Das Selene-Projekt - Detlef Schirrow - E-Book

Das Selene-Projekt E-Book

Detlef Schirrow

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Beschreibung

Als Jeffroy Hagen erfährt, dass seine Frau Sarah nach einem missglückten Experiment mit Dunkler Energie verschwunden ist, beginnt für ihn eine abenteuerliche Suche. Zunächst findet er heraus, dass sie an dem geheimen Selene-Projekt in einer Technologiefirma mitgearbeitet hat, das Ausrüstungsgegenstände für ein Habitat zum Mond transferieren sollte. Jeffroy ist gezwungen, mit dem Firmenchef und zugleich seinem früheren Widersacher zusammenzuarbeiten, um Sarah zu finden. Dabei gerät er in ein Netz rivalisierender Kräfte, die nicht wollen, dass seine Suche Erfolg hat. Schließlich erkennt Jeffroy, dass seine Frau in der Vergangenheit gefangen ist. Und ihm bleiben nur wenige Stunden für seine ungewöhnliche Rettungsmission, sonst wird sie sterben.

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Seitenzahl: 415

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Detlef Schirrow

 

 

Das Selene-Projekt

 

 

Hard Science Fiction

 

Inhaltsverzeichnis

Dienstag 8:07 Jeff  

Dienstag 9:18 Jeff  

Dienstag 9:42 Jeff  

Dienstag 14:22 Jeff  

Dienstag 20:04 Norman  

Dienstag 20:38 Jeff  

Mittwoch 06:44 Norman  

Mittwoch 11:04 Rebecca  

Mittwoch 11:22 Jeff  

Mittwoch 11:40 Jeff  

Mittwoch 12:40. Jeff  

Raumzeit  

Mittwoch 13:18. Jeff  

Mittwoch 14:08. Jeff  

Mittwoch 14:24 Jeff  

Mittwoch 14:34 Norman  

Mittwoch 15:08 Jeff  

Raumzeit  

Mittwoch 15:21 Jeff  

Mittwoch 16:52 Norman  

Raumzeit  

Mittwoch 17:15 Jeff  

Mittwoch 17:24 Norman  

Raumzeit  

Mittwoch 19:30 Norman  

Mittwoch 20:12 Jeff  

Donnerstag 04:54 Jeff  

Donnerstag 06:25 Jeff  

Donnerstag 07:02 Rebecca  

Donnerstag 08:02 Jeff  

Donnerstag 09:16 Jeff  

Donnerstag 09:22 Norman  

Donnerstag 10:02 Jeff  

Donnerstag 13:08 Jeff  

Raumzeit  

Donnerstag 15:22 Jeff  

Donnerstag 17:54 Jeff  

Donnerstag 18:08 Jeff  

Donnerstag 18:40 Jeff  

Donnerstag 19:25 Jeff  

Donnerstag 19:45 Jeff  

Donnerstag 19:53 Norman  

Donnerstag 20:02 Jeff  

Donnerstag 20:46 Norman  

Donnerstag 20:48 Rebecca  

Donnerstag 20:51 Jeff  

Donnerstag 21:21 Jeff  

Donnerstag 21:25 Norman  

Donnerstag 21:43 Jeff  

Raumzeit  

Donnerstag 22:03 Jeff  

Donnerstag 22:42 Jeff  

Offene Fragen  

ESA  

Hochzeit  

Impressum  

Das Buch  

Der Autor  

 

Dienstag 8:07 Jeff

Jeffroy Hagen öffnete die Bodenkammer. Stickige Luft schlug ihm entgegen. Feine Staubteilchen schwebten in der Lichtsäule, die durch das Fenster drang. In diesem Raum wirkte alles grau und für die Ewigkeit abgelegt. Er ging direkt in die hintere Ecke, in der zahlreiche Möbelstücke übereinander geworfen lagen. Dort suchte er den Stuhl, der ihm bereits eine Woche zuvor aufgefallen war. Der Fund war zum Auslöser für eine Idee geworden, die gestern Abend zu einem Plan reifte. Er ergriff die Lehne mit beiden Händen und zerrte daran, doch die Kleinmöbel schienen einander festzuhalten, als wollten sie sich seinem Plan widersetzen. Jeff half mit einem kräftigen Fußtritt nach. Durch die heftigen Bewegungen füllte sich die Luft mit Staub, der sich auf dem Mobiliar angesammelt hatte.

Jeff ertappte sich dabei, wie er sich über den Möbelhaufen ärgerte. Das geschah in letzter Zeit immer öfter, wenn er sich Arbeiten im Haus vornahm und etwas nicht sofort funktionierte. Er wusste, dass es unsinnig war, sich über die Dinge aufzuregen, die ihn umgaben. Die wirkliche Ursache für seinen Unmut lag in seiner tief sitzenden Unzufriedenheit, einer kalten Wut, die er mit sich herumtrug. Er musste sie unterdrücken und sich ganz auf seine Aufgabe konzentrieren.

Er schleifte den Sessel ans Fenster der Bodenkammer, um ihn im Tageslicht betrachten zu können. Armlehnen, Rückenlehne und Stuhlbeine waren mit Schnitzereien versehen. Es handelte sich mit Sicherheit um einen antiken Sessel. Nur das Polster musste erneuert werden. Das Muster war kaum noch zu erkennen. Er wollte sich gerade umsehen, ob noch ein zweiter Sessel dieser Art unter den hingeworfenen Möbeln lag, als etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zog, das er nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Er trat ans Fenster.

Regen trommelte auf das Dach. Ein grauer Oktobertag schob tief hängende Wolken über das unbestellte Feld vor dem Anwesen. Etwas Seltsames störte den Anblick. Es war nur ein kleines Detail, beinahe hätte er es übersehen. Ein schwarzer Fleck.

Seit einer Woche thronte eine weiße Kugel mitten auf dem Feld. Ihr Durchmesser betrug etwa einen Meter. Jeff hatte sich gefragt, warum diese Kugel aufgestellt worden war, wurde aber durch andere Dinge abgelenkt. Heute am Dienstagmorgen entdeckte er wenige Meter entfernt von der Kugel eine Brandfläche und ein totes Schaf.

Er öffnete das Bodenfenster, um das Feld besser übersehen zu können. In diesem Moment traf ihn blitzartig eine Erkenntnis. Wie der Anblick des verbrannten Ackers ihn darauf gebracht hatte, konnte er nicht sagen. Gleich darauf fiel die Tür hinter ihm mit einem donnernden Knall zu.

 Der Vorfall, der ihm plötzlich vor Augen stand, lag schon über ein Jahr zurück. Aber jetzt kam alles aus seinem Unterbewusstsein hervor und plötzlich wusste er, was wirklich geschehen war. Die Ereignisse damals gründeten sich auf Betrug. Nur so konnte es gewesen sein. Der Leiter des Instituts für Tieftemperaturphysik, Rupert Anderson, hatte ihn bespitzeln lassen. Er hatte dafür gesorgt, dass sein Experiment zerstört wurde, nachdem es erfolgreich abgelaufen war. Und dann hatte Rupert Anderson ihm vorgeworfen, er hätte das Institut in Gefahr gebracht und ein verbranntes Labor hinterlassen. Das genügte ihm als Vorwand für die fristlose Kündigung. In Wirklichkeit wollte er die Ergebnisse der Forschungen als seine eigenen ausgeben. Es gab kein Feuer. Es hatte nie gebrannt.

Die Tür wurde aufgestoßen. „Was ist hier los?“

Jeff wirbelte herum und war verwirrt. In der Tür stand Sarah, im Mantel und mit einem Schirm in der Hand. Der Sessel, der neben ihm stand, sollte zum Polsterer. Auf dem Feld vor dem Haus lag ein totes Schaf. Das Öffnen des Fensters hatte für Durchzug gesorgt. Der Gedanke an Rupert Anderson hatte ihn aus der Fassung gebracht. „Was machst du hier?“, platzte es aus ihm heraus. Im selben Moment bereute er die Frage. Sarah war die Frau, die ihn faszinierte, jeden Tag aufs neue. Sie lebten bereits mehrere Jahre zusammen und das machte ihn glücklich.

„Ich war schon an der Haustür, als ich den Lärm hörte.“ Sie sah ihn an, dann den Sessel, dann das offene Fenster. „Wolltest du etwa den Sessel hinauswerfen?“

„Nein, ich wollte nicht … Nein, ich wollte nicht … Daswollteichnicht.“ Er hielt beide Hände hoch, um seine Unschuld zu beteuern.

„Ist ja gut, du brauchst dich nicht gleich aufzuregen.“

„Hast du gesehen, was auf dem Feld geschehen ist?“ Er zeigte auf das Fenster.

„Draußen?“ Sie stellte ihre Tasche neben der Tür ab und legte den Schirm obenauf, dann kam sie auf ihn zu.

„Sieh selbst.“ Etwas beunruhigte ihn, er konnte aber nicht sagen, was es war.

Sie sah nur drei Sekunden hinaus. „Was meinst du?“

„Das Schaf.“

„Es sieht tot aus. Auch Schafe sterben irgendwann einmal.“

„Und die verbrannte Erde zwischen der Kugel und dem Schaf?“

Sie sah noch einmal hinaus. „Was soll damit sein? Frage einfach Dan. Vielleicht hat er eine Erklärung dafür.“ Dan Wicklow war der Besitzer des Feldes.

„Hat er dir mal erzählt, was es mit der Kugel auf sich hat?“

„Nein, ich habe ihn auch nicht danach gefragt.“ Sie holte ihr Smartphone heraus, um nach der Uhrzeit zu sehen. „Ich muss jetzt aber los.“ Ihr Blick fiel wieder auf den Sessel.

„Ich bringe den Sessel zum Polsterer. Für unser Museumshotel.“ Er holte tief Luft, als hätte er das Möbelstück gerade nach unten auf die Straße getragen.

„Ein Museumshotel? Was soll das sein?“

Jeff schloss das Fenster, weil der kalte Luftzug ihn frösteln ließ.

Vor drei Jahren hatte Sarah ein Gutshaus am Südrand von Neuhelsing von ihrer Großtante geerbt. Das Haus war außergewöhnlich groß und im Stil der Neorenaissance gebaut worden. Es besaß zwei Stockwerke, einen geräumigen Keller und mehrere Bodenräume. Die Frontseite wurde von zwei Türmen flankiert. Die Fassaden waren mit Skulpturendekor versehen. Nachdem sie eingezogen waren, wurde ihnen bewusst, wie viel Arbeit sie in die Sanierung und den Erhalt des Hauses investieren mussten. Sie spielten mit dem Gedanken, das Gebäude zu verkaufen und dafür ein kleineres Haus auf dem Land zu erwerben. Als Jeff vor einem Jahr seinen Job verlor, hatte er die Idee, das Gutshaus in ein Hotel zu verwandeln, statt es zu verkaufen. Sarah stand seinem Plan skeptisch gegenüber.

Auf dem Boden und im Keller hatte Jeff Unmengen an alten Möbeln entdeckt. Der größte Teil davon konnte wiederverwendet werden. Die Stühle, Tische und Kommoden mussten aber aufgearbeitet werden. Das brachte ihn auf seine Idee.

„Ich dachte mir, dass dieses Schloss nicht nur ein Hotel wie jedes andere werden sollte, sondern ein Museumshotel. Die Gäste sollen das Gefühl bekommen, sie hätten eine Zeitreise unternommen und würden sich im Mittelalter befinden. Das bedeutet, wir können die Zimmer nicht mit modernen Hotelmöbeln ausstatten, aber wir können die vorhandenen verwenden.“

„Wie weit in die Vergangenheit soll die Zeitreise gehen?“, fragte sie mit einem Stirnrunzeln. „Soweit ich weiß, gab es im Mittelalter noch kein fließendes Wasser und keine Toiletten mit Wasserspülung. Willst du auch die Wasserleitungen entfernen? Was ist mit den elektrischen Leitungen? Wird es nur noch Kerzenlicht geben?“

„Ich … Ich könnte im Keller einen Sanitärtrakt nach den neuesten Standards einrichten. Und auf den Etagen gibt es eben nur eine Schüssel Wasser.“

„Werden die Wände in den Appartements mit Tapeten ausgekleidet oder mit Stoffbezug? Oder wird der nackte Stein zu sehen sein? Werden die Gäste Smartphones benutzen dürfen?“

„Das wird sich zeigen, wenn es so weit ist. Was ist denn los mit dir? Wir hatten doch schon darüber gesprochen, dass wir in dem großen Haus ein Hotel einrichten wollen.“

Sarah rieb sich mit beiden Händen die Schläfen. Das tat sie, wenn sie verdrossen war. Er hatte sie mit seinem Plan überrumpelt. Sie hatten bisher nicht über ein Museumshotel gesprochen. Das war nur seine spontane Idee gewesen. „Es tut mir leid“, sagte Jeff. „Entschuldige.“ Er fühlte sich schlecht.

Sie ging zwei Schritte zur Tür, hielt inne und drehte sich um. „Übrigens, gestern Nachmittag fuhr ein Transporter von QHeaven zum Feld, glaube ich.“

„Du glaubst es?“

„Hast du dich schon bei der Firma beworben? Vielleicht suchen sie noch einen Physiker.“

In der letzten Woche hatte Sarah schon zwei Mal auf QHeaven angespielt. Dabei handelte es sich um ein Start-up, das sich vor vier Jahren in Lindborg angesiedelt hatte, etwa fünfzig Kilometer von Neuhelsing entfernt. Dort wollte man für die Entwicklung von Weltraumtechnologien das Potenzial im Norden des Landes nutzen. Genau genommen sollten dort Miniraketen entwickelt werden, mit denen kleine Satelliten in den Weltraum befördert werden könnten. Die ESA schrieb einen Wettbewerb aus, an dem sich die Firma beteiligte und das Land stellte großzügig Fördermittel bereit. Als Jeff aus dem Institut entlassen wurde, war sein erster Gedanke, zu QHeaven zu gehen und sich an der Eroberung des Weltraums zu beteiligen. Doch nachdem er Informationen über das Unternehmen eingeholt hatte, war ihm klar, dass er niemals dort arbeiten könnte.

„Nein, nein, die suchen zurzeit keine Leute.“ Das war eine Ausrede. Er konnte Sarah nicht sagen, warum er sich dort nicht bewerben würde. Es war zu schmerzhaft für ihn.

„Ich will dir doch bloß helfen.“

„Danke.“ Jeff verspürte überhaupt keine Lust, noch einmal darüber zu diskutieren, dass er unbedingt einen Job finden sollte.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Es kann sein, dass ich heute später nach Hause komme.“ Sie dachte einen Moment nach. „Viel später, vielleicht. Du kümmerst dich um Leon? Er muss zur Orchesterprobe.“

„Das geht klar. Leon und ich sind ein eingespieltes Team. Warum musst du heute länger arbeiten? Steht die Firma, die du beraten sollst, vor dem Ruin?“ Sarah arbeitete für eine Unternehmensberatung als Kommunikationsexpertin. Er konnte sich unter einer Kommunikationsberaterin wenig vorstellen. Wie man Hallo und Guten Morgen sagt, bedürfte nach seiner Meinung keiner Beratung. Wenn sie von der Arbeit kam und über ihren Tag sprach, dann waren es immer tausend Kleinigkeiten des Alltags, an denen sie schlichtend und empfehlend beteiligt war. Also ein Mädchen für alles oder eine Seele, die zuhörte und Ratschläge gab. Das war das Bild, das er sich von ihrer Tätigkeit machte. Aber seit ein paar Wochen redete sie weniger darüber. Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, dass sie eine Affäre haben könnte. Diesen Verdacht hatte er aber schnell wieder beiseitegeschoben. Mit solchen Fragen wollte er sich nicht auseinandersetzen. Sarah war für ihn ein Anker in seinem Leben, ein Bezugspunkt, der Sinn aller seiner Anstrengungen. Zweifel an ihrer Integrität waren für ihn inakzeptabel. Sarah und er hatten sich geschworen, keine Geheimnisse voreinander zu haben. Sie würden einander nie hintergehen.

Sarah ging nicht auf seine Frage ein. „Ich glaube, das wird eine Überraschung für dich.“ Sie lächelte. „Aber ich muss jetzt wirklich los.“ Sie schloss die Tür hinter sich.

Überraschung? Jeff ließ sich in den Sessel fallen. Das Rauschen des Regens wirkte beruhigend. Warum stellte Sarah immer wieder seine Pläne infrage? Seine Karriere als Physiker war vorbei, damit musste er sich abfinden. Er hatte acht Bewerbungen geschrieben. Nur einmal wurde er eingeladen. Doch das Bewerbungsgespräch dauerte nicht lange. Der Grund für sein Ausscheiden aus dem Institut für Tieftemperaturphysik sprach nicht für ihn. Schließlich wurde ihm mitgeteilt, dass Professor Rupert Anderson ihn als nicht teamfähig beschrieben hatte und er ein schwieriger Mitarbeiter gewesen wäre. Was er darüber sagen könne, wurde er gefragt. Damals wurde ihm der Ernst seiner Lage bewusst. Dieser berufliche Weg würde ihm versperrt bleiben.

Auf keinen Fall würde er sich bei der Firma QHeaven bewerben. Das hatte aber nichts mit Rupert Anderson zu tun.

Dienstag 9:18 Jeff

Jeff hatte gerade den ersten von drei Polsterstühlen unter dem Vordach abgestellt und wollte wieder ins Haus, um den nächsten zu holen, da bemerkte er, dass sein Ärmel aufgerissen war. Das musste beim Heruntertragen des Sessels geschehen sein. Er hatte es nicht bemerkt, weil er gedanklich in einen heftigen Streit mit Rupert Anderson verwickelt war. Diese Auseinandersetzung hatte nie wirklich stattgefunden. Sie spielte sich nur in seinem Kopf ab. Das war unnötig. Jetzt musste er sein Hemd wechseln. Er sollte sich konzentrieren. Die Vergangenheit konnte er nicht ändern, aber was die Zukunft bringen würde, das konnte er beeinflussen. Es war nur nicht so einfach loszulassen.

Ein lautes Motorengeräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Jeff drehte sich um und sah einen roten Alfa Romeo Giulia, der am Grundstück vorbeiraste und sich in Richtung Hauptstraße entfernte. Rick besaß auch einen Alfa Romeo, dasselbe Modell.

Richard Lundin war sein Freund aus Studententagen. Rick hatte eine charismatische Ausstrahlung, war immer gut gelaunt, witzig und voller Ideen und riskanter Pläne. Ein reines Energiebündel. Jeff sah sich selbst als Gegenpol dazu, er war zurückhaltender, skeptischer und konnte Ricks überschäumende Fantasie mit der Realität verknüpfen, was sie zu einem idealen Team zusammenschweißte. Gemeinsam hatten sie später am Institut für Tieftemperaturphysik ihr inoffizielles Experiment aufgebaut. Eigentlich sollte es geheim bleiben, bis sie mit ihrer bahnbrechenden Erfindung an die Öffentlichkeit treten wollten. Ihnen war klar gewesen, dass sie niemals die Erlaubnis bekommen hätten, einen Versuch mit Dunkler Energie durchzuführen. Das wäre ein Sakrileg. Als neue Assistenten am Institut stand es ihnen nicht zu, sich den großen, grundlegenden Fragen der Physik ohne Anleitung durch einen erfahrenen Professor zuzuwenden. Aber vermutlich hatte Rick nicht abwarten können und damit geprahlt, sodass die Institutsleitung darauf aufmerksam wurde. Nachdem sie ein paar Wochen an dem Projekt gearbeitet hatten, immer abends und nachts, wurden sie beide unter fadenscheinigen Vorwänden gefeuert. Die haarsträubende Geschichte vom Feuer im Labor bekam auch Rick zu hören, als ihm seine Kündigung ausgesprochen wurde.

Rick? Hier? Jeff holte sein Smartphone hervor. In dem Moment erklang das Signal für eine eingegangene Nachricht. Komme eine halbe Stunde später, schrieb Roald. Eine halbe Stunde hieß bei Roald, dass er nicht wusste, wann er erscheinen würde. Das warf Jeffs Tagesplan durcheinander. Er konnte nur hoffen, dass Roald noch am Vormittag käme. Aber bevor er die anderen beiden Polstersessel heruntertrug, wollte er Rick anrufen. Es war schon ein paar Wochen her, dass sie miteinander gesprochen hatten.

Rick nahm das Gespräch nach dem zweiten Klingeln an. „Hallo Jeff, wie geht es dir?“

„Hallo Rick, wo bist du gerade?“

„Auf Dienstreise. Du rufst bestimmt an, weil du einen Grillabend organisieren willst. Wann soll er stattfinden?“

Rick wich ihm aus. Seine fröhliche Stimmung wirkte aufgesetzt. Die Hintergrundgeräusche bei ihm wiesen darauf hin, dass er mit seinem Alfa Romeo unterwegs war. „Nein, nicht wegen eines Grillabends. Ich habe heute Morgen Polstersessel in der Bodenkammer …“

„Jeff, was ist los mit dir? Du rufst mich an, um mir mitzuteilen, dass du auf einem Boden herumturnst? Das ist nicht dein Ernst? Wolltest du nicht ein Hotel eröffnen?“

Jeff hasste sich für seine umständliche Ausdrucksweise. „Nein, ja, Rick, Rick, hör mir zu. Ich glaube, Rupert hat uns nachspioniert und absichtlich das Labor zerstört. Er wollte unsere Ergebnisse, um sich …“

„Wie kommst du jetzt auf Rupert Anderson? Auch wenn es so wäre, wie du glaubst, es ist egal. Er käme ohnehin zu spät. Lass es ruhen, Jeff.“

„Was heißt, er käme zu spät?“

„Hier klopft gerade jemand an. Moment. Mein Chef. Jeff, mach dir nicht so viele Gedanken, okay? Wir können später darüber reden, wenn du unbedingt willst. Ich muss jetzt aufhören.“

„Dein Chef? Wo arbeitest du denn?“

„Darüber kann ich nicht reden, nicht am Telefon. Deine Idee mit dem Grillabend nächste Woche finde ich hervorragend. Sag Bescheid, wenn der Termin feststeht. Dann können wir uns auch wieder ausführlich unterhalten. Bis dann.“ Rick unterbrach die Verbindung.

Das war ein seltsames Gespräch. So ausweichend und kurz angebunden war Rick sonst nie. Er hatte immer etwas über seine neuesten Abenteuer zu erzählen. Jedenfalls hatte Jeff den Eindruck, dass Rick ständig auf einer Exkursion unterwegs oder in einem Experiment verstrickt war oder irgendetwas Aufregendes erlebte.

Was meinte Rick damit, dass Rupert zu spät käme? Warum war er so angespannt?

Rick war mit seinem Alpha Romeo vom Acker gekommen, als er am Haus vorbeifuhr. Was hatte er dort zu suchen?

Jeff fand, dass es Zeit war, sich das Feldstück genauer anzusehen. In Sichtweite des Hauses hatte etwas Mysteriöses stattgefunden, ohne dass er etwas davon mitbekommen hatte. Etwas Tödliches. Das Wetter war grau in grau, neblig und in der Luft hingen feine Tröpfchen. Es schien so, als ob eine Wolke direkt über die Erdoberfläche kroch. Jeff holte sich seine Gummistiefel.

Verschiedene wilde Pflanzen hatten sich über dem Acker ausgebreitet, stellenweise wuchsen sie bereits kniehoch. Von den Niederschlägen war der Boden durchgeweicht und rutschig. Als er nur noch wenige Schritte von der Kugel entfernt war, sah er bereits, dass das Grün in der Nähe der Brandfläche an die Erde gepresst worden war. Der Druck, der das verursacht haben musste, ging von einem Zentrum aus, das etwa zwanzig Meter von der Kugel entfernt war. An dieser Stelle klaffte ein trichterförmiges Loch im Boden, etwa einen halben Meter tief. Am Grund lagen geschmolzene Steine und Asche. Das tote Schaf, zehn Meter entfernt davon, sah aus, als hätte es jemand nach dem Grillen vom Drehspieß genommen und liegen lassen. Die ganze Szene erweckte den Eindruck, als wäre etwas bei hohen Temperaturen verbrannt. In der letzten Nacht gab es aber keine Explosion und keinen Brand.

„Was machen Sie da?“, rief jemand von hinten.

Jeff drehte sich um. Dan Wicklow kam auf ihn zu. Er war zwischen fünfzig und sechzig, hatte ein wettergegerbtes Gesicht und war stämmig gebaut. Mit der ausgebeulten Hose unbestimmter Farbe, den Stiefeln und der Regenjacke trug er die Mode, die seit Jahrhunderten auf dem Land angesagt war. Unter der speckigen Schirmmütze quollen ungepflegte, graue Haare hervor.

„Ich bin Jeff Haglund“, sagte er, als Wicklow auf zehn Meter herangekommen war. „Ich wohne dort.“ Er zeigte auf das Gutshaus.

„Sie sind der Neue von Sarah?“

Der Neue von Sarah. Sarah war im Ort bekannt, aber er war neu, er wohnte erst seit knapp zwei Jahren hier. Sarah hatte sie bereits einander vorgestellt, aber daran konnte sich der Alte offenbar nicht mehr erinnern. „Vom Fenster aus habe ich gesehen, dass hier etwas nicht stimmt, deshalb wollte ich nachsehen.“

Wicklow betrachtete das an den Boden gedrückte und verbrannte Gras und das tote Schaf. „Waren Sie das?“

„Nein, wie hätte ich das anstellen sollen?“

„Weiß ich doch nicht. So wie Sie aussehen, wäre es durchaus möglich.“ Wicklow deutete auf den kaputten Ärmel.

„Auch wenn sich das komisch anhört, ich habe nichts gesehen und nichts gehört.“ Jeff begann zu frieren. Außerdem wurde es ungemütlich nass. Er hatte zwar trockene Füße, aber an eine Regenjacke und eine Mütze hatte er nicht gedacht.

„Das hört sich nicht komisch an, sondern blöd. Sieht ja nicht so aus, als hätten nur ein paar Kinder mit Streichhölzern gespielt. Und Sie wollen nichts gesehen haben.“

„Tut mir leid, aber so ist es. Was hier vorgefallen ist, muss in der Nacht geschehen sein, und in dieser Zeit schlafe ich für gewöhnlich.“

„Sie müssen nicht gleich patzig werden.“

Jeff überlegte, ob er den Alten einfach stehen lassen und vor dem Haus auf Roald warten sollte.

Wicklow starrte eine Weile auf das Schaf. „Da hat wohl jemand etwas gegen die Firma.“

„Welche Firma?“

„Irgendein unaussprechlicher Name. Steht auf dem Schild an dem Gerät.“ Wicklow winkte in Richtung der Kugel.

„Was ist das für ein Gerät?“

„Das soll eine Satelliten-Empfangsanlage sein.“

Jeff ging auf die Kugel zu und entdeckte das kleine Schild. QHeaven. Wir erobern den Weltraum. Sarah erwähnte die Firma vorhin. Ausgerechnet das Unternehmen, mit dem er nichts zu tun haben wollte, hatte sich direkt vor seinem zukünftigen Museumshotel eingerichtet. Was von all dem war für Rick von Interesse gewesen, die Kugel, das tote Schaf, der Brandfleck? Arbeitete Rick für QHeaven? Das würde einiges erklären, aber das war unmöglich.

„Arbeiten Sie auch bei der Firma?“, fragte Wicklow.

„Nein.“ Jeff begann, vor Kälte zu zittern.

„Dafür, dass Sie das hier nichts angeht, sind Sie aber ziemlich neugierig.“

„Ich wohne dreihundert Meter von hier entfernt.“

„Gequirlter Mist. Sarah arbeitet doch bei denen. Und Sie wissen angeblich nichts.“

„Sarah arbeitet doch nicht für QHeaven.“ Der Alte redete wirres Zeug. „Sie ist Kommunikationsberaterin. Vielleicht war sie deshalb mal …“

„Ich werde die Polizei rufen müssen“, sagte Wicklow. „Sonst bezahlt die Versicherung nicht.“

„Vielleicht war es ein Meteoriteneinschlag?“

„War es das?“

Das war eigentlich unwahrscheinlich, wenn niemand etwas davon mitbekommen hatte. „Ich weiß es nicht.“ Jeff sah, wie ein dunkelblauer Peugeot Boxer vor dem Haus hielt. Roald war eingetroffen.

„Gequirlter Mist“, brummte Wicklow vor sich hin. „Ist auch egal. Irgendeiner muss für den Schaden aufkommen.“

„Haben Sie der Firma erlaubt, die Anlage auf Ihrem Feld aufzustellen?“

„Klar, die haben mir zwanzigtausend Euro gegeben, damit ich das Feld dieses Jahr nicht bestelle und sie die Fläche nutzen dürfen. Warum hätte ich mich nicht darauf einlassen sollen?“ Er ging auf das tote Schaf zu.

Worüber wollte sich Wicklow eigentlich beschweren? Jeff hatte kein Interesse an einer Fortsetzung des Gesprächs mit dem alten Bauern und stapfte vom Feld. Er musste sich trockene Sachen anziehen, bevor er die Sessel wegbrachte.

Dienstag 9:42 Jeff

„Keiner in der Hütte“, rief Jeff, der sich seinem Haus näherte und Roald vor der Tür stehen und anklopfen sah.

Roald drehte sich um und neigte den Kopf zur Seite. „Wo kommst du denn her? Warst du beim Schlammcatchen?“

Jeff sah auf seine dreckverschmierten Stiefel, bemerkte seinen zerrissenen Ärmel und fühlte sich nass bis auf die Knochen. „So etwas Ähnliches. Lass uns für ein paar Minuten hineingehen. Ich muss mir trockene Sachen anziehen.“ Jeff schloss die Tür auf, zog die Stiefel aus, stellte sie neben den Eingang und ging hinein.

Roald betrat nach ihm das Haus. „Ich kann nicht lange bleiben“, sagte er. „Mein Zeitplan für heute hat sich kurzfristig geändert.“

Das überraschte Jeff nicht. Es war nicht das erste Mal, dass Roald etwas „ganz Wichtiges“ erledigen musste und deswegen eine Vereinbarung nicht halten konnte. Roald war Sarahs jüngerer Bruder. Er war für seine Schwester da, wenn sie ihn um Hilfe bat. Er war eins neunundachtzig groß und hatte die Statur eines Gewichthebers. Es gab zahlreiche Gelegenheiten, bei denen er helfen konnte. Als Sarah im Testament ihrer Großtante als Erbin für das Haus aufgeführt wurde, konnte er seinen Neid nur schlecht verbergen. Trotzdem sicherte er ihr zu, sie bei allen Arbeiten daran zu unterstützen.

Roald wollte ursprünglich seinem Vater nacheifern und Architekt werden. Er hatte es sich dann aber anders überlegt und ein Bauingenieurstudium absolviert. Im Anschluss gründete er ein Projektierungsbüro, das aber nicht so gut lief, wie er es sich vorgestellt hatte. Er rief ein Ein-Mann-Wohnungsverwaltungsunternehmen ins Leben und bekam Aufträge von Verwaltungen kleinerer Gemeinden und Privatpersonen. Dadurch hatte er auch Kontakte zu vielen Firmen. Er hatte schon angeboten, auch dieses Haus unter seine Fittiche zu nehmen. Der Plan, daraus ein Hotel zu machen, passte nicht in sein Portfolio, trotzdem bot er seine Unterstützung an.

„Dann fahren wir die Sessel nicht zum Polsterer?“, fragte Jeff. Wozu kam Roald hierher? Das hätte er auch am Telefon sagen können.

„Doch, klar. Wir laden sie jetzt ein und bringen sie dann zu einem späteren Zeitpunkt in die Werkstatt. Das ist doch kein Problem, oder?“

„Nein, nein, kein Problem. Es ist nicht dringend.“ Das warf zwar Jeffs Tagesablauf noch einmal durcheinander, aber es hatte auch sein Gutes. Er konnte so für Leon noch etwas vorbereiten. „Ein Sessel steht schon draußen, die anderen beiden stehen noch auf dem Boden.“

„Dann holen wir sie.“ Roald ging zur Treppe.

Jeff hätte lieber erst seine Sachen gewechselt, wollte aber Roalds Tatendrang nicht ausbremsen.

Auf halber Treppe sagte Roald: „Wegen deiner nassen und verdreckten Sachen vermute ich, du warst auf dem Feld.“ Er blieb stehen und drehte sich zu Jeff um. „Willst du etwa auch noch in Landwirtschaft machen?“

Mit dieser Frage hatte Jeff nicht gerechnet. „Nein, ich habe nicht … Nein, überhaupt nicht. Das ist alles ganz anders.“

Roald ging die Treppe weiter nach oben. „Dann war das nur deine morgendliche Joggingrunde auf dem Acker?“

„Ich wollte mir nur den Brandfleck und das tote Schaf genauer ansehen. Dann kam Dan Wicklow dazu.“

„Hat eins von Dans Schafen im Bett geraucht?“

„Im Ernst, dort liegt ein angebranntes totes Schaf. Außerdem hat Dan Wicklow behauptet, Sarah würde in der Firma QHeaven arbeiten.“

„Der alte Dan ist nicht mehr ganz richtig im Kopf. Du darfst nicht alles auf die Goldwaage legen, was er dir erzählt. Wer weiß, was er mit seinem Schaf dort angestellt hat.“

Das erschien einleuchtend. Jeff machte sich zu viele Sorgen. Doch so einfach wie Roalds Erklärung klang, konnte sie seine tief sitzende Unruhe nicht auflösen.

In der Bodenkammer setzte sich Roald auf einen der bereitstehenden Sessel. „Das alte Zeug ist schon muffig. Warum willst du das wiederherstellen lassen? Kauf dir neue einfache Möbel für dein Hotel, das wird wesentlich billiger. Ich kann dir Kontakte besorgen.“

„Ich dachte an ein Museumshotel. Die Vielzahl alter Möbel auf dem Boden und im Keller kann man doch wiederverwenden.“

Roald runzelte die Stirn. „Ein Museumshotel? Willst du auch noch ein Museum eröffnen?“

Jeff ließ sich auf den zweiten Sessel fallen. Das Museumshotel war nur eine Idee gewesen. Dass er schon bei der Erwähnung eines solchen Vorhabens auf so viel Unverständnis stieß, hatte er nicht erwartet. „Eigentlich sollte nur der Aufenthalt im Hotel das Gefühl vermitteln, sich in der Vergangenheit zu bewegen.“

„Also eher ein Zeitreise-Hotel?“

„So etwas in der Art, ja.“

Roald senkte den Kopf und sah Jeff von unten her an. „Hast du mal mit Sarah darüber gesprochen?“ Seine Skepsis war unüberhörbar.

„Ich habe es einmal kurz erwähnt.“

„War sie begeistert?“

„So ähnlich wie du.“ Nach einer kurzen Pause fragte Jeff: „Sag mal, hat Sarah dir gegenüber irgendwann die Firma QHeaven erwähnt?“

„Mann, du stellst Fragen. Ich war dabei, als sie dich gefragt hat, ob du dich dort nach einem Job erkundigt hast. Schon vergessen?“

„Ich meine, ob sie gesagt hat, dass sie selbst dort arbeitet.“

Roald sah ihn mit einer Miene an, die mehr als Zweifel zum Ausdruck brachte. „Ihr solltet einfach mal miteinander reden, glaube ich. Kauf heute eine gute Flasche Wein, nicht irgendetwas Billiges, sondern etwas Exklusives, und dann setzt euch am Abend zusammen und sprecht miteinander.“ Er sah auf seine Uhr. „Ich muss jetzt aber los. Bringen wir die Sessel hinunter.“

Sie hatten den Boden gerade verlassen, als Roald fragte: „So wie du gefragt hast, warst du bislang nicht bei QHeaven. Hast du ein Problem mit der Firma? Etwas, worüber du nicht mit Sarah reden willst?“

War das so offensichtlich? „Das ist eine lange Geschichte“, sagte Jeff. Er hoffte, dass Roald nicht weiter nachhaken würde. Das Heruntertragen eines schweren Sessels auf einer engen, alten Holztreppe war für ihn wie ein Tanz auf einem Hochseil ohne Netz in einem Zirkus.

„Weißt du“, begann Roald nach wenigen Stufen, „wenn ihr beide zusammenleben wollt, dann müsst ihr einander vertrauen. Das funktioniert aber nicht, wenn ihr nicht miteinander redet. Sieh mal, Julia und ich sind seit sieben Jahren verheiratet. Jeder von uns beiden trägt seine eigenen Probleme mit sich herum. Aber eins war uns von Anfang an klar: Wir müssen miteinander über alles reden, es darf keine Geheimnisse geben, die irgendwann unsere Familie sprengen könnten. Wenn wir …“

Jeff rutschte von der Stufe ab. Mit einer Hand klammerte er sich an das Geländer, mit der anderen hielt er geistesgegenwärtig den Sessel fest, damit der nicht Roald die Beine wegschlug. Mit dem rechten Knöchel hatte er sich an einer Kante gestoßen. Ein stechender Schmerz durchzuckte sein Bein. Er schrie auf.

Roald fuhr herum, soweit es der Sessel, den er trug, zuließ. „Alles in Ordnung?“ Als er das Malheur erfasst hatte, griff er nach Jeffs Sessel. „Du kannst loslassen.“ Er stellte beide Polsterstühle so auf die Stufen, dass sie allein stehen konnten, aber bei der kleinsten Berührung hinunterpoltern würden. „Hast du dich verletzt?“

Jeff hatte sich auf eine Stufe gesetzt und versuchte auf die Beine zu kommen, indem er sich am Geländer hochzog.

„Soll ich einen Arzt rufen?“

„Nein, es geht schon.“ Jeff konnte mit dem rechten Fuß auftreten. Der Schmerz ließ etwas nach. Anscheinend war nichts gebrochen.

„Lass dir Zeit. Ich bringe die beiden Polsterstühle nach unten.“

Als Jeff die letzten Stufen herunterhinkte und sich dabei am Geländer festhielt, saß Roald in einem der beiden Sessel. „Jeff, du siehst aus wie der letzte Überlebende der Titanic.“

So fühlte sich Jeff auch. „Danke.“

„Übrigens ist mir gerade etwas eingefallen, was ich dir sagen wollte. Du musst damit rechnen, dass du deine Idee mit dem Hotel aufgeben musst.“

Jeff ließ sich in den zweiten Sessel fallen. Sein Knöchel pochte wie wild. „Warum denn?“

„Du kennst doch Jochen Mantai?“

„Der, dem das Hotel am Bahnhof gehört?“

„Genau der. Er ist zugleich Vorsitzender im Wirtschaftsausschuss der Stadt. Als er davon gehört hatte, dass hier noch ein Hotel entstehen soll, war er sofort dagegen. Das habe ich von einem gehört, der jemanden aus dem Ausschuss kennt.“

„Abwarten.“ Jeff hatte jetzt keinen Nerv, um sich damit noch auseinanderzusetzen.

„Okay, kümmern wir uns um die Polsterstühle, falls du sie immer noch in Auftrag geben willst.“ Roald stand auf. „Ich muss auch los, ich bin jetzt schon zu spät dran.“

Jeff stand langsam auf. Sein Knöchel meldete sich sofort wieder schmerzhaft.

„Ich habe mir etwas überlegt“, fuhr Roald fort. „Wenn das mit deinem Hotel nicht funktioniert, kannst du bei mir einsteigen. Sagen wir als Bereichsleiter. Du bekommst dann den Bereich, sagen wir, zwischen Kreelsund und Niemelitz und akquirierst Wohnungen und Häuser, die zu verwalten sind. Oder zu verkaufen.“

„Ich habe weder Erfahrungen noch Referenzen auf diesem Gebiet, geschweige eine entsprechende Qualifikation.“

„Darüber mach dir keine Gedanken. Du trittst unter dem Firmennamen Roald Porter Immobilien Facility-Management auf, damit hast du dann einen Hintergrund und ein Image. Auch im Internet präsent. Was sagst du?“

„Ja, nein …“ Der Knöchel schmerzte. „Die Sessel, können wir …?“

„Natürlich, denke einfach in Ruhe darüber nach.“ Roald ging zur Haustür. „Ich werde schon mal den Transporter vorbereiten. Du kannst den ersten Sessel bringen.“

Den Transporter vorbereiten? Was meinte Roald damit? Was musste er vorbereiten, um die drei Polsterstühle zu verladen? Als Jeff aus dem Haus trat, stand die Seitentür des Transporters offen und Roald war darin verschwunden. Jeff ging ohne Sessel zum Peugeot Boxer. Das Fahrzeug war voll beladen mit Kisten, Rohren, Werkzeug und Stapeln von Holz. „Wo willst du hier noch Sessel verstauen?“, rief er.

„Irgendwie wird das schon gehen“, erwiderte Roald, der aus den hinteren Bereichen des Laderaums an der Schiebetür erschien.

„Wir verschieben das auf ein anderes Mal.“ Jeff hob abwehrend die Hände. „Du hast es eilig und wir wollen auch nicht in Hektik die alten Stühle beschädigen. Wenn du Zeit hast und genügend Platz in deinem Transporter, können wir die Sessel zum Polsterer bringen. Es ist nicht dringend, aber ich würde mich freuen, wenn du mir dabei helfen würdest.“

„Okay, wie du willst. Ruf mich an, wenn es losgehen soll.“

Jeff sah dem Transporter hinterher. Roalds Angebot, für ihn zu arbeiten, war gut gemeint, aber kam nicht infrage. Schon das Wort Akquise trieb ihm einen Schauer über den Rücken. Was sollte er aber tun, wenn er mit dem Hotel tatsächlich scheiterte? Erneut ließ ihn der kalte Wind am ganzen Körper zittern. Er trug immer noch das zerrissene und durchnässte Hemd. Der Knöchel schmerzte.

Dienstag 14:22 Jeff

Dunkle Wolken jagten über Neuhelsing und bisweilen verlor eine von ihnen ihre feuchte Last. Jeff hatte den Ford so geparkt, dass er die Schule im Blick behalten konnte. Er wollte Leon abholen. Der Regen hätte seinem Sohn nichts ausgemacht, er brauchte mit dem Fahrrad nur wenige Minuten bis nach Hause. Jeff hatte aber etwas vorbereitet, was er Leon zeigen wollte. Die Zeit, die er dafür hatte, war gering, weil Leon bald wieder zur Übungsstunde des Jugendblasorchesters fahren musste.

Das Schulgebäude war ein Plattenbau und hatte trotz der bunten Fassade etwas Langweiliges an sich. Es hätte auch ein Bürohaus sein können. Die Schule seiner Kindheit war ein mächtiger Bau aus rotem Backstein mit zwei Schulhöfen und einem Sportplatz. Im Nachhinein betrachtet würde er es als ein Gebäude mit Charakter bezeichnen. Eben typisch Schule, lange Flure, breite Treppen, große Tore, alles geeignet, um ungeduldige kleine Schüler frei laufen zu lassen.

Jeff hörte das laute Signal, womit das Ende des Unterrichts verkündet wurde. Nur Sekunden später stürmten die ersten Schüler aus dem Gebäude. Er stieg aus und ging zur Umzäunung des Schulgeländes. Leon hatte ihn schon entdeckt, bevor er mit seinem Fahrrad durch das Tor kam.

„Wie war der Unterricht?“

„Gut.“

„Was habt ihr gelernt?“

„Nichts.“

Der gewohnte Schulalltag, dachte Jeff. Sie verstauten das Fahrrad im Kofferraum.

„Wir müssen nachher noch Sebastian abholen“, sagte Leon, als er einstieg.

„Ich weiß. Leg den Gurt an.“

Sebastians Mutter, Hinrika, hatte vor einer Stunde angerufen und gefragt, ob die Fahrt der Kinder wie vereinbart abgesichert wäre. Die beiden Jungen waren Freunde und spielten auch beide im Jugendblasorchester. Am kommenden Wochenende hatte das Orchester im Rahmen des Oktoberfestes einen Auftritt. Bis dahin wurde jeder Tag genutzt, um intensiv zu üben. Leon war elf und mit Leidenschaft dabei. Wenn beide Jungen dieselbe Veranstaltung besuchten, übernahm entweder er oder Hinrika den „Fahrdienst“, damit sie nicht beide fahren mussten. Heute war Jeff an der Reihe. Er war zu einem Hausmann geworden, seitdem er seinen Job verloren hatte. Und er empfand es nicht einmal als schlimm. Es hatte auch seine guten Seiten. Er konnte selbst entscheiden, was er tun wollte und wann. Oft jedenfalls. Außerdem konnte er die Entwicklung seines Sohnes verfolgen. Für Leon ein Vater zu sein, der für ihn da war, wenn er ihn brauchte, war ihm das Wichtigste in seinem Leben geworden.

„Wenn ich ein eigenes Horn oder eine eigene Posaune hätte, könnte ich auch zu Hause üben.“

„Musikinstrumente sind aber sehr teuer.“

„Dann spare ich dafür. Oder ich wünsche mir eins zu Weihnachten.“

„Das könnte schwierig werden.“ Jeff überkamen Schuldgefühle, weil er keinen Job hatte und damit auch kein Geld verdiente. Das war das Problem mit dem Hausmann-Dasein. Bevor sein Hotel-Projekt Geld einbringen konnte, würden noch einige Jahre vergehen. Er wollte seinem Sohn ein Vorbild sein. Dabei hatte er eigentlich nicht im Sinn gehabt, ihm zu zeigen, wie man einen Haushalt führt.

Er dachte an seinen eigenen Vater, der durch einen Unfall gestorben war, wie man ihm damals sagte. Als er zwei Tage vor den Sommerferien aus der Schule gekommen war, traf ihn die Nachricht. Das war jetzt fünfundzwanzig Jahre her. Jeff hatte bis heute nicht herausfinden können, was das für ein Unfall gewesen sein soll. Sein Vater arbeitete am Flughafen als Servicetechniker. Aber an diesem Tag hatte er frei. Seine Leiche wurde nie übergeben, seine Mutter hatte ihn nicht begraben können. Es war, als wäre sein Vater in einem schwarzen Loch verschwunden. Ein paar Monate davor, Jeff war so alt wie Leon heute, standen sie in einer klaren Winternacht im Garten und sahen in den Himmel. Unzählige Sterne funkelten ihn an. Sie schienen so nah und doch so fern zu sein.

„Stell dir vor“, sagte sein Vater zu ihm, „dass all die Sterne, die du am Himmel siehst, Sonnen sind, ähnlich wie unsere. Einige ihrer Planeten sind so ähnlich wie unsere Erde. Dort leben vielleicht auch Wesen, die so ähnlich aussehen wie wir.“

„So wie E.T.“ Der Film „E.T. – Der Außerirdische“ hatte Jeff damals beeindruckt. Er zeigte auf einen hellen Stern. „Dort wohnt E.T.“

„Das ist der Stern Vega. Er ist fünfundzwanzig Lichtjahre von uns entfernt. Es werden noch viele Jahre vergehen und einige Erfindungen nötig sein, um dorthin zu reisen und den Außerirdischen die Hand zu reichen. Falls sie Hände haben.“

„E.T. hat Hände. Er war auch schon auf der Erde.“

Sein Vater lächelte ihn an. „E.T. und seine Freunde wussten schon, wie sie die großen Entfernungen zurücklegen können. Aber wir auf der Erde wissen das bisher nicht.“

Das war für Jeff damals schwer zu verstehen. „Warum nicht? Du hast gesagt, man braucht fünfundzwanzig Jahre, um dorthin zu reisen.“

„Das Licht benötigt fünfundzwanzig Jahre, um von hier dorthin zu gelangen. Aber unsere Raumfahrzeuge sind nicht so schnell. Würden wir mit dem Raumschiff dorthin fliegen wollen, mit dem drei Astronauten 1969 zum Mond geflogen sind, würden wir siebenhundertfünfzigtausend Jahre benötigen. So lange lebt kein Mensch. Vermutlich auch nicht E.T.“

Jeff hatte damals das Gefühl, als hätte er gerade einen Freund verloren.

„Papa, die Ampel steht auf Grün. Worauf wartest du noch?“

Jeff fuhr an. „Du musst noch Hausaufgaben erledigen, bevor wir Sebastian abholen können.“

„Das schaffe ich schon.“

„Morgen sollst du einen Vortrag halten?“

„Ja, über das Sonnensystem. Mama hat gesagt, du hilfst mir dabei, weil du dich mit dem Sonnensystem auskennst.“

Sarah hatte ihn gestern Abend darauf angesprochen. „Ja, ich habe etwas für dich vorbereitet. Wir werden ein richtiges Experiment durchführen.“

„Cool. Mit dem Sonnensystem?“ Leon sah ihn zweifelnd an.

„Warte ab.“ Nach wenigen Minuten bogen sie in den Weidenweg ein.

„Da hat jemand einen Kürbis gebracht“, rief Leon, als sie auf das Grundstück fuhren. Er beeilte sich beim Aussteigen und lief sofort zur Frucht.

Jeff hatte einen großen Hokkaido gekauft, der einen Durchmesser von etwa dreißig Zentimeter besaß, und ihn auf einen Hocker gelegt, den er neben die Haustür gestellt hatte.

Als Jeff näher kam, rief Leon: „Im Kürbis steckt eine Nadel.“ Er zeigte auf eine Stelle des Kürbisses und schüttelte den Kopf. „Soll das etwas bedeuten?“

„Ja, das ist für unser Experiment, damit du dir das Sonnensystem besser vorstellen kannst.“

„Was denn?“ Leon zog die Brauen zusammen. „Ein Kürbis aus dem Sonnensystem?“

„Witzbold. Willst du erst einmal deine Sachen ins Haus bringen?“

Leon schloss die Tür auf, warf seinen Rucksack in den Flur und kehrte zum Hocker mit dem Kürbis zurück. „Du kannst anfangen.“

„Okay, wir beginnen mit einem Gedankenexperiment. Stell dir das ganze Sonnensystem vor, die Sonne und alle Planeten, und verkleinere es, lass es so lange schrumpfen, bis die Sonne die Größe dieses Kürbisses hat.“

„Das ist aber eine kleine Sonne.“

„Richtig. Die erste Frage ist dann, wie groß ist jetzt die Erde?“

Leon sah den Hokkaido an, zuckte die Schultern und wartete, dass Jeff fortfuhr.

„Die Erde ist jetzt so klein wie der Stecknadelkopf. Vielleicht etwas größer, aber nicht viel.“

„So klein?“ Leon sah ihn ungläubig an.

„Ja, so winzig. Und jetzt kommt die zweite Frage: Wie weit ist die Erde von der Sonne entfernt? Was schätzt du?“

Leon hielt die rechte Hand mit gestreckten Daumen und Zeigefinger hoch.

„Weiter. Viel weiter.“

Leon hielt beide Hände etwa einen Meter auseinander und schwenkte sie dann zum Kürbis.

„Noch viel weiter. Ich zeige es dir. Die Erde wäre etwa zweiunddreißig Meter entfernt. Du bleibst hier bei der Kürbis-Sonne und ich bringe die Erde dorthin, wo sich ihre Umlaufbahn befinden würde.“ Jeff hielt die Stecknadel hoch. „Achte auf die Erde.“

Jeff hatte berechnet, dass er vierzig Schritte von dem Kürbis weggehen musste. Nach fünfundzwanzig Schritten stand er aber schon auf der Straße vor dem Grundstück. Er konnte nicht geradeaus weitergehen, weil hinter der Straße ein Streifen mit Bäumen und Sträuchern folgte, sodass Leon ihn aus den Augen verlieren würde. Deshalb musste er nach links der Straße folgen. Er überschlug kurz im Kopf, dass Pythagoras ihm raten würde, einunddreißig Schritte in Richtung des Feldes zu gehen, damit der Stecknadelkopf zweiunddreißig Meter von dem Kürbis entfernt wäre. Es kam nicht auf ein paar Zentimeter an, sondern sollte nur die Größenverhältnisse verdeutlichen.

Während er die Straße abschritt und in Gedanken mitzählte, fuhr ein Transporter mit der Aufschrift „QHeaven. Wir erobern den Weltraum“ an ihm vorbei. Die Straße war eine Sackgasse, die zu dem Feld führte, von dem vor zwei Stunden das tote Schaf abgeholt wurde.

Nach einunddreißig Schritten drehte er sich zu Leon um. Der sah dem Transporter nach, obwohl er von seinem Standpunkt nicht erkennen konnte, was sich auf dem Feld abspielte. Jeff wedelte mit den Armen, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Nachdem Leon ihn bemerkt hatte, hielt er die Stecknadel hoch, dann steckte er sie in den Boden neben dem Gehweg. Sein Knöchel schmerzte, der Schmerz pochte im Herzrhythmus.

Als er wieder auf dem Hof war, fragte ihn Leon: „Was machen die da?“ Er zeigte auf den Transporter.

„Das weiß ich nicht. Hast du gesehen, wohin ich die Stecknadel-Erde gebracht habe?“

„Wohin?“

„Dort an der Straße, wo ich die Hand gehoben habe.“

„Ich sehe sie aber nicht.“

„Weil sie so klein ist.“

Leon überlegte einen Moment. „Das geht überhaupt nicht, Papa“, sagte er dann. „Weißt du, warum sich die Erde um die Sonne bewegt?“

Jeff lächelte innerlich, ließ sich aber nichts anmerken. „Warum?“

„Weil die Sonne die Erde anzieht. Das nennt man die Schwerkraft. Aber wie soll denn diese kleine Sonne“, er zeigte auf den Kürbis, „die Erde anziehen, die so winzig und so weit weg ist, dass ich sie nicht einmal sehen kann? So geht das nicht. Ich werde zwei Seiten zusammenkleben und das Sonnensystem aufmalen. Im Internet habe ich schon eine Seite gefunden, die ich abzeichnen kann.“

Leon lief zur Haustür, stürmte hinein und rief noch zurück: „Ich beeile mich, damit wir rechtzeitig losfahren können.“

Was hatte er als Reaktion erwartet? Wenigstens nahm Leon nicht alles, was ihm erzählt wurde, gleichgültig als gegeben hin. Er dachte selbst darüber nach und äußerte seine Zweifel. Jeff verspürte Stolz auf seinen Sohn.

Die Erde würde er lassen, wo sie war, aber die Sonne musste in den Keller.

Dienstag 20:04 Norman

In der Hotellobby waren kleine Tische mit je zwei Schalensessel an der Fensterfront aufgestellt worden. Von den sechs Tischen war nur einer besetzt. Norman Drake wählte den Letzten in der Reihe. Das Treffen sollte in einer diskreten Umgebung und ungestört stattfinden. Niemand sollte sich später an sie erinnern können. Das war die Forderung von Frederic Torres. Norman hielt das für übertrieben. Vielleicht wollte Torres nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden, falls sich die Ankündigung als Bluff erwies. Das war verständlich. Norman hatte Versprechungen gegeben, die völlig unglaubwürdig klingen mussten. Und doch hatte das Unternehmen geantwortet. Bei einem Treffen sollten Details erläutert werden.

Norman war selbst skeptisch, als Professor Anderson vor einem Jahr zu ihm kam und über Dinge redete, die in den Bereich der Science Fiction gehörten. Aber das Video, das Anderson vorführte, hatte ihn überzeugt. Nicht, weil er verstanden hätte, was der Professor ihm erzählte. Sein Instinkt sagte ihm damals, dass es funktionieren könnte. Es war nur ein Bauchgefühl, eine Gewissheit, die aus seinem tiefsten Innern kam. Und er sah sich gedanklich in einem Geldregen, der folgen musste, wenn ihm diese Technologie gehörte.

Die Straßen in diesem Teil der Stadt waren wenig belebt. Gelegentlich eilte ein Fußgänger vorbei, der nach Hause wollte, oder ein Fahrzeug, das sich in dem Labyrinth der Einbahnstraßen verirrt hatte, rollte die Gasse hinunter. Die Straßenlampen ließen ihr Licht auf eine graue, nasse, verlassene Straße fallen.

Er kam sich vor, wie in einem schlechten Spionagefilm. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte die nächste Nachtbar aufgesucht. Aber wer reich und mächtig werden wollte, musste auch bereit sein, Opfer zu bringen. Sein Vater, Cromer Drake, war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Manch einer würde ihn vielleicht als reich bezeichnen. Das war aber nicht das, was Norman anstrebte. Er wollte in den Klub der Milliardäre aufsteigen. Erst das war Reichtum, Einfluss und Macht. Damit würde er seinem Vater beweisen, dass er um ein Vielfaches besser, erfolgreicher wäre, als es irgendjemand erwartet hatte. Er würde keine Demütigungen mehr von ihm erdulden müssen.

„Norman Drake?“

Norman wandte sich vom Fenster ab. Neben dem Tisch stand ein Mann, mittelgroß, legere Kleidung, Bürstenhaarschnitt und Sonnenbrille. Sehr unauffällig.

Bevor Norman antworten konnte, fuhr der Fremde fort: „Frederic Torres. Wir wollten reden.“ Er setzte sich Norman gegenüber, nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in sein Jackett. „Dann erzählen Sie mal, wie Sie jedes Transportproblem lösen können. Ihr Unternehmen baut Miniraketen, wie ich herausgefunden habe. Ich nehme also an, es geht um einen neuartigen Treibstoff.“

Er kam gleich zur Sache. Und er hatte seine Hausaufgaben erledigt. Frederic Torres vertrat ein Unternehmen, das neuartige Waffensysteme für das Militär entwickelte. Sein herablassender Tonfall würde ihm aber bald im Hals stecken bleiben. „Nein, mit solchen trivialen Dingen beschäftigen wir uns nicht oder nicht vorrangig. Stellen Sie sich vor, Sie könnten einen beliebigen Gegenstand, sagen wir eine Funkstation, von einem Ort an einen anderen transportieren, ohne ihn auf ein Fahrzeug zu laden, ohne Hubschrauber, ohne Flugzeug oder andere Beförderungsvorrichtungen. Stellen Sie sich vor, sie könnten die Funkstation über eine Distanz von einhundert Kilometern in wenigen Sekunden befördern. Können Sie sich das vorstellen?“

Torres dachte kurz nach. „Braucht man dazu einen Zauberstab? Haben Sie das große Buch mit den tausend Zaubersprüchen gefunden? Tut mir leid, aber was Sie mir erzählen, klingt nach einem Märchen, im besten Fall nach Science Fiction. Haben Sie irgendein ernsthaftes Angebot oder wollten Sie sich nur einen Scherz erlauben?“ Er sah sich im Foyer um, vermutlich nach versteckten Kameras.

„Das sind keine Nachrichten aus der Zukunft, Herr Torres. Das ist die Technologie, die gerade in meiner Firma entwickelt wird. Damit wird QHeaven den ESA-Wettbewerb gewinnen.“ Norman beobachtete Torres aufmerksam. Er schien nicht überrascht zu sein. Entweder wusste er mehr, als er sollte, oder er hörte öfter solche Ankündigungen und wollte abwarten, was darauf folgen würde.

„Den ESA-Wettbewerb? Was meinen Sie damit?“

„Die Europäische Weltraumorganisation ESA will in einigen Jahren eine Mondstation errichten. Ein mögliches Szenario dazu sieht vor, die Ausrüstung mithilfe von Miniraketen in den Orbit zu bringen und von da aus weiter zum Mond zu befördern. Unsere Lösung kürzt das Verfahren deutlich ab. Der Transfer erfolgt direkt von der Erdoberfläche zum Mond in Bruchteilen von Sekunden. Damit gehen wir weit über das gestellte Ziel des Wettbewerbs hinaus und schlagen jeden Mitkonkurrenten.“ Norman konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Torres grinste nicht. „Wie soll das funktionieren?“

Ein Paar betrat die Eingangshalle und steuerte geräuschvoll auf den Empfangstresen zu. „Hier sind wir richtig“, sagte er. Beide zogen Rollkoffer hinter sich her. „Hallo?“, rief die Frau. Er schlug auf die Tresenglocke. Ein Hotelmitarbeiter kam aus einer der rückwärtigen Türen, beschwichtigte die neuen Gäste mit den Händen und fragte dann leise: „Was kann ich für Sie tun?“

Norman wandte sich wieder Torres zu. „Die technischen Details lassen sich nur schwer erklären.“

Torres schüttelte verständnislos den Kopf. „Was erwarten Sie von mir? Sie erzählen mir, dass sie zaubern können, sagen aber nicht wie. Und nun?“

 „Sie könne sich persönlich von dem Transfer überzeugen. In dieser Woche endet die Ausschreibungsfrist der ESA. In den nächsten zwei Tagen wird der Mond-Transfer erfolgen. Danach gibt es die Möglichkeit, dass die Technologie an die ESA übergeben wird, für das Preisgeld von zwanzig Millionen Euro im Gegenzug. Oder wir kommen zu einem lukrativen Deal.“

„Woran dachten Sie dabei?“

„Wie viel wären Sie bereit, dafür zu bieten?“

Torres lachte kurz auf. „Herr Drake, das müsste ich mit unseren Kunden beraten. Aber um über solche Technologie zu sprechen, habe ich viel zu wenig Konkretes.“

Torres hatte recht, dachte Norman. Er müsste es erst mit eigenen Augen sehen, bevor er in Begeisterung verfallen konnte. „Wie wäre es damit: Sie sind bei dem Transfer für die ESA-Ausschreibung persönlich dabei und können sich selbst überzeugen? Danach entscheiden Sie.“

„Wann genau soll das stattfinden?“

„In den nächsten zwei Tagen. Der genaue Termin wird kurzfristig festgesetzt.“

„Und dann wollen Sie einen Gegenstand zum Mond transportieren? In Bruchteilen einer Sekunde, wie Sie sagten?“

„Eine Funkstation wird zur Mondoberfläche transferiert. Ihre Signale werden die Ankunft bestätigen. Aber eine Sache wäre da noch.“

„Sicher, Sie müssen noch beweisen, dass sich nicht bereits eine entsprechende Funkstation auf dem Mond befindet.“

„Das sollte kein Problem sein. Ich meine etwas anderes. Ich muss wissen, ob Sie wirklich interessiert sind. Das sollte Ihnen ein Vorschuss von fünf Millionen Euro wert sein.“ Norman zitterte innerlich vor Anspannung, ließ sich aber nichts anmerken.

Torres sah ihn nur an, sagte aber nichts.

„Das könnten Sie später verrechnen, wenn wir zu den Verträgen kommen. Ich muss nur etwas in der Hand haben, wenn ich der ESA eine unangenehme Nachricht zukommen lassen soll.“ Norman hoffte, dass Torres die ausgestreckte Hand annahm.

Torres strich sich über das Kinn. „Sie müssen mir schon vierundzwanzig Stunden lassen, damit ich mich konsultieren kann.“

Dienstag 20:38 Jeff

Das Telefon klingelte.

Jeff hatte sich mit seinem Laptop in die Küche zurückgezogen. Er hielt sich gern hier auf. Tisch, Schränke und Regale waren Einzelstücke und bestanden aus massivem Holz. Die Einrichtung war einzigartig und gab ihm das Gefühl, bei sich zu Hause zu sein. Er mochte keine Industrieküche. Das galt für ihn auch, wenn es ums Kochen ging. Bisher hatte er sich noch kein Arbeitszimmer eingerichtet, deshalb nutzte er den Raum auch für alle Arbeiten, die er am Computer zu erledigen hatte. Sein rechtes Bein hatte er auf einen Stuhl gelegt und den Knöchel mit einem nassen Handtuch umwickelt. Danach begann er, im Internet nach antiken Möbeln zu suchen. Genauer gesagt wollte er Möbel, die nach antiken Vorbildern gebaut wurden und damit günstiger zu erwerben wären als die Originale. Zumindest hoffte er, dass es so etwas geben würde. Sein Smartphone lag im Wohnzimmer. Dort war Leon mit einem Videospiel beschäftigt, in dem er über das Internet mit seinem Freund Sebastian wetteiferte.

Das Telefon klingelte weiter.