Das Selbst und der Andere und die Rückkehr zum Sehnsuchtsort - Michael Bühne - E-Book

Das Selbst und der Andere und die Rückkehr zum Sehnsuchtsort E-Book

Michael Bühne

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Aus vornehmlich psychoanalytischer Sicht wird untersucht, wie sich Ich, Selbst und Identität im Verlauf eines individuellen Lebens entwickeln. Verschiedene Ebenen werden betrachtet, und zwar die körperliche, die intrapsychische, die intersubjektive sowie die gesellschaftlich-kulturelle Ebene. Im Zentrum steht immer die Psychoanalyse als Theorie und in ihrer Praxis als Therapie. Als Therapieform nimmt sie in besonderem Maße Einfluss auf das Identitäts- und Selbstgefühl eines Menschen. Die Einführung in psychoanalytisches Denken berücksichtigt sowohl Freuds klassische Triebtheorie als auch wichtige Neuerungen der letzten Jahrzehnte mit ihren relationalen bzw. intersubjektiven und auf der Mentalisierungstheorie basierenden Ansätzen. Das Hauptanliegen des Autors ist es, einen kritischen Blick auf die Psychoanalyse und ihre Überinterpretationen zu werfen. Studenten und Ausbildungskandidaten der Psychotherapie und allen tiefenpsychologisch interessierten Lesern möchte der Autor vermitteln, zu welcher abschließenden Einstellung er gelangt ist. Er blickt dabei auf einen Zeitraum von gut 40 Jahren zurück, in welchem er sich mit dieser Thematik in Theorie und Praxis beschäftigt hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 490

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gewidmet

Meiner verstorbenen Mutter

Michael Bühne

Das Selbst und der Andere und die Rückkehr zum Sehnsuchtsort

Eine kritische Einführungin psychoanalytisches Denken

© 2019 Dr. med. Michael Bühne

Autor: Michael, Bühne

Umschlaggestaltung: Michael, Bühne

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN:

978-3-7497-9962-6 (Paperback)

978-3-7497-9963-3 (Hardcover)

978-3-7497-9964-0 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut-schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Inter-net über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

1. Vorwort

2. Einleitung

3. Die spezifische psychoanalytische Behandlungssituation und die Säuglings- und Bindungsforschung: Grundlagen der psychoanalytischen Theorienbildung

4. Die frühkindliche Entwicklung und die Ursprünge des Selbstempfindens

4.1 Bewusstseinsstufen des Selbst

4.2 Sicherheit und Struktur

4.3 Erste psychische Abwehrleistung: Ab-Spaltung

4.4 Projektive Identifikation

4.5 The good-enough mother

4.6 Die Achtmonatsangst und das Nein

5. Kritische Sicht auf Mutter-Kind-Dyade und Ödipuskomplex

5.1 Eine erdachte subjektive Welt des Säuglings

5.2 Eine überforderte good-enough mother

5.3 Ödipus und Lolita

5.4 Der misshandelte Ödipus

6. Die Bedeutung des Körpers

6.1 Einleitung

6.2 Körpererleben und Körperschema. »Ein Punkt nur ist es«

6.3 Das Körper-Selbst

6.4 Die Haut und einige psychoanalytische Modellvorstellungen von Somatisierungsprozessen

7. Narzissmus. Vom Trieb über das Objekt zum Selbst und seinen Störungen

7.1 Freuds Triebtheorie und Persönlichkeitsmodell

7.2 Freuds primärer und sekundärer Narzissmus

7.3 Objekte und Objektbeziehungen – Eine Erläuterung

7.4 Selbst und Selbstobjekte

7.5 Selbstobjektübertragungen

8. Ich-Identität

8.1 Erikson, Mahler, Jacobson et al.

8.2 Laing versus Freud und Sartres Negation des Anderen

8.3 George Herbert Mead

8.4 Spiegelneuronen und Bergpredigt

8.5 Identitäts-Widerstand und Migration

8.6 Das Schiff des Theseus

9. Das Selbst ist ein soziales Produkt. Sozialpsychologie und Gruppenanalyse

10. Auswirkungen von Psychotraumata auf Identität und Selbstempfinden

10.1 Dissoziation und konditionierte psycho-neurobiologische Stressantwort

10.2 Vertikale Spaltung und imaginäre Helfer

11. Internalisierung bei Borderline-Störung und Psychosen

12. Fragmentierung des Selbst: Hereinbrechen des Un-Heimlichen

13. Identität, Haus und Heimat

14. Hybridität versus Identität/Stabilität

15. Psychoanalytischer und soziologischer Exkurs in die (Post)Moderne

15.1 Moderne

15.2 Postmoderne

15.3 Nach der Postmoderne ist vor der Postmoderne

16. Kontingenz versus Determinismus und Abgeschlossenheit psychoanalytischer Konzepte

17. Das Wesentliche an der Psychoanalyse und der Traum des Pharaos

18. Recapitulo – Ich wiederhole

19. Thanatos und Eros

19.1 Sinnflut und erschöpftes Selbst

19.2 Lucifer, Jesus und der Narzissmus

19.3 Der Sehnsuchtsort

20. Anschlussfähige Kommunikation und nicht Hypnose

21. Abschlussplädoyer

Literaturverzeichnis

1. Vorwort

Die vorliegende Schrift wendet sich primär an eine Leserschaft, der therapeutisches und kulturkritisches tiefenpsychologisches Denken noch nicht vertraut ist, die also nicht zu den »Alten Hasen« gehört. Wer einmal ein alter Hase werden möchte (aber selbstverständlich nicht nur diesem), dem wird ein erster, punktuell auch vertiefter Einblick vermittelt. Tiefenpsychologie und Psychoanalyse werden in dieser Arbeit oft als synonyme Begriffe verwendet. Ihre gemeinsamen Bezugspunkte sind Sigmund Freud und das Unbewusste. Sie sind aber strenggenommen nicht deckungsgleich. Die Tiefenpsychologie bezieht sich mehr auf die Klassische Psychoanalyse, bei der die Triebtheorie Freuds im Vordergrund stand. In neueren theoretischen Konzepten ist die Triebtheorie nicht mehr im Zentrum der Betrachtung. Die Psychoanalyse war und ist nicht nur eine therapeutische Behandlungsmethode. Sie ist auch eine Form der Gesellschafts- und Kulturkritik gewesen, für einige sogar eine Weltanschauung, gar eine Ersatzreligion, für ihre Kritiker mehr eine Ideologie als eine wissenschaftlich begründbare Behandlungsmethode. Der Verfasser beabsichtigt nicht, mit dieser Arbeit ein wertneutrales Kompendium der Psychoanalyse zu erstellen. Er möchte vielmehr ein Lehrer sein, etwas von seinen Erfahrungen weitergeben und seine ganz persönliche Meinung darüber kundtun. Er möchte vermitteln, was er für wertvoll an psychoanalytischen Theorien hält und was bedenklich ist. Er bemüht sich, sowohl eine extrem kritische als auch eine idealisierende Betrachtungsweise zu vermeiden. Ganz ist es ihm nicht gelungen; denn der Text spiegelt seine wechselhaft gemachten Erfahrungen und seine jahrzehntelange persönliche Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse wider. In seiner Kritik fühlt sich der Verfasser der sogenannten depressiven Position (vgl. Kap. 4.3) verpflichtet, wie Melanie Klein sie beschrieben hat. Er will nicht spalten und z.B. nur das Kritikwürdige sehen, sondern Positives und Negatives zu einem Gesamtbild der Psychoanalyse integrieren. Das vorliegende Buch erlaubt dem Leser, sich am Ende ein eigenes Urteil darüber zu bilden, was bewahrenswert an diesen Theorien und ihrer Umsetzung in der Praxis sein kann und was nicht. Aspekte psychotherapeutischer Krankheits- und Behandlungskonzepte werden besprochen. Dem Leser soll darüber hinaus ermöglicht werden, in einen kritischen inneren Dialog mit sich zu kommen über Themen, die sein eigenes Selbstverständnis und seine gesellschaftliche Bezogenheit betreffen. Sein Blick soll geweitet werden. Unsere Perspektive ist entscheidend dafür, was wir wahrnehmen. Es wurde Wert darauf gelegt, keine trockene Theorie zu vermitteln, obwohl sich dies nicht ganz vermeiden ließ, sondern den Text allgemeinverständlich und anschaulich abzufassen. Schriften verschiedener Wissenschaftsdisziplinen wurden zusammengetragen und in einen neuen, interdisziplinären Kontext gesetzt. Die Frage dabei, was stammt eigentlich noch von einem selbst, spiegelt die grundlegende Bezogenheit des Selbst auf den Anderen wider. In seinem Artikel »Vom fremden Ich« (Scheler, 2009, S. 239) beschreibt Max Scheler diesen Sachverhalt wie folgt:

»Es kann aber auch sein, daß der Gedanke eines anderen nicht als solcher, sondern als unser Gedanke gegeben ist. Das ist der Fall z. B. bei sogenannten unbewußten Reminiszenzen an Gelesenes oder Mitgeteiltes. Es ist auch der Fall, wo wir durch echte Tradition angesteckt fremde Gedanken, z. B. die unserer Eltern, Erzieher, für unsere eigenen Gedanken halten; wir denken sie dann (oder auch fühlen gewisse Gefühle) nach, ohne uns dabei der Funktion des Nach-denkens und Nach-fühlens phänomenal bewußt zu sein. Eben hierdurch sind sie uns als unsere gegeben. Es kann auch sein, daß ein Gedanke oder ein Gefühl, das unser ist, uns als Gedanke oder Gefühl eines anderen gegeben ist. So pflegten die mittelalterlichen Schriftsteller gerne eigene oder doch Gedanken ihrer Zeit in die Quellen und Schriften des klassischen Altertums hineinzulesen.«

Sind nicht alle vermeintlich eigenen Gedanken schon einmal von anderen gedacht worden? Wir sind in vielfacher Weise abhängig vom Denken der Anderen. Oft merken wir es gar nicht. Die vorliegende Arbeit versucht, eine facettenreiche Antwort auf die Frage zu geben, was das Eigene und was das Fremde ist, ob diese sich überhaupt voneinander trennen lassen und was das Unheimliche am Fremden ist. In dieser Schrift nimmt die Wiedergabe von Ansichten fremder Autoren einen großen Platz ein. Das Verdienst des Verfassers liegt in der Auswahl der Literatur, der Komposition des Textes, den eigenen Kommentaren, Beispielen und Stellungnahmen, die in einigen Fällen ausführlicher dargelegt werden. Es handelt sich um keine wissenschaftliche Arbeit in dem Sinne, dass etwas grundsätzlich Neues erforscht oder erdacht wurde. Fasst man den Begriff der Wissenschaft (gr. epist m , lat. scientia) jedoch weiter, so ist Wissenschaft der Inbegriff dessen, was man weiß. Sie ist der durch Schrift und Lehre überlieferte Schatz an Wissen (vgl. Regenbogen et al., 2013, S. 737). Und etwas von diesem Schatz sollte hier gehoben, z.T. aussortiert, anderes bewahrt werden. Die Schrift setzt sich kritisch mit der Psychoanalyse auseinander, die nach Gertrude und Rubin Blanck (vgl. Blanck & Blanck, 1978, S. 11–12) eine Persönlichkeitstheorie, ein Forschungsinstrument und eine Therapie ist. Als Therapie kann sie, nach Ansicht des Verfassers, im besonderen Maße Einfluss auf das Identitäts- und Selbstgefühl bzw. die Psyche eines Menschen nehmen.

Die Psychoanalyse hat im Leben des Verfassers eine große Rolle gespielt, im positiven wie im negativen Sinne. Soviel sei aus der eigenen Biografie verraten, dass der Verfasser wegen Prof. Horst-Eberhard Richter und dessen Gießener Psychosomatischen Klinik seine erste Heimat im Ruhrgebiet nach dem Physikum im Herbst 1975 verlassen hatte und nach Gießen gezogen war. Leider hatte er Prof. Richter in all den Jahren nur einmal, bewusst erinnerbar, live erleben können, und zwar in einer Klinikskonferenz, dafür aber als Student, Hospitant, wissenschaftliche Hilfskraft und im Praktischen Jahr als angehender Arzt andere Gießener Analytiker wie Möller, Fürstenau, Heising und Stephanos, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, auch wegen des Charismas, das einige besaßen. Eine besonders freundliche Erinnerung gilt der Psychoanalytikerin Frau Annegret Overbeck, einstmals wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Familienambulanz. Es herrschte an der damaligen psychosomatischen Klinik ein innovatives Klima, eine Aufbruch- und Experimentierstimmung, wie niemals mehr danach. Als interessierter Student hatte man viele Möglichkeiten, die psychosomatische Medizin kennenzulernen, sei es, indem man die stationäre Gruppentherapie hinter dem Einwegspiegel beobachtete, an Teamsitzungen teilnahm, während eines Forschungsprogramms als stummer Beobachter in therapeutischen Gruppensitzungen mit anwesend war, sich Videoaufzeichnungen von Therapien anschaute und diskutierte oder Mitglied einer studentischen Balintgruppe werden konnte, in der man seine Erfahrungen, die man als Student mit Patienten machte, mit Psychoanalytikern besprach. Der Verfasser möchte jedoch nicht ausschließen, dass seine ernüchterte Einstellung den heutigen Verhältnissen gegenüber auf einer gewissen Entidealisierung im gereiften Mannesalter beruht. Wie die Sozialpsychologie lehrt, redet man sich seine eigene Vergangenheit oft schön. Eine Erinnerungsverklärung wird also bei obiger Schilderung mit im Spiel sein.

Heute scheint es in der Psychosomatischen Klinik unaufgeregter zuzugehen. Die Zeit des Ausprobierens und Experimentierens, in der es immer auch Raum für etwas Exzentrik gibt, ist vorbei. Andernorts hat der Verfasser während seiner beruflichen Ausbildung und Tätigkeit zu seinem eigenen Leidwesen noch deutlich ausgeprägtere Erfahrungen mit Exzentrik machen müssen. Mittlerweile scheinen sich die Verhältnisse konsolidiert zu haben. Vieles in der Psychotherapie wirkt dadurch vielleicht etwas banaler und nüchterner. Die Chefs stellen sich nicht mehr so in den Vordergrund, man ist mehr auf Augenhöhe. Es ist ein Stück weit demokratischer bzw. toleranter geworden in dem Sinne, dass auch andere psychotherapeutische Schulrichtungen, wie beispielsweise die Verhaltenstherapie, integriert werden und Mitarbeiter der unterschiedlichsten Therapieschulen in einer Klinik zusammenarbeiten können. Darüber hinaus hat sich die Psychosomatische Klinik vom Gießener psychoanalytischen Institut emanzipiert. Früher erschienen Institut und Klinik sowie Klinikambulanz unzertrennlich. Die Gebäude lagen sich direkt gegenüber, man brauchte nur die Straßenseite zu wechseln.

Horst-Eberhard Richter merkte kritisch an, anlässlich der Feier zum 70. Geburtstag von Gerd Heising (vgl. auch Kap. 13), dass heute ein gewisser Anpassungsdruck dazu geführt habe, dass die Psychosomatik sich an Denkformen angleiche, die zu einer Verkürzung ihres Erfahrungsfeldes führe. Es gäbe heute schon so etwas wie ›eine entinnerlichte Psychosomatik‹ und ›eine Psychologie ohne Seele‹ (vgl. Hensel et al., 1998, S. 143). Kruse, Beutel und Herzog schreiben, dass sich das psychotherapeutische Behandlungsangebot zunehmend differenziert habe und sich heute eine Vielzahl störungsorientierter Techniken in die Behandlung integrieren lasse, für deren therapeutische Wirksamkeit wissenschaftliche Evidenz bestünde. Die entwickelten Leitlinien dokumentierten diesen evidenzbasierten Entwicklungsstand (vgl. Kruse et al., 2012, S. 418). In einem Interview mit Uwe Gieler setzte Horst-Eberhard Richter dem entgegen, dass schon Freud überzeugend erläutert habe:

»[…] dass der Wissensdrang als Abkömmling des Bemächtigungstriebes anzusehen ist. So entsteht eine Forschung, die auf Krankheitsursachen ausgerichtet ist, um diese der Verfügungsmacht der Therapie zu unterwerfen. Die Ohnmacht des Leidens soll besiegt werden. […] Aber die Medizin hat es ja eben auch ganz zentral mit der Schwäche des Menschen zu tun, die nur erlitten werden kann, Ohnmacht, Zerbrechlichkeit sind in der Sicht des naturwissenschaftlichen Bemächtigungsstrebens nur Feinde« (Kruse et al., 2012, S. 439–440).

Man liest heraus und spürt, dass sich heute etwas Grundlegendes in der Psychosomatik verändert hat. Die Psychoanalyse habe, zumindest in ihrer klassischen Form, an Zuspruch und Ansehen eingebüßt, so Richter (vgl. Kruse et al., 2012, S. 441). Verhaltensmedizinisches Denken und Handeln hat stattdessen Einzug in den Alltag vieler Kliniken gefunden. Wenn dann der spätere berufliche Lebensweg des Verfassers, teils zufällig, teils determiniert, vom vorgesehenen Kurs auch abwich, so blieb die Beschäftigung mit der psychosomatischen Medizin als Psychotherapeut, Allgemein- und Sozialmediziner doch ein die Persönlichkeit strukturierendes und die eigene Identität mal stabilisierendes, vorübergehend aber auch mal destabilisierendes Element. Dazu gehörte, sich einen eigenen Weg, sozusagen an der Seitenauslinie des psychoanalytischen Institutes in Gießen, zu suchen.

Die kritische Einführung in psychoanalytisches Denken berücksichtigt sowohl Freuds klassische Triebtheorie als auch wichtige Neuerungen der letzten 20 Jahre. Die zahlreichen Zitate bieten dem Leser die Gelegenheit, gleich an Ort und Stelle die Aussagen des Verfassers anhand des Originaltextes zu überprüfen und erspart ihm das eigene Aufsuchen der doch sehr umfangreichen Quellen. Das erleichtert den Einstieg für all jene, die sich ein eigenes Bild von der Tiefenpsychologie bzw. der Psychoanalyse machen wollen. Es sei noch einmal betont, dass der Verfasser kein neutrales Sachbuch geschrieben hat. Er gibt vielmehr seine subjektive Meinung wieder, die nicht an Kritik gegenüber der Psychoanalyse spart. Er zieht eine Art Resümee nach dem Ausscheiden aus seinem Berufsleben. Der Verfasser selbst ist kein Psychoanalytiker. Aber als Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie hatte er sich mit den Fragestellungen dieser Disziplin in Theorie und Praxis beschäftigt und blickt auf einen Zeitraum von gut 40 Jahren zurück. Er verfügt zudem über eigene Erfahrungen in Einzel- und Gruppenpsychoanalyse. Der Leser kann darauf vertrauen, dass maßgebliche psychoanalytische Autoren berücksichtigt wurden, auch wenn diese Liste bei weitem nicht vollständig ist und eine ganze Reihe theoretischer Aspekte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Die Auswahl erfolgte, wie soll es auch anders sein, subjektiv und entbehrt somit nicht einer gewissen Willkürlichkeit. Niklas Luhmanns Sichtweise soll als Entschuldigung dienen. Er schreibt:

»Man bekommt Informationen von irgendwoher und gibt sie weiter, nachdem man das Eigene hinzugetan hat. […] Dann hat man es immer mit einer Überraschung zu tun oder mit einer Auswahl aus mehreren Möglichkeiten« (Luhmann, 2011, S. 282).

Sollten manche Begrifflichkeiten am Anfang unverständlich sein, so wird zur Geduld geraten, da die wesentlichen Fachtermini in den verschiedensten Kapiteln immer wieder auftauchen und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden. Die Arbeit ist inhaltlich sehr weit gefasst und bewusst interdisziplinär angelegt. Sie möge auch eine Fundgrube für den Leser sein, in welcher er zum Teil auf ältere und vielleicht vergessene Schriften stoßen und hier und da mit einer interessanten Sondermeinung des Verfassers konfrontiert wird sowie auf Autoren trifft, die man in diesem Kontext nicht ohne weiteres erwartet hätte. Letztlich ist der Text ein Zitatenschatz.

Es ist eine weite und gedanklich nicht unbeschwerliche Reise, die dem Leser zugemutet wird. Wenn sein Interesse geweckt werden kann, wird er die Mühen auf sich nehmen. Das Ziel dieser Gedankenreise ist es, ihn zum Nachdenken anzuregen über sein Selbst, seine Identität, die Beziehung von Psyche und Körper sowie über unsere heutige Zeit und natürlich und ganz besonders über die Psychoanalyse. Er wird am Ende des Buches mehr Bewusstheit darüber erlangt haben.

Linden, Dezember 2019

Anmerkung:

Die gendersensible Schreibweise erwies sich als hinderlich für die Lesbarkeit des Textes. Wenn von Patienten, Klienten, Narzissten, Psychotikern, Therapeuten, Analytikern, Psychologen, Kollegen, Forschern, Partnern, Schülern, Anderen, Adressaten oder Lesern die Rede ist, wurde deshalb das generische Maskulinum benutzt, aber stets beide Geschlechter damit gemeint; es sei denn der Sachverhalt erforderte im Einzelfall eine andere Geschlechtsbezeichnung.

3. Die spezifische psychoanalytische Behandlungssituation und die Säuglings- und Bindungsforschung: Grundlagen der psychoanalytischen Theorienbildung

Die psychoanalytischen Theorien wurden vornehmlich auf dem Hintergrund der spezifischen analytischen dyadischen Beziehung gewonnen. Die Psychoanalyse geht in ihrer Theorie davon aus, dass in diesen Situationen überholte, vor allem kindliche Erlebnismuster aktiviert werden, was man als Regression bezeichnet. Die klassische Psychoanalyse als Therapie stellt eine besondere Form von Erinnerungskultur dar, indem sie zwei spezielle Fokusse ausgewählt hat, nämlich die frühe Mutter-Kind-Interaktion und den ödipalen triadischen Komplex. Wir alle erleben unsere Gegenwart auch unter dem Eindruck der im Leben gemachten Erfahrungen. Wie in menschlichen Beziehungen generell, so stellt sich während der psychoanalytischen Behandlung eine sogenannte Übertragung ein. Auf den Therapeuten richten sich Erwartungen, die aus der Kinderzeit stammen. Das Wiederaufleben dieser überholten Beziehungsmuster ist dem Patienten nicht bewusst. Das Spezifische an einer Psychoanalyse ist, und dadurch unterscheidet sie sich von Alltagssituationen, dass sie versucht, die Übertragungsbeziehung erlebbar zu machen und einer kognitiven Verarbeitung zuzuführen. Unbewusstes soll bewusstwerden. Psychische Verknüpfungen müssen hergestellt werden, um Erinnerungslücken zu schließen und »zerrissene Zusammenhänge« wiederherzustellen (A. Freud 1936, vgl. Thomä & Kächele, 1989, S. 277). Ein wesentliches psychoanalytisches Mittel, um Unbewusstes bewusst zu machen, ist die Deutung, die eine spezifische Interpretationsform ist (vgl. Kap. 17). Der Analytiker reagiert seinerseits auf die Übertragung des Patienten mit einer Gegenübertragung, d.h. im Therapeuten werden Reaktionen ausgelöst und Fantasien geweckt. Es entsteht eine Inszenierung der Konflikte des Patienten. Der Patient setzt sich in Szene. Der Analytiker ist sein Dialogpartner. Dabei kommt seinem Zuhören eine besonders hohe Bedeutung zu. Es ist ein doppeltes Zuhören, nämlich ein auf den Patienten und ein auf seine eigenen gedanklichen und emotionalen Reaktionen gerichtetes. Er nutzt seine Gedanken und Gefühle dem Patienten gegenüber zum empathischen Verstehen sowie als Messinstrument für die emotionale Bedeutung und auch Stimmigkeit der erhaltenen Informationen, wobei gerade Unstimmigkeiten eine besondere Aufmerksamkeit verdienen, können sie doch auf zentrale Konfliktpunkte hinweisen. Die ganze Präsenz des Analytikers ist gefordert. Er hat nicht nur die Verantwortung für die Affektregulation bzw. Wiederherstellung der Selbstkohärenz des Patienten, sondern er muss auch die Sorge für die Bewahrung seiner eigenen Kohärenz und Steuerungsfähigkeit im analytischen Prozess tragen. Das ist zwar eine Selbstverständlichkeit und gehört zu den Kernkompetenzen bzw. Persönlichkeitseigenschaften eines Psychotherapeuten, aber man darf dabei nicht vergessen, in welche Spannungszustände Patienten einen versetzen können und wie belastend das ist, um so ausgeprägter, je mehr Patienten man behandeln muss, um seinen Lebensunterhalt und favorisierten Lebensstandard zu sichern. Dies wird umso bedeutungsvoller, je mehr sich der Analytiker emotional auf die realen Beziehungsangebote des Patienten einlässt, wie es in neueren Entwicklungen der Psychoanalyse propagiert wird (vgl. Kap. 16). Der US-amerikansche Psychoanalytiker Mitchell, ein Protagonist (im alten Griechenland würde man so den Hauptdarsteller im altgriechischen Drama bezeichnen) der neuen sogenannten relationalen Psychoanalyse, schrieb:

»Liebe und Hass auf Seiten des Patienten, auch wenn sie sich aus den Beziehungen der Vergangenheit und den Leidenschaften der Kindheit speisen, sind zugleich – und dem muss Rechnung getragen werden – reale Reaktionen auf den realen zwischenmenschlichen Austausch mit dem Analytiker. Liebe und Hass auf Seiten des Analytikers sind unvermeidlich, weil Patienten Dinge tun, die unausweichlich entweder liebens- oder hassenswert sind, und auch deshalb, weil der Analytiker in seiner Arbeit – unabhängig davon, wie reif oder gefestigt er in Bezug auf sein eigenes Leben ist – unvermeidlich und zwingend in eine tiefe emotionale Verstrickung mit seinen Patienten gerät. Maroda (1991, 1999) […] beschreibt die ›Hingabe‹ (surrender) des Analytikers an den Patienten im Sinne eines tiefen emotionalen Engagements als Voraussetzung für eine wirksame Behandlung« (Mitchell, 2003, S. 187).

Grundsätzlich wird aber durch die mehr oder weniger ausgeprägte therapeutische Abstinenz (je nach theoretischer Vorstellung) und bei sparsam dosierten verbalen Interventionen auf Seiten des Analytikers dem Patienten ausreichend Spielraum gelassen, den Gesprächsverlauf und die Szene zu gestalten. Die Szene nutzt der Therapeut für seine Hypothesenbildung bezüglich der Probleme des Patienten. Der Analytiker arbeitet mit dem Schema manifest/latent. Er benutzt die Beobachtung seines Beobachtens, welches auf latente Strukturen gerichtet ist, um den anderen verstehen zu können (vgl. Luhmann, 2006, S. 102). Die Psychoanalyse unterscheidet zwischen Bewusstem, Vor- und Unbewusstem (topographisches Modell). Die Erinnerungsfähigkeit wird dabei maßgeblich durch die von der Psychoanalyse so benannte Verdrängung geprägt. Die Verdrängung wird definiert (vgl. Laplanche & Pontalis, 1973b, S. 582) als Operation, wodurch das Subjekt versucht, mit einem Trieb zusammenhängende Vorstellungen (Gedanken, Bilder, Erinnerungen) in das Unbewusste zurückzustoßen. Sie wird von Freud als Vorbild für andere Abwehroperationen, die sogenannten psychischen Abwehrmechanismen, verstanden.

»Freuds Entdeckung des ›dynamischen Unbewussten‹ markierte den Beginn der Psychoanalyse als Tiefenpsychologie und das Ende der Illusion, dass der Mensch die vollständige, bewusste Herrschaft über seine Gedanken und Handlungen hat« (Lichtenberg et al., 2017, S. 97).

Lichtenberg et al. (vgl. 2017, S. 23) sprechen davon, dass im Verlauf einer psychoanalytischen Behandlung Analytiker und Patient Modellszenen konstruieren, um bislang verwirrende Informationen zu organisieren und zu integrieren. Es werde ein Bild entworfen, das mehr wert sei als tausend Worte. Eine solche Modellszene ist z.B. der von Freud erkannte – Kritiker würden sagen erfundene – Ödipuskomplex. Es werden in der Modellszene diejenigen Ereignisse ausgewählt, die durch eine affektive Reaktion eine Verstärkung erfahren haben. Modernere Formen der Psychoanalyse, hier insbesondere die Selbstpsychologie, sprechen von Selbstobjekt-Übertragung und Selbstobjekt-Beziehung. Es wird ein spezieller Fokus auf die narzisstische Bedürftigkeit des Patienten gelegt, die ein Abkömmling von remobilisierten (nicht befriedigten) Selbstobjekt-Bedürfnissen aus der Kindheit sein kann oder sich aus der aktuellen Lebenssituation heraus ergibt. Diese Bedürfnisse werden in der Behandlung auf den Analytiker übertragen, was dem Patienten selbst nicht bewusst ist. Unter einem Selbstobjekt wird dabei ein bedürfnisbefriedigendes Objekt verstanden, das intrapsychisch so erlebt wird, als erfülle es Funktionen für das Selbst, Funktionen, die das Selbstgefühl wecken, aufrechterhalten oder positiv beeinflussen, wie z.B. Spannungsregulation und Beruhigung, Validierung der subjektiven Erfahrung, Anerkennung der Einzigartigkeit und des kreativen Potentials (vgl. Bacal & Newman, 1994, S. 279–280).

Davon abzugrenzen ist der Begriff der Hilfs-Ich-Funktion, der nicht der Selbst-Psychologie entstammt, sondern einem anderen theoretischen Konzept entnommen ist, nämlich der von Heinz Hartmann 1960 ausformulierten psychoanalytischen Ich-Psychologie (vgl. Arbeitskreis OPD, 2006, S. 115). Eine Ich-Funktion wäre z. B. die Affektdifferenzierung. Diese ist eine Fähigkeit, beim Blick in die eigene psychische Innenwelt verschiedene emotionale Qualitäten unterscheiden zu können. Sie ist wichtig, um wahrnehmen zu können, was in der eigenen Person vorgeht. Ein Therapeut kann vorübergehend Hilfs-Ich-Funktionen für einen Patienten übernehmen, indem er eigene emotionale Antworten auf die Situation gibt, in welcher der Patient sich gerade befindet, indem er z.B. sagt: Ich könnte mir vorstellen, dass mich so etwas ziemlich beunruhigen würde, sehr ärgern könnte, kränken würde (vgl. Rudolf, 2006, S. 144–145). Der Therapeut drückt hier stellvertretend für den Patienten etwas aus, wozu dieser im Moment noch nicht in der Lage ist. Bei der Übernahme von Hilfs-Ich-Funktionen durch den Therapeuten geht es darum, beim Patienten eingeschränkte strukturelle Funktionen therapeutisch zu fördern. Die spiegelnde Beschreibung ist nach Rudolf die zentrale Interventionsstrategie strukturbezogener Behandlung. Spiegelung bedeutet, dass der Therapeut dem Patienten mitteilt, was er als Muster von dessen Verhalten wahrnimmt und wie er es emotional erlebt (vgl. Rudolf, 2006, S. 132, 144). Auch die Mutter muss für ihren Säugling Hilfs-Ich-Funktionen übernehmen, indem sie Versorgerin und Beschützerin (Funktion des Reizschutzes) für ihn ist (vgl. Loch, 1977, S. 191). Die Hilfs-Ich-Funktion erscheint weitergefasst, wohingegen das Selbstobjekt auf das Selbstgefühl fokussiert. Die Begriffe entstammen verschiedenen theoretischen Gebäuden, die jedoch beide der Psychoanalyse angehören, so dass die begriffliche Abgrenzung fließend ist. Beide bringen zum Ausdruck, dass das Erleben der therapeutischen Beziehung bei den Patienten Repräsentanzen als innere (beruhigende) Strukturen entstehen lassen, die in kritischen Situationen Stabilität verleihen.

Der therapeutischen Beziehungserfahrung wird im Vergleich zu der Veränderung durch Deutung und Einsicht eine maßgebliche kurative Kraft zugeschrieben (vgl. Milch, 2001, S. 90). Indem Milch ›maßgebliche‹ statt ›maßgeblichere kurative Kraft‹ schreibt, scheint er sich nicht zu Gunsten der Beziehungserfahrung festlegen zu wollen. Im Gegenteil, er sieht das Konzept der ›therapeutischen Allianz‹, wie es in den 50iger Jahren in der amerikanischen Psychoanalyse aufkam – man sieht, die relationale Psychoanalyse ist so neu nicht –, kritisch. Es bestünde die Gefahr, sich mit oberflächlichen Zielen und einer nur kurzfristigen korrigierenden emotionalen Erfahrung zufrieden zu geben. Das klassische analytische Vorgehen mittels ›Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten‹ würde vernachlässigt. In der relationalen Psychoanalyse wird hingegen noch mehr Wert auf die Unmittelbarkeit der subjektiven Beziehungserfahrung von Analytiker und Analysand gelegt. Aussagen zum psychischen Erleben des Patienten würden jetzt von ihnen beiden in der intersubjektiven Situation quasi ko-konstruiert, merkt der langjährige Herausgeber der Zeitschrift Psyche, Werner Bohleber, kritisch an (vgl. Potthoff, 2019, S. 22). Für Wirth ist diese wechselseitige Bezogenheit aber sehr wichtig; denn sie weist das psychotherapeutische Gespräch als einen echten Dialog aus.

»Deutungen und Bedeutungen werden von beiden [Analytiker und Analysand] in einem gemeinsamen kreativen Prozess erarbeitet. Dabei wird nicht geleugnet, dass die therapeutische Beziehung notwendig einen asymmetrischen Charakter hat, so wie die Beziehung zwischen einem Erwachsenen und einem Kind grundsätzlich asymmetrisch strukturiert ist.« (Wirth, 2019, S. 50).

Der asymmetrische Charakter resultiere aus dem Umstand, dass der Patient krank und leidend sei und Hilfe suche. Eine der zentralen Aufgaben des Therapeuten sei es, Hilfe zu leisten und die dafür notwendigen Rahmenbedingung zu gewährleisten. Aber nicht nur der Patient befände sich in einer leidvollen Situation. Im Therapieverlauf gäbe es immer wieder Momente, wo auch der Analytiker sich hilflos und ohnmächtig fühlen könne, und das nicht nur, weil sich die psychische Erkrankung des Patienten möglicherweise hartnäckig der therapeutischen Einflussnahme entziehe. Die Schilderungen des Analysanden könnten vielmehr beim Analytiker Erinnerungen an eigene leidvolle Erfahrungen wecken. Letzteres ist aber kein Makel, sondern Voraussetzung dafür, den Patienten empathisch verstehen zu können (Wirth, 2019, S. 63). Dadurch, dass Wirth die Beziehung zwischen Therapeut und Patient mit derjenigen zwischen einem Erwachsenen und einem Kind analogisiert, nimmt er ihr jedoch den emanzipatorischen Dialogcharakter wieder weg. Man kann vermuten, dass das Rollenverständnis der Analytiker nicht so stark voneinander abweicht, wie man es aufgrund ihrer unterschiedlichen theoretischen Standpunkte meinen könnte.

Die psychoanalytischen Theorien in der Säuglings- und Kleinkindforschung beruhen zu einem Teil auf den an Erwachsenen gemachten klinischen Beobachtungen und Erfahrungen, d.h. auf Rekonstruktionen aus der Erwachsenenanalyse. Von der Seite der methodischen psychologischen Forschung wurde eingewandt, dass es sich um Evidenzerlebnisse des Patienten und des Analytikers handele, die nicht objektivierbar seien (vgl. Müller-Braunschweig, 1975, S. 12). Bindungsforscher unternahmen daraufhin Untersuchungen auf der Basis der Verhaltensforschung, wobei sie oft stundenlang Beobachtungen von Müttern und ihren Säuglingen in deren privaten Räumen durchführten. Später wurden standardisierte Verfahren im Labor zur Klassifizierung von Bindungsverhaltensmustern entwickelt, wobei das Verhalten von Mutter und Kind gemeinsam oder auch des Kindes alleine in verschiedenen Situationen beobachtet wurde. In Form von Longitudinalstudien wurden die Kinder zu bestimmten Zeitpunkten nachuntersucht. Auch Beobachtungen aus der Primatenforschung wurden vergleichend zur Erforschung menschlichen Bindungsverhaltens genutzt. Menschen- und Primatenkinder reagierten ähnlich vorhersehbar auf die Trennung von der Mutter. Sie schrien, suchten aktiv nach der Mutter, protestierten, wenn andere sie beruhigen wollten. Nach erfolgloser Suche wirkten sie passiv und traurig. Kehrte die Mutter dann doch wieder, zeigten sie aktives Vermeidungsverhalten.

Der Begründer der Bindungsforschung war John Bowlby. Er ging davon aus, dass das Bedürfnis, emotionale Sicherheit in Beziehungen zu finden, angeboren sei. Bowlby fasste das Streben nach engen emotionalen Beziehungen als ein spezifisch menschliches, schon beim Neugeborenen angelegtes, bis ins hohe Alter vorhandenes Grundelement auf. Die traditionell als Abhängigkeit definierte Mutterbindung wird als Ausdruck eines zum Teil vorprogrammierten spezifischen Verhaltensrepertoires verstanden. Das menschliche Bindungsverhalten werde durch einen im Zentralnervensystem lokalisierbaren Regelkreis gesteuert, vergleichbar der innerhalb bestimmter Normwerte erfolgenden Regulierung physiologischer Kreisläufe, etwa des Blutdrucks oder der Körpertemperatur (vgl. Bowlby, 2008, S. 100). In der Neurohypophyse (Hypophysenhinterlappen), einem Teil des Zwischenhirns und wie die Adenohypophyse das hormonelle ›Ausführungsorgan‹ des Hypothalamus, wird das Hormon Oxytocin gebildet (vgl. Trepel, 2012, S. 190–192). Es wird als Pflege- und Bindungshormon bezeichnet. Es gibt Hinweise darauf, dass Oxytocin beim Menschen prosoziales Verhalten fördert sowie Stress- und Angsterleben in bedrohlichen Situationen mindert (vgl. Köhle et al., 2017, S. 61–62). Eine Bindung besteht noch nicht bei der Geburt, sondern entwickelt sich erst im Laufe des ersten Lebensjahres. Sie wird ausgelöst durch bestimmte Verhaltensweisen des Säuglings, mit denen er genetisch vorbereitet auf die Welt kommt. Diese Verhaltensweisen, die geeignet sind, die Nähe und den Kontakt zur umsorgenden Mutter herbeizuführen, werden Bindungsverhaltensweisen genannt. Die Mutter, die bereit ist, das Neugeborene zu umsorgen, erkennt normalerweise die Zeichen. Die sogenannte ›primäre Mütterlichkeit‹ entwickelt sich allmählich in der Schwangerschaft und unmittelbar danach, nicht zuletzt durch die hormonelle Umstellung der Frau während dieser Zeit. Die markantesten Bindungsverhaltensweisen des Säuglings sind Weinen, Rufen, Anklammern, Nachfolgen sowie Protest beim Verlassenwerden. Es ist wichtig, zwischen einer bestehenden Bindung zu einer Person und offen gezeigtem Bindungsverhalten zu unterscheiden. Bindung besteht kontinuierlich über Raum und Zeit hinweg. Bindungsverhalten wird nur unter Belastung gezeigt, und es wird umso deutlicher beobachtbar, je mehr die Nähe der Bindungsperson gebraucht wird, also in Situationen, wo man krank, erschöpft, traurig oder sonst wie belastet ist, sei es, dass eine Gefährdung der Bindung droht, etwa durch Trennung, oder in einer gefährlichen Situation, hervorgerufen z.B. durch einen Angreifer. Wenn keine Gefahr für den Erhalt der Bindung besteht, gibt es keinen Grund, Bindungsverhalten zu zeigen. Eine Bindung kann aber gleichwohl bestehen (vgl. Grossmann & Grossmann, 2006, S. 70).

Die von Mary Ainsworth et al. (1978, 1985) initiierten und u.a. von Grossmann et al. 1986 ausgeweiteten kontrollierten (prospektiven) Studien zur psychosozialen Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren lieferten bemerkenswert konsistente Erkenntnisse darüber, wie Eltern die kindliche Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen können (vgl. Bowlby, 2008, S. 101). Drei bzw. vier Bindungstypen wurden abgegrenzt, beobachtet in der sogenannten Fremde-Test-Situation (wie reagieren z.B. einjährige Kinder auf eine kurze Trennung von der Mutter). Diese ›Fremde Situation‹ wurde als standardisiertes Verfahren zur Klassifizierung von Bindungsverhaltensmustern eingesetzt (vgl. Grossmann & Grossmann, 2006, S. 133, 140). Es fanden sich Kinder mit sicherer, unsicher-ambivalenter und unsicher-vermeidender Bindung. Einige differenzierten zusätzlich noch einen Bindungstyp, der sich durch Desorganisation und Desorientierung auszeichnete. Psychoanalytiker, Psychosomatiker, Psychologen, Neurobiologen und Genetiker, alle gemeinsam trugen zu einem Verständnis dessen bei, was die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 19. März 2008 mit: »Die Last der frühen Jahre« betitelte. Es zeigte sich dabei, dass frühe Bindungserlebnisse nachweisbare Spuren nicht nur in der Psyche, sondern ebenso im Körper hinterlassen. Auf diese Art und Weise wurden prägende Faktoren entdeckt, die im späteren Leben anfällig für Stress machen. Nicht nur die psychoanalytische Theorie beeinflusste zum Teil die Bindungsforschung, auch umgekehrt fanden die Ergebnisse der Bindungsforschung Eingang in die psychoanalytische Theorie und veränderten diese.

4. Die frühkindliche Entwicklung und die Ursprünge des Selbstempfindens

4.1 Bewusstheitsstufen des Selbst

Gemäß Edith Jacobson sind die Kerne des frühkindlichen Selbstempfindens die Erinnerungsspuren lustvoller und unlustvoller Empfindungen, die u.a. durch spielerische Erforschung des eigenen Körpers sich bilden. Für sie hat das Seelenleben seinen Ursprung in physiologischen Vorgängen, die von äußeren sensorischen Stimulierungen unabhängig sind.

»Tatsächlich äußert sich das kindliche Gefühls- und Phantasieleben in den ersten infantilen Entwicklungsstadien noch vorwiegend ›psychophysiologisch‹, in Gestalt der sogenannten ›affektiven Organsprache‹, die jedoch nicht nur die oben erwähnten ›stummen‹ inneren physiologischen Prozesse umfaßt, sondern auch sichtbare vasomotorische und sekretorische Phänomene und Manifestationen im Bereich der oralen und exkretorischen Funktionen. Ich möchte darauf hinweisen, daß diese affektive Organsprache bis zu einem gewissen Grad sogar im Gefühlsleben normaler Erwachsener, z.B. in Angstzuständen und anderen Manifestationen der ›Resomatisierung‹ von Affekten überlebt (Schur, 1955)« (Jacobson, 1978a, S. 22).

Im Laufe unseres Lebens findet eine allmähliche Entwicklung von einem rudimentären Selbstempfinden hin zu einem Bewusstsein statt, das sich auf sich selbst und sein Anderes beziehen kann. Dieses letztere Bewusstsein weiß um die Beziehung und ist zugleich Selbstbewusstsein. Mit »Empfinden« meint Stern ein einfaches (nicht-selbstreflexives) Gewahrsein. Man bewege sich hier auf der Ebene unmittelbaren Erlebens, nicht auf einer begrifflichen Ebene. Unter dem Selbst, das empfunden wird, soll ein invariantes Gewahrseinsmuster, eine Organisationsform, verstanden werden. Bestimmte Selbstempfindungen sind schon wesentlich früher als Selbstbewusstheit und Sprache vorhanden. Dazu gehören z. B. Empfindungen der Urheberschaft, der körperlichen Kohäsion und der zeitlichen Kontinuität (vgl. Stern, 2016, S. 19–20). Es wird von einem stufenweisen Anwachsen der Bewusstheit beim Neugeborenen ausgegangen. Mit jedem Lebensmonat werden die Sinneswahrnehmungen klarer, die Aufmerksamkeit für äußere wie innere Reize wächst und eine fokal gerichtete Bewusstheit überwiegt allmählich gegenüber einem kaleidoskopischen (ständiger Wechsel von Eindrücken) An- und Abschalten.

Der Lebensabschnitt, der hier zur Darstellung kommt, ist vornehmlich die Säuglingszeit, die Zeit des auftauchenden Selbstempfindens mit einem ersten Gefühl von Regelmäßigkeit bis hin zu einem ersten verbalen Selbstempfinden. Letzteres ist jedoch noch präreflexiv und nicht dasjenige reflexive Ich- (oder Selbst-)Bewusstsein, wie es ältere Kinder oder Erwachsene habe. Das reflexive Selbstempfinden beginnt mit 15–18 Monaten sich langsam zu entwickeln. (vgl. Milch, 2001, S. 294). Säuglingen in den ersten drei Lebensmonaten ist es jedoch schon ein Vergnügen, ein sich in Reichweite befindliches Kuscheltier mit Klingelfunktion zum Klingeln zu bringen. Man spricht bereits hier von einem ›physischen Akteur‹ oder ›physischen Selbst‹, welches wahrnimmt, dass es eigene Veränderungen der angrenzenden Umwelt herbeiführen kann (vgl. Taubner, 2016, S. 39–41). Der Neurowissenschaftler António Rosa Damásio unterscheidet in seinem Buch Ich fühle, also bin ich zwischen einem Proto-Selbst, einem Kern-Selbst und einem autobiografischen Selbst.

»Das Proto-Selbst beruht ›auf der Gesamtheit jener Hirnmechanismen […], die fortwährend und unbewusst dafür sorgen, daß sich die Körperzustände in jenem schmalen Bereich relativer Stabilität bewegen, der zum Überleben erforderlich ist‹ (S. 36)« ist (Fonagy et al., 2011, S. 88).

Das nachfolgende, zweite Selbst, das Kern-Selbst befähige uns, die Erfahrung des Hier und Jetzt zu registrieren. Das Kernbewusstsein, die Grundlage des Kernselbst, tauche auf, wenn im Gehirn ein nicht-sprachlicher Bericht erzeugt wird von dem, was dem Säugling widerfahren ist. Nach dem Verständnis des Verfassers bleibt das Kern-Selbst zum einen ganz auf die Gegenwart, den Moment bezogen. Zum anderen lassen sich die hier gemachten Erfahrungen nicht versprachlichen. Sie drücken sich vielmehr in körperlichen oder visuellen Empfindungen aus. Letzteres hat Konsequenzen für die psychotherapeutische Behandlung von frühsttraumatisierten Menschen. Diese Kern-Erfahrungen werden einer ›Sprechkur‹ nicht zugänglich sein, sondern vielmehr körper-, kunst- und musiktherapeutische Methoden erfordern. Frühsttraumatisierte Patienten haben in der Fachsprache Michael Balints eine sogenannte Grundstörung. Ihre Ursache sieht er in einer inadäquaten Form der ›primären Liebe‹. Unter primärer Liebe versteht er die ganz frühe Mutter-Kind-Beziehung, die im Falle dieser Patienten schwer gestört ist, was im Erwachsenenalter zu tiefen Regressionen Anlass gibt. Die Traumatisierungen des Säuglings fanden in einer Phase statt, wo sein autobiografisches Gedächtnis noch nicht entwickelt war. Die Grundstörung könne, so Balint, nicht durch verbale Interpretationen geheilt oder gebessert werden.

»Damasio betont den Zusammenhang zwischen dem Kernselbst und den Emotionen und führt als regelmäßiges Korrelat eines beeinträchtigten Kernbewusstseins das Fehlen von Emotionen an« (Fonagy, 2011, S. 88).

Der Verfasser wird in diesem Zusammenhang an die Pariser psychosomatische Schule erinnert, die in Gießen vor allem von Samir Stephanos propagiert worden war. Es sei deshalb an dieser Stelle ein kurzer Einschub erlaubt. Patienten mit psychosomatischen Störungen befinden sich oft in einem Zustand chronischer Anspannung. Stephanos spricht ferner von einer ›pensée opératoire‹ bzw. einem ›automatistisch-mechanistischen‹ Denken bei diesen Patienten. Sie bleiben dem Konkreten, Pragmatischen und Aktuellen verhaftet und in ihrem Verhalten angepasst. Sie scheinen in einer gleichförmigen, sich nicht ändernden, sondern ausschließlich auf die Gegenwart bezogenen Welt zu leben, ohne Vergangenheit und Zukunft. Ihre sprachlichen Äußerungen sind knapp, wirken unpersönlich und emotionsarm. Der affektive Bezug zu dem Gesagten und zu ihrem Gesprächspartner ist nicht spürbar. Man hat den Eindruck, dass die Patienten wie auf ›Sparflamme‹ existieren. Sie werden als phantasiearm erlebt und als unfähig, Gefühle bei sich und anderen wahrzunehmen, geschweige denn angemessen zu beschreiben. Im Fachjargon wird von Alexithymie gesprochen, was übersetzt so viel heißt wie: Gefühle nicht lesen zu können. (vgl. Stephanos, 2011, S. 23–25, 37–47). Nach Ansicht des Verfassers könnte, obiger Bemerkung Damásios zufolge, bei diesen Patienten eine Störung des Kernselbst vorliegen. Stephanos selbst, mit ihm die französischen Forscher wie Fain, Sami-Ali und Marty sowie die US-amerikanischen Psychiater Nemiah und Sifneos geben vielfältige Erklärungen, die u.a. der Freudschen Triebtheorie, der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie und der Neurophysiologie entnommen sind, wobei auch kongenitale und biochemische Defekte vermutet werden. Die Psychogenese der Störung wird von Stephanos ganz wesentlich in einer die Entwicklung des Säuglings nicht förderlichen Mutter-Kind-Beziehung gesehen – er spricht von einer ›besitzergreifenden Mutter‹ (vgl. Stephanos, 2011, S. 32). Aber auch dem familiären System als Ganzem fühle das Kind sich ausgeliefert. Es erlebe seine Familie als Einheit und als ein ›omnipotentes‹ Objekt, dem es hilflos gegenüberstehe.

Und damit wieder zurück zum Haupttext und der frühkindlichen Entwicklung, wobei an dem Beispiel des psychosomatischen Patienten einmal mehr deutlich geworden ist, dass die frühkindliche Entwicklungsforschung in letzter Konsequenz eine Ursachenforschung betreibt, um sich psychische Erkrankungen erklären zu können. Mit neun Monaten schaut der nun beweglichere Säugling auf den Gesichtsausdruck der Mutter, um verlässliche Informationen über Zustimmung-Missbilligung, Sicherheit-Gefahr, gemeinsame Vorhaben-gegensätzliche Vorhaben zu erhalten. Der Abstimmung von Richtungsänderungen emotionaler Zustände zwischen Säugling und Betreuungsperson wird von diesem Zeitpunkt an im Bewusstsein der Vorrang eingeräumt. Der Säugling lernt zudem, zielgerichtete Verhaltensweisen auszuführen. Er zeigt auf einen Gegenstand, was man als erfolglosen Versuch betrachten kann, ihn zu erreichen. Er verfügt damit über imperative und deklarative Gesten. Er ist jetzt ein ›teleologischer Akteur‹ (vgl. Taubner, 2016, S. 43–44). Eine weitere Stufe der Bewusstheit wird im Alter von ca. 18 Monaten mit der Reifung des rechten und linken frontalen Cortex erreicht. Die Bewusstheit des Kleinkindes öffnet sich der Informationsverarbeitung durch symbolische Repräsentation. Hierher gehören das Theater- bzw. das Als-ob-Spiel. In Jenseits des Lustprinzips (1920) beschreibt Freud »das erste selbstgeschaffene Spiel« eines Knaben. Das Kind war 1 1/2 Jahre alt, es sprach erst wenige verständliche Worte. Das Kind spielte mit einer Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war.

»Es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens [das Kind selbst stand vor dem Bettchen], so daß sie darin verschwand, sagte dazu ein bedeutungsvolles o-o-o-o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen ›Da‹. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederbekommen.« (Freud, 1920g, S. 12).

Freud deutete das Spiel als symbolische Darstellung des Verschwindens und Wiederkommens der Mutter. Es ist eine für das Kind in der Realität unangenehme, ja ängstigende Situation, wenn die Mutter weggeht. Es erleidet dies, d.h. es ist passiv dabei. Im Spiel hat das Kind aber die aktive Rolle inne. Es ist Herr des Geschehens, hat die Kontrolle darüber und kann den Ausgang im Sinne seiner Wunscherfüllung (die Mutter kommt wieder) bestimmen (vgl. Taubner, 2016, S. 45). Freud sieht darin einerseits einen Bemächtigungstrieb wirken, der sich von der Realität unabhängig gemacht hat (eigentlich war das Kind traurig und ängstlich, als die Mutter weggegangen war). Zusätzlich deutet er noch einen im Leben unterdrückten Racheimpulses gegen die Mutter hinein. Im Spiel ist es das Kind selber, das die Mutter wegschickt (vgl. Freud, 1920g, S. 14). In diesem Spiel wird der Affekt nicht als wirklich, sondern gespielt verstanden. Er hat keine realistischen negativen Konsequenzen. Fonagy und Kollegen (2002) bezeichnen dies als ›markierte oder symbolische Externalisierung‹ (vgl. Taubner, 2016, S. 45). Das Kind ist jetzt nicht mehr so sehr auf die Mutter angewiesen, um seine negativen Gefühle zu regulieren. Es braucht dazu aber noch ein äußeres Medium, hier die umwickelte Garnrolle, das Als-ob-Spiel. Später wird es dies auch rein innerlich (intrapsychisch) ohne äußeres Symbol, z.B. in Form von Tagträumen bewältigen können. Ein weiterer psychischer Reifungsschritt ist erreicht, wenn die Kinder merken, dass eigene Wünsche, Vorlieben und Gefühle sich von denjenigen der anderen unterscheiden können.

»[…] dass Kinder durchschnittlich ab etwa 18 Monaten einer anderen Person einen Snack anbieten, den sie selbst nicht präferieren (meistens Brokkoli), wenn sie vorher gelernt haben, dass diese Person Brokkoli lieber mag als Kekse. Jüngere Kinder bieten immer Kekse an, da sie von ihren eigenen Vorlieben noch nicht zurücktreten können (Reacholi & Gopnik, 1997)« (Taubner, 2016, S. 46–47).

Die Fähigkeit des dann zwei-, drei- und vierjährigen Kindes zu symbolischer innerer und äußerer Kommunikation durch Worte und symbolisches Handeln im Spiel wird schließlich noch durch eine weitere Stufe bereichert – die selbstreflexive Bewusstheit. Kinder von fünf und sechs Jahren koordinieren die durch die Bewusstheit ihrer selbst gewonnenen Erfahrungen anhand einer Erzählung darüber, wer sie sind, wer sie waren und welche Erwartungen sie haben (wenn ich groß bin, heirate ich dich, Mami). Die narrative Schöpfung stärkt das Selbst und seine selbstreflexive Haltung. Das autobiografische Selbst begründe unsere Identität und unsere Persönlichkeit. Es werde durch ein komplexes Bewusstsein erzeugt. Es beruhe auf einer organisierten Aufzeichnung von rekonstruierten Bildern aus der unverwechselbaren Geschichte des Organismus. Das Arbeitsgedächtnis sei von entscheidender Bedeutung für das autobiografische Selbst, während es für das Kernselbst keine wichtige Rolle spiele. Das autobiografische Selbst beruhe zwar auf dem Kernselbst, steuere aber die Dimensionen der Vergangenheit und Zukunft bei (vgl. Fonagy et al., 2011, S. 88). Die hier niedergelegten Erfahrungen lassen sich versprachlichen und sind einer Psychoanalyse zugänglich.

Es sollen noch einmal die vier Entwicklungsphasen übersichtlich zusammengefasst werden (hier in gekürzter Form), wie Stern sie unterschieden hat. Die 4 Stufen des Selbstempfindens (vgl. Milch, 2001, S. 294):

1) Das auftauchende Selbstempfinden von Geburt bis zwei Monate. Der Säugling erhält ein erstes Gefühl von Regelmäßigkeit und Geordnetheit.

2) Das Kernselbstempfinden zwischen 2.–3. und 7.–9. Monat. ›Self-versusother‹, die physische Trennung von Selbst und Objekt wird erlebbar.

3) Das subjektive Selbstempfinden vom 7.–9. bis 15.–18. Monat. In dieser Phase beginnen die Subjektivität und Intersubjektivität im psychologischen Sinne.

4) Das verbale Selbstempfinden vom 15.–18. Monat ist Ausdruck für die Entdeckung des Kindes, dass es mithilfe von Symbolen persönliches Wissen und Erfahrungen kommunizieren kann.

Säuglings- und Kleinkindforschung gehen heute, wie oben dargelegt, davon aus, dass Interaktionserfahrungen zunächst präsymbolisch repräsentiert werden, dass sie sich in Affektbereitschaft, in körperlichen Ausdrucksformen darstellen, bevor sie sprachlich und damit symbolisch zugeordnet werden können. Dieser Fortschritt zum Symbolischen erfolgt auf einer intersubjektiven Grundlage, immer in Beziehung zum Anderen. Klinisch bedeutet dies, dass das nicht sprachfähige Kind nach einem Objekt suchen muss, dass in der Lage ist, die bedrohlichen körperlichen Zustände einzuordnen, ihnen Struktur zu geben, sie zu beruhigen.

»Der Säugling erschließt sich ab dem dritten Monat schrittweise die ›Welt der direkten Kontakte‹, in der Erfahrungen mit Nähe und Distanz, mit körperlichen Positionierungen, mit wechselseitigem Erregungsniveau und wechselseitiger Kontrolle gemacht werden. Diese körperliche Regulation erfolgt auch im Dienst der eigenen körperlichen Bedürfnisbefriedigung (z.B. Streichel-, Kitzelspiele). Das gelungene Zusammenspiel zwischen Säugling und elterlicher Bezugsperson wird mit dem Begriff der Feinfühligkeit beschrieben« (Köhle et al., 2017, S. 161).

Das Endziel in Erziehung und Entwicklung unserer Kinder ist es, dass sie den Modus des Mentalisierens (vgl. Kap. 16) erreichen [natürlich sollen sie auch noch glücklich werden und vieles andere mehr]. Eine Stufe davor, im sogenannten ›Modus der psychischen Äquivalenz‹, werden die eigenen Gedanken als real, d.h. als Kopien der Realität erlebt. Das Kind geht davon aus, dass alle Anderen auch so denken und fühlen wie es selber. Fantasie und äußere Realität können noch nicht unterschieden werden, was Angst machen kann, und die Sprache hat noch keinen symbolischen Charakter. Mit ihrer Hilfe kann es seine inneren Befindlichkeiten noch nicht ausdrücken. Erst ab dem fünften Lebensjahr wird das Selbst zum ›mentalisierenden Akteur‹.

»Das Abkoppeln der Vorstellungen von der Wirklichkeit beruht auf der Erfahrung der Reflexion eigener psychischer Zustände durch die Bezugsperson. Diese zeigt dem Kind eine alternative Sichtweise, die sich eben nicht in dessen Vorstellung befindet. Das Kind hat dadurch die Fähigkeit zur Mentalisierung erlangt und kann verschiedene Perspektiven in Bezug auf menschliches Verhalten einnehmen« (Taubner, 2016, S. 49).

Zunächst wird ihm bewusst, dass Menschen unterschiedliche Gefühle haben, bis es später versteht, dass auch deren Überzeugungen andere sind.

 

4.2 Sicherheit und Struktur

Sicherheit und Wohlbefinden sind die Leitmotive der fühkindlichen narzisstischen Phase. Nach Freuds Theorie betrifft dies die Zeit des primären Narzissmus. Nach Margaret Mahlers Terminologie handelt es sich um folgende beide Phasen: 1) Autismus. Es ist die Zeit unmittelbar nach der Geburt, wo die Reizschranke sehr hoch ist und der Säugling die Tage halb wachend, halb schlafend verbringt. Er schreit, wenn Hunger oder andere Bedürfnisspannungen ihn quälen und sinkt in den Schlaf zurück, sobald er befriedigt ist. 2) Die sich an den Autismus anschließende Zeit ist die der Mutter-Kind-Symbiose (vgl. Mahler, 1978, S. 59ff.). Dem Verhalten der Mutter (sog. primäres Objekt) fällt in dieser Zeit eine sehr erhebliche Bedeutung zu. In dieser Phase entwickelt sich eine primäre Identifikation über eine Art Ur-Identifikation. Das Modell für diese Ur-Identifikation findet das Kind in der Fürsorgefunktion der Mutter. Es verwirrt, dass in diesem Zusammenhang die Begriffe Ur-Identifikation, primäre Identität und Ur-Selbst wechselweise gebraucht werden. Allen gemeinsam ist, dass sie auf die frühe Mutter-Kind-Dyade verweisen, die primär für die Selbstentwicklung des Kindes ist. Die emotionale Einstimmung der Mutter auf ihren Säugling, ihr handelndes Umgehen mit ihm und ihr verständiges Reagieren auf seine körperlichen Äußerungen sind das, was Winnicott (1974) als die Responsivität des Objekts in Gestalt einer ›good-enough mother‹ bezeichnet hat. Diese genügend gute Mutter ermögliche es dem Kind, ein wahres Selbst zu entwickeln. Wenn allerdings die Umwelt versage, könne ein falsches Selbst entstehen. Wolfgang Loch (vgl. Loch, 1976, S. 74), Bezug nehmend auf Heinz Lichtenstein, geht davon aus, dass die primäre Identität ein Resultat einer Spiegelerfahrung ist, in der bei dem Kind die eigenen Potenzialitäten über die unbewussten Bedürfnisse der Mutter aktualisiert werden. Was meint Loch bzw. Lichtenstein damit? Eigene Bedürfnisse der Mutter können in ihre Phantasien über die zukünftige Entwicklung ihres Kindes eingehen und dieser eine Richtung geben. Auch wenn sie so eigene Bedürfnisse an das Kind delegiert, kann es durchaus sein, dass sie Anlagen und Talente des Kindes dadurch weckt. Auf der anderen Seite besteht aber die Gefahr, dass das Kind stellvertretend für die Eltern etwas darstellen soll, was gar nicht seinem Wesen entspricht. Nach Horst-Eberhard Richter wird das Kind in diesem Fall zu einem »Substitut für einen Aspekt des (eigenen) elterlichen Selbst« (Richter, 1969, S. 155). Alice Miller würde in diesem Fall dramatischer von der »Isolierhaft des wahren Selbst im Gefängnis des falschen« sprechen (Miller, 1979, S. 11).

Spitz sagt vom Ur-Selbst, dass es aus den libidinös besetzten körperlichen Beziehungen mit dem Nicht-Selbst hervorgehe, wenn zum Beispiel die Mutter den Säugling streichelt, im Arm wiegt, an die Brust nimmt, ihm die Brust gibt, ihn pudert und pflegt etc.. Ähnlich wie Spitz sah es Jacobson, wenn sie das Verlangen des Säuglings nach der Nahrung und libidinöse Befriedigung spendenden mütterlichen Brust zum Ursprung des ersten, primitiven Typus von Identifikation machte. Für Melanie Klein (vgl. Klein, 1972, S. 45, 69, 101–102, 174, 177) ist der oral-libidinöse Trieb des Säuglings (in den ersten drei oder vier Monaten des Lebens) auf das Teilobjekt ›mütterliche Brust‹, hier die gute, die spendende Brust gerichtet. Die frühesten Erfahrungen des Gestilltwerdens leiten die (Objekt-)Beziehung zur Mutter ein, die hier noch als Teilobjekt-Beziehung zu verstehen ist. Dieses Teilobjekt wird introjiziert. Es wird gleichsam als die ›gute Brust‹ allmählich durch die wiederholten Erfahrungen von Befriedigung verinnerlicht. Den Handlungen der Mutter (Pflegeperson) kommt das Ziel zu, denjenigen bio-psycho-sozialen Zustand herbeizuführen, der ruhiges Wohlbefinden und damit Wahrnehmung im Sinne von Apperzeption überhaupt möglich macht. Nur im Zustand des inneren Gleichgewichts stehen dem Ich Aufmerksamkeitsbesetzungen zur Verfügung. Wenn das Bedürfnis nicht so imperativ ist, wenn ein gewisses Maß an Entwicklung das Kind befähigt hat, Spannung zu ertragen, d.h. wenn es warten kann und vertrauensvoll Befriedigung erhofft, nur dann sei es möglich, vom Beginn eines Ich wie auch eines symbiotischen Objektes zu sprechen.