Das Schlüsselkind - Gert Rothberg - E-Book

Das Schlüsselkind E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. »Mann«, seufzte Fabian Schöller beglückt, »wer hätte das gedacht!« »Ich nicht«, bestätigte sein Freund Henrik von Schoenecker. Er puffte seinen großen Bruder in die Seite: »Oder hättest du es geglaubt, Nick?« Dominik von Wellentin-Schoenecker schüttelte den Kopf. »Nicht die Spur. Hoffnung hatten wir ja alle. Aber dass ausgerechnet Fabian das Rennen machen würde …« Fabian warf sich etwas gekränkt in die Brust. »Schließlich verstehe ich vom Fußball auch am meisten. Dafür kenne ich mich bei euren Pferden nicht so gut aus.« »Niemand bestreitet das, Fabian«, mischte sich Wolfgang Rennert, der Hauslehrer von Sophienlust, in das Gespräch der Kinder ein. »Du hast gewonnen – und Nick und Henrik profitieren davon. Ich übrigens auch.« Zwei Monate war es her, dass Fabian nach einer Sportsendung im Fernsehen auf die Idee gekommen war, sich am »Tor des Monats« zu beteiligen. Natürlich hatten alle Sophienluster Kinder mitgemacht. Sogar die Mädchen.

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Seitenzahl: 149

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sophienlust Extra – 144 –Das Schlüsselkind

Unveröffentlichter Roman

Gert Rothberg

»Mann«, seufzte Fabian Schöller beglückt, »wer hätte das gedacht!«

»Ich nicht«, bestätigte sein Freund Henrik von Schoenecker.

Er puffte seinen großen Bruder in die Seite: »Oder hättest du es geglaubt, Nick?«

Dominik von Wellentin-Schoenecker schüttelte den Kopf. »Nicht die Spur. Hoffnung hatten wir ja alle. Aber dass ausgerechnet Fabian das Rennen machen würde …«

Fabian warf sich etwas gekränkt in die Brust.

»Schließlich verstehe ich vom Fußball auch am meisten. Dafür kenne ich mich bei euren Pferden nicht so gut aus.«

»Niemand bestreitet das, Fabian«, mischte sich Wolfgang Rennert, der Hauslehrer von Sophienlust, in das Gespräch der Kinder ein. »Du hast gewonnen – und Nick und Henrik profitieren davon. Ich übrigens auch.«

Zwei Monate war es her, dass Fabian nach einer Sportsendung im Fernsehen auf die Idee gekommen war, sich am »Tor des Monats« zu beteiligen. Natürlich hatten alle Sophienluster Kinder mitgemacht. Sogar die Mädchen. Aber jedes Kind hatte einen anderen Tipp abgegeben. Streng geheim, versteht sich.

Es war ein ungeheurer Jubel gewesen, als der Briefträger die Nachricht gebracht hatte, dass Fabian zu den glücklichen Gewinnern gehörte. Zwei Freikarten für das Endspiel der Bundesliga im Olympia-Stadion waren der Gewinn gewesen. Allerdings war im nächsten Augenblick die bange Frage aufgetaucht, ob Fabian davon Gebrauch machen dürfe. München war weit weg. Auf jeden Fall viel zu weit für einen Jungen von elf Jahren.

Nicks Mutter, Denise von Schoenecker, von den Kindern als Tante Isi geliebt und verehrt, hatte wie immer die richtige Lösung gefunden. »Selbstverständlich darf sich Fabian eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen«, hatte sie mit einem leisen Lächeln erklärt. »Nick und Henrik dürfen ihn begleiten. Und Herr Rennert wird dafür sorgen, dass ihr keine Dummheiten macht. Voraussetzung ist allerdings, dass ihr euch noch etwas auf die Hosen setzt, auch wenn die großen Ferien vor der Tür stehen. Deine Vier im Rechnen ist eine ziemliche Schande, Fabian.«

Fabian hatte eilig Besserung gelobt. Die schlechte Note wäre sowieso nur ein Ausrutscher gewesen, hatte er gemeint. Auch Nick und Henrik hatten ihrer Mutter Höchstleistungen versprochen. Jeder von ihnen hatte seine Schwächen.

Wolfgang Rennert hatte den Auftrag nicht ungern angenommen. Er versäumte kein Fußballspiel im Fernsehen, aber er fand, das Miterleben an Ort und Stelle war doch etwas ganz anderes.

Fabian war seitdem in Seligkeit geschwommen. Endlich, endlich würde er seine Idole aus allernächster Nähe bewundern können. Vielleicht würde er Glück haben und sogar einige Autogramme erwischen. Auf jeden Fall würde er vorsorglich einige Bilder der Spieler einstecken. Daran mangelte es ihm nicht. Sein ganzes Zimmer war mit Fotos und Zeitungsausschnitten der Fußballspieler tapeziert.

Die Mädchen, von Denise mit einem Badeausflug entschädigt, hatten die drei Jungen neidlos ziehen lassen. Nur Pünktchen, die eigentlich Angelina Dommin hieß und Nicks ganz besondere Freundin war, hatte diesem anvertraut: »Ich wäre schon gern mit euch gefahren. So kann ich bloß die Daumen drücken.«

Das war die Vorgeschichte. Und nun saßen die drei Buben mit Wolfgang Rennert in der U-Bahn von München und fuhren in Richtung Olympia-Stadion. Sie waren am späten Vormittag in München eingetroffen, im Hofbräuhaus hatten sie Schweinebraten mit Semmelknödeln verzehrte und nun fieberten sie dem großen Ereignis entgegen.

Unweit von ihnen saß ein Herr mit zwei Kindern, einem Jungen in Fabians Alter und einem kleineren Mädchen. Nick schätzte es auf sechs bis sieben Jahre. Eigentlich ein Alter, dachte er, in dem Puppen vor dem Fußball rangieren. Na ja, wahrscheinlich geht das Mädchen dem Vater und dem Bruder zuliebe mit. Aber warum ist es nicht bei seiner Mutti geblieben? Oder hat es etwa keine?

Für Nick waren derlei Gedanken keine Seltenheit. Mit seinen sechzehn Jahren wusste er bereits mehr vom Leben als manch Erwachsener – zumindest was Eltern- oder Kinderschicksale anbelangte. Sophienlust, das Haus der glücklichen Kinder, würde eines Tages ihm gehören. So hatte es seine Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, bestimmt. Ihr großes Vermögen war in eine Stiftung umgewandelt worden. Deren Zweck war es, gefährdeten und vom Leben benachteiligten Kindern eine Heimat zu geben.

Bis zu seiner Volljährigkeit verwaltete seine Mutter, Denise von Schoenecker, das Erbe. Sie war der gute Geist von Sophienlust und würde es wohl immer bleiben, auch wenn er, Nick, in ferner Zukunft einmal die Zügel selbst in der Hand halten würde. Eine Denise von Schoenecker gab es eben nur einmal. Sie hatte ihr eigenes Leben gemeistert, obwohl es auch nicht immer leicht gewesen war. Denn Nicks Vater war sehr früh gestorben. In Alexander von Schoenecker hatte sie danach einen Partner gefunden, wie sie sich keinen Besseren wünschen konnte.

Alexander von Schoenecker liebte Nick, der eigentlich Dominik hieß, wie einen eigenen Sohn. Genauso wenig machte Denise einen Unterschied, wenn es sich um die Kinder aus der er ersten Ehe ihres Mannes handelte. Sascha studierte in Heidelberg, und Alexanders Tochter Andrea war mit dem Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet. Sie lebte in Bachenau und hatte bereits einen kleinen Sohn. Niemand wusste, wer stolzer auf Peterle war, seine Eltern, seine Junggebliebenen Großeltern Alexander und Denise oder die beiden Onkel Nick und Henrik. Besonders Henrik, der aus der Ehe von Denise und Alexander stammte, nahm es mit dieser Würde sehr genau.

»Schläfst du, Nick?«, fragte Henrik jetzt.

»Ach wo. Ich war nur mit meinen Gedanken woanders. Ich habe mich gewundert, dass die Kleine dort drüben auch zum Fußballspiel will.«

Wolfgang Rennert warf einen kurzen prüfenden Blick in die angegebene Richtung.

Im Gegensatz zu Nick glaubte er nicht, dass die Kleine zu den beiden anderen, die offensichtlich Vater und Sohn waren, gehörte. Sie sah unbeteiligt aus und nahm an dem lebhaften Gespräch der beiden nicht teil. Auch Wolfgang Rennert wunderte sich. In der U-Bahn gab es doch wahrhaftig nichts zu sehen. Aber das Kind schien glücklich zu sein. Man sah ihm an, wie sehr es die Fahrt genoss.

*

Die Vermutung Wolfgang Rennerts stimmte. Maxi Steffan war in diesem Augenblick restlos glücklich und zufrieden. Sie liebte die Fahrten mit, der U-Bahn über alles, obwohl sie dabei nicht zum Fenster hinaussehen konnte. Das störte sie aber nicht. Sie fand die Sache trotzdem aufregend und spannend.

Wenn es sich ergab, setzte sich Maxi gern zu einer Familie. Vater, Mutter und wenigstens ein Kind mussten es sein. Ihre blühende Fantasie malte sich dann aus, dass sie dazugehöre. So interesselos sie auch nach außen hin wirkte, innerlich folgte sie den Gesprächen dieser Familie stets. Sie lieferten ihr Stoff für ihre Träume, die mit einem Strahl von Glück ihren grauen Alltag vergoldeten.

Im Grunde genommen war Maxi ein sehr einsames Kind. Ihre Mutter, Ilse Steffan, verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Kosmetikerin im Schönheitssalon Elvira. Er gehörte keineswegs zur ersten Kategorie, sondern wurde meist von Hausfrauen und Angestellten des Mittelstandes aufgesucht. Der Verdienst war auch dementsprechend. Ilse, sowieso keine Leuchte auf ihrem Gebiet, kam gerade eben über die Runden.

Über Maxis Vater wurde zu Hause nicht gesprochen. Er stammte zwar aus gutem Haus, das war aber leider schon alles. Von seinen früh verstorbenen Eltern hatte er ein kleines Kapital geerbt, mit dem er spielend fertig geworden war. Ilse hatte den gut aussehenden und sehr charmanten Mann angebetet. Dieser Zustand hatte sich aber rasch verflüchtigt, als sie entdeckt hatte, dass sie ein Kind erwartete. Maxis Vater, zutiefst entsetzt, hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, die Konsequenzen zu ziehen. Wie sollte er eine Heirat finanzieren, war seine Antwort gewesen. Er lebte doch selbst von der Hand in den Mund. Genau besehen war er nicht viel mehr als ein verkrachter Student, dessen Mittel zusehends schwanden.

Nicht einmal die hübsche Ilse Steffan, die ihm keineswegs gleichgültig war, hatte ihn also veranlassen können, seine Gewohnheiten zu ändern. Er hatte die Verantwortung für das Kind gescheut. Das hätte ja bedeutet, dass er einer geregelten Tätigkeit nachgehen müsste – ein höchst ärgerlicher Zustand.

Zu diesem Zeitpunkt war ihm der Job eines Reiseleiters angeboten worden. Er hatte ihn angenommen, war aber nicht mehr nach München zurückgekehrt. Sein weiteres Schicksal hatte im Dunklen gelegen. Erst sehr viel später hatte Ilse auf Umwegen erfahren, dass er im Ausland einen frühen Tod gefunden hatte. Damals war sie jedoch schon so weit gewesen, dass sie das nur noch ein Achselzucken gekostet hatte.

*

Für eine Frau wie Ilse Steffan war das Leben hart. Sie konnte es sich gar nicht leisten, der Vergangenheit nachzutrauern. Auch Ausblicke in die Zukunft zahlten sich nur selten aus. Das, was allein zählte, war die Gegenwart.

In Ilses Fall hieß diese im Moment Franz Lechner. Wie schon so häufig in ihrem Leben dachte die junge Frau, nun sei sie dem großen Glückstopf ganz nahe. Bisher hatte das zwar jedes Mal mit einer Enttäuschung geendet, doch diesmal würde es anders sein.

Ilse und Franz hatten sich auf einer Redoute im letzten Fasching kennengelernt. Ilse hatte sie zusammen mit ihren Kollegen besucht. Bereits nach dem ersten Tanz hatte jedoch für sie nichts anderes mehr existiert als der interessante junge Mann, der sie meisterhaft über das Parkett führte und dessen samtweiche Stimme ihr die süßesten Komplimente ins Ohr flüsterte. Ilse war viel zu naiv, um auch nur den geringsten Zweifel an den Erzählungen des jungen Mannes zu hegen. Von seiner äußeren Erscheinung geblendet, bemerkte sie nicht den brutalen Zug um seinen Mund. Mit einem Wort, sie sah ihn so, wie sie ihn sehen wollte, und nicht so, wie er wirklich war.

Franz Lechner kam geradewegs aus dem Gefängnis, wo er wieder einmal eine kleine Strafe abgesessen hatte. Er wusste, beim nächsten Mal würde er nicht mehr so leicht davonkommen. Das hatte ihm der Richter prophezeit, schon zu oft war er rückfällig geworden.

Franz nahm das jedoch nicht ernst. Auf keinen Fall wollte er nun auf dem beschwerlichen Pfad der Tugend wandeln. Nur etwas vorsichtiger wollte er sein und sich nicht erwischen lassen.

Während seiner Haft war es ihm gelungen, wichtige Verbindungen anzuknüpfen. Er selbst verstand einiges von Autos und Motoren, und das war ein Gebiet, auf dem sich lukrative Geschäfte abwickeln ließen. Er hatte es satt, sich noch länger mit kleinen Betrügereien abzugeben, die auf die Dauer nichts einbrachten. Warum sollte es nicht auch ihm einmal gelingen, einen größeren Coup zu landen?

Franz Lechner betrachtete seine Zukunftsaussichten recht optimistisch. Sogar die Bekanntschaft mit Ilse Steffan passte in dieses Muster. Warum auch nicht? Frauen hatten in seinem Leben schon immer eine Rolle gespielt. Er konnte sie nicht entbehren und war auch nett zu ihnen, vorausgesetzt, sie mischten sich nicht allzu sehr in seine Angelegenheiten ein.

Im Gegensatz zu Ilse Steffan verfügte Franz Lechner über einige Menschenkenntnis. Ein reizender Käfer, dachte er bei sich. Nicht übermäßig gescheit, aber auf große Intelligenz lege ich sowieso keinen Wert. Frauen mit allzu viel Verstand können auf die Dauer recht ermüdend sein.

Das, was Franz verlangte, war eine angenehme Häuslichkeit, wo er sich von seinen Taten ausruhen konnte. Natürlich ohne amtliche Besiegelung. Wenn man einander satthatte, dann ging man eben wieder auseinander. So einfach war das.

Alles verlief genau nach seinem Plan. Bereits nach wenigen Tagen der Bekanntschaft zog Franz Lechner in die Zwei-Zimmer-Wohnung von Ilse Steffan ein. Dort erwartete ihn allerdings eine unangenehme Überraschung. Bisher hatte er nämlich nichts von Maxis Existenz gewusst. Ganz so dumm, wie er annahm, war Ilse nämlich doch nicht. Es war schon vorgekommen, dass ein Verehrer, wenn er von Maxi erfahren hatte, es plötzlich sehr eilig gehabt und sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hatte. Deshalb hatte Ilse ihren Franz vor vollendete Tatsachen gestellt.

Auch Franz hätte am liebsten, wie andere Männer, auf der Stelle das Weite gesucht. Wenn er etwas verabscheute, dann waren es Kinder.

Maxi blickte ihn schüchtern an. Würde sie nun auch einen Vati bekommen? Wie sehr sehnte sie sich nach einer richtigen Familie!

»Maxi wird dich nicht stören«, sagte Ilse, die spürte, dass ein Gewitter in der Luft lag. »Sie ist ein sehr ruhiges Kind. Sag Onkel Franz, dass du dich freust.«

Maxi legte den Kopf in den Nacken. Der Mann starrte sie voller Abneigung an. Sah so ein Vati aus? Maxis aufgeflackerte Hoffnung erlosch.

»Du hättest mir das vorher sagen können, Ilse«, bemerkte Franz vorwurfsvoll. Seine Augen wanderten durch das einfach, aber wohnlich eingerichtete Zimmer. Es war genau das, was er suchte – für seine Behaglichkeit und für seine Tarnung. Also musste er wohl in den sauren Apfel beißen und das Kind in Kauf nehmen.

Ilse zuckte hilflos mit den Achseln. Natürlich hatte er recht. Sie hatte einfach nicht den Mut gehabt, ihm von dem Kind zu erzählen.

»Verzeih, Franz«, stammelte sie. In ihre porzellanblauen Augen traten Tränen. »Ich dachte, wenn du sie erst einmal siehst …«

»Schon gut«, gab er knurrend nach. »Aber halte sie mir vom Leibe, wenn ich bitten darf. Ich brauche meine Ruhe.«

»Ganz, wie du willst«, antwortete Ilse demütig. »Maxi, geh in den Hof spielen.«

Maxi sah aus dem Fenster. Es regnete, und der Wind peitschte die Bäume. Was dachte sich die Mami eigentlich? Nicht einen Hund würde man bei diesem Wetter hinausjagen.

Franz Lechner machte es sich auf der Couch bequem und streckte die Beine lang aus.

»Nun, Ilse, was bietet Küche und Keller?«, scherzte er, ohne von Maxi noch weiter Notiz zu nehmen. »Ich habe einen soliden Hunger, und gegen ein kühles Bierchen hätte ich auch nichts einzuwenden.«

»Gleich, Franz. Ich werde sofort etwas für dich richten.«

Ilse entfernte sich in Richtung Küche. Auch Maxi hätte gern etwas gegessen. Sie begriff jedoch, dass sie hier unerwünscht war.

Also ging sie hinaus und zog sich ihren roten Mantel mit der Kapuze an.

Auf dem altmodischen Garderobentischchen lag die Geldbörse der Mutter. Sie war achtlos hingeworfen worden und hatte sich dabei geöffnet. Ein paar Geldstücke waren herausgefallen.

Maxi zögerte. Noch nie hatte sie sich einen Pfennig genommen, ohne ihre Mutter um Erlaubnis zu fragen. Doch jetzt streckte sie die Hand aus. Sollte sie, oder sollte sie nicht? Sie bekam noch kein Taschengeld. Hier und da, wenn ihre Mutter guter Laune war, wurde ihr etwas zugesteckt. Ersparnisse konnte Maxi davon nicht machen.

Maxi dachte daran, wie kühl und nass es draußen war. Mit ein bisschen Geld in der Hand ließ sich schon etwas anfangen. Natürlich hätte sie ihre Mutter darum bitten können. Doch die gleichgültige Art, mit der sie von ihr weggeschickt worden war, tat ihr noch immer weh.

Sie ist selber schuld, dachte Maxi trotzig und bediente sich.

Von der Wohnung aus waren es nur reichlich zehn Minuten bis zur U-Bahn-Haltestelle am Harras. An diesem Tag erfüllte sich Maxi zum ersten Mal ihren heimlichen Wunsch. Sie fuhr die ganze Strecke hin und wieder zurück. So saß sie im Warmen und Trockenen – und kurzweilig war es außerdem.

*

Das war der Anfang gewesen. In der Folge geschah es dann immer häufiger, dass Maxi sich selbstständig machte. Franz Lechner machte kein Hehl daraus, wie lästig ihm Maxis Gegenwart war. So mancher blaue Fleck gab davon Zeugnis.

Maxi setzte sich zur Wehr, indem sie es ablehnte, ihn Onkel Franz zu nennen. Für sie war er Herr Lechner, mochte ihre Mutter auch noch so viel reden.

Manchmal ärgerte sich Ilse Steffan darüber, manchmal zog sie ihr Kind auch ganz unmotiviert in die Arme. Natürlich nur dann, wenn Franz außer Haus war. Dann kam es tatsächlich vor, dass sich ihr schlechtes Gewissen meldete. Es waren sehr seltene Lichtblicke für Maxi, und sie reichten keineswegs aus für ein echtes Mutter-Kind-Verhältnis.

Maxi war alt genug, um zu verstehen, dass sie nur ein Anhängsel war, das man akzeptierte, weil es nicht anders ging. Sie reagierte mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung standen. Das heißt, sie wurde bockig und aufsässig. Bei Franz Lechner durfte sie sich allerdings nicht viel erlauben. Ihm rutschte sehr schnell die Hand aus, ohne dass er sich Gedanken darüber machte, ob er überhaupt im Recht war.

Immer, wenn Maxis Dasein allzu trübe wurde, ging die Kleine seitdem auf Reisen. Hatte sie einmal kein Geld, dann fuhr sie eben schwarz. Darin hatte sie es mittlerweile schon zur Perfektion gebracht. Wenn die Situation kritisch wurde, machte sie sich sehr klein, sehr unauffällig und entwischte.

Und jetzt saß Maxi wieder einmal in der U-Bahn. Sie lehnte sich in die blauen Polster zurück und blinzelte unter halb geschlossenen Augenlidern ihr Gegenüber an. Der Junge gefiel ihr. Er hatte etwas struppiges blondes Haar und über der Stupsnase einige Sommersprossen. Rechts oben hatte er eine Zahnlücke. Unwillkürlich wackelte Maxi ein bisschen mit der Zungenspitze an ihrem vorderen Schneidezahn. Tatsächlich, er rührte sich schon etwas.

Auch der Mann war nett, fand Maxi. Ganz so, wie sie selbst sich einen Vati vorstellte. Er hatte lustige Augen. Bestimmt würde er seinen Sohn weder puffen, noch ihn an den Haaren ziehen.

Nur schade, dass sie sehr wenig von der Unterhaltung mitbekam. Diese drehte sich ausschließlich um Fußball. Das war ein Thema, das ihr sehr wenig bedeutete.

»Bitte, die Fahrausweise!«

Maxi fuhr erschrocken zusammen. Am Ende des Waggons tauchte die ehrfurchtgebietende Gestalt des Kontrolleurs auf.

Maxi blickte hastig nach rechts und links. Wo gab es ein Versteck für sie? Vielleicht konnte sie sich noch rasch unter die hinten stehenden Fahrgäste mischen?

Nein, es war schon zu spät. Der Beamte kontrollierte gerade die gegenüberliegende Seite. Jetzt drehte er sich um. Maxi rutschte ganz in die Ecke und schloss die Augen.

»Das sind aber nur zwei Karten«, sagte der Kontrolleur.

Maxis Gegenüber blickte überrascht auf. »Ja, stimmt. Mein Sohn und ich.«

»Und das kleine Mädchen da?«

Der Mann, er hieß Philipp Unterrainer, sah Maxi an. Und nicht nur er. Alle, die in der Nähe saßen, wurden aufmerksam. Darunter auch die Sophienluster Abordnung.

»Sie gehört also nicht zu Ihnen?«, fragte der Beamte geduldig. Er wusste die Antwort im Voraus. So unschuldig wie die Kleine tat nur jemand, der ein ganz schlechtes Gewissen hatte.

Maxi presste die Lider angestrengt zusammen. Natürlich hatte sie alles gehört, wenn sie sich auch den Anschein gab, Watte in den Ohren zu haben. Was würde der fremde Mann nun antworten?

»Nein«, sagte Philipp Unterrainer. Doch schon in der nächsten Sekunde tat ihm die kleine Schwarzfahrerin leid. »Trotzdem werde ich …«, fuhr er fort.