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Hossíek will sich in der Armee des Königs von Ustjunis beim Kampf gegen die Eindringlinge aus dem Norden bewähren. Mit seinen Freunden zieht er aus, um das Schwert des Sagenhelden Thoig des Durstigen zu finden. Doch nicht nur sie haben es auf die mächtige Waffe abgesehen. Wird es ihnen gelingen, die von allen Seiten andrängenden Gegner zu überwinden? Rusela hat dem Kämpfen abgeschworen und hütet friedlich die Ziegen aus ihrem Dorf in den Bergen. Doch im Frühling gibt das ewige Eis die Überreste eines lang verstorbenen Kriegers mit seinem Schwert frei. Nun beginnt ihr Kampf, um ihrer Familie und der ganzen Gemeinschaft den Frieden zu sichern. Tschurnas Myklopolje hat im Pilgerorden der Cantavuri schnell Karriere gemacht. Im entlegenen Königreich Ustjunis handelt sie mit Huttakorn und anderen guten Dingen, als eine düstere Armee aus dem Norden einmarschiert. Wie viel ist ihr Schwur, im Namen der Götter zu helfen, wo es nötig ist, tatsächlich wert? Und kann sie ihre Geliebte aus den aufflammenden Wirren retten? Fantasy-Abenteuer mit sagenhaften Helden, prophetischen Träumen und Fledermauskacke
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
I
Erster Traum
II
Zweiter Traum
III
IV
V
Vierter Traum
VI
Fünfter Traum
VII
VIII
Sechster Traum
IX
X
XI
Siebter Traum
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
Achter Traum
XIX
XX
XXI
Neunter Traum
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
XXVII
XXVIII
XXIX
XXX
XXXI
XXXII
XXXIII
XXXIV
XXXV
Mehr Lesestoff
Kürzeres für zwischendurch
Impressum
Sie waren umzingelt. In einen Hinterhalt der Räuber geraten. Wie hätte Hossíek das vorhersehen sollen? Jetzt war es ohnehin zu spät, darüber nachzudenken. Sie mussten sich den Weg freikämpfen.
Tjemmo Repete hatte sein Pferd schon gewendet und stürmte auf die vermummten Gestalten ein, die den Hohlweg versperren wollten. An seiner Seite konnte Hossíek nicht bleiben, zwischen den königstreuen Reitern und der Böschung drängten sich weitere Feinde. Aber das waren keine Räuber, sondern kleine, gräulich-grüne Geschöpfe, die blitzschnell hin und her sprangen. Er hieb blindlings auf sie ein, um sie von Tjemmo Repete fernzuhalten.
Ob Tar Sinon, Guwar Ziemhurst und Jiesche Kojarn hinter ihm etwas taten, konnte er nicht feststellen. Auch von dort regnete es Hiebe und Steine und Gebrüll. Pferde bäumten sich auf und keilten aus.
Etwas knallte gegen Hossíeks Helm. Ihm wurde schwarz vor Augen. Sein Arm gehorchte ihm nicht mehr, und die Welt drehte sich um ihn.
* * *
Hossíek hielt sich mehr schlecht als recht im Sattel. Jeder Schritt seines Pferdes kam als dumpfer Schlag in seinem Kopf an. Sein ganzer Körper schien nur noch aus Schmerz zu bestehen.
Wie lange musste er das noch aushalten? So weit konnte es nicht mehr sein zum sicheren Haus im Bodrawer Moor. Dorthin waren sie doch unterwegs, oder?
Seinen Begleiter nahm Hossíek kaum wahr. War das Tjemmo Repete? Oder einer von den anderen, den Räubern von der Landstraße?
Da stieg mit einem Mal das Pferd dieses Reiters. Hossíeks eigenes Reittier tänzelte – wieder ein paar schmerzhafte Stöße für seinen Kopf.
»Was ist los?«, fragte Hossíek.
»Ich hab uns angemeldet.« Also doch Herr Repete. Was er wohl damit meinte?
Endlich hörte das Stoßen in Hossíeks Kopf auf. Wie aus weiter Ferne hörte er Herrn Repete mit jemandem sprechen. Mit einer Frau. Kannte er die Stimme?
* * *
Als Hossíek wieder zu sich kam, lag er auf einem schmalen Bett. Neben ihm saß eine ältere Frau, die Haare streng in den Nacken gekämmt, am Kragen das Blumenemblem der milden Königin Selbat.
Tante Jatizia, die Dienstälteste im Feldlazarett.
»Bist du wieder wach, Junge?«, fragte sie.
Das war die Stimme, die er im Hof gehört hatte.
Hossíek versuchte, etwas zu sagen. Das war besser, als zu nicken. Aber er brachte keinen Ton heraus.
Die Heilerin hielt ihm einen Becher an die Lippen und wollte ihm etwas einflößen. Grauenhaft bitter.
»Ja, ich weiß, wie das schmeckt. Aber es hilft.« Tante Jatizia setzte den Becher erneut an.
Widerstrebend trank Hossíek ein paar Schlucke. Das genügte. »Dann bin ich in Sicherheit?«
»Ja, du bist in Sicherheit. Herr Repete und Tar Sinon haben die Räuber und das andere Lumpenpack geschickt abgehängt.«
Hossíek dämmerte in einen tiefen, traumlosen Schlaf hinüber.
In der Dunkelheit der Nacht glomm ein winziger heller Fleck auf. Er wurde größer, nahm Konturen an, formte scharfe Kanten, eine weiße Spitze. Darunter breitete sich Grau aus, bis es in Grün überging. Auf dem schneebedeckten Berggipfel wurde eine Gestalt erkennbar, ein Ritter in glänzender Rüstung. Seine mit Eisen bekleideten Fäuste umfassten den Griff eines Schwertes, als ob er sich darauf stützte. Erwartungsvoll schaute er in die Ferne.
Dort verschwamm die Dunkelheit in einem nebligen Grau, das keine Formen erkennen ließ. Der Krieger drehte sich langsam um und hielt in alle Richtungen Ausschau. Da schälte sich aus dem Nebel eine Gestalt mit langem Hals und riesigen, ledrigen Schwingen. Lautlos näherte sie sich dem Krieger, der immer kleiner wurde, bis er im Boden zu versinken schien. Nur sein Schwert lag noch im Schnee. Dann verschwand auch die Waffe nach und nach. Ein kreuzförmiger Abdruck markierte die Stelle, wo sie gelegen hatte.
Während der graue Nebeldrache seine Runden um den Berg drehte, färbten sich seine Schuppen dunkler, sein Umriss wurde schärfer. Hörner und Krallen zeigten sich klar und bedrohlich. Der Drache wandte seine Aufmerksamkeit einem anderen Berg zu, auf dem eine Stadt im Sonnenlicht funkelte wie ein Edelstein. Das Untier stieß darauf hinab und verdeckte alles Helle mit seinen gewaltigen Schwingen.
Auf dem Berg lag noch immer still der kreuzförmige Abdruck des Schwertes im Schnee.
Lange zog der Drache seine Kreise um beide Berge. Doch dann fiel ein Sonnenstrahl an seinen Schwingen des Drachen vorbei, und das Licht brach sich in den Schneekristallen.
Aber die glitzernden Farben drangen nicht durch den Nebel. Sie konzentrierten sich in einem Ball. Er rollte über den Schnee hinab, und dahinter erhob sich das Gesicht des Kriegers. Seine Hände griffen nach dem Schwert, durch den Schnee, in dem es sich abzeichnete.
Der Nebel verdichtete sich zu scharfen Krallen und Zähnen, packte den umherrollenden Ball und zerriss ihn in tausend Fetzen. Sie wirbelten umher, saugten das Grau auf und landeten als breiter grauer Hut auf dem Schnee. Darunter kam ein Kopf zum Vorschein. Neben dem breit grinsenden Gesicht schob sich eine Hand nach oben, und daran zog sich ein Mensch aus dem Schnee. Einen Augenblick stand er breitbeinig auf der weißen Fläche. Dann sprang er herum und griff nach jedem Sonnenfunken, der es an den Drachenschwingen vorbei schaffte. Den ersten, den er zu fassen bekam, zog er herab zu dem Krieger, dessen Kopf noch im Schnee lag. Gelbes Licht strahlte auf ihn. Sein Körper gewann Form, eine Hand löste sich aus der weißen Decke.
Der Tänzer mit dem grauen Hut reichte dem Krieger die Hand und zog ihn auf die Beine. Das gelbe Licht verfolgte sie, und gemeinsam griffen sie nach dem Abdruck des Schwertes. Langsam hoben sie es auf. In ihren Händen und im Licht wurde es fester. Mit dem funkelnden Schwert drehten sie sich um und zeigten auf den Menschen, der da träumte. Hier ist dein Schwert. Komm und hol es dir.
Das Lager des jungen Königs Lundin und seiner Truppen war rund um die kleine Burg Greifenhorst herangewachsen, von der aus der König und seine Verwandten in früheren Zeiten auf die Jagd gegangen waren. Sie lag in einem abgeschiedenen Tal, das mit einer schnell errichteten Palisade einigermaßen gut gesichert wirkte. Dahinter standen Zelte für die Soldaten und Werkstätten, um sie mit dem Nötigen zu versorgen.
Tjemmo Repete ging, nachdem seine Wunden im Lazarett versorgt worden waren, zu Oberst Aelio, um sich von seinem erfolgreichen Einsatz zurückzumelden. In diesem Teil des Lagers gab es mit Sicherheit gutes Essen und entsprechenden Wein. Der Oberst stammte aus Slatrien und kannte die richtigen Kanäle für Nachschub an Wein und Käse aus der hügeligen Provinz. Selbst das Lazarett, die Ausrüstung und die Belegschaft hatte er von dort organisiert.
Wie erwartet wurde in der Lagerküche eifrig gesotten und gebraten. Als ihn die Düfte überfielen, wurde Tjemmo Repete erst richtig bewusst, wie müde und hungrig er war. Vielleicht sah man es ihm auch an, jedenfalls drückte ihm eine der Köchinnen einen Pfannkuchen in die Hand, als er schnuppernd stehen blieb. Seine Hände zitterten, obwohl sie nur einen dünnen Teigfladen heben mussten.
Er raffte sich auf und ging weiter zu Oberst Aelios Zelt. Dieser erwartete ihn nicht allein. Bei ihm am Tisch saß Oberste Weann von den Armbrustschützen, eine schmale, hochgewachsene Frau, deren graublonde Haare vom Kopf abstanden wie die Stacheln eines Igels.
»Ich sehe, Ihr habt schon eine kleine Vorspeise bekommen«, stellte der Oberst zufrieden fest, als Tjemmo eintrat. »Aber nehmt Platz und bedient Euch. Es wird auch noch Huttabrei geben. Sogar mit Fleischeinlage, wie ich höre.« Er verzog das Gesicht.
Tjemmo ließ sich trotzdem nicht zweimal bitten. Sie waren in einem Feldlager. Welche Festmähler erwartete der Oberst an einem alltäglichen Abend?
»Habt Ihr, was Ihr uns bringen wolltet?«, fragte Oberste Weann, kaum dass er sich gesetzt hatte.
»Jawohl, Oberste«, antwortete Tjemmo. »Was ich bei den Slatrern gesehen habe, macht Hoffnung.« Er griff in seine Tasche und legte eine Reihe unscheinbarer Armbrustbolzen vor sie auf den Tisch. Ein kaum erkennbares Spiralmuster zeigte, dass sie wohl alle aus derselben Werkstatt stammten.
Die Oberste griff nach einem Bolzen, um ihn in Augenschein zu nehmen. »Und das Original von Emjanarg ist wirklich dabei?«
»Man hat mir versichert, dass alle sechs aus seinem Besitz stammen, Oberste.«
Oberst Aelio lachte laut los. »Ich habe Euch doch gesagt, die Dinger gibt es wie Heu.«
Oberste Weann schüttelte leise den Kopf und fragte weiter: »Was verlangen die Slatrer für ihre Hilfsbereitschaft?«
Tjemmo Repete zuckte die Schultern. »Dass wir Schuiver und seine Schergen zurückschlagen, bevor er in ihre Berge vordringt.«
»Das haben wir ohnehin vor«, meinte der Oberst. »Die Frage ist nur, ob uns diese Dinger dabei helfen.«
Oberste Weann schnaubte. »Ihr habt ja keine hohe Meinung von Euren Landsleuten. Ich werde die Bolzen prüfen und dann den König informieren.«
Während die beiden über Sagen und Helden der verschiedenen Provinzen diskutierten, nahm sich Tjemmo Käse und weitere Pfannkuchen dazu. Ein Bursche schenkte ihm einen halben Becher Wein ein. Gestärkt konnte er dann ausführlicher von seiner Reise nach Slatrien berichten. Als er an das wenig erfreuliche Ende dachte, fragte er: »Gibt es für die jungen Leute vom Bodrawer Moor vielleicht eine Aufgabe weiter entfernt von der Front?«
»Meint Ihr Junker Hossíek? Was hat er denn diesmal wieder angestellt?«, fragte der Oberst.
»Genau den. Er ist in eine Falle geritten, die so offensichtlich war ... Der kleine Tar Sinon hat ihn sogar noch gewarnt. Man könnte meinen, der Junge versteht, was die Füchse im Unterholz bellen. Jedenfalls sind er und die anderen jungen Leute mit in die Falle gegangen, Ihr wisst schon, Guwar Ziemhurst, Jiesche Kojarn ...«
Oberst Aelio nickte seufzend. »Tja, als wir noch jung waren, da sind wir mit Freunden auf die Jagd geritten oder haben Feldball gespielt. Und natürlich den Schwestern der anderen den Hof gemacht ...«
»Käme von Jungfer Jiesche sicher gut an«, unterbrach ihn Weann. »Außerdem war da noch Frieden. Heute machen Schuivers Schergen Jagd auf alles, was sich in Wald und Flur bewegt. Da bleibt keine Zeit für Spiele.«
»Nein, das ist blutiger Ernst«, murmelte Aelio. »Aber Ihr seid davongekommen ...« Es klang wie eine Frage.
Tjemmo nickte. »Tar Sinon und seine tollen Einfälle. Wie schnell der da ein Verhau aus Dornengestrüpp und Brennnesseln hochgezogen hat ... Das waren außerdem nur Wegelagerer, die sich bereichern wollten. Noch ein paar Kobolde dabei, aber keine geübten Soldaten.« Er seufzte und schaute mit finsterem Gesicht in die Ferne.
Der Bursche trug den versprochenen Huttabrei auf. Der Oberst hob seinen Becher. »Bring uns noch etwas von dem guten Wein dazu, um das alles zu vergessen.«
* * *
Hossíek erwachte früh am Morgen, als Sonnenlicht durch die Zeltplane fiel. Sein Kopf fühlte sich dumpf an, wie nach einer durchzechten Nacht. Die quälenden Schmerzen waren verschwunden. Er bewegte prüfend seine Glieder. Sie schmerzten noch, aber deutlich weniger als gestern.
Vorsichtig setzte er sich auf. Nein, das war es noch nicht. Liegenbleiben.
Kurz darauf brachte ihm Tante Jatizia das Frühstück. Haferschleim und dünner Kräutertee.
»Und davon soll ich wieder zu Kräften kommen?«, fragte er. »Bringt mir Wurst und Käse und ein anständiges Brot, oder wenigstens Huttabrei.«
»Wir haben Krieg, junger Mann, wir müssen mit unseren Vorräten haushalten«, entgegnete die Heilerin. »Hutta aus Gdeto kommt kaum noch durch ...«
Die Alte musste ihm nicht auch noch Nachschubtaktik erklären. »Je schneller ich wieder ausreiten kann, desto eher wird der Krieg zu Ende sein.«
»Ja, du bist der reine Thoig, nur nicht so durstig.« Sie nahm den halb vollen Becher mit dem bitteren Gebräu vom vergangenen Abend mit hinaus.
Den Haferschleim ließ sie ihm.
Als er sich von der darauffolgenden Übelkeit erholt hatte, blieb ihm immer noch nicht viel zu tun. Er musste wissen, was draußen vor sich ging. Ob das brisante Paket aus Slatrien sicher im Lager eingetroffen war. Wo Schuivers Schergen sich versteckt hielten. Wie überhaupt die Lage in diesem Teil von Ustjunis aussah. Es gab geheime Widerstandsnester, auch in der Hauptstadt. Vielleicht sollte er sich mit seinen Leuten dorthin durchschlagen. Oder nach Gdeto, wo die Huttalieferungen abgefangen wurden. Dort könnten sich ein paar handfeste Kämpfer wohl nützlich machen.
Immerhin konnte er sich vorsichtig bewegen. Er stellte fest, dass in dem schmalen Spind neben seinem Lager tatsächlich seine Habseligkeiten angekommen waren. Außerdem lag ein abgegriffenes Buch darin, das wohl einer seiner Vorgänger hier zurückgelassen hatte. Alte Heldensagen. Auf dem Umschlag war Thoig der Durstige zu sehen, mit dem Tante Jatizia ihn eben verglichen hatte, einen riesigen Humpen in der Hand.
Bevor er sich den Kopf zermarterte über Dinge, die er ohnehin nicht ändern konnte, wollte Hossíek lieber von anderen großen Heldentaten erfahren. Vielleicht konnte er von den Recken der Vergangenheit noch lernen.
* * *
Zu der Zeit, als in Ustjunis der gute König Immit herrschte, lebte dort auch der Held Thoig. Er war ein großer Krieger und führte Zennave, das berühmte Schwert des Wilden Landes. Mit ihm kämpfte er in der Wildnis rund um Ustjunis und schließlich auf den Bergen der Insel Osjo gegen Ungeheuer. Eines Tages wurde er vor eine Aufgabe gestellt, die er mit dem Schwert nicht lösen konnte.
Der gute König Immit schickte Thoig aus, den Ring des Zauberers Ostwald zu suchen. Diesen Ring wollte der König seiner Braut schenken, denn man sagte, dass er Glück und langes Leben bescherte.
Frohgemut machte sich der Held auf den Weg. Kreuz und quer ritt er durch das Land rund um die schon damals große und berühmte Stadt Ustjunis, bis er auf den Riesen Vonor traf. Dieser hütete in seiner Höhle in den Bergen einen großen Schatz, in dem sich auch Ostwalds Ring befand.
»Sei willkommen, kleiner Held«, sagte der Riese. »Was führt dich zu mir?«
»Ich suche den Ring des Zauberers Ostwald.«
Der Riese lachte. »Wegen dieses winzigen Dingelchens nimmst du den weiten, gefährlichen Weg durch die Berge auf dich? Dann muss es wohl sehr wertvoll sein.« Nachdenklich legte er die Stirn in Falten. »Wenn man den Ring benutzen will, muss man ihn auf den Finger stecken, habe ich recht?«
»Ihr habt es erraten, Herr Riese.«
Der Riese streckte die Hände aus. »Da, sieh dir meine Finger an. Glaubst du, darauf passt der Ring?«
»Mit Verlaub, nein«, erwiderte Thoig. »Ein Ring, der Eurer Finger würdig ist, müsste so groß sein wie mein Steigbügel.«
»Kann man den Ring dieses Ostwald so weit dehnen?«
Thoig schüttelte den Kopf. »Nicht ohne ihm viel von seiner Macht zu nehmen.«
»Du bist ein kluger kleiner Held. Aber ich kann dir nicht einfach Dinge aus meinem Schatz mitgeben. Dann käme bald jeder hier vorbei und wollte etwas abhaben.« Der Riese wiegte den Kopf, legte den Zeigefinger von einem Nasenflügel an den anderen, brummte und knurrte. Schließlich sprang er auf, dass die Erde bebte. »Ich weiß es. Wenn du mein Bruder bist, kann ich dir den Ring schenken. Also lass uns Brüderschaft trinken.«
»Mit Vergnügen«, antwortete Thoig. »Ich muss gestehen, dass der Weg hier herauf mich ein wenig durstig gemacht hat.«
Aber der Riese war schon davongestapft. Bald darauf kehrte er mit einem Humpen zurück, aus dem man ein Pferd hätte tränken können.
»Allerbester Wein vom Thenur«, sagte er. »Die erste Hälfte ist für mich, die zweite für dich.«
Der Riese setzte den Humpen an, trank zwei Schlucke von dem schweren Wein und wischte sich genießerisch über den Mund. »Da, Brüderchen, jetzt du.«
Thoig nahm den Humpen mit beiden Händen und führte ihn zum Mund. Langsam und stetig leerte er ihn bis auf den Grund. Mit dem letzten Tropfen fiel Ostwalds goldener Ring heraus. Thoig steckte ihn zu sich, dankte dem Riesen für seine Gastfreundschaft und verließ gerade und aufrecht die Höhle.
Von da an nannte man ihn »den Durstigen«.
* * *
Hossíek schüttelte den Kopf. Das war kein Held, mit dem er sich vergleichen wollte. Er war ein Kämpfer für den jungen König Lundin von Ustjunis, kein Säufer, der bei Liebeshändeln aushalf.
Von Rechts wegen sollte er schon längst Ritter sein. Nur die Wirren nach dem frechen Überfall des Thronräubers Schuiver hatten das verhindert.
Er seufzte. Höchste Zeit, dass er wieder auf die Beine kam und diesem Spuk ein Ende bereiten konnte. Aber so lange er wegen seiner Verletzung das Bett hüten musste, blieb ihm nicht viel andere Unterhaltung als dieses Buch. Vielleicht stieß er darin ja noch auf einen Ritter, den er sich als Vorbild nehmen konnte. Vorerst las er weiter von Thoig dem Durstigen.
Eine Geschichte überblätterte er. Denn auf dieser Seite war ein Bild zu sehen, das den Helden in seiner altertümlichen Rüstung auf dem Marktplatz von Gdeto zeigte. Er zerrte offenbar angestrengt an seinem Schwert Zennave, das sich nicht aus der Scheide lösen wollte. Rundum standen Würdenträger der Stadt, Krämer, Handwerksburschen und Kinder, und lachten den berühmten Krieger aus.
Davon wollte Hossíek nichts lesen. So wollte er nicht enden. Er suchte die nächste Geschichte.
* * *
In den höchsten Bergen von Osjo lebten die Haarleser. Sie folgten den Nadlag-Ziegen in die gefährlichen Schluchten, um das lange, seidige Haar zu lesen, das diesen Tieren ausfiel. Selbst damals wusste man schon, wie gut Kleidung aus dieser feinen Wolle gegen Wind und Wetter schützte.
Lange hatten die Haarleser und andere Siedler aus Ustjunis gegen die Limpviks gekämpft, die tückischen kleinen Wilden der Insel, bis sie diese endlich vertreiben konnten. Nun glaubten sie, in Ruhe ihrer ohnehin gefährlichen Arbeit nachgehen zu können.
Doch in den Bergen Osjos lebten zu jener Zeit noch andere Wesen, die den Siedlern nicht wohlgesonnen waren. Und diese waren ungleich mächtiger als die Limpviks.
Eins dieser Wesen war der Dschinu, ein gewaltiger, zottiger Bär, der hoch in den Bergen in einer Höhle lebte. In der Dämmerung verließ er sein Lager und machte sich auf zu den Ziegenherden, um sich zu mästen. Am anderen Morgen fanden die Haarleser dann die Überreste seiner Mahlzeit, die überlebenden Tiere aber waren in alle Winde verstreut und kamen nicht wieder. Es wurde immer schwieriger, ihnen nachzuklettern und ihre Wolle zu sammeln.
Tapfere Haarleser wollten bei einer Herde Nadlag-Ziegen bleiben, um den Dschinu zu vertreiben. Doch die Tiere duldeten sie nicht in ihrer Nähe, sondern liefen davon. Dafür machte sich bei Einbruch der Dämmerung der Dschinu über die Menschen her. Einer von ihnen gelangte wieder zurück in sein Dorf, um zu melden, was geschehen war.
Da wandten sich die Haarleser an den Rat der Siedler in Loracshafen, wo eine Handvoll Krämer und Bauern die Geschicke der Insel lenken wollten.
Diese hörten sich den Boten aus den Bergen an und schüttelten die Köpfe. »Ihr müsst schon selbst sehen, wie ihr zurechtkommt. Wir können euch nicht helfen.«
Da wandten sich die Haarleser an den guten König Immit zu Hause in Ustjunis, und dieser schickte den Helden Thoig, dass er das Untier mit dem Schwert des Wilden Landes erschlagen sollte.
Thoig, den man den Durstigen nennt, zog in die Berge zu den Haarlesern, wie der König ihm befohlen hatte. Denn bei seiner Wiederkehr, so war es versprochen, würde er die Königstochter zur Frau und dazu das halbe Königreich bekommen. Dafür hatte Thoig dem König lange Jahre treu gedient, nun sollte seine Mühe belohnt werden.
In den Bergen sprach er mit den Haarlesern und leerte manchen Becher mit ihnen. Als er glaubte, genug über den Dschinu erfahren zu haben, machte er sich des Morgens bereit aufzubrechen. Doch die Leute in dem Dorf, wo er genächtigt hatte, wollten ihn auf die Probe stellen. »Zeig uns, was du vermagst«, sagten sie. »Erschlag einen Luchs, der unsere Hühner und Gänse reißt.«
Also zog Thoig in die Wälder, begleitet von einem jungen Mann aus dem Dorf. Dort fand er einen wilden Luchs, dem man nachsagte, dass er sich auch an die Kinder der Menschen in ihren Wiegen heranmachte, und erschlug ihn mit dem Schwert des Wilden Landes auf einen Streich.
Der junge Mann war voll Bewunderung für diese Tat und erzählte ihm Dorf davon. Da sagten die Ältesten: »Das hast du gut gemacht. Jetzt geh und erschlag einen Wolf, der unsere Ziegen und Schafe reißt.«
Also zog Thoig in die Wälder, begleitet von einem anderen jungen Mann aus dem Dorf. Dort fand er einen einsamen Wolf, dem man nachsagte, dass er sich auch an erwachsene Menschen wagte, und erschlug ihn mit dem Schwert des Wilden Landes auf zwei Streiche.
Der junge Mann erzählte im Dorf von dieser Tat, und die Ältesten waren zufrieden. »Das hast du gut gemacht«, sagten sie. »Nun wirst du gewiss den Dschinu mit drei Streichen erschlagen.«
Am nächsten Morgen zog Thoig in die Berge, begleitet von einem dritten jungen Mann aus dem Dorf. Er führte den Helden dorthin, wo der Dschinu in seiner Höhle lauerte und kehrte ins Dorf zurück.
Am nächsten Morgen fanden die Haarleser die Nadlag-Ziegen wohlbehalten an den gewohnten Weideplätzen. Der Dschinu hatte sie offenbar nicht mehr angegriffen. Sie bereiteten ein großes Festmahl zu Thoigs Ehren. Doch auf die Rückkehr des Helden warteten die Leute an diesem Tag vergeblich. Da wuchs die Angst, dass der Dschinu gesiegt haben könnte.
Die Haarleser stellten in der Nacht Wachen auf und zogen am nächsten Morgen zu zweit aus, um die Ziegen zu suchen. Vom Dschinu fanden sie keine Spur.
Erst am dritten Tag stießen zwei junge Haarleser an einem Bachbett auf den riesigen Kadaver, erschlagen auf den dritten Streich. Nun wussten sie, dass Thoig auch über diesen Gegner gesiegt hatte. Aber der Held kehrte nicht zu ihren Hütten zurück.
Dies ist die letzte Heldentat, die uns von Thoig dem Durstigen und seinem Schwert Zennave überliefert ist. Manche sagen, der große Krieger habe den Neid der alten Götter von Osjo geweckt und sie hätten ihn schmählich untergehen lassen. Andere sagen, er streife noch immer durch die Berge der Insel und stehe als guter Geist jenen bei, die dort mühsam ihr Leben fristen.
* * *
Hossíek seufzte. Endlich war aus diesem durstigen Krieger doch noch ein Held geworden. Er verließ sich allerdings sehr auf sein Schwert Zennave, das ihm unglaubliche Kräfte verlieh.
Wenn Hossíek nur selbst so eine Waffe haben könnte. Damit müsste er Schuivers Schergen schnell besiegt haben. Dann hätte die sparsame Kriegsverpflegung ein Ende, und er könnte würdig zum Ritter geschlagen werden. Wenn er nicht hier auf dem Festland dringender gebraucht würde, könnte er direkt nach Osjo übersetzen und nach dieser wertvollen Waffe suchen. Das müsste ihm ähnlichen Ruhm einbringen, wie Tjemmo Repete für Emjanargs Armbrustbolzen gewonnen hatte.
Hossíek fühlte sich noch immer schwach und ausgelaugt, als am Nachmittag Tar Sinon zu ihm kam. Dieser sah sogar dünner aus als sonst. Trotzdem hievte er seinen Freund auf die Beine. »Komm, wir gehen ein bisschen draußen herum, bevor du an deinem Bett festwächst.«
Da hatte er natürlich recht. Hossíek bemühte sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wenn er nicht einmal gehen konnte, wie sollte er dann hinausreiten und Feinde vertreiben?
»Ist Herr Repete denn sicher angekommen mit seinem wichtigen Paket?«
»Ja, doch. Es war knapp, das hast du ja gemerkt, aber er ist mit allem, was er dabeihatte, davongekommen. Dann gab es gleich eine Geheimsitzung mit unserem Alten und der Obersten Weann.«
»Das klingt ganz, als ob da Pläne für den nächsten Angriff ausgeheckt würden.« Hossíek wusste nicht recht, ob er sich darüber freuen sollte. Es würde noch dauern, bis er wieder sein Bestes geben konnte.
»Das kann sein. Aber fürs Erste haben wir ohnehin genug zu tun. Der Zugang zum neuen Huttahafen im Süden muss freigehalten werden, und dass sich im Lyspovawald was zusammenbraut, wissen wir ja.«
Hossíek verzog das Gesicht. »Das ist doch ein Posten für so alte Veteranen wie Herrn Repete, nicht für uns.« Er gab sich Mühe, fester aufzutreten. »Wir gehören dort hin, wo die Entscheidungen fallen. Wir ...«
»Wir kennen die Gegend von hier nach Süden wie unsere Westentasche«, unterbrach ihn Tar Sinon und zog das Tempo ein wenig an. »Wir haben eure kleine Festung im Bodrawer Moor und jede Menge andere Verwandte und Freunde. Damit können wir viel mehr ausrichten als eine Hundertschaft erfahrener Kämpfer, die nicht wissen, wer hier welche Strippen zieht.«
Hossíek war noch nicht zufrieden. »Was du da aufzählst, sind Vorteile für Spione, nicht für Krieger.« Für die nächsten paar Schritte musste er die Zähne zusammenbeißen. »Wir könnten uns wenigstens den Lyspovawald vornehmen«, sagte er schließlich. »Wenn wir die Räuber dort einfach gewähren lassen, fallen sie uns irgendwann in den Rücken. Und erst recht diese Kobolde, die Schuiver schickt ...«
Tar Sinon nickte. »Genau. Sie haben es wohl vor allem auf die Huttakarawanen von der Küste zu den Städten im Binnenland abgesehen.«
»Da ist doch wildes Land, oder?«, fragte Hossíek.
»Im Wald auf alle Fälle.«
»Dann könnte man dort Zennave gut gebrauchen ...«
»Das Schwert von Thoig dem Durstigen?«
»Genau.« Hossíek nickte und erzählte, was er gelesen hatte.
Als er ausgeredet hatte, schwieg Tar Sinon eine ganze Weile. »Das wäre ja so ähnlich wie mit Emjanargs Armbrust«, sagte er schließlich langsam. »Aber bisher hat noch niemand das Schwert wieder gefunden.«
»Das müsste ja auch in Osjo sein«, erwiderte Hossíek. »Und die Osjoten sind nicht die größten Helden. Das waren sie schon zu Thoigs Zeiten nicht, und seither ist es nicht besser geworden.«
»Ja, sie sind eben kleiner als wir und werden nicht so alt«, gab Tar Sinon zu. »Aber das hindert sie nicht daran, in alle Höhlen und Schluchten in ihren Bergen zu klettern wie die Ziegen. Bestimmt haben sie das Schwert des Wilden Landes schon gefunden, wenn es auf ihrer Insel liegt.«
»Dann sollen sie es uns geben. Wir brauchen es dringender.«
Tar Sinon nickte bedächtig. »Ich glaube nicht, dass Schuiver von sich aus an der Küste haltmacht und die Inseln ungeschoren lässt. Schon gar nicht die Insel, auf der Hutta angebaut und Nadlagwolle gesponnen wird.«
»Genau, wir machen die Arbeit für sie, da sollen sie uns das Werkzeug geben.« Hossíek grinste. »Das ist doch ein guter Handel.«
»Wir müssen nur unseren Teil der Abmachung auch einhalten.« An dieser Stelle machte er kehrt. »Aber jetzt bringe ich dich wieder zurück. Ich muss weiter. Es heißt, am Weismannsfelsen wären neue Ungeheuer aufgetaucht, groß und stark wie wandelnde Bäume. Auf jeden Fall gefährlicher als die Kobolde. Da wollen wir nach dem Rechten sehen.