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Das Schweigen der Klippen E-Book

Ellis Corbet

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Beschreibung

Das einzigartige britisch-französische Flair der Kanalinsel Guernsey

Ein raffinierter Kriminalfall voller Abgründe

Ein Ermittlerduo mit ganz eigenem Profil

Das Team um Detective Inspector Kate Langlois wird an die Küste Guernseys gerufen: Zerschmettert liegt die Leiche einer alten Frau am Fuß der Klippen. Schnell scheint klar, dass der Tod der dementen Odile ein Unfall war. Doch Kate ist ebenso wenig überzeugt wie der französische forensische Archäologe Nicolas Arture, der mit seinen zunächst abwegig anmutenden Beobachtungen wertvolle Hinweise auf Odiles Familienleben liefert. Gemeinsam kommt das ungewöhnliche Duo einem dunklen Geheimnis auf die Spur, das weit in die Vergangenheit zurückreicht, zu einer gefährlichen Liebe in einer bewegten Zeit ...

Nach Kalt lächelt die See gelingt es Ellis Corbet auch in ihrem zweiten Band, mit einem sorgfältig aufgebauten spannenden Fall und lebensechten Figuren zu fesseln und einen dabei mit bildgewaltigem Lokalkolorit auf die traumhaft schöne Insel Guernsey zu entführen.

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Seitenzahl: 409

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel

Über dieses Buch

Das einzigartige britisch-französische Flair der Kanalinsel Guernsey Ein raffinierter Kriminalfall voller Abgründe. Ein Ermittlerduo mit ganz eigenem Profil Das Team um Detective Inspector Kate Langlois wird an die Küste Guernseys gerufen: Zerschmettert liegt die Leiche einer alten Frau am Fuß der Klippen. Schnell scheint klar, dass der Tod der dementen Odile ein Unfall war. Doch Kate ist ebenso wenig überzeugt wie der französische forensische Archäologe Nicolas Arture, der mit seinen zunächst abwegig anmutenden Beobachtungen wertvolle Hinweise auf Odiles Familienleben liefert. Gemeinsam kommt das ungewöhnliche Duo einem dunklen Geheimnis auf die Spur, das weit in die Vergangenheit zurückreicht, zu einer gefährlichen Liebe in einer bewegten Zeit … Nach Kalt lächelt die See gelingt es Ellis Corbet auch in ihrem zweiten Band, mit einem sorgfältig aufgebauten spannenden Fall und lebensechten Figuren zu fesseln und einen dabei mit bildgewaltigem Lokalkolorit auf die traumhaft schöne Insel Guernsey zu entführen.

Über die Autorin

Ellis Corbet ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin, die mit KALT LÄCHELT DIE SEE ihre Liebe zum Krimi mit der zu den Kanalinseln verbunden hat. Ellis Corbet verbrachte während ihres literaturwissenschaftlichen Studiums auch längere Zeit in Südamerika und Italien. Ihre Erlebnisse inspirierten sie zum Schreiben, und inzwischen lebt sie als freie Autorin in Stuttgart. Ellis Corbet ist Mitglied der Mörderischen Schwestern und seit dem Sommer 2017 auch regelmäßig bei der Lesebühne Get Shorties dabei.

E L L I S  C O R B E T

DASSCHWEIGENDER KLIPPEN

EIN GUERNSEY-KRIMI

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Marion Labonte, Wachtberg

Titelmotive: © shutterstock.com: Olga Popova | Elke Kohler | Johncw41 | Aurora GSY

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2812-6

luebbe.de

lesejury.de

Prolog

Dezember 1944Les Laurens, Torteval

Es war stockfinster, und die Eltern schliefen schon, als William leise die Tür öffnete und ins Haus schlich. Die Wohnstatt war klein, die Wände dünn, hier am Ortsrand von Torteval, wo nachts das Rauschen des Meeres zu hören war. Manchmal beneidete er die Menschen in St. Peter Port, das war beinahe eine richtige Stadt, nicht nur eine Ansammlung von ein paar Cottages und Fischerhütten. Oder die droben im Norden der Insel, wo es wenigstens richtige Strände gab und nicht nur raue Klippen und schmale Buchten, in denen das Fischen schwierig war.

William schloss die Tür und lauschte. Er hätte längst zu Hause sein müssen, die Deutschen hatten eine Ausgangssperre verhängt, und William versuchte nach Möglichkeit, sich daran zu halten. Vorher saß er oft im Pub über einem Pint, versoff das wenige Geld, das er verdiente. Früher war er nicht so gewesen, hätte sich sein Leben nie so vorstellen können. Aber der Krieg, die Besatzung, der Hunger … Vor diesem Sommer war es besser gewesen, da hatte es noch Handel mit Frankreich gegeben, es war genug zu essen da, für alle. Der Krieg war noch nicht richtig auf den Kanalinseln angekommen. Aber jetzt? Seitdem die Alliierten in der Normandie gelandet und die Deutschen vom Festland abgeschnitten waren, gab es hier nichts mehr. Sie alle litten Hunger, die Eltern, seine kleine Schwester, die Nachbarn. Und William konnte nichts dagegen tun, war machtlos angesichts der deutschen Soldaten, dieser verdammten Männer in Uniform, die er so sehr hasste. Sie hatten ihm alles genommen, seine Insel und Odile. Die Frage war nur, ob sie alle auf Guernsey zuerst den Krieg verlieren oder verhungern würden.

Wie spät es war, wusste er nicht, seine Uhr hatte er ins Meer geworfen. Die Uhr, die sein Vater ihm zum Abschluss seiner Lehre geschenkt hatte. Stolz war er gewesen, der Vater, ein einfacher Fischer, dass sein Sohn jetzt Kaufmann war. Aber Blut war darauf gespritzt, wie auf Williams Hände, die er danach, so gut es ging, im Salzwasser gewaschen hatte. Die Uhr war stehen geblieben, und es hatte ihn gegruselt, diese stumme Zeugin mit nach Hause zu nehmen.

Eilig schlüpfte William in seine Kammer, zum Glück knarzte die Tür heute nicht. Er zog die Jacke aus, dazu Hemd und Hose, und stopfte alles in einen Sack. Morgen war Waschtag.

Das Wasser aus der Waschschüssel war eisig kalt, als er es sich ins Gesicht spritzte. Er säuberte die Hände, die Unterarme, rieb wie besessen und bis seine Haut rot und wund war.

Was hatte er getan? Grell blitzten die Bilder dieser Nacht vor seinem inneren Auge auf, die Abscheulichkeiten, die er verübt hatte, und für einen Moment traf ihn die Erkenntnis mit einem Entsetzen, das ihn schwindeln ließ. Er musste sich am Waschtisch festhalten, schwankend, mit wild pochendem Herzen. Übelkeit überkam ihn, die Säure stieg in seinen Mund, und er erbrach sich. Als er sich wieder aufrichtete, blickte ihm im Spiegel sein Gesicht entgegen, müde, bleich und so unendlich viel älter als seine neunzehn Jahre.

Plötzlich hörte er hinter sich ein Knacken. Erschrocken fuhr er herum. Sophies kleine Gestalt stand in der Tür, in einem hellen Nachthemd vor dem dunklen Flur.

William musste erneut am Waschtisch Halt suchen. »Geh ins Bett«, flüsterte er zitternd.

Seine Schwester durfte nichts von den Geschehnissen dieser Nacht erfahren. Niemand durfte je etwas davon erfahren.

1. Kapitel

Nature Reserve, St. Saviour

»Odile!« Therese hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund, um mit ihrer Stimme gegen den Wind anzukommen. Sie fror erbärmlich, die nasse Kälte biss sich schmerzhaft in ihre Finger. Wie mochte es da erst Odile gehen? Die alte Dame war sicher nicht warm genug angezogen, und das bei dem Wetter! Sie mussten sie finden. Um diese Jahreszeit konnte das Meer rau und das Wetter unbeständig sein. So schön Guernsey im Sommer war, so grausam war es manchmal in der kalten Jahreszeit. Heftige Winde peitschten die See auf, und mehr als einmal in der Geschichte der Insel hatte das Meer seinen Tribut in Gestalt von Menschenleben gefordert. Stürme hatten die Inseln geformt, zwischen Jethou und Herm war das Land von einer heftigen Flut fortgeschwemmt worden. Jetzt, Ende September, zeigte Guernsey häufig noch sein Sonnengesicht, doch es gab Tage wie heute, an denen der dunkle Winter schon deutlich zu erahnen war.

St. Saviour war nicht groß, nichts auf Guernsey war besonders groß, nicht einmal die Hauptstadt St. Peter Port. Und doch schien es unmöglich, hier, auf den kurvigen Straßen und einsamen Wegen zwischen den Siedlungen, eine vermisste alte Frau zu finden.

»Odile!« Thereses Stimme krächzte. Wie oft hatte sie den Namen geschrien heute Nacht?

Zunächst war Linney noch dabei gewesen. Ihr Stellvertreter im Pflegeheim, der heute Dienst gehabt und sie am Abend angerufen hatte. »Geh nach Hause, Therese«, hatte er noch weit vor Mitternacht gesagt und genau das selbst getan. »Die Polizei kümmert sich.«

Aber sie konnte nicht nach Hause gehen. Sie hatte die Verantwortung für das Heim, für die Bewohner.

Es fiel ihr zunehmend schwer, Linneys zuversichtlicher Einschätzung zu folgen. Odile ist erst wenige Stunden fort, ihr ist sicher nichts passiert, hatte er gesagt. Gemeinsam hatten sie mögliche Szenarien durchgespielt. Sie hatte vielleicht einen Bus genommen, ein aufmerksamer Fahrer würde die Polizei oder den Rettungsdienst alarmieren. Vielleicht las auch ein Spaziergänger sie auf, gab ihr eine Jacke und einen Tee. Zudem war auch die Polizei informiert und suchte nach ihr. Eindringlich hatte Therese den jungen Beamten darum gebeten, sie anzurufen, sobald sie sie fanden – schlafen würde sie heute ohnehin nicht mehr.

Sie versuchte, tief durchzuatmen, aber die Angst, die ihr immer wieder spürbar bis in den Hals hinaufkroch, ließ sich nicht fortjagen. Die Angst, was mit Odile sonst noch geschehen sein könnte. Die wenigen Stunden waren mehr und mehr geworden, und nun war es beinahe wieder Morgen. Viel zu lange war Odile jetzt fort. Vor Müdigkeit verschwamm die Sicht vor Thereses Augen, sie hielt sich kaum noch auf den Beinen, und dennoch konnte sie nicht nach Hause gehen.

Bald würde es sehr hell werden. Aber noch war es dunkel hier im Naturschutzgebiet, zu dunkel, es gab zu viel Wasser … Therese hasste das, und auch wenn sie wusste, dass ihre Angst ihr im Weg stand, hatte Wasser sie schon immer beunruhigt. Nicht die besten Voraussetzungen, wenn man auf einer Insel lebt, dachte sie zynisch. Dennoch hatte sie das Ufer des Wasserreservoirs abgesucht, auf jede kleinste Bewegung im See geschaut, aber nein, das waren nur Enten gewesen.

Therese bemühte sich, ihren Blick zu fokussieren. Dort drüben unter den Bäumen! Hatte sie da eine Bewegung gesehen? Nein, es war nur der Wind in den Büschen.

Sie war auch auf der Hauptstraße gewesen, dann auf der Straße, die nach St. Peter Port führte – oder in die andere Richtung zum Strand. Das Meer war wild heute, stürmisch und aufgewühlt. Therese fröstelte, daran wollte sie jetzt nicht denken. Wie hätte Odile auch dorthin kommen sollen? Die Klippen waren weit entfernt, zu weit für eine alte Frau von über neunzig Jahren.

Ihr Handy klingelte, eine unbekannte Nummer. Mit ihren vor Kälte steifen Fingern gelang es ihr kaum, das Gespräch anzunehmen.

»Ja?«, rief sie gegen den Wind an. Oh Gott, lass Odile leben, lass sie leben, sandte sie ein stummes Gebet zum Himmel.

»Police Constable Knight hier. Ms Morgan, wir haben sie gefunden.«

Sie kannte diesen Tonfall, vorsichtig, mitfühlend. Und noch bevor der Polizist seinen nächsten Satz sagte, wusste sie, wie er lauten würde.

*

Petit Bot Bay, Forest

Das Meer eroberte sich in schwarzen Wellen das Ufer zurück, Schaumkronen leuchteten, wenn sich das Wasser an den Felsen der Petit Bot Bay brach. Mit einem Steinstrand hatte man es in der kleinen Bucht nicht weit bis ins Meer an der Südküste Guernseys, selbst bei Ebbe nicht, und trotz der üblicherweise kalten Temperaturen kamen auch hierher regelmäßig Menschen zum Schwimmen. Sie teilten sich das Wasser mit den Enten, die vom Cafébesitzer gefüttert wurden und deshalb gern die Bucht besuchten.

Detective Inspector Kate Langlois von der Guernsey Police kannte diesen Ort gut. Sie lebte zwar in St. Peter Port, liebte es aber, den Klippenpfad entlangzujoggen, und gerade die Strecke von der weiter östlich gelegenen Saints Bay bis zur Petit Bot Bay war in ihren Augen einer der schönsten Abschnitte mit seinen leuchtenden Farben, dem Grün der Küste, dem Braun der Felsen und dem tiefen Blau des Meeres.

Heute jedoch hätte Kate ihre frühen Sonntagmorgenstunden gern woanders verbracht. Wenn sie Bereitschaftsdienst hatte, bedeutete ein Anruf nie etwas Gutes. Ihr Großvater hatte als Chief Fire Officer einen Stab bei der Feuerwehr von Guernsey geleitet, nächtliche Anrufe waren für sie von Kind auf nichts Ungewöhnliches gewesen. Doch wenn man Kate und damit die Kriminalpolizei erreichen wollte, gab es keine Chance mehr darauf, Leben zu retten. Sie war zuständig für die Toten.

Kate machte einen Schritt nach vorn, vorsichtig nur, um dem Fundort nicht zu nahe zu kommen. Der Körper der Frau lag seltsam gekrümmt auf den Steinen, die ins Meer ragten, dort, wo die Bucht von den hohen Felsen der Küste eingeschlossen war. Kate blickte nach oben und schauderte. Hier waren die Klippen steil. Die Frau war heruntergestürzt und auf den rauen Felsen aufgeschlagen. Kein schöner Tod, aber zumindest schnell. Sie musste den Halt verloren haben. Im Dunkeln, wenn man sich nicht auskannte, barg der Klippenpfad, der oben die Steilküste entlangführte, an einigen wenigen Stellen Gefahr: Hier an der Petit Bot Bay lief man recht nah am Abgrund entlang.

Kate wandte sich wieder der Frau zu. Die Tote trug ein Sommerkleid, viel zu dünn für dieses Wetter, mehr konnte Kate von hier aus nicht erkennen. Es war noch nicht richtig hell. Instinktiv zog sie ihre Jacke enger um sich. Der Wind biss mit kalten Nadeln in ihr Gesicht.

»Detective Inspector Langlois?«

Kate kannte Police Constable Knight, der jetzt auf sie zukam, nicht gut. Der junge Kollege war gemeinsam mit seinem Partner, der in einiger Entfernung telefonierte, der Erste am Unfallort gewesen. Sie hatten zunächst einen Arzt gerufen, der den Tod der Frau bestätigt hatte, und dann Kate informiert, die es in einer halben Stunde hierher geschafft hatte.

»Bei der Toten handelt es sich um Odile Davies. Vierundneunzig Jahre alt, sie wurde gestern Abend als vermisst gemeldet. Ist aus der Garden Villa in St. Saviour abgehauen, dem Pflegeheim, in dem sie lebt.« Er schaute etwas in seinem Smartphone nach und zeigte Kate das Foto einer alten Frau mit weißen Haaren, Altersflecken und einem verschlossenen Gesichtsausdruck. »Hier, das ist das Bild aus der Vermisstenmeldung.«

»Kein Zweifel.« Kate nickte. »Ist sie dement?«, wollte sie wissen.

»Deshalb ist sie im Pflegeheim«, bestätigte Knight.

Das erklärte nicht nur ihr Verschwinden, sondern vermutlich auch die viel zu leichte Kleidung, die die Tote trug. »Ist das Heim schon informiert?«

»Ja. Gleich nachdem der Arzt fertig war.«

Gut. Kate würde sich später um die weiteren Schritte dort kümmern. Und herausfinden, ob sie Angehörige hatte, die man benachrichtigen musste. Das waren immer die schwersten Anrufe.

»Sieht aus wie ein Unfall«, sagte Kate.

»Ja. Wahrscheinlich ausgerutscht«, stimmte Knight ihr zu. »Das passiert schnell, zudem in dem Alter. Und Demenz kann sich auf die Sinnesverarbeitung im Hirn auswirken.« Auf ihren fragenden Blick hin fügte er verlegen hinzu: »Meine Gran, wir haben sie letztes Jahr in ein Pflegeheim geben müssen.«

Kate sah ihn verständnisvoll an. »Das heißt, die Frau hat möglicherweise nicht erkannt, dass sie auf einen Abgrund zuläuft«, schlussfolgerte sie dann.

Er nickte. »Ja, gut möglich.«

»Aber … Weshalb haben Sie uns dann verständigt?«, fragte Kate nachdenklich. Uns, das war das Criminal Investigation Department, die Crime Unit. Die Abteilung, die für Mordfälle zuständig war. Deren Beamte Ermittlungen aufnehmen mussten, sobald auch nur der geringste Zweifel an einem nicht natürlichen Hergang bestand. Einen Unfall hätte Officer Knight mit seinem Kollegen auch allein klären können. »Gab es etwas, das Sie misstrauisch gemacht hat?«

Verlegen kratzte Knight sich am Kopf. »Nicht direkt, aber … Ich habe neulich etwas gelesen«, begann er langsam. »Die Aufklärungsrate für Mord ist demnach ungeheuer hoch.«

Kate musterte ihn neugierig. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.

»Aber … um einen Mord aufzuklären, muss man ihn zuerst überhaupt als Mord entdecken«, fuhr er fort.

Jetzt verstand sie. Die Dunkelziffer unentdeckter Mordfälle war in der Tat hoch, darüber hatte sie sich noch vor wenigen Tagen mit Dr Schabot, dem Rechtsmediziner, unterhalten. Davon war auch er überzeugt. So weit wie einige reißerische Darstellungen, die jeden zweiten Mord als unentdeckt auswiesen und die offenbar auch Police Constable Knight gelesen hatte, wollte er aber nicht gehen. »Aber glauben Sie mir, Langlois, öfter, als Ihnen und mir lieb ist, wird ein Todesfall von Hausärzten als natürliche Todesursache, von den Police Constables als Unfall oder Selbstmord eingeordnet«, hatte er gesagt.

PC Knight schien nicht zu diesen Kollegen zu gehören.

»Und da dachten Sie, an einem verregneten Sonntagmorgen haben wir Detectives sowieso nichts Besseres zu tun?«, fragte Kate grinsend. Sie war ihm nicht böse, sie war selbst der Meinung, dass es besser war, einmal zu oft hinzusehen als einmal zu wenig. Das sagte sie ihm im Anschluss, woraufhin er erleichtert lächelte.

Dass er mit seiner Übervorsicht in diesem Fall jedoch recht behalten würde, daran zweifelte Kate. Jetzt aber brannte sie darauf, den Fundort zu betrachten, sie wollte zur Toten, sie aus der Nähe sehen. »Die Spurensicherung haben Sie informiert?«

»Ja, sie sind unterwegs. Wir haben sie angerufen, nachdem der Arzt bestätigt hat, dass die Frau tot ist.« Er schwieg einen Moment. »Direkt nach Ihnen. Und dann auch die Dame vom Pflegeheim, wie gesagt.«

Kate zögerte kurz, dann fasste sie einen Entschluss und machte sich vorsichtig auf den Weg über die Steine. Rivers wird nicht glücklich sein, dachte sie. Ihr Kollege von der Spurensicherung hasste es, wenn die Polizei vor ihm am Tatort »herumpfuschte«, wie er es nannte. Aber die beiden Police Constables waren bereits dort unten gewesen, ein Arzt, der den Tod festgestellt hatte … Und dann war ja nun die Frage, ob es sich hierbei wirklich um ein Verbrechen oder etwa um einen ganz normalen Unfall handelte.

Beinahe wäre sie auf den glitschigen Felsen ausgerutscht. Das Meer toste schwarz und unheilvoll vor ihr, nur die Gischt, die um die Steine spülte, war hell.

Ohne die Forensiker, ohne Menschen in Schutzanzügen, die ihr die Sicht versperrten, ohne lautes Rufen und Stimmengewirr war Kates erster Blick hier unten unvoreingenommen. Noch war es still bis auf das Schwappen der Brandung, und die Tote lag so, wie sie gefallen war, auf dem Rücken. Ihr Kopf seitlich verdreht und halb auf einem Stein, halb im Wasser. Die weißen Haare schwappten wie Algen im Wellengang. Wenige Meter von ihr entfernt kniete Kate sich hin und fokussierte den Blick. Blut hatte sich an einer Kopfwunde gesammelt, dort, wo sie auf dem Felsen aufgeschlagen war. Es war vom Wasser überspült worden und zog hellrote Fäden in der Gischt. Sie ist gestürzt, dachte Kate. Gefallen. Eine verwirrte alte Frau, die nicht gewusst hatte, wo sie hintrat. Die im Dunkeln einen falschen Schritt gemacht hatte, möglicherweise sogar in Angst und Panik. Ein Unfall.

Sie musterte die alte Frau, die knochigen Hände, mit Altersflecken überzogen, die Finger gekrümmt. Auf ihren Lippen war dunkler Lippenstift aufgetragen, auf den faltigen Wangen ein Rouge, das dem Wasser getrotzt hatte. Odile Davies trug ein Sommerkleid, dessen Blumenmuster seltsam romantisch anmutete. Es war bis zum Hals zugeknöpft, wo ein runder Ausschnitt einige Rüschen über die Schultern warf. Es rührte Kate, dass diese Frau, deren Verstand schon durchlöchert, deren Erinnerungen schon verblasst waren, dieses Kleid gewählt hatte – sich schick gemacht zu haben schien.

»Langlois!«, rief jemand von oberhalb, und Kate stand auf. Chief Inspector DeGaris lief mit langen Schritten den Weg zur Bucht entlang. Ihren Vorgesetzten und sie verband eine gegenseitige Zuneigung und Wertschätzung: Als er vor nicht ganz einem Jahr entdeckt hatte, dass Kates damaliger Partner korrupt war und die Kollegen auch Kate selbst verdächtigten, hatte er doch immer hinter ihr gestanden, ihr geglaubt und das im Präsidium deutlich gemacht. Sie bewunderte seinen scharfen Verstand und seine Unvoreingenommenheit, mit der er es sich verbot, Theorien zu spinnen, bis er nicht alle Fakten auf dem Tisch liegen hatte – eine Fähigkeit, von der Kate selbst nicht behaupten konnte, sie zu besitzen. In ihrem Kopf ratterte es immer gleich, dort spielte sie sich oft mehrere Szenarien vor, wie eine Situation gewesen sein könnte. Vielleicht ergänzten sie sich auch deshalb so gut.

Der Weg, über den DeGaris nun kam, glänzte feucht, es hatte am Abend geregnet. So lange ist das noch gar nicht her, dachte Kate. Nein, es war kein schöner Sonntagmorgen.

»Ist das die vermisste Frau?«, fragte DeGaris, kaum dass Kate bei ihm angelangt war.

Knight stand neben ihm, rieb die kalten Hände aneinander und hauchte hinein, um sie zu wärmen.

»Odile Davies, ja. Wir haben seit gestern Abend nach ihr gesucht.«

In solchen Situationen wurde die Insel, die man sonst als eng und klein empfinden konnte, mit ihren Buchten und den kurvenreichen Wegen riesengroß.

»Eine ziemlich weite Strecke von ihrem Pflegeheim aus«, merkte Kate nachdenklich an.

»Möglicherweise hat sie den Bus genommen«, erklärte Knight. »Die Leiterin hat mir erzählt, dass das schon einmal passiert ist, im vorigen Sommer.«

Kate horchte auf. Das war interessant.

»Eine Schande, dass wir sie nicht rechtzeitig finden konnten«, murmelte DeGaris. Dann richtete er seinen Blick wieder auf Knight. »Ist Ihnen etwas aufgefallen? Oder warum sind wir hier?«

»Nein, Sir, nicht direkt.«

Der Chief musterte PC Knight überrascht, der – diesmal mit Kates Unterstützung – seinen Gedankengang darlegte.

Skeptisch runzelte DeGaris die Stirn, doch Kate deutete nach oben zum Kliff, wo die alte Frau hinuntergefallen sein musste.

»Dort oben steht doch ein Haus, oder?«, fragte sie. »Wohnt da jemand?« Die Bucht selbst lag verlassen da, wenn man vom Café absah, das jetzt in der Nachsaison meist schon am Nachmittag schloss, wenn es denn überhaupt aufmachte. Etwas weiter oberhalb gab es die Siedlung von Les Nicolles, eine kleine Ansammlung von Häusern, die zur Gemeinde St. Martin gehörte.

»Ja, da ist ein Haus, aber es ist alles dunkel«, antwortete Police Constable Knight. »Wir fragen später mal nach, ob jemand was gesehen hat.« Zu einer zivilen Uhrzeit. Selbst wenn es um Mord ginge, musste man unschuldige Hausbesitzer nicht um fünf in der Früh aus den Betten klingeln. Selbst wenn es um Mord ginge, dachte Kate. PC Knight hatte sie offenbar angesteckt. Wer sollte eine demente alte Frau ermorden wollen?

»Erben?«, fragte DeGaris in diesem Moment, als habe auch er über diese Möglichkeit nachgedacht und suche jetzt nach einem Motiv.

Doch der junge Kollege schüttelte den Kopf. »Keine Angehörigen«, sagte er.

Der Chief hob erstaunt die Augenbrauen, und auch Kate reagierte unwillkürlich. »Gar keine?«, fragte sie schnell. Das war ungewöhnlich. Meist gab es doch zumindest irgendwo einen entfernten Neffen.

»So hat Ms Morgan vom Pflegeheim es gesagt.«

Sie wurden unterbrochen vom Eintreffen der Spurensicherung: Der hochaufgeschossene Rivers stapfte vorneweg, sein jüngerer Kollege mit der runden Brille, den Kate nur Harry Potter nannte, hinter ihm. Wie üblich trugen sie Koffer mit ihrer Ausrüstung mit sich, und trotz der frühen Stunde wirkte Rivers munter. Er nahm einen Schluck Kaffee aus einem Pappbecher, und Kate war neidisch, dass er im Gegensatz zu ihr die Zeit gehabt hatte, sich einen zu besorgen.

»Wann hast du eigentlich mal frei?«, fragte sie ihn augenzwinkernd, als er zu ihnen trat. »Und bevor du mir das Gleiche vorhältst: Wir haben zwei Krankenstände.«

»Gute Ausrede, Langlois«, feixte Rivers. »Werde ich mir merken fürs nächste Mal. Was habt ihr für uns?«

Mit wenigen Worten setzte DeGaris die beiden Forensiker ins Bild. Rivers reckte sogleich den Hals, um den Kiesstrand hinunter zur Toten zu blicken. »Warst du schon unten?«, fragte er Kate.

»Niemals würde ich euren heiligen Tatort betreten.«

»Gib dir keine Mühe, Langlois.« Missmutig blickte Rivers auf ihre Schuhe. »Dein Hosensaum ist wahrscheinlich im Auto so nass geworden, richtig?«

Erwischt. »Du hättest Detective werden sollen, Rivers.«

»Dann müsste ich mich nicht mehr mit verunreinigten Tatorten herumschlagen. Himmlisch. Gleich morgen beantrage ich meine Versetzung.«

Kate grinste. Sie mochte den Forensiker, der immer Lust auf einen kleinen Schlagabtausch hatte und auf dem Weg zur Kaffeemaschine gern bei ihr im Büro vorbeikam. Zudem leistete Rivers hervorragende Arbeit, niemandem traute sie mehr an einem Tatort zu. »Aber vorher schaust du dir noch unsere Tote an, ja?«, fragte sie ihn.

Schlagartig änderte sich Rivers’ Gesichtsausdruck: Keine Spur mehr von Neckerei, jetzt war er ernst und aufmerksam, professionell, vollkommen in seiner Rolle.

»Irgendwelche konkreten Hinweise auf Fremdverschulden?«, fragte er und ließ das Gummi seiner Handschuhe schnappen.

»Bisher nicht.« Nur einen übereifrigen Police Constable. Und wenn Kate ehrlich war, ein winziges Zucken irgendwo ganz hinten in ihren eigenen Gehirnwindungen.

Der Forensiker nickte. »Wer würde auch eine 94-Jährige ermorden?«

*

Eine knappe Stunde später war Kate so durchgefroren, dass sie überlegte, das kurze Stück zu ihrem Auto zu laufen, um sich darin wenigstens für ein paar Minuten mithilfe der Heizung aufzuwärmen. Der Himmel war immer noch grau und wolkenverhangen, aber immerhin war es inzwischen so hell wie nur möglich unter diesen Umständen. Das Meer stieg weiterhin und klatschte aufschäumend an die Felsen, dabei würde die Flut erst in einer halben Stunde auf ihrem Höchststand sein.

»Ich habe Mary neulich in der Stadt getroffen«, sagte DeGaris neben ihr plötzlich unvermittelt.

Kate blickte ihn überrascht an. Soweit sie wusste, hatte DeGaris seit seiner Scheidung vor zwei Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Frau gehabt. Die Trennung von Mary hatte ihn sehr mitgenommen, das wusste Kate, auch wenn er sich bemühte, es nach außen zu verbergen. Gefühle zu zeigen passte nicht zu seiner Rolle als Vorgesetzter. Es war ein Fall gewesen, der seine Ehe zerstört hatte. Kate erinnerte sich gut an das Verschwinden der kleinen Ava. Es hatte DeGaris schier das Herz zerrissen, dass er die Zweieinhalbjährige nicht gefunden hatte, weder tot noch lebendig. Tag und Nacht hatte der Chief gearbeitet, die gutmütige Mary hatte ihm den Rücken freigehalten und viel mitgemacht, aber irgendwann wurde seine Besessenheit selbst ihr zu viel. Die Trennung hatte DeGaris verändert, seitdem hatte er einen »melancholischen Zug«, wie Kates beste Freundin Laura es ausdrückte, die den Chief einmal kennengelernt hatte.

»Geht es ihr gut?«, erkundigte Kate sich nun nach seiner Ex-Frau.

»Sie trägt die Haare jetzt kurz, raspelkurz, kannst du dir das vorstellen?« DeGaris lachte ungläubig.

Kate erinnerte sich an die fröhliche Blondine, deren Haare weit über die Schultern gefallen waren. »Und, steht es ihr?«

DeGaris nahm sich Zeit für die Antwort. »Sehr«, sagte er schließlich, und mit einem Mal verstand Kate. Der Herbst auf den Kanalinseln ließ die Bewohner wehmütig werden. Er vermisste Mary. Sie schenkte ihrem Chief einen aufmunternden Blick, wünschte sie sich doch ehrlich, dass ihm etwas Glück in der Liebe vergönnt war. Er lächelte ihr zu, leicht verlegen und irgendwie auch glücklich. Kates Gedanken wanderten unwillkürlich zu Nicolas, den sie selbst vermisste: Nicolas, den Archäologen aus Frankreich, den sie erst zu Beginn dieses Sommers kennengelernt und mit dem sie intensive Wochen auf der Insel verbracht hatte. Doch Nicolas war nicht mehr auf Guernsey, sie wusste nicht einmal, wo er sich gerade herumtrieb, vielleicht schon längst auf einem anderen Kontinent. Hastig schob sie den Gedanken zur Seite.

Eine Weile beobachteten sie schweigend die Forensiker, die nun auch die Spuren oben am Klippenpfad gesichert hatten. Kate legte den Kopf in den Nacken und sah zu der Stelle zehn Meter über ihnen, wo Odile Davies gestürzt und von wo sie hinuntergefallen sein musste.

Falls sie gestürzt war.

Ein Gedanke drängte sich Kate auf: War die alte Frau womöglich absichtlich gesprungen?

»Wie hoch ist wohl die Selbstmordrate im Alter?«, murmelte Kate mehr zu sich selbst, aber DeGaris hörte sie doch.

Er rieb sich das Kinn, eine häufige Geste bei ihm, wenn er über etwas ernsthaft nachdachte. Bevor er jedoch antworten konnte, trat Rivers zu ihnen.

»Ich muss nur noch die Schuhabdrücke von Police Constable Knight und seinem Kollegen nehmen, ansonsten bin ich fertig«, sagte er und streifte seine Handschuhe ab. »Ihr könnt die Leiche zu Dr Schabot bringen.«

Kate nickte. Der Rechtsmediziner, ein Eigenbrötler, der sauber und akribisch arbeitete.

»Habt ihr was gefunden?«, fragte Kate, obwohl sie wusste, wie unwahrscheinlich das war, nachdem Rivers noch nichts in dieser Richtung verraten hatte.

Prompt schüttelte der Forensiker den Kopf. »Nichts Ungewöhnliches festzustellen.« Er deutete auf den Rand der Klippen über ihnen. »Bei dem Matsch ist nicht viel zu erkennen, der Boden ist aufgewühlt, die Stelle, von der sie gestürzt ist, klar zu erkennen.«

»Sie ist also gestürzt? Bist du sicher?«, fragte DeGaris. »Ich meine, sie könnte ja auch gesprungen sein«, sprach er, wie so oft, Kates Gedanken aus.

Der Forensiker hielt kurz inne, dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Gestürzt«, bekräftigte er. »Die Blätter der Pflanzen sind abgerissen, Carpobrotus edulis.«

»Ich wusste gar nicht, dass du unter die Botaniker gegangen bist«, zog Kate ihn auf, während ihre Gedanken um seine Worte kreisten. Es war also kein Selbstmord. Sie war gestürzt. Was hatte die alte Frau hier gesucht an der Petit Bot Bay? Das romantisch anmutende Kleid … Als wäre ihr der heutige Tag wichtig gewesen. Weshalb war sie hergekommen? Und wie weit war sie gelaufen? In ihrem Alter.

»Rivers«, wandte sie sich an den Kollegen. »Du hast gesagt, die Blätter waren abgerissen.«

Der Forensiker nickte.

»Und der Boden war aufgewühlt?«

»Ja. Als sei sie ausgerutscht, gestolpert, wobei sich die Spuren tief, aber undeutlich eingegraben haben. Als habe sie Halt gesucht«, bestätigte er.

»Habt ihr euch auch den Rest des Weges mal angeschaut?«

»Den Klippenpfad bis nach St. Peter Port?« Er grinste. »Der Boden dort ist noch zu fest, trotz des Regens, um wirklich verwertbare Spuren zu finden. Sie stand neben dem Weg, als sie gestürzt ist, dort ist der Boden weich, nicht festgetrampelt von unzähligen Menschen.«

Kate überlegte. »Trotzdem. Von irgendwoher muss sie ja gekommen sein. Und so weit konnte sie doch sicherlich nicht laufen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Also nicht bis St. Peter Port. Habt ihr den Parkplatz schon abgesucht?« Kate wusste, dass es oben unweit der Absturzstelle einen kleinen Pfad gab, der zu einem Parkplatz führte.

Rivers zuckte mit den Schultern, als wüsste er nicht so recht, worauf sie hinauswollte. »Meinetwegen können wir auch noch mal dort nachsehen«, antwortete er gutmütig.

»Danke.« Für einen Moment schloss Kate die Augen, dachte an die Tote, an die Klippen und atmete dann tief durch. »Irgendetwas kommt mir eigenartig vor«, sagte sie vorsichtig. Vermutlich war es genau dieses Gefühl gewesen, das auch PC Knight veranlasst hatte, sie zu informieren. »So weit weg von ihrem Pflegeheim in St. Saviour«, erklärte sie. »Dann die Klippen, der unebene Pfad, vor dem eine alte Frau doch bestimmt zurückgeschreckt wäre.«

»Du glaubst wirklich, hier hat ein Verbrechen stattgefunden? Gar ein Mord?« DeGaris starrte sie aufmerksam an, und auch Rivers wirkte konzentriert.

Wieder schloss Kate die Augen, horchte in sich hinein, spürte dem Gefühl nach. Schließlich atmete sie tief durch. »Irgendetwas hat hier stattgefunden, ja, das sagt mir mein Instinkt.«

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie, der Chief würde sich über ihre Wortwahl lustig machen, aber dann nickte er lediglich und wandte sich an die Forensiker.

»Rivers, ihr habt DI Langlois gehört«, sagte er.

»Dein Wunsch ist mir Befehl.« Rivers salutierte grinsend in ihre Richtung, doch Kate registrierte das Blitzen in seinen Augen.

Sie lächelte ihm zu, dann sah sie nach oben, in den Himmel, wo ein Turmfalke gerade waagerecht in der Luft stand und dem Wind trotzte. Faszinierende Vögel, die in den alten Befestigungstürmen rund um die Küstenlinie Guernseys nisteten. Just in diesem Augenblick ließ er sich aus seiner erhöhten Position fallen und schoss auf Beute zu. Sie sog die Unterlippe zwischen die Zähne. Hatte hier wirklich etwas stattgefunden? »Ich wüsste gern, was Walker dazu sagt.«

Detective Inspector Tom Walker war seit etwas mehr als drei Monaten ihr Partner. Frisch aus London in die Crime Unit der Guernsey Police versetzt, hatte es zwischen ihm, dem Mann aus der Großstadt, und ihr, der leidenschaftlichen Guernsey-Einwohnerin, zunächst Reibereien gegeben. Auch ihre unterschiedlichen Arbeitsweisen waren ein Streitpunkt gewesen. Doch im Laufe der gemeinsamen Ermittlungen hatte sie den klugen, wenn auch überkorrekten Tom Walker schätzen und sogar mögen gelernt. Ein gemeinsames Cider oder ein Pint im Pub nach Feierabend gehörte inzwischen zu ihren regelmäßigen Ritualen. Auch wenn mein Partner das in letzter Zeit auffallend häufig abgelehnt hat, dachte Kate.

»DI Walker hat heute frei«, informierte DeGaris sie.

»Das weiß ich. Trotzdem wäre …«

»Er hat ausdrücklich um ein störungsfreies Wochenende gebeten.«

Kate stutzte. Was war das denn jetzt? Tom Walker war Workaholic, Tom Walker konnte nicht ohne die Arbeit. Vom ersten Moment an, an dem er auf Guernsey angekommen war, hatte er sich in seine Fälle gestürzt. In dieser Hinsicht waren sie beide von Anfang an auf der gleichen Wellenlänge. Ein störungsfreies Wochenende jedenfalls war eine ganz neue Seite an ihm. Nun gut, sie würde sich arrangieren. Am Tatort reichte es, wenn sie zu zweit waren. Wenn sie mit ihrer Vermutung richtiglag, würde DeGaris ohnehin ein Team zusammenstellen müssen, mindestens vier Leute. DeGaris und sie selbst, Walker nach seiner Rückkehr und vermutlich Detective Sergeant Claire Miller. Die Kollegin hatte sie bei ihrem letzten gemeinsamen Mordfall hervorragend unterstützt. Sie war ein Organisationstalent ohnegleichen, kein Wunder vielleicht, wenn man bedachte, dass sie den anspruchsvollen Job als Polizeibeamtin mit einer funktionierenden Ehe und zwei Kindern unter einen Hut bekam.

Nachdenklich strich Kate sich eine Strähne ihrer dunklen Haare hinters Ohr. Sie waren von der Luftfeuchtigkeit gekräuselt. »Ich fahre ins Pflegeheim«, sagte sie zu DeGaris.

2. Kapitel

Garden Villa, St. Saviour

Therese Morgan wirkte fahrig, wie sie auf ihrem Schreibtisch Unterlagen ordnete, die keiner Ordnung bedurften. Immer wieder nestelte sie am Saum ihres Blusenärmels, der schon leicht abgetragen wirkte. Viel Geld war mit ihrem Job offenbar nicht zu verdienen.

Die Leiterin des Pflegeheims war klein und trug die dunklen Haare kurz geschnitten, was sie irgendwie zerbrechlich aussehen ließ. Tiefe Ringe unter den Augen unterstrichen diesen Eindruck, sie schien eine schlaflose Nacht gehabt zu haben, und Kate fragte sich unwillkürlich, ob Therese Morgan die Schicksale jedes ihrer Bewohner so mitnahm wie augenscheinlich das von Odile Davies. Kate versuchte, die kleine Frau einzuschätzen, die nun mit ihren wasserblauen Augen kurzsichtig durch eine dicke Brille blinzelte. Was wohl ihre Mitarbeiter von ihr hielten? Kate konnte sich diese kleine nervöse Person kaum als irgendjemandes Chefin vorstellen.

»Wie ist es denn genau passiert?«, fragte Therese jetzt leise, sichtlich bemüht, ihre Hände ruhig auf dem Schreibtisch liegen zu lassen.

»Der genaue Hergang wird noch untersucht«, antwortete Kate ausweichend. »Wann ist Ihnen denn aufgefallen, dass Odile Davies nicht mehr da ist?«

»Das war kurz nach fünf. Linney, also Edward Linney, mein …«, Therese schluckte schwer, bevor sie fortfuhr, »… Stellvertreter, rief mich gegen halb sechs an. Da hatten sie das Haus bereits zweimal durchsucht. Ich bin dann gleich …«

»Wer sind ›sie‹?«, unterbrach Kate. »Wer genau hat Odile Davies’ Fehlen bemerkt, und wer hat sie gesucht?«

»Das war Sarah.« Therese wirkte nun beflissen. »Sarah Gibbs, eine unserer Pflegehelferinnen. Sie wollte Odile zum Abendessen abholen. Als sie nicht in ihrem Zimmer war, hat Sarah sie zunächst selbst gesucht. Dann hat sie Linney gerufen, und sie sind gemeinsam noch einmal das gesamte Heim abgelaufen.«

»Gibt es Kameras, auf denen man sehen kann, wie Ms Davies das Haus verlässt?«, hakte Kate ein. Damit hätten sie eine konkrete Uhrzeit, was die Nachverfolgung um einiges erleichtern würde.

»Oh.« Diese Möglichkeit ging Therese offenbar erst jetzt auf. »Wir … nein, leider nicht.« Es schien, als wollte sie noch etwas erklären, doch dann senkte sie den Blick auf ihre Hände, deren Finger erneut zuckten, und sagte lediglich: »Wissen Sie, eigentlich haben wir im Blick, wer wann das Haus verlässt. Aber man kann nicht immer … Und wir können unsere Bewohner ja nicht einsperren.«

Unwillkürlich nickte Kate. Als Polizistin wusste sie, was Freiheitsentzug bedeutete, und hier ging es um Menschen, deren einziges »Vergehen« darin bestand, ihr Gedächtnis zu verlieren. Nein, man konnte sie nicht einsperren, da war sie voll und ganz auf Therese Morgans Seite.

»Wann haben Sie oder einer Ihrer Mitarbeiter Odile Davies zum letzten Mal gesehen?«, fuhr Kate mit ihren Fragen fort.

»Nach dem Mittagessen hat Odile ein wenig Musik gehört, über Kopfhörer in einem Sessel bei uns im Gemeinschaftsraum. Bei dem Regen gestern konnte sie nicht in den Garten.« Therese suchte auf dem Schreibtisch nach einem schmalen Etui und wechselte ihre Brille gegen eine kleinere aus, die sie weit nach unten auf die Nase schob. Sie klickte auf ihrem Computer etwas an und las vor: »Gegen fünfzehn Uhr wollte sie dann auf ihr Zimmer. Es liegt ebenfalls im Erdgeschoss, und Sarah hat sie dorthin begleitet.« Therese nahm ihre Brille ab. »Sie war müde, alle dachten, sie wollte sich einen Moment hinlegen. Erst als Sarah dann später …« Sie brach ab.

Kate konnte sich die Aufregung vorstellen. »Hatte sie Besuch?«

»Odile?« Thereses Mund formte ein erstauntes, lautloses »Oh«, dann fing sich die Leiterin wieder. »Nein, keinen Besuch. Odile hatte nie Besuch.«

»Nie?« Kate war überrascht. Die alte Frau hatte keine Angehörigen, das hatte Police Constable Knight schon gesagt. Aber auch keine Bekannten? Niemanden, der ihr im Alter einen Besuch abstattete?

Therese klickte weitere Male und schüttelte dann entschieden den Kopf. »Sie war ziemlich allein.«

»Hat sie mal jemanden erwähnt? Von jemandem gesprochen?«

Therese Morgans Blick huschte zum Fenster. »Nein.«

»Das war jetzt gelogen«, sagte Kate freundlich.

Therese schrak zusammen und errötete. Ihre Stimme überschlug sich, als sie hastig stammelte: »Von niemandem, der sie jetzt noch besuchen könnte. Erinnerungen, das ja, aber es gab niemanden, den sie … Es waren Personen aus einem früheren Leben.«

»Von wem hat sie gesprochen?«

Therese wand sich. »Von Freunden aus Kindertagen«, sagte sie. »Von ihren Eltern. Menschen mit Demenz … Sehen Sie … Um ehrlich zu sein, haben wir darüber nachgedacht, sie in einem geschlossenen Heim unterzubringen«, sagte sie schließlich. »Es war nicht das erste Mal, dass Odile verschwunden ist.«

»Ja, davon habe ich gehört. Im Sommer, richtig?«

»Ja. Da ist sie mit dem Bus nach St. Peter Port gefahren. Der Fahrer hat eine verwirrte Frau gemeldet, und so war sie nach einer knappen Stunde wieder wohlbehalten bei uns.«

»Eine knappe Stunde.« Kate beobachtete die Heimleiterin. »Haben Sie damals ihr Fehlen bemerkt?«

Zupfen, Therese blickte auf ihre Hände. »Nein.«

»Wo wollte sie damals hin?«

»Wo sie immer hinwollen. Nach Hause.« Therese seufzte traurig. »Stellen Sie sich ein Bücherregal vor. Hier.« Sie stand auf und stellte sich neben den Schrank hinter ihrem Schreibtisch, der verschiedene Ordner enthielt, alle von Hand beschriftet. In Therese Morgans Verwaltung war Technik offenbar noch nicht in jeden Winkel eingezogen. »Stellen Sie sich vor, das hier ist ein menschliches Leben, ein Ereignis nach dem anderen.« Sie deutete auf die Reihe der Ordner, zehn, zwölf Stück nebeneinander. »Und Ihre Erinnerung, Detective, ist klar. Sie wissen, wo Sie zur Schule gegangen sind, erinnern sich an die Abschlussfeier, ans College, den ersten Tag bei der Arbeit.« Therese zog einen der Ordner heraus. »Ein Mensch mit Demenz vergisst. Plötzlich weiß man nicht mehr, wie man den gestrigen Tag verbracht hat. Dann erinnert man sich nicht mehr an die Beerdigung des Ehemannes.« Sie zog einen weiteren Ordner heraus, dann einen in der Mitte, wodurch ein vierter bedrohlich kippte. »Es entstehen Lücken. Manches wird ganz vergessen, manches wird verwechselt, anderes verblasst, manchmal schieben sich zwei Ereignisse im Gedächtnis übereinander. Die Erinnerungen, die Menschen mit Demenz am längsten bleiben, sind die, die schon am längsten im Gehirn sind.« Therese zeigte auf die ersten Ordner in der Reihe, die als einzige noch stabil nebeneinander standen. »Deshalb erzählen sie auch so gern von ihrer Kindheit und Jugend. Daran erinnern sie sich noch, da fühlen sie sich sicher.« Die Heimleiterin sah Kate erwartungsvoll an. In diesem Moment wirkte sie keineswegs verloren, keine Spur von Unsicherheit war mehr zu sehen, Therese blühte in ihren Erklärungen regelrecht auf.

Kate musterte sie interessiert. »Das heißt«, schlug sie den Bogen zu ihrer Frage, »Ms Davies wollte auch dieses Mal nach Hause? Hat sie denn in der Nähe der Petit Bot Bay gelebt?«

»Nähe ist auf Guernsey natürlich relativ«, sagte Therese lächelnd und setzte sich wieder. »Nein, sie stammt aus Torteval. Aber möglicherweise hat sie früher schöne Zeiten an der Petit Bot Bay verbracht.« Ihr Lächeln war traurig, als sie leise hinzufügte: »So viel geht verloren.«

»Ms Davies hat also keinen direkten biografischen Bezug zur Petit Bot Bay?« So aufschlussreich sie Therese Morgans Ausführungen auch finden mochte, Kate wollte konkrete Antworten.

»Nein. Sie ist in Les Laurens aufgewachsen.«

*

Einen Besucher für Odile Davies hatte es am gestrigen Tag nicht gegeben, das bestätigten Kate im Anschluss auch die Pflegerin Sarah, eine rundliche Rothaarige mit Stupsnase, sowie Thereses Stellvertreter Edward Linney. Er war offenbar älter als die Heimleiterin, und seine grauen Schläfen und der hohe Wuchs verliehen ihm eine natürliche Autorität, die seine verhuschte Chefin in den Schatten stellte. Kate fragte sich flüchtig, ob es zwischen den beiden Animositäten gab.

»Sie haben Ms Davies am Nachmittag betreut?«, wandte Kate sich zunächst an die Pflegerin. »War etwas anders als sonst?«

»Nein, nichts. Ich … Ich hatte nicht viel Zeit«, entschuldigte Sarah sich. »Mr Oakley musste auf die Toilette, und Mrs Gill war sehr aufgeregt. Sie hat angefangen zu schreien und … Ich habe Ms Davies nur schnell beim Umziehen geholfen und …«

»Moment«, unterbrach Kate. »Sie hat sich umgezogen? Warum? Weil sie sich hinlegen wollte?« Und dafür hatte sie nach einem Nachthemd oder Pyjama verlangt? Kate war davon ausgegangen, dass Odile Davies ein Nickerchen von ein paar Minuten gemacht hatte, vielleicht in einem Sessel, so, wie ihr eigener Großvater es liebte.

»Sie hatte Kaffee über ihrer Bluse verschüttet. Und mit einem Fleck konnte sie unmöglich den Rest des Nachmittags leben. Nicht Ms Davies.« Jetzt lächelte Sarah leicht trotz der Tränen, die in ihren Augen schimmerten.

»Ihr Aussehen war ihr immer wichtig«, ergänzte Linney. »Ms Davies war jede Woche beim Friseur, zum Waschen und Legen.«

Das passt zu dem Kleid und der Schminke, dachte Kate. »Sie hat ihre Haare nicht selbst gewaschen?«, hakte sie nach.

»Arthritis«, erklärte Linney. »Sie konnte ihre Hände kaum bewegen.«

Kate erinnerte sich an die seltsam gekrümmten Finger der Toten.

»Ich hatte keine Zeit«, wiederholte Sarah unglücklich. »Sie war deswegen unzufrieden, denn sie wollte unbedingt dieses eine Kleid anziehen, davon war sie nicht abzubringen, aber ich hatte es falsch geknöpft.« Sie seufzte. »Aber dann hat Mrs Gill ihr Geschirr heruntergeworfen, ich habe es bis in Ms Davies’ Zimmer gehört. Und so habe ich nur schnell gemacht und ihr gesagt, ich komme gleich wieder. Und dann … und dann bin ich nicht wiedergekommen. Nach mir hat niemand sie gesehen, niemand hat noch ihr Kleid knöpfen können, obwohl es ihr doch so wichtig war.« Die letzten Worte gingen in einem Schluchzer unter. »Als sie mir wieder eingefallen ist, war es schon beinahe Zeit für das Abendessen.« Sarahs hellblaue Augen wirkten riesig in ihrem Gesicht. »Wenn ich eher an sie gedacht hätte, wäre sie jetzt wahrscheinlich noch am Leben.«

»Das weißt du doch gar nicht.« Edward Linney drückte sanft ihre Schulter. »Du hast dein Bestes getan.«

»Aber was, wenn …«

»Aber was, wenn Mrs Gill etwas passiert wäre? Mr Oakley? Sarah, du kannst dich nicht dreiteilen. Mach dir keine Vorwürfe«, sagte er weich.

Aus einem Zimmer rief jemand lautstark nach einer Pflegerin, während Kate schweigend zusah, wie Linney einen Arm um seine Mitarbeiterin legte und sie mit leisen Worten tröstete. Freundlich, beinahe freundschaftlich. Sie schienen ein gutes Verhältnis zu haben, die beiden. Kate musste an sich und DeGaris denken. Auch er hatte ein Gespür dafür, was sein Team brauchte. Und selbst wenn der Chief nicht der Typ für belanglose Worte war, so hatten seine Ratschläge Kate schon oft aufgemuntert.

Sie reichte Sarah ein Taschentuch, die es dankbar entgegennahm. Die Pflegerin hatte keinen einfachen Job, und wie zur Bestätigung ertönten schon wieder die Rufe, lauter diesmal. Nach der letzten halben Stunde zu urteilen, die Kate hier in der Garden Villa verbracht hatte, sah es in den Pflegeheimen kaum anders aus: Sarah musste am besten an drei Orten gleichzeitig sein, überall Bedürfnisse und Wünsche erkennen und dabei stets Empathie und Mitgefühl für ihre Patienten zeigen. Kate hatte großen Respekt vor jedem, der im Gesundheitswesen arbeitete, hautnah erlebte sie durch ihre Mutter, die Krankenschwester war, die Zustände mit.

Sarah schob das Taschentuch in die Seitentasche ihrer rot-weißen Pflegekluft, hob den Blick und fragte: »Brauchen Sie mich noch?«

»Nein, im Moment nicht.« Kate wollte der jungen Frau ihre Arbeit nicht noch schwerer machen, als sie ohnehin schon war. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bei uns.«

Sie blickte der Pflegerin hinterher, als sie den Flur hinuntereilte.

»Ich würde mir gern Odiles Zimmer ansehen«, wandte Kate sich an Linney. »Und vielleicht können Sie mir dann Ihre Version des gestrigen Tages erzählen.«

*

Das Erste, was ihr auffiel, war der Geruch: Hatte es im Flur noch nach Essen gerochen, schlug ihr in Odiles Zimmer ein schwerer Lavendelduft entgegen. Vermutlich besaß Odile Wäschesäckchen mit Lavendel, dessen Duft den gesamten Raum ausfüllte.

Ein Pflegebett stand links an der Wand, ein Sessel und ein Tisch rechts neben dem Fenster. Sonst gab es noch einen Schrank und einen Fernseher, dessen Fernbedienung Kate auf den ersten Blick nicht entdecken konnte.

»Er ist schon länger kaputt«, sagte Linney, der in der Tür stehen geblieben war. »Odile hat ihn aber ohnehin nicht benutzt.«

Womit hatte die alte Frau sich die Zeit vertrieben? Kate widerstand dem Drang, mit den Fingern über den Tisch zu streifen oder den Sessel zu berühren. Auf dem Nachttisch standen ein Telefon, ein kleiner Spiegel und ein Flakon mit Parfum, Lavendel. Daneben lag eine nachtblaue Schatulle mit zahlreichen Schmuckstücken, darunter ein Ring mit einem violetten Stein, passende Ohrringe, eine Kette mit einem rosafarbenen Anhänger, einem Medaillon. Ein altes Foto darin, vielleicht von Odiles Vater. Über dem Bett hing ein gerahmtes Bild hinter Glas, eine helle Landschaft mit Sonnenblumen, die Kate an eine romantische Ader der alten Frau denken ließ, auch wenn die Farben des Bildes, das dominierende Sonnengelb und Orange so gar nicht zu dem allgegenwärtigen Lavendel und Odile Davies’ in Rosé- und Blautönen gehaltenem Schmuck zu passen schien.

»Sie hat gern im Sessel gesessen und das Bild betrachtet«, berichtete Linney, der ihrem Blick gefolgt war.

Das konnte Kate sich gut vorstellen. Sie öffnete den Kleiderschrank und musste beinahe husten, so stark schlug ihr der Lavendelgeruch hier entgegen. Säckchen um Säckchen lag auf der Ablage über einer Kleiderstange. Odile Davies musste den Duft wirklich gemocht haben. Darunter hingen ordentlich nebeneinander aufgereiht Kleider. Blau, Lila und Rosa waren eindeutig ihre Lieblingsfarben. Passend zum Lavendel, dachte Kate. Ein kleiner Einblick in ihr Leben, wie es einmal gewesen war. Sie schloss die Schranktür wieder und wandte sich an Linney. Es gab Fragen zu stellen, konkrete Punkte auf ihrer Liste abzuhaken.

»Gibt es ein Testament?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Linney. »Sie hatte einen vom Gericht bestellten Betreuer. Wenn, dann hat er sich darum gekümmert.«

Natürlich, Odile hatte keine Besuche, keine Freunde, keine Bekannten gehabt, aber jemand musste medizinische und andere Dinge für sie klären. Allein konnte sie es ja nicht. »Ist er das?«, fragte sie und deutete auf die Visitenkarte, die mit einer Klammer an dem kleinen Spiegel befestigt war. Thomas Harwood, Rechtsanwalt.

»Harwood, genau.« Edward Linney nickte. »Ich habe ein paarmal mit ihm zu tun gehabt.«

Erneut ließ Kate ihren Blick streifen, durch dieses lavendelduftende Sonnenblumenzimmer, und fragte sich, wer Odile Davies gewesen war. Eine Frau, die offenbar Blumen liebte, die auch im hohen Alter Wert auf ihr Äußeres legte, die auf der ganzen Welt keinen einzigen Freund gehabt zu haben schien.

Ob sie oben an den Klippen auch ganz allein gewesen war? Allein gestürzt, allein gestorben? Kate fröstelte. Ob das je besser wird?, fragte sie sich wie so oft. Sie hatte sich ihren Beruf ausgesucht, konnte sich nicht vorstellen, je etwas anderes zu tun, und dennoch … Die Enge in der Brust, wenn sie von den Schicksalen der Opfer erfuhr, spürte sie jedes Mal aufs Neue.

Kate ließ ihren Blick erneut durch den Raum gleiten, blieb am Kleiderschrank hängen. Warum hatte Odile dieses Kleid anziehen wollen, für wen hatte sie sich geschminkt? Wirklich nur für sich? Kate wünschte sich, jemanden von der Spurensicherung hier zu haben, jemanden, der Fingerabdrücke nehmen und Kleidungsfasern bestimmen konnte. Sie brauchte Rivers. Wenn sie noch einen Hinweis, ein Indiz finden würde …

»Können Sie das Zimmer abschließen?«, wandte sie sich an Linney. »Ich möchte, dass es in den nächsten Tagen nicht betreten wird.«

»Die Zimmer werden regelmäßig geputzt.«

»Ich bin sicher, unter den gegebenen Umständen kann man eine Ausnahme machen«, sagte sie freundlich, aber bestimmt. Sie würde nicht zulassen, dass eventuelle Spuren verwischt wurden, nur um den Putzplan eines Pflegeheims nicht durcheinanderzubringen.

Linney wirkte perplex, zog dann aber einen Schlüsselbund aus seiner Tasche.

»Ich denke, für den Augenblick bin ich hier fertig. Jetzt freue ich mich auf Ihre Version der Geschichte.«

Nachdem Linney zweimal abgeschlossen hatte, bedeutete er Kate, ihm den Flur hinunter zu folgen. Er steuerte auf eine kleine Leseecke neben dem Eingang zu, offenbar besaß er kein eigenes Büro.

»Sarah und ich haben Odile im Haus gesucht, aber nicht gefunden. Dann wurde Sarah im Haus gebraucht, wie jetzt auch«, begann er von den Ereignissen tags zuvor zu erzählen. Er setzte sich in einen der Sessel, stützte die Arme auf die Knie und lud Kate mit einer Geste ein, ebenfalls Platz zu nehmen. Die Sitzmöbel hier waren mit abwaschbarem Plastik bezogen, und Kate konnte sich vorstellen, weshalb. Vorsichtig nahm sie Platz und musterte Linney.

Sie konnte in ihm nicht lesen: Er wirkte offen, freundlich, begegnete den Menschen mit Wärme und Ehrlichkeit, so schien es. Doch sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass seine Anteilnahme eine Maske war. Eine Maske, vielleicht um sich zu schützen, sein Beruf war sicher nicht einfach. Seine Chefin Therese Morgan hingegen flüchtete sich in die Distanz, das war Kate schon aufgefallen.

»Deshalb habe ich schließlich Therese angerufen«, fuhr er fort. »Wir beide sind den Garten abgelaufen und die Straße. Nichts. Therese ist dann noch weitergelaufen, mitten in der Nacht auch zum Naturschutzgebiet, St. Saviour’s Nature Reserve. Sie hatte große Angst, dass Odile dort ertrunken sein könnte.«

Kate horchte auf, das war doch sehr spezifisch. »Gab es einen Grund dafür?«, hakte sie nach.

»Therese ist immer panisch, wenn es um unsere Bewohner in der Nähe von Wasser geht. Strandausflüge im Sommer sind jedes Mal eine Kraftanstrengung.«

»Hat sie schlechte Erfahrungen damit gemacht?«

Linney zuckte die Schultern. »Das müssen Sie sie selbst fragen.«

Kate musterte ihn. Sie hatte den Eindruck, dass er sehr wohl mehr wusste, als er zugab, und machte sich eine Notiz, noch einmal nachzuhaken. Sowohl bei Therese als auch in alten Unfallberichten.

»Wie lange ungefähr haben Sie nach Odile Davies gesucht?«

»Alles in allem dürften es ungefähr anderthalb Stunden gewesen sein, bevor wir die Polizei eingeschaltet haben.«

Das passte: Police Constable Knight hatte ihr berichtet, dass der Anruf um achtzehn Uhr zweiundvierzig eingegangen war. Ein Streifenwagen war in die Garden Villa geschickt worden, dort hatten sie auch das Foto von Odile erhalten. Kate würde noch einmal nachfragen, ob den beiden Polizisten dort etwas aufgefallen war.

»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«, wandte sie sich wieder an Linney.

Ein alter Mann in einem Rollstuhl wurde von einer Pflegerin vorbeigeschoben. Sein Mund wirkte eingefallen, wahrscheinlich besaß er kaum noch Zähne. Er war hager, mit Altersflecken auf den blassen Armen.

»Fünfundzwanzig Jahre«, beantwortete Linney ihre Frage. »Hey, Mr Darington, alles klar?«, wandte er sich gleich darauf an den alten Mann, der mit trübem Blick zur Leseecke sah.

»Alles klar«, krächzte dieser undeutlich.