »Ich möchte überhaupt nicht, dass einer von euch etwas Schweres am Körper trägt, wenn wir gleich anfangen.«
Bent runzelte die Stirn. »Wo soll ich es denn hintun?«
»Es sollte auf alle Fälle hoch genug liegen. Steig auf die nächste Leiter und verstau es in einem der Regale bei den Fragmenten.«
Saurini deutete nach oben.
Bent ging murrend zur nächsten Holzleiter an einer Hausmauer und begann sie hinaufzusteigen. Dann legte er sein Schwert in das erste Regal, das er erreichte. Die Fragmente, die darin lagen, waren alle rund und glatt geschliffen, als hätten sie lange Zeit im Wasser gelegen.
Der Direktor musterte die anderen Lehrlinge noch einmal genau.
»Gut, ansonsten sehe ich nichts Hinderliches.«
»Na, hoffentlich macht dir dein Hufeisen oder was du da im Beutel hast, keinen Ärger!«, rief Anselm Rufus zu.
Rufus zuckte zusammen.
Anselm hatte seine Frage also nicht vergessen. Er war wirklich schrecklich neugierig. Doch noch ehe Rufus etwas sagen konnte, kam ihm Filine zuvor.
»Rufus!«, rief sie. »Ich kann es nicht glauben! Hast du Anselm etwa von dem Glücksbringer erzählt, den ich dir auf dem Flutmarkt gekauft habe? Ich dachte, das wäre unser Geheimnis.«
Rufus wurde rot. Was Filine da sagte, war nicht wahr. Sie hatte ihm nie einen Glücksbringer geschenkt. Und schon gar nicht auf dem letzten Flutmarkt. Natürlich sagte sie das nur, um Anselm abzulenken. Sie wusste ja, was sich in Rufus’ Beutel befand.
Trotzdem war es ein ziemlich übertriebenes Manöver. Jetzt dachte Anselm natürlich, Filine wäre in Rufus verliebt.
Und richtig. Kaum hatte Filine es ausgesprochen, wandte sich Anselm ihr auch schon zu.
»Echt, du hast ihm einen Glücksbringer geschenkt?«
»Ja, warum denn nicht? Rufus und ich sind Freunde. Und Freunde schenken sich ab und zu etwas. So wie du deine eben grüßen lässt.« Filine sah Anselm ein wenig herablassend an. »Das Schenken ist übrigens eine sehr alte Tradition. Das Gastgeschenk zum Beispiel gibt es schon sehr, sehr lange. Aber das ist nicht alles! Mit Geschenken wurde auch schon immer Politik betrieben.« Sie deutete auf Bent, dessen Blick auf dem Schwert im Regal ruhte. »Geschenke sind ja nicht immer reine Herzensgaben, wie in meinem Fall! Sie verpflichten auch. Es gibt zum Beispiel strategische Geschenke. Man kann mit ihnen also ebenso gut Treue und Freundschaft beweisen wie sie auch vortäuschen. Ja, man kann mit einem Geschenk sogar Zwietracht säen…«
Jetzt lächelte Filine breit.
»Ich habe mein Geschenk Rufus jedenfalls nach unserer letzten Flut gegeben, weil wir sehr gut zusammengearbeitet haben.
Es ist ein sehr altes Hufeisen, wie du bereits richtig vermutet hast. Nämlich ein römisches Hufeisen aus Bronze. Wie du ja sicher weißt, haben die Römer ihre Hufeisen zuerst noch an die Hufe angebunden. Dann aber haben sie später von den Kelten gelernt, die Hufeisen zu nageln. Die Ägypter hingegen verwendeten noch sogenannte Hipposandalen. Das waren geflochtene Sandalen aus Bast oder auch Lederschuhe, die –«
»Hör auf!« Anselm hielt sich die Ohren zu. »Musst du eigentlich immer gleich so oberlehrerinnenhaft sein? Du bist ja schlimmer als ein wandelndes Lexikon.«
Filine verzog scheinbar beleidigt das Gesicht.
Anselm grinste zufrieden. »Bitte, Direktor Saurini, können wir mit dem Unterricht anfangen?! Sonst hält Filine ja nie den Mund.«
Der Direktor nickte amüsiert. »Wenn ihr alle so weit seid, können wir beginnen.«
»Danke, Fili!«, flüsterte Rufus und beugte sich zu ihr. »Aber musstest du unbedingt so tun, als wärst du in mich verliebt?
Wenn Coralia das erfährt, kommt sie bestimmt sofort angelaufen, um mich auszuquetschen oder damit aufzuziehen. Und ich war gerade so froh, dass sie sich seit ein paar Wochen nicht bei mir hat blicken lassen.«
»Keine Ursache!« Filine verkniff sich ein Grinsen. »Und ja, das musste ich. Es war nämlich die beste Art, Coralia zu ärgern. Und fühl dich bloß nicht so sicher! Dass sie dich in letzter Zeit in Ruhe gelassen hat, heißt noch lange nicht, dass sie ihre seltsamen Pläne mit dir nicht weiter verfolgt. Da gibt es auch andere Mittel und Wege.«
»Was meinst du denn damit?«, fragte Rufus verunsichert.
Aber Filine warf ihm nur einen vielsagenden Blick zu und wandte sich dem Direktor zu.
Dieser zeigte nun auf das große Holzfloß. »Gut, dann können wir jetzt wohl endlich beginnen. Der Unterricht findet heute dort statt.«
No lachte. »Auf einem Floß in einem trockenen Kanal?«
»Ja«, nickte Gino Saurini. »Allerdings vermute ich, dass der Kanal nicht mehr lange so trocken bleiben wird. Es könnte gut sein, dass sich einige von euch gleich nasse Füße holen.« Er lachte auf. »Deswegen habe ich nämlich auch Gummistiefel an. Sicher ist sicher.«
»Wie soll das denn gehen?«, rief Bent. »Und wieso musste ich mein Schwert weglegen?«
Direktor Saurini sah ihn aufmerksam an. »Wo hast du das überhaupt her?«
Bent wurde rot. Dann murmelte er: »Es ist das Vorbild zu einem Werkstück, an dem ich arbeite. Meister Zachus hat es mir gegeben, damit ich genau spüre, wie es beschaffen ist, sich anfühlt und wie es sich im Gebrauch verhält.«
»Meister Zachus!?«, wiederholte Saurini. Dann nickte er. »In Ordnung. Das sind gute Argumente, die es natürlich gestatten, ein Artefakt bei sich zu tragen. Und für diese Fleißarbeit gebe ich dir einen Erkenntnispunkt!«
Bents Gesicht nahm wieder seine normale, etwas bleiche Farbe an und er lächelte matt. »Danke.«
»Wo hat Meister Zachus das Schwert eigentlich her?«, hakte Saurini jetzt noch einmal nach.
»Coralia hat es geträumt«, sagte Bent schnell.
Direktor Saurini zog die Brauen zusammen. »Ich dachte, das sei bei ihr vorbei?«
»Nein«, sagte Bent. »Sie sagt, es wird seltener, aber manchmal passiert es noch. Und wenn es mal passiert, bringt sie die Artefakte immer gleich den Meistern.«
Saurini nickte nachdenklich. »Nun gut.«
»Ja«, sagte Bent. »Und deswegen hat sie es Meister Zachus gegeben und der dann mir.«
»Ich verstehe«, nickte der Direktor wieder. »Deswegen hatte ich es noch nie gesehen.«
»Kennen Sie denn alle Artefakte, die es in der Akademie gibt?«, fragte Rufus neugierig.
»Die aus meiner Zeit als Direktor ziemlich sicher. Und so ein besonderes Schwert wäre mir wohl auch aufgefallen. Ich habe nämlich ein ähnliches Artefakt bereits in der Hand gehabt!«
»Sie haben ein Schwert geführt?«, staunte Bent.
»Aber sicher, mehr als einmal.«
»Und wo?«
»In einer Flut natürlich«, erklärte Gino Saurini. »Es gibt Fluten, in denen man mit den Flutwesen interagiert. Sie sind selten, aber es kann geschehen, das wisst ihr ja. Und als junger Lehrling hatte ich natürlich auch meine Traumfluten. Mitunter sind eben plötzlich irgendwelche Verbindungen offen, und dann ist man innerhalb der Flut nur noch ein Mensch unter Menschen, kein ferner Beobachter mehr. Mir ist das damals für ein paar Minuten im Mittelalter in Frankreich passiert. Es kam mir allerdings vor wie Stunden.« Er verzog das Gesicht bei der Erinnerung. »Ich stand plötzlich auf einem Schlachtfeld. Und dann wurde ich angegriffen und habe mich natürlich verteidigt. Mit dem Schwert eines gefallenen Ritters. Schließlich wollte ich nicht getötet werden.«
»Getötet?!«, fragte No betreten. »Haben Sie eben wirklich >getötet< gesagt? Kann man denn in einer Flut sterben?«
»Grundsätzlich wohl eher nein«, antwortete Gino Saurini. »Allerdings weiß es niemand ganz genau. Zwar hat keiner der Meister es bisher erlebt. Aber wir wissen einfach nicht, welche Wege die Fluten alle beschreiten können. Und das Gefühl, dass jemand umkommen könnte, wenn man plötzlich vor einer Horde herantobender Kämpfer steht, ist alles andere als sicher.«
Die Lehrlinge schwiegen.
»Das klingt aber nicht gerade beruhigend«, meinte No schließlich. »Ich wusste gar nicht, dass einem in einer Flut auch was Schlimmes geschehen kann.«
»Na ja«, murmelte Filine. »Man kann sich in jeder Flut schließlich auch an den Sachen stoßen oder verletzen. Warum also sollte man nicht auch verunglücken können?!«
Rufus biss sich auf die Lippen. »Schon, aber dass ein Mensch einem etwas tun kann, ist mir unheimlich!«
Direktor Saurini lächelte. »Macht euch bitte keine übertriebenen Sorgen. Wie gesagt, ich vermute, dass es geschehen kann, aber ich habe keinen Beweis dafür. Ich selbst bin zum Beispiel damals von einer Lanze an der Schulter getroffen worden und habe auch den Schmerz deutlich gespürt. Dennoch habe ich nicht die geringste Verletzung davongetragen, als sich die Flut wieder zurückgezogen hatte. Und dass ein Lehrling in einer Flut verletzt oder gar getötet worden wäre, ist zumindest in den letzten 200 Jahren ganz sicher nicht vorgekommen.«
Im selben Moment trampelte Oliver heftig mit den Füßen. Erschrocken drehte Rufus sich um. Der stumme Lehrling strahlte über das ganze Gesicht.
»Worüber freust du dich denn so?«, wollte Anselm wissen.
»Dass man in einer Flut eine verpasst kriegen kann?«
Oliver zog einen kleinen Block und einen Bleistift aus der Tasche und schrieb dann schnell auf das Papier: Unser Direktor weiß nicht, welche Wege eine Flut alle beschreiten kann! Das heißt, die Meister wissen auch nicht alles!
Filine fing an zu lachen. »Direktor Saurini, Sie sind gerade als nicht allwissend entlarvt worden!«
»Oh, tatsächlich?« Der Direktor schmunzelte. »Ja, so ist es wohl, und ich freue mich, dass du darüber lachst, Oliver. Es ist wirklich schön, die Wahrheit zu entdecken. Und du hast vollkommen recht. Wir Meister wissen auch nicht alles. Das sollte euch Ansporn sein, den Dingen immer wieder selbst auf den Grund zu gehen! Was nun aber die Erfahrungen mit gefährlichen Situationen angeht, so können wir das gleich mal ausprobieren. Ich hoffe, ihr seid alle sichere Schwimmer?« Er blickte in die Runde.
Anselm, Bent, Rufus, Filine, No und Oliver nickten überrascht.
»Gut! Außerdem hoffe ich, ihr seid schnell und wendig genug, um dem Wasser auch sonst zu entkommen. Sobald es sich nähert, steht euch nämlich jeder Fluchtweg offen: schwimmen, klettern, rennen.«
»Welches Wasser denn, bitte?«, fragte Bent.
»Ach so, entschuldigt, das hätte ich fast vergessen.« Direktor Saurini schüttelte den Kopf über seine Nachlässigkeit. »Ich werde euch heute mit Fluten bekannt machen, die sich auf dem Wasser abspielen. Also auf Flüssen, im Meer, in Seen. Fluten auf dem Wasser haben ihre eigenen Bedingungen, und mit denen müsst ihr euch natürlich vertraut machen.«
»Und wo soll das Wasser herkommen?«, grinste Anselm. »Der Kanal liegt doch seit Ewigkeiten trocken. Sollen wir vielleicht so tun, als ob es hier Wasser gäbe?« Er machte ein paar übertriebene Schwimmbewegungen, kicherte und warf Bent einen Blick zu.
»Ja, ja, noch sieht es so aus!«, antwortete Saurini ruhig. »Aber glaubt nicht, dass da kein Wasser wäre. Es ist da, ihr seht es nur noch nicht. Und ihr geht ganz sicher darin unter, sobald ihr es sehen werdet. Wenn ihr erst einmal unter Wasser seid, werdet ihr nach einem kurzen Moment des Erschreckens spüren, dass ihr unbedingt Luft holen wollt. Geist und Körper reagieren auf Wasser in einer Flut wie im wirklichen Leben. Und wenn es so weit ist, müsst ihr an die Wasseroberfläche gelangen. Denn wenn ihr keine Luft holt, scheitert die Flut.«
»Immer noch besser als ertrinken«, murmelte No.
»Du hast doch gehört, dass das noch nie vorgekommen ist«, flüsterte Filine.
»Aber es könnte passieren«, mischte sich Rufus ein. »Und deswegen muss man vorsichtig sein.«
»Ich glaube ja nicht, dass man ertrinken kann«, sagte Bent plötzlich. »Ich glaube, es ist noch nie passiert, weil es einfach nicht passieren kann.«
»Bewahrt euch euren Glauben, aber seid trotzdem vorsichtig«, erklärte Direktor Saurini. »Ihr seid in der Flut auf euch allein gestellt. Ihr wisst, dass ich als alter Meister die Fluten nicht mehr so leicht sehe, deswegen kann ich euch nicht zur Hilfe eilen. Und jetzt kommt her.« Er stieg auf das Floß, das aus einigen mächtigen Stämmen zusammengeschnürt war, und winkte die Lehrlinge zu sich. Dann hob er das Buch, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Ihr alle kennt dieses Buch, die Aufzeichnungen der Brüder Micheluzzi.«
Rufus nickte automatisch. Er hatte das Buch bei seinem ersten Treffen mit Direktor Saurini auf dessen Schreibtisch gesehen und angefasst. Dabei war eine Szene aus der Vergangenheit der Akademie lebendig geworden. Es war das erste Mal gewesen, dass Rufus eine Flut erlebt hatte. Er hatte damals gesehen, wie die Gründer der Akademie sich über den Namen für diese geeinigt hatten. Oder vielmehr, sich um ihn stritten, denn zwischen den beiden Zwillingsbrüdern Paolo und Giorgio Micheluzzi waren ordentlich die Fetzen geflogen, ehe sie sich auf »Akademie des leibhaftigen Studiums vergangener Zeiten« geeinigt hatten.
Direktor Saurinis Stimme unterbrach Rufus’ Gedanken.
»Wir verfahren in diesem Unterricht folgendermaßen. Ihr fasst euch alle an den Händen oder legt eurem Vordermann die Hand auf die Schulter und bildet eine Schlange. Dann fasst der Erste in der Reihe das Buch an. Anschließend werdet ihr sehen, was passiert. Solltet ihr in der einsetzenden Flut voneinander getrennt werden, müsst ihr sofort wieder das Buch selbst oder einen eurer Mitlehrlinge berühren, der mit dem Buch in Berührung ist, sonst verliert ihr sie ziemlich schnell! Wenn die Flut erst einmal stark genug ist, könnt ihr euch natürlich loslassen und müsst nur beieinander bleiben.«
Der Direktor winkte Anselm zu sich. »Du kommst zu mir und wartest, bis alle anderen sich berühren und einer von ihnen dir die Hand gibt oder dich berührt. Dann fasst du das Buch an.«
Aufgeregt fuhr sich Anselm mit der Zunge über die Lippen und trat vor.
Oliver steckte seinen Block und den Stift weg und legte eine Hand auf Filines Schulter. Filine nickte ihm zu und legte ihrerseits ihre Hand No auf die Schulter. No fasste nach Bent, während dieser Anselm berührte. Jetzt fehlte nur noch Rufus. Er stellte sich als Letzter hinter Oliver auf und ließ seine Hand auf dessen Schulter sinken.
»In Ordnung.« Direktor Saurini sah alle noch einmal an. »Anselm, berühr jetzt das Buch!«
Der Direktor schlug den dicken Band an einer mit einem Lesezeichen gekennzeichneten Stelle auf und Anselm legte eine Hand auf die Seiten.
Im selben Augenblick hörte Rufus ein Rauschen. Es klang wie das ferne Grollen eines Gewitters. Aber es war kein Gewitter.
Kaum hatte er das Geräusch vernommen, fiel sein Blick auf eine gewaltige Wasserwand, die wie aus dem Nichts aus der Tunnelöffnung auf die Lehrlinge zufloss. Nein, nicht floss, das Wasser schoss ihnen geradezu entgegen!
Rufus riss die Augen auf. Er fühlte Panik in sich aufsteigen.
Eine gewaltige schwarze Woge schob sich wie eine Wand zwischen den Häusern auf sie zu.
»Viel Wasser auf einmal wirkt gefährlich!«, rief Direktor Saurini. »Aber fürchtet euch nicht. Es ist nur die erste Welle, die nächsten werden etwas weniger gewaltig sein.«
Rufus krallte sich trotzdem mit aller Kraft in Olivers Schulter.
Der stumme Lehrling zuckte zusammen und fuhr herum. Dabei ließ er Filine vor sich los.
Im selben Moment war das Wasser verschwunden.
»He!«, brüllte Rufus. Aber Oliver hatte schmerzhaft das Gesicht verzogen und hörte ihn nicht. Rufus beugte sich vor und rief: »Entschuldige, ich hatte Angst vor dem Wasser! Ich wollte dir nicht wehtun! Ich passe jetzt besser auf!«
Oliver sah ihn an und nickte. Er fasste Filine wieder an. Sofort kehrte die Woge zurück. Rufus kniff die Augen zusammen.
Das dunkle Wasser tobte und strudelte jetzt nur noch ein paar Meter vor ihnen und kam weiter auf sie zu.
»Echt der Hammer!«, hörte er No rufen.
Dann kam das Wasser über sie und drückte das Floß unter Wasser. Rufus schnappte nach Luft.
»Nicht loslassen, lasst nicht los!«, rief Saurini von ferne. »Bleibt zusammen. Flutgruppen, deren Mitglieder sich zu weit voneinander entfernen, verlieren die Flut, wie ihr wisst. Wenn ihr das nicht wollt, trennt euch nicht!«
Rufus riss die Augen unter Wasser weit auf. Es war ziemlich kalt und er sah nur Schatten. Schnell packte er Oliver wieder fester an der Schulter. Losgerissene Algen, Sand und kleine Kiesel wirbelten vor ihm auf, dann zog ihn eine Welle nach oben.
Rufus verlor den Halt auf dem Floß. Warum schwamm das verdammte Ding denn nicht? Der Druck des Wassers musste zu stark sein. Rufus wollte atmen, aber das Wasser war jetzt überall um ihn herum. Es zerrte an ihm und schob ihn, wohin es wollte.
Er hatte große Mühe, den Kontakt zu Oliver zu halten. Dann wurde es plötzlich still. Schnell zog Rufus die Knie an und ließ sich sinken, bis er das Floß wieder unter sich spürte. Im nächsten Augenblick drückte er sich mit einem kräftigen Stoß von den Holzstämmen ab.
Das Manöver gelang. Wie durch ein Wunder stieg er empor und durchbrach die Wasseroberfläche.
Rufus spuckte und schnappte nach Luft.
Dann spürte er, wie etwas von unten an ihm zog. Oliver! Er hatte Rufus’ freie Hand gepackt und paddelte unter ihm. Rufus zog ihn zu sich nach oben und schwamm dann mit ihm zu einem kleinen Holzkahn, der nah der nächsten Hauswand auf dem Wasser schaukelte.
Die wilde Bewegung der Wellen war jetzt einem Strömen gewichen. Rufus streckte eine Hand aus und packte die Bordwand.
Er sah sich um. Nach und nach erschienen die Köpfe der anderen auf dem Wasser. Die Lehrlinge hielten sich aneinander fest und ihnen hingen die nassen Haare in die Stirn. Dann tauchte mit einem Gurgeln auch das Floß aus den Fluten auf. Direktor Saurini stand darauf mit dem Buch in der Hand.
Im Gegensatz zu den Lehrlingen war er vollkommen trocken.
Der Direktor lächelte. »Ihr denkt sehr wahrscheinlich, dass ich auf dem Floß stehe und mit diesem auf dem Wasser treibe. Aber das seht nur ihr so. Für mich steht ihr immer noch am Grund des trockenen Kanals vor mir. Leider bin ich wirklich zu alt, um die Fluten auszulösen, und sehe sie auch nicht mehr so häufig.
Die Gummistiefel waren wieder mal umsonst.«
Bedauernd blickte er an sich herab.
»Mann, das kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis wir endlich aufgetaucht sind!«, keuchte No. »Ich konnte kaum noch die Luft anhalten. Aber es war auch echt schwer, Filine nach oben zu drücken und gleichzeitig Bent hinter mir her zu ziehen.«
»Du hättest mich überhaupt nicht drücken müssen, ich bin selber geschwommen«, japste Filine.
»Na, davon habe ich nicht viel gemerkt. Du hast eher gewirkt wie ein Stein.«
»Ihr habt es alle gut gemacht!«, rief Saurini. »Anselm, prima, wie du das Buch festgehalten hast.«
»Danke!«, erwiderte Anselm konzentriert und hielt das Buch weiterhin umklammert.
»Die Flut, die ihr gerade erlebt«, fuhr Saurini fort, »beschreiben die Brüder Micheluzzi in einem der letzten Kapitel. Ihrer Meinung nach ist es die sogenannte Sintflut. Angeblich haben die drei Perlmuttfragmente, die in der Eingangshalle ausgestellt sind, mit ihr zu tun. Aber niemand weiß bisher wirklich Genaues darüber. Vielleicht ist es nur eine Legende. Jedoch eignet sich die Flut hervorragend für den Flutkundeunterricht, da sie das unvermittelte Hereinbrechen des Wassers sehr gut erlebbar macht!«
Rufus dachte an die drei weißen Muschelschalen, die er bei seiner Ankunft in der Akademie zum ersten Mal gesehen hatte. Es war ein seltsames Erlebnis gewesen, denn diese Scherben hatten ihn wie magisch angezogen. Und um die ging es jetzt in dieser Flut?
Die Stimme des Direktors holte ihn zurück. »Passt gut auf!
Das Wasser kommt schnell und steigt bald noch weiter. Eure Aufgabe ist es, euch zu retten und zu beschreiben, was ihr seht.«
Rufus sah sich um. Saurini hatte recht. Das Wasser bewegte sich immer noch auf sie zu, auch wenn die Wellen jetzt sanfter und länger waren. Dann und wann trieben Holzstücke oder entwurzelte Pflanzen vorbei.
Er sah über sich. Ganz in der Nähe waren zwei Leitern an die Hausmauern gekettet. Rufus zog Oliver zu sich.
»Auf die Leiter!«
Oliver schüttelte den Kopf. Er deutete auf das Floß und machte eine Wellenbewegung mit der Hand. Dann deutete er auf die Leiter und ließ seine Hand in die Höhe fahren, bis sie über seinem Kopf war.
»Eine sehr gute Entscheidung, Oliver!«, rief Direktor Saurini.
»Die höchste Leiter kann niemals ein schwimmendes Gefährt ersetzen, wenn das Wasser noch weiter steigt!«
Nach und nach erklommen alle Lehrlinge triefnass das Floß.
Rufus wischte sich eine rote Haarsträhne aus der Stirn. Er blickte zu Gino Saurini. »Was schreiben die Brüder über diese Flut?«
Saurini lachte.
»Auch eine Möglichkeit, sich in dieser Flut zu bewegen. Einfach weiterlesen … Aber sie haben sie nicht beendet. Sie schreiben nur noch, dass sie im Wasser über die Wipfel von großen Bäumen trieben.«
Filine schob sich an den Rand des Floßes und sah ins Wasser.
»Hier im Wasser ist alles nur schwarz.«
»Was gibt es für Zeichen?«, rief Bent. »Wohin sollen wir gehen?
Es gibt immer einen Hinweis!«
Rufus zuckte zusammen. Bents Fragen waren genau richtig.
Wenn sie die Flut nicht verlieren wollten, mussten sie der Spur folgen, die diese für sie legte.
Die Lehrlinge sahen sich um. Vor und hinter ihnen war nur noch Wasser. Und jetzt verschwanden auch die Hausmauern.
Die Flut schien sich immer weiter auszubreiten. Auch Direktor Saurini verschwand plötzlich.
Rufus schluckte. Die Wasserfläche wurde tatsächlich immer größer und bald reichte das Wasser bis zum Horizont.
»Wo soll denn hier eine Spur sein?«, fragte Filine. »Es gibt überhaupt nichts zu sehen!«
»Vielleicht der Wind«, schlug Anselm vor. »Wir könnten der Windrichtung folgen. Oder der Strömung.«
No zuckte die Schultern. »Das ist kein wirklicher Anhaltspunkt. Muss es nicht eher was sein, das wir wirklich sehen können? Ein Gegenstand oder ein Lebewesen?«
»Da!«, rief Bent und zeigte auf einen schwarzen Punkt, der in einiger Entfernung auf dem Wasser auftauchte. »Was ist das?«
No legte die Hand über die Augen. »Könnte ein Baumstamm sein oder ein kleines Boot.«
Rufus starrte ebenfalls in die Richtung. Doch ehe er ausmachen konnte, um was es sich handelte, ertönte hinter ihm Anselms aufgeregte Stimme:
»Achtung! Aufpassen!«
Rufus fuhr herum. Wie aus dem Nichts trieb plötzlich ein riesiger entwurzelter Baumstamm auf ihr Floß zu. Die Aste ragten wie mächtige Greifarme auf und dann riss auch schon einer der Äste Anselm das Buch unter den Fingern weg.
Anselm schrie auf und stürzte vom Floß auf den Baumstamm.
Ächtzend klammerte er sich fest, wurde aber mit dem Stamm abgetrieben.
»Helft mir!«, brüllte er.
Rufus sah dem Buch nach, das imm Wasser vor ihm verschwand. Er ging in die Knie und klammerte sich mit einem Arm an die Seile, die das Floß zusammenhielten. »Bent, No, Filine, Oliver, springt ins Wasser. Wir bilden eine Kette! Ich halte euch!«
Bent zögerte nicht. Er sprang und streckte den Arm nach Anselm aus. Hinter ihm folgten Filine, Oliver und No. Rufus legte sich flach auf den Bauch und robbte, so weit er konnte, an den Rand des Floßes. Gemeinsam bildeten sie eine Menschenkette.
Dann konnte Anselm Bents Hand packen.
»Danke!«, keuchte der rothaarige Lockenkopf. »Mann, das war knapp. Ich hätte mich nicht mehr lange am Baumstamm festhalten können.«
Bent klopfte ihm auf die Schulter und die Lehrlinge krabbelten wieder an Bord.
Rufus lag auf dem Bauch und blickte auf das unendlich scheinende Wasser. Der schwarze Punkt war fast außer Sicht. Und auch der Baum schwamm schon in einiger Entfernung. Was für Kräfte waren das gewesen, die einen ganzen Baum mit sich rissen? Im nächsten Augenblick verblasste das Bild, und eine Sekunde später war es verschwunden.
Die Lehrlinge befanden sich mit dem Floß wieder auf dem trockenen Grund des Kanals und vor ihnen stand Direktor Saurini mit dem Buch in der Hand.
»Die Flut ist weg!«, rief Filine.
»Ihr habt das Buch losgelassen und die Flut unterbrochen«, erklärte Direktor Saurini. »Aber ihr habt euren Flutkameraden gerettet, wie ich gehört habe. Hättet ihr das nicht getan, wäre die Flut ganz sicher auch zu Ende gewesen. Außerdem scheint ihr sie für einen Augenblick auch noch ohne das Buch gehalten zu haben. Ihr müsst also auf dem richtigen Weg gewesen sein. Zumindest einer von euch. Sehr gut! Einen Erkenntnispunkt für jeden. Was hättet ihr denn als nächsten Anhaltspunkt gewählt?«
»Den schwarzen Punkt auf dem Wasser«, sagte Rufus, ohne zu zögern.
»Die Windrichtung oder die Strömung«, sagte Anselm.
»Den Baumstamm«, erklärte Filine. »Er hat uns ja fast von selbst mit sich gerissen.«
Direktor Saurini überlegte. »Mich hat damals auch der Stamm vom Floß gerissen und ich habe versucht, mich an ihn zu klammern. Einen schwarzen Punkt auf dem Wasser habe ich leider nicht gesehen. Ich habe diese Flut genauso wenig zuende gebracht wie die Gebrüder Micheluzzi oder sonst wer. Ich bin damals nämlich nach einiger Zeit vom Stamm abgeglitten und untergegangen.«
Er sah Rufus an. »Ihr habt jetzt die Möglichkeit, es besser zu machen. Rufus, leg bitte diesmal du deine Hand auf das Buch.
Ihr anderen haltet euch an ihm fest.«
Rufus ging auf das Buch zu und streckte die Hand aus. Er wartete, bis sich die anderen in eine Reihe gestellt hatten und No, der diesmal direkt hinter ihm stand, ihm seine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Dann legte Rufus selbst die Finger auf die offenen Buchseiten. Sofort war das Wasser wieder da. Es strömte schwarz auf ihn zu und im nächsten Moment trieben die Lehrlinge auf dem Floß über die Wellen.
»Haltet Ausschau!«, rief Bent.
Kaum hatte der hagere Junge gerufen, ertönte eine andere Stimme. Sie schien irgendwo aus dem Himmel zu kommen und rief undeutlich: »Direktor Saurini! Können Sie bitte sofort in Ihr Büro kommen?! Es wartet Besuch auf Sie.«
»Aber ich bin mitten im Unterricht«, hörte man Saurini antworten.
Rufus sah auf. Aber solange er das Buch festhielt, konnte er weder Gino Saurini noch den zweiten Sprecher sehen. Rufus blickte sich um. Von dem schwarzen Punkt auf dem Wasser war keine Spur zu erkennen.
»Herr Direktor!«, rief die Stimme wieder. Und diesmal war sie etwas deutlicher zu hören. Es war Meisterin Iggle, die Magistra Bibliothecaria. »Sie müssen trotzdem kommen. Und Rufus bitte auch! «
Rufus zuckte zusammen.
Er sollte in Saurinis Büro kommen?! Was hatte das zu bedeuten? Besuch!? Dabei konnte es sich eigentlich nur um seine Mutter handeln, wer sonst hätte ihn in der Akademie besuchen sollen. Außer ihr gab es niemanden von außerhalb, der überhaupt davon wusste, dass er hier zur Schule ging. Auch wenn seine Mutter natürlich glaubte, dass es sich bei der Akademie um ein schickes Eliteinternat handelte. Oder war es vielleicht sein Vater? Rufus schüttelte den Kopf. Nein, der lebte schon lange von ihnen getrennt in einer fremden Stadt. Außerdem hatte er sich schon mehrere Jahre nicht mehr um Rufus gekümmert.
Aber wenn es sich wirklich um seine Mutter handelte, was wollte sie dann hier? Das letzte Mal hatte er sie auf dem Flutmarkt vor einigen Wochen gesehen. Und dort hatte Coralia irgendwie dafür gesorgt, dass sie ein sehr wertvolles Artefakt gekauft hatte. Danach war Coralia noch zu ihm ins Zimmer gekommen und hatte irgendwelche dunklen Andeutungen über Traumfluten gemacht und wie gut sich mit Artefakten, die sich in Traumfluten offenbarten, Geschäfte machen ließen, wenn man nur wollte und skrupellos genug war.
Kurz entschlossen ließ Rufus das Buch los.
»He!«, rief No hinter ihm. »Rufus, die Flut!«
Aber das Wasser war bereits verschwunden und die Lehrlinge standen wieder am Grund des trockenen Kanals.
Rufus erblickte Meisterin Iggle. Sie stand auf der kleinen Terrasse eines alten und schiefen Hauses und winkte. Ihr scharf geschnittenes Gesicht war finster zusammengezogen und ihre dunklen Augen funkelten.
»Ich werde den Flutkundeunterricht für Sie übernehmen, Direktor Saurini«, rief sie. »Wie ich sehe, befassen sie sich gerade mit dem Kapitel historische Fluten im Wasser.«
Die Magistra Bibliothecaria hatte Augen wie ein Adler und las selbst aus dieser Höhe noch problemlos die handgeschriebenen Buchstaben im Buch der Gebrüder Micheluzzi.
»Gut, dann mache ich mich jetzt auf den Weg in mein Büro!«
Direktor Saurini schüttelte nachdenklich den Kopf und wandte sich Rufus zu. »Komm bitte mit, du hast es ja gehört.«
Meisterin Iggle stieg über die Balustrade der kleinen Terrasse und von dort auf die nächste Leiter an der Hauswand. Sie war es aus der Bibliothek gewohnt, sich auf meterhohen, wackeligen Holzleitern zu bewegen.
Kurz darauf stand sie bei den Lehrlingen auf dem Floß. Ihre schwarzen Haare mit den silbernen Strähnen lagen in einer stürmischen Welle um ihren Kopf und sie sah Rufus neugierig an, sagte aber nichts.
Direktor Saurini gab ihr das Buch. »Danke, Magistra Bibliothecaria, ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.«
Meisterin Iggle nickte stumm.
Hilflos sah Rufus zu No und Filine, die ihn anstarrten. »Um was geht es denn, Meisterin Iggle?«, fragte er dann zögernd.
Die Magistra Bibliothecaria lächelte rasch. »Nichts Schlimmes, mach dir keine Sorgen. Es hat mit dem Flutmarkt zu tun.
Dein Artefakt ist wahrscheinlich verkauft worden oder etwas in der Art. Aber es ist dringend und kann nur jetzt besprochen werden.« Sie begann im Buch der Gebrüder Micheluzzi zu blättern. »Und nun, meine lieben Lehrlinge, möchte ich euch Wasser schlucken sehen! Oder noch besser, gemeinsam mit euch herausfinden, wie ihr ebendies geschickt vermeidet. Oliver, wenn du bitte zu mir kommst. Ihr anderen stellt euch in einer Reihe auf und legt euch die Hände auf die Schultern. Die Flut geht weiter in Kapitel vierhundertdreiundfünfzig. Es ist überschrieben:
>Wo einstmals Land war, ist nun keines mehr.< Ich bin gespannt, wie ihr euch in dieser Situation verhalten werdet.«
Rufus wandte sich ab und folgte Direktor Saurini, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. Sie gingen unter der Rochusturmbrücke hindurch auf den dunklen Tunnelausgang zu, aus dem sich vor wenigen Augenblicken noch das Wasser der Flut auf die Lehrlinge zugewälzt hatte. Von hier war Direktor Saurini vorhin auch gekommen. Niemand kannte die Gebäude und Gänge der Akademie besser als er, abgesehen vielleicht von der Bisamratte Minster, mit der Rufus seit der Wahl seines ersten Fragments eine besondere Beziehung verband. Außerdem hatte der Direktor die Angewohnheit, unvermutet aus unscheinbaren und verborgenen Türen in den Raum zu treten.
Und tatsächlich galt dies auch jetzt. Nachdem Rufus ihm einige Meter in den dunklen Tunnel gefolgt war, wandte sich Gino Saurini unvermittelt nach rechts und schob sich durch einen kaum sichtbaren Spalt zwischen zwei schweren Pfeilern. Erstaunt bemerkte Rufus, dass dahinter eine steile, schmale Treppe nach oben führte.
Direktor Saurini wies auf die Stufen. »Hier müssen wir hoch, das ist der kürzeste Weg in mein Büro.«
Rufus nickte. Dann drehte er sich noch einmal um. Er beobachtete, wie Oliver die Hand auf die Buchseiten legte, während alle anderen Lehrlinge ihren Vordermann berührten. Dann sah es plötzlich aus, als verschwämmen ihre Gestalten, als ob heiße Luft um sie herum flimmerte.
»So sieht das also aus, wenn jemand in einer Flut ist und man selber nicht«, sagte Rufus.
»Ja«, antwortete Direktor Saurini. »Aber Rufus, lass den Unterricht jetzt los. Ich fürchte, uns erwartet etwas sehr Unerfreuliches.«
»Etwas Unerfreuliches?«
»Ja, sonst hätte mich Meisterin Iggle niemals aus dem Flutkundeunterricht geholt. Sie weiß, dass er zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört. Ja, ich fürchte wirklich, es ist etwas äußerst Unerfreuliches.«
»Aber was denn?«, fragte Rufus besorgt.
»In meinem Büro«, sagte Saurini und eilte über die Stufen voraus.
Trotz seiner fülligen Körperstatur bewegte sich der Direktor flink wie ein Wiesel. Doch schon auf dem ersten Treppenabsatz blieb er unvermittelt stehen.
»Rufus, was immer wir auch gleich zu hören bekommen, ich muss dich um absolutes Stillschweigen bitten! Über alles, was du erfährst! Kann ich mich darauf verlassen?«
Rufus zuckte zusammen. »Natürlich, Direktor Saurini. Aber wieso denn?«