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André Cronway wird um seine Unterstützung gebeten, da seine Ehefrau während der Generalprobe für eine Mission über eine Parallelwelt zum Mars plötzlich und ohne jegliche Spur verschwunden ist. Er hatte die theoretische Grundlage für den Transfer unter Verwendung von Dunkler Materie entwickelt, jedoch wurde die praktische Umsetzung des Verfahrens in der Firma Xtravel ohne seine Beteiligung realisiert. Jetzt wird von ihm erwartet, dass er einen Weg findet, seine Frau Solveig zurückzuholen und den Transfer zum Mars abzusichern. Konkurrenten sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens Xtravel haben das Ziel, ihn aus der Firma zu verdrängen. Letztlich ändert der Chef der Firma Xtravel seinen Plan. Er beabsichtigt, das finanzielle Preisgeld zu erhalten, das von der Europäischen Weltraumorganisation für die Person vorgesehen ist, die als erster Europäer auf dem Mars landet, ohne dabei auf eine Rettungsaktion angewiesen zu sein. André Cronway ist ihm im Weg und wird zu einer Bedrohung für seine Gewinnabsichten.
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Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2025
Detlef Schirrow
Die Mars-Box
Hard Science Fiction
Inhaltsverzeichnis
Montag 08:45 André
Montag 08:55 André
Montag 09:05 André
Montag 09:55 André
Montag 10:15 André
Montag 10:35 André
Montag 10:45 Cillian Eckstrom
Montag 11:30 André
Montag 11:55 Magnus Wagner
Montag 12:15 André
Montag 13:30 André
Montag 14:30 André
Dienstag 08:03 André
Dienstag 09:35 André
Dienstag 11:15 André
Dienstag 13:02 André
Dienstag 13:15 Cillian Eckstrom
Dienstag 13:22 André
Dienstag 14:32 André
Dienstag 15:00 Magnus Wagner
Dienstag 17:10 Cillian Eckstrom
Dienstag 17:30 André
Dienstag 17:50 André
Dienstag 18:02 André
Dienstag 19:11 André
Dienstag 21:04 André
Dienstag 23:30 André
Mittwoch 06:32 André
Mittwoch 08:30 André
Mittwoch 09:12 André
Mittwoch 09:54 André
Mittwoch 11:00 André
Mittwoch 11:15 Cillian Eckstrom
Mittwoch 12:10 André
Mittwoch 12:55 André
Mittwoch 13:24 André
Mittwoch 14:22 André
Mittwoch 14:52 André
Mittwoch 15:20 Magnus Wagner
Mittwoch 15:43 André
Mittwoch 18:28 Magnus Wagner
Mittwoch 19:32 Magnus Wagner
Mittwoch 20:10 André
Mittwoch 20:30 André
Mittwoch 21:20 Cillian Eckstrom
Mittwoch 21:30 Cillian Eckstrom
Mittwoch 21:40 Magnus Wagner
Mittwoch 21:55 Cillian Eckstrom
Mittwoch 22:00 André
Mittwoch 22:35 André
Donnerstag André
Vernehmung
MIB
Freunde
Medien
Impressum
Das Buch
Der Autor
André Cronway trat vor die Haustür. Er blinzelte. Die Sonne lachte ihn aus. Der Tag rannte vor ihm davon. Er sah auf die Uhr. Sieben Minuten waren vergangen, seit er aus dem Bett gesprungen war. Sonst nahm er sich Zeit, in Ruhe zu frühstücken, aber heute hatte er verschlafen. Ausgerechnet heute. Entgegen seiner Gewohnheit würde er mit dem Nissan fahren müssen. Er prüfte in seinen Taschen, ob er den Autoschlüssel eingesteckt hatte. Erst als er die Haustür abschließen wollte, bemerkte er, dass sein Schlüsselbund noch auf der Kommode im Flur lag. Was war nur heute los mit ihm? Er stieß die Tür auf. Der Geruch nach Farbe und Lack stieg ihm sofort in die Nase. Er griff sich seine Schlüssel und zog die Tür so heftig zu, dass die Scheiben klirrten. Nachdem er abgeschlossen hatte, schüttelte er den Kopf über sich selbst.
Dann sprang er die drei Stufen vor dem Eingang hinunter, hob eine zerknüllte Papiertüte vom Rasen auf und trug sie zur Abfalltonne hinter dem Zaun. Er öffnete das Tor zur Ausfahrt und trat auf die Straße. Nur wenige Fahrzeuge parkten um diese späte Morgenzeit vor den Grundstücken. Ein Nachbar von schräg gegenüber, Niels Porter, sah aus seinem Vorgarten herüber und grüßte ihn mit einem Handzeichen. Ein paar graue Wolken lieferten sich ein Wettrennen am Himmel. Warum stand er hier noch herum und sah in die Luft? Er hatte es eilig!
André lief an der Seite des Hauses vorbei nach hinten. Sein Nissan Micra stand in einem Carport. Die Vermieter waren für mehrere Tage verreist, deshalb nutzte André die Möglichkeit, sein Fahrzeug dort abzustellen. Ansonsten war er gezwungen, durch die Nebenstraßen des Viertels zu kurven, um eine Lücke am Straßenrand zu finden, in der er sein Auto parken konnte.
Während er die Fahrertür öffnete, krachte es so laut, als wäre in der Nähe ein Blitz eingeschlagen. André fuhr zusammen und blickte zum Himmel. Die Ursache war mit Sicherheit kein Gewitter. Für diesen Tag hatte der Wetterdienst ein paar Schauer angesagt, aber auch nur mit geringer Wahrscheinlichkeit. Dann folgte ein weiteres Geräusch, wie etwas Zerstörerisches, ein Verkehrsunfall zum Beispiel.
Er überlegte, ob er nachsehen sollte, was geschehen war, entschied sich aber dagegen. Das war nicht sein Problem. Außerdem war er spät dran.
Für gewöhnlich hatte er es morgens nicht eilig. Seit mehr als einem halben Jahr führte er gemeinsam mit Philip Rojas ein Antiquariat und es war allein seine Sache, wann er den Tag beginnen ließ. Dieser Montag im Oktober war allerdings etwas Besonderes. Heute wollte jemand ins Antiquariat kommen und ihm Inkunabeln übergeben. Am Freitagabend hatte er sich am Telefon nur als Josef Ruszczynski vorgestellt. Die Stimme war die eines alten Mannes, rau, gepresst und seine Worte wurden immer wieder unterbrochen, weil er nach Luft ringen musste. Ruszczynski wollte ihm mehrere Inkunabeln für einen Vorzugspreis überlassen. Er hatte nur eine Bedingung: André dürfte diese Wertstücke in den nächsten zwei Jahren nicht weiterverkaufen, sondern musste sie ausstellen. Dieses Angebot betrachtete André als Glückstreffer, denn Ruszczynskis Forderung musste keine Einschränkung darstellen, sondern konnte auch als Werbemaßnahme für das Antiquariat betrachtet werden. Ruszczynski wollte gleich zu Beginn der Woche vorbeikommen. Deshalb hatte sich André vorgenommen, schon früh um neun im Geschäft zu sein, zu Beginn der Öffnungszeit. Doch ausgerechnet heute hatte er verschlafen.
Er startete den Motor und fuhr langsam die Ausfahrt hinauf. In derselben Zeit näherte sich auf der Straße von links ein Hyundai-Kleintransporter und blieb direkt vor der Ausfahrt stehen. Der Fahrer stieg aus, torkelte ein paar Meter von dem Fahrzeug weg und sah es sich mit Schrecken in den Augen an. Bluttropfen liefen ihm über die Stirn. Dann lief er zur Beifahrertür, riss sie auf und schnappte sich eine große, schwarze Reisetasche und rannte davon.
Oh nein, was sollte das jetzt werden? André schaltete den Motor ab und stieg aus.
„Der ist da lang gelaufen“, rief ihm sein Nachbar zu und wies mit der Hand in Fahrtrichtung des Transporters. Niels Porter hatte wie immer seinen Platz am Zaun bezogen, ihm entging nichts in der Straße. Die Herbertstraße lag in der nördlichen Vorstadt von Kogegaden. Auf der einen Seite, auf der André wohnte, standen zweistöckige Mehrfamilienhäuser, auf der anderen Einfamilienhäuser, Villen und kleine Schlösser. Porter verließ seinen Vorgarten und kam auf André zu.
„Warum ist er weggelaufen?“, fragte André.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht will er Hilfe holen?“ Porter war etwa siebzig Jahre alt, eins fünfundsechzig groß und hatte schütteres weißes Haar.
„Er hätte doch einen Werkstattdienst anrufen können.“ André sah eine Weile in die Richtung, in der der Fahrer verschwunden war. „Er muss zurückkommen und seinen Transporter wegfahren. Der versperrt mir die Ausfahrt.“
„Tja, wer weiß? Irgendetwas hat ihn zur Flucht veranlasst.“ Porter ging um das Fahrzeug herum.
André folgte ihm. „Egal, was passiert ist, er kann nicht einfach abhauen.“
„Da ist er“, rief Porter und zeigte die Straße hinauf.
Der Fahrer lief mit der Reisetasche die Straße entlang, ohne sich umzusehen.
„Hey, kommen Sie zurück!“ André wollte ihm nachlaufen, doch der Flüchtende war zu schnell. Es schien, als würde er um sein Leben laufen.
„Kam der gerade von dem Rosso-Grundstück?“, fragte Porter.
„Was …?“
„Ariadne Rosso wohnt dort. Aber sie ist für zwei Wochen verreist. Sie gab mir ihren Schlüssel, damit ich während ihrer Abwesenheit nach dem Rechten sehen kann.“
„Was wollte er dort?“
„Gute Frage. Sehen Sie mal hier. Das ist seltsam“, sagte Porter und deutete auf den Transporter.
„Das Verhalten des Fahrers ist nicht nur seltsam, es ist auch rücksichtslos.“
„Nein, das meine ich nicht. Wenn es eine Kollision gegeben hätte, dann müsste die Kühlerhaube oder eine der Seiten lädiert sein, aber das ist nicht der Fall. Nur das Dach des Führerhauses ist zerstört worden.“
André sah sich den Hyundai genauer an. Porter hatte recht. „Und die Frontscheibe ist von tausenden Rissen durchzogen.“ Was hatte sich vorhin eigentlich abgespielt?
„Er kam die Straße hochgefahren, plötzlich krachte es. Irgendetwas müsste doch zu sehen sein. Ein anderes Fahrzeug mit ähnlichem Schaden zum Beispiel. Kommen Sie!“ Porter ging in die Richtung, aus der der Kleintransporter gekommen war.
André blieb stehen. Er starrte verdrießlich den Transporter an, als könnte er ihn dadurch in eine Staubwolke verwandeln. Warum musste das ausgerechnet heute geschehen, warum gerade jetzt? Er beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Knien. Dieser Tag entwickelte sich von der ersten Minute an zu einer Katastrophe. Er wünschte sich eine Transportkapsel, die ihn auf Knopfdruck in wenigen Sekunden zum Antiquariat befördern könnte.
Porter kam zurück. „Nichts zu sehen. Kein Stein von der Größe, um diese Zerstörung anrichten zu können, kein anderes Fahrzeug mit ähnlichen Schäden. Die Nachbarn können auch nichts dazu sagen.“ Er musterte André. „Geht es Ihnen nicht gut?“
„Doch, es geht schon.“
Porter kam zwei Schritte näher. „Soll ich einen Krankenwagen rufen?“
André richtete sich auf. „Nein, nein, nicht nötig.“ Er blickte in die Richtung, in der der Fahrer verschwunden war. „Es sieht nicht so aus, als würde er bald zurückkommen.“ Er drehte sich zu Porter um und schlug gleichzeitig mit der Rechten gegen den Transporter. „Helfen Sie mir, das Ding ein paar Meter zur Seite zu schieben.“
„Das kommt gar nicht infrage!“ Porter sah ihn an, als wollte er ihn notfalls mit Gewalt daran hindern, den Transporter auch nur um einen Zentimeter zu bewegen. „Das dürfen Sie nicht. Ich habe die Polizei schon angerufen. Bis dahin muss alles so bleiben, wie es ist.“
„Ich kann nicht einfach herumstehen und warten.“
„Seien Sie nicht so ungeduldig. Jahrelang geschieht überhaupt nichts Aufregendes in dieser Straße. Sie müssen aufgeschlossener werden.“
Etwas Aufregendes? Porter wollte unterhalten werden? André sah in beiden Richtungen die Straße entlang. Ein paar Nachbarn hatten sich an den Gartenzäunen getroffen und redeten miteinander, gelegentlich zeigte einer zum Hyundai-Transporter vor seiner Ausfahrt.
Der Oktober in diesem Jahr war angenehm warm, nicht zu heiß, eher durchwachsen. Die Straße bot einen malerischen Anblick des Herbstes. Rote, gelbe und hellbraune Blätter an den Bäumen, in den Vorgärten leuchteten Rosen, Gerbera und Hortensien in allen Farben. Eine richtige kleine Vorstadtidylle.
„Ich habe einen wirklich wichtigen Termin, den ich nicht verpassen darf“, sagte André. „Dann werde ich eben wie immer zu Fuß in die Stadt gehen.“ Er wandte sich ab, um das Tor der Ausfahrt zu schließen.
Porter rief ihm zu: „Sie können jetzt nicht einfach weglaufen. Die Polizei muss gleich hier sein und Sie sind der wichtigste Zeuge für das Verbrechen.“
„Zeuge? Verbrechen?“
„Was denn sonst? Normal war das doch nicht, was hier vorgefallen ist, oder?“
„Ich habe keine Zeit mehr. Ich muss los.“ Vor allem wollte er aus dieser Situation heraus, in der er sich immer mehr eingeengt fühlte.
„Das sollten Sie sich aber noch einmal gut überlegen. Es würde nicht gut aussehen, wenn Sie nach diesem Ereignis einfach weglaufen.“ Porter ließ ihn stehen und ging zurück zu seinem Garten.
André schloss das Tor. Gehen oder bleiben? Er konnte nichts bezeugen, schon gar kein Verbrechen. Eine Kinderstimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er fuhr herum und sah Lucas auf sich zulaufen. „André, André, ein Meteorit ist vom Himmel gefallen, das habe ich deutlich gehört. Du auch? Hast du ihn gesehen?“
Nachdem der Zehnjährige bei ihm angekommen war, fragte André: „Hey Lucas, warum bist du nicht in der Schule?“
„Hey André, warum bist du nicht auf deiner Arbeit?“, antwortete der Kleine schlagfertig.
„Guten Morgen, André“. Richard Harris hatte seinen Enkel eingeholt. „Was ist hier eigentlich los? Und warum parkt ein völlig ramponierter Transporter vor deinem Haus?“
Richard war etwa eins neunzig groß und von kräftiger Statur. Seine hohe Stirn, das volle silbergraue Haar und der Schnurrbart wirkten Respekt einflößend, sein optimistisches Lächeln war ansteckend. Er wohnte mit seiner Frau Monika zwei Häuser weiter.
„Der Fahrer des Transporters muss durchgedreht sein. Er ließ sein Fahrzeug einfach stehen und lief weg. Ausgerechnet in dem Augenblick, als ich auf die Straße fahren wollte. Jetzt ist meine Ausfahrt versperrt.“ André merkte, dass der Vorgang surreal wirkte.
„Ist der Meteorit auf das Auto gefallen?“ Lucas war ganz aufgeregt. „Siehst du, Opa. Der Meteorit ist auf das Auto gefallen, deshalb hat es so laut geknallt.“
„Bist du dir sicher?“, fragte Richard seinen Enkel.
„Ja, sieh doch selbst.“ Lucas zeigte auf das Fahrzeug vor Andrés Ausfahrt.
Richard wandte sich an André: „Glaubst du das auch?“
Lucas lief zum Transporter.
„Ich weiß es nicht“, antwortete André. „Niemand hat einen Meteoriten gesehen. Es fehlt auch jede Spur davon. Er müsste sich in Luft aufgelöst haben.“
„Lucas, komm zurück“, rief Richard. Dann sagte er zu André: „Lucas kommt in dieser Woche jeden Tag zu uns statt in die Schule …“
„Weil sie in der Schule Ratten jagen“, unterbrach ihn Lucas, der wieder bei ihnen angekommen war.
„Diese Woche sind Ferien und sie müssen Hygienemaßnahmen umsetzen, wie es offiziell heißt.“
„Hast du den Meteoriten gesehen?“, fragte Lucas wieder.
„Es gab wahrscheinlich keinen Meteoriten.“
Richard legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. „Er hat den Meteoriten auch nicht gesehen, Lucas.“
Zu spät bemerkte André seinen Patzer. „Das stimmt. Ich war hinter dem Haus und konnte ihn nicht sehen, Lucas. Schade, aber vielleicht klappt es ein andermal.“
„Du hast gesagt, du gehst mit mir in eine Sternwarte.“
„Das werden wir. Was ich versprochen habe, das halte ich auch.“
Vor ein paar Monaten hatte ihn Richard gefragt, ob er seinem Enkel bei den Schularbeiten helfen könnte. Lucas war damals bei seinen Großeltern, weil seine Mutter aufgrund ihrer Arbeit einige Tage nicht in der Stadt war. Schnell fand André heraus, dass Lucas keine Nachhilfe brauchte, sondern Förderung. Er war ein wissbegieriges und talentiertes Kind.
„Ja, ja“, sagte Lucas enttäuscht und ließ den Kopf hängen.
„Richard! Lucas! Kommt ihr zurück?“ Monika stand im Vorgarten, mit einem Morgenmantel bekleidet, und winkte ihnen zu.
„Unser Kapitän ruft“, sagte Richard. „Lucas, geh schon mal vor, ich komme gleich nach.“
„Wir gehen auf jeden Fall in ein Observatorium“, rief André ihm nach. Er hatte den Kleinen ins Herz geschlossen und fühlte sich schuldig, dass er sich bislang nicht die Zeit genommen hatte, sein Versprechen einzulösen.
„André, hör mal, du weißt, dass Monika krank ist. Ihr Zustand hat sich verschlechtert. Sie braucht zusätzliche Behandlung und einige teure Medikamente. Das wirkt sich auf unser Haushaltsgeld aus, wie du verstehen kannst. Deswegen habe ich einen Job bei einer Wachfirma angenommen.“
„Oh“, sagte André. „Das ist bestimmt nicht leicht.“ Ihm fiel nichts Besseres ein. Richard und Monika waren schon weit über siebzig.
„Ja, ich habe diese Woche Nachtschicht und Monika kann Lucas nicht mehr allein beaufsichtigen. Was ich sagen will, wenn du den Jungen in dein Antiquariat mitnehmen könntest oder so …“
„Ich verstehe. Heute ist es allerdings sehr ungünstig. Ich stehe sozusagen auf glühenden Kohlen. Sobald die Polizei eintrifft und der Vorfall mit dem Transporter geklärt ist, muss ich auf dem schnellsten Weg in die Stadt.“
Richards Miene verriet seine Enttäuschung. Er dachte anscheinend, Andrés Antwort wäre eine Ausflucht. „Warum sollte die Polizei kommen?“
„Niels Porter hat sie gerufen. Er meinte, die Sache mit dem demolierten Transporter geht nicht mit rechten Dingen zu.“
„Und was soll die Polizei dabei ausrichten?“
André hob die Schultern. „Den Fahrer ermitteln, vielleicht? Der ist einfach weggelaufen und nicht zurückgekommen.“ Sein Ärger stieg wieder hoch, weil er hier festsaß, obwohl er längst im Antiquariat sein sollte.
Richard sah auf seine Uhr. „Ich muss zurück. Kannst du vielleicht in den nächsten Tagen …?“
„Auf jeden Fall. Nur eben heute … Es tut mir wirklich leid. Sag Lucas, ich gehe mit ihm noch diese Woche in ein Observatorium.“
Richard lächelte.
„Grüß Monika von mir und wünsche ihr Besserung“, setzte André hinzu.
„Melde dich“, sagte Richard und ging zurück zu seinem Haus.
Das schlechte Gewissen drückte schwer auf André. War er wirklich so unzuverlässig?
André Cronway lief neben dem Transporter auf und ab. Er sah sich die Einschlagstelle auf dem Fahrzeugdach an, ohne wirklich hinzusehen. Das kurze Gespräch mit Lucas und Richard hatte ihn stärker aufgewühlt, als er wahrhaben wollte. Er hatte gerade zwei Menschen enttäuscht, die ihm wichtig waren. Das musste er unbedingt wiedergutmachen. Aber nicht heute. Dieser Tag war entscheidend für seine neue Aufgabe, sein Antiquariat. Die Zeit lief ihm davon. Die Welt drehte sich weiter, aber er stand darin, ohne sich zu bewegen.
Porter war nicht zu sehen. Hatte er wirklich die Polizei gerufen? André musste hier weg, aus tausend Gründen. Wenn sie nur bald kämen, um seine Aussage aufzunehmen.
Sollte er zurück ins Haus gehen und dort warten? Aber das dürfte sich nicht lohnen. Die Polizei würde bestimmt gleich hier sein. Er ging zu seinem Nissan, öffnete die Fahrertür und setzte sich hinein. Kaum, dass er sich gesetzt hatte, sprang er wieder heraus. Ihm fehlte die Geduld, bloß dazusitzen und zu warten.
Er musste in die Stadt zu seinem Antiquariat. Das Geschäft seines Lebens sollte heute über die Bühne gehen. Er hatte ohnehin schon verschlafen. Er konnte nicht noch länger riskieren, dass alles den Bach hinunterging. Vielleicht war es nicht das Geschäft seines Lebens, aber es war wichtig. Doch selbst wenn er jetzt mit dem Tempo eines Spitzensportlers zum Antiquariat laufen würde, bestände die Gefahr, dass er zu spät käme und die einmalige Gelegenheit verpasst hätte. Und sie brauchten dringend einen finanziellen Auftrieb, Philip und er.
Als er vor sechzehn Jahren mit seinem Physikstudium an der Universität begann, lernte er Philip Rojas kennen, der damals Philosophie studierte. Nachdem André sein Studium fünf Jahre später beendet und zum Institut für Raumfahrt in Niemeelitz gewechselt hatte, um dort zu forschen, war Philip immer noch Philosophiestudent. Und das war er bis heute. In all den Jahren danach blieben sie aber in Verbindung. Schließlich folgte seine persönliche Krise. André verlor seinen Job und seine Ehe ging in die Brüche. Nachdem er geschlagen am Boden lag, erwies sich Philip als treuer Freund und stand ihm zur Seite. Vor etwa einem Jahr erfuhr Philip von seiner Erbschaft, einem Antiquariat in Kogegaden. Er bot André an, das Geschäft gemeinsam zu führen.
Es war eine einmalige Gelegenheit. André sah in der Beschäftigung mit wertvollen Büchern die Möglichkeit, einer anspruchsvollen Aufgabe nachzugehen und gleichzeitig alles Belastende der letzten Jahre hinter sich zu lassen.
Vor sieben Monaten hatten sie das Antiquariat übernommen. Die romantischen Vorstellungen von einem Schwelgen in Büchern aus den vergangenen Jahrhunderten verflüchtigten sich schnell. Es war harte Arbeit. Sie hatten aber ein Ziel vor den Augen. Es sollte kein Ramschladen für Mängelexemplare werden. Sie wollten wertvolle Bücher im Angebot haben, Kunstgegenstände, Dinge, die die Fantasie beflügelten und Bilder aus früheren Zeiten aufleben ließen. Gegenstände, die die Kulturgeschichte der Menschheit widerspiegelten, wie Philip sich ausdrückte. Dazu mussten sie erst einmal jedes Buch, das in den Regalen stand, einzeln prüfen und viel Altpapier entsorgen.
Und dann erfolgte am Freitagabend der Anruf. Ihm wurden Inkunabeln angeboten, Druckerzeugnisse aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Inkunabeln waren unter Sammlern, Philologen, Historikern und Bibliothekaren begehrt, der Preis für eine Inkunabel war astronomisch. André bekam die Gelegenheit, sie für ein geringes Entgelt zu erwerben, musste sie aber erst einmal als unverkäufliche Ausstellungsstücke kennzeichnen. Damit war er einverstanden. Die Inkunabeln wären ein Magnet, der Kunden anziehen würde. Sein Problem bestand darin, dass der Anrufer, Josef Ruszczynski, heute ins Antiquariat kommen wollte und er, André Cronway, stand keine fünfzig Schritte von seiner Wohnung entfernt herum und wartete. Vielleicht würde auch alles wie durch ein Wunder gut laufen, vielleicht käme Ruszczynski erst später? Was wäre, wenn er den Frühbus verpasst hätte und erst mit dem nächsten fahren könnte? André überlegte, ob er schon einmal Wunder erlebt hatte, die alles gut werden ließen. Nein, er gehörte nicht zu den Glücklichen. Bei ihm war es umgekehrt, es lief alles schief, was schieflaufen konnte. Die Fakten waren: Das Antiquariat war geschlossen und Ruszczynski stand davor. André war nicht allein mit dem Antiquariat, aber Philip kam meistens erst kurz vor der Mittagszeit und blieb dann bis in den späten Abend. Philip!
André holte sein Smartphone heraus und wählte die Nummer von Philip Rojas.
Philip ging nicht ans Telefon. Die Polizei war bis jetzt nicht eingetroffen. Nachbarn aus der Straße waren herangekommen und besichtigten den Transporter, als handelte es sich um ein Raumfahrzeug, mit dem gerade Aliens gelandet wären.
Porter kam zurück und redete mit den Nachbarn, die ihrer Neugierde gefolgt waren. André beschloss, Porter genau zu berichten, was er gesehen und gehört hatte, und dann loszulaufen. Er wollte nicht länger warten.
Sein Smartphone läutete. Philips Name stand auf dem Display.
„André, was ist los? Ich dachte, du hättest heute Vormittag einen wichtigen Kunden. Aber das Geschäft ist geschlossen.“
„Hallo Philip, der Tag läuft heute nicht so an, wie ich geplant hatte. Kannst du …“
„Was ist denn passiert?“
André sah sich um. Porter stand in Hörweite; er tat so, als würde er sich den Transporter ansehen und den Ausführungen einer Nachbarin folgen, aber sein angestrengter Gesichtsausdruck verriet ihn.
„Das erzähle ich dir später. Kannst du …“
„Oh, du bist auf geheimer Mission.“
„Hör zu! Du gehst in das Geschäft und öffnest das Antiquariat. Heute Vormittag hat sich ein Herr Ruszczynski angesagt und möchte mir Inkunabeln und ein paar Drucke aus dem fünfzehnten Jahrhundert überlassen. Er kommt extra mit dem Bus aus Kautendorf. Wenn er das Antiquariat geschlossen vorfindet, könnte es sein, dass er verschwindet und kein zweites Mal erscheint. Verstehst du das?“
„Was sind Inkunabeln?“
„Das erkläre ich dir später. Jetzt musst du erst einmal ins Antiquariat, so schnell wie möglich!“
„Klar. Und was ist, wenn ich zu einer Vorlesung gehen muss?“
„Philip, ich bitte dich.“ Philip kannte keine Pflichtveranstaltungen. Aber er hatte einen Schlüssel für das Antiquariat. Und er war der Einzige, der jetzt helfen konnte.
„Okay, okay, was sage ich dem Herrn Ruszczynski, wenn er kommt?“
„Biete ihm einen Kaffee an.“
„Wann etwa wird deine geheime Mission beendet sein?“
„Ich hoffe, das dauert höchstens eine halbe Stunde. Weil ich bei einem Unfall Zeuge wurde, muss ich auf die Polizei warten, um eine Aussage …“
„Was …? Hast du einen Fußgänger überfahren? Wo du selbst ein überzeugter Fußgänger … Nein, warte, du hast ein anderes Auto gerammt, richtig? Einen Porsche?“
„Philip, ich komme so schnell wie möglich. Bitte sorge dafür, dass das Antiquariat geöffnet wird.“ André beendete das Gespräch. Er suchte die Straße vergeblich nach einem Polizeifahrzeug ab. Stattdessen fiel ihm ein schwarzer BMW auf, der fünfhundert Meter entfernt parkte. Er glaubte, erkennen zu können, dass der Fahrer im Fahrzeug saß. Er hatte noch nie einen schwarzen BMW in dieser Straße gesehen.
Endlich, nach fast einer dreiviertel Stunde, bog ein Streifenwagen in die Straße ein und näherte sich aus derselben Richtung, aus der auch der Hyundai-Kleintransporter gekommen war. Porter winkte ihn heran und wies dann auf den Hyundai. Der Polizeieinsatzwagen hielt drei Meter hinter dem Transporter. Zwei Uniformierte stiegen aus, ein Mann und eine Frau. Sie umrundeten das Fahrzeug, das sie als Gegenstand des Vorfalls identifiziert hatten, und sprachen leise miteinander. Die Schaulustigen, die bei der Ankunft des Polizeifahrzeugs zurückgewichen waren, näherten sich wieder dem Transporter. Keiner wollte etwas verpassen. Porter ging direkt auf die Polizisten zu, dazu musste er andere Beobachter zur Seite drängen.
Die Polizistin wandte sich ihm zu. „Haben Sie die Polizei gerufen?“
„Ja, das war ich. Aber ich habe nicht alles mitbekommen. Ich habe nur einen lauten Knall gehört und dann gesehen, wie der Fahrer mit Blut im Gesicht weggelaufen war. Aber Herr Cronway von der anderen Seite hat alles beobachtet.“ Er wies mit der rechten Hand auf André.
Die Polizistin notierte sich etwas auf ihren Block. „Wie ist Ihr Name?“
„Niels Porter. Ich wohne hier drüben.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf sein Haus.
„Wohin ist der Fahrer gelaufen?“
„Der ist einfach weggerannt.“
Während sie mit Porter sprach, hatte der andere Polizist den Transporter ein zweites Mal umrundet und stand jetzt an der Tür zum Laderaum. „Das Fahrzeug ist nicht verschlossen“, rief er seiner Kollegin zu, nachdem er die Klinke betätigt hatte.
Sie drehte sich zu ihm. „Warte einen Moment. Ich bin gleich bei dir.“
„Brauchen Sie mich noch?“, fragte André, als er sah, dass der Polizist wartete.
„Sie sind doch der Zeuge?“
André hob resignierend die Hände. Er war nicht der Zeuge, sondern ein Zeuge. Aber vermutlich war er der Einzige, der den Vorfall aus nächster Nähe gesehen hatte.
„Dann warten Sie bitte, ich muss noch Ihre Aussage aufnehmen.“
Das rotierende Blaulicht des Polizeifahrzeugs nervte André. Er stellte sich so hin, dass er es im Rücken hatte.
Währenddessen forderte seine Kollegin die neugierigen Nachbarn auf, die Straße für den Verkehr freizuhalten, obwohl sich in dem Wohngebiet kein Fahrzeug bewegte.
„Entschuldigen Sie, ich habe es eilig. Könnten Sie vielleicht erst meine Aussage aufnehmen, bevor Sie weitermachen?“
Der Polizist sah zu seiner Kollegin. Die telefonierte gerade. Er nickte André zu. „Einen Moment.“
Nachdem er aus dem Einsatzwagen ein Klemmbrett mit Formular geholt hatte, stellte er sich vor André auf. „Ich bin Wachtmeister Keil Landry. Wie heißen Sie, bitte?“
„André Cronway“. André fühlte eine leichte Übelkeit in der Magengegend.
Sofort bildete sich eine Menschentraube um beide herum. Landry merkte, dass es keine gute Idee war, die Befragung öffentlich durchzuführen. „Kommen Sie bitte mit. Ich nehme Ihre Aussage im Dienstwagen auf.“
Sie gingen zum Polizeifahrzeug und setzten sich auf die Rückbank. Im Inneren des Fahrzeugs fühlte sich André geschützt vor den vielen Menschen, aber ihm wurde unangenehm warm. Eigentlich war er nicht klaustrophobisch.
Landry nahm das Klemmbrett. „Wo waren wir? Geburtsjahr und Tag. Wann wurden Sie …“
André beantwortete die Frage, bevor Landry sie beenden konnte.
„Sie wohnen …“
„Herbertstraße 26.“
Landry sah ihn an, dann ließ er seinen Blick durch die Seitenscheiben über die Gebäude links und rechts der Straße schweifen. Schließlich nickte er in eine Richtung. „Das Haus?“
„Ja.“ André sah auf seine Uhr. Das Polizeifahrzeug stand hinter dem Hyundai-Kleintransporter, also fast vor dem Gebäude.
„Ist das Ihr Haus?“
„Nein.“ War das eine Frage auf dem Formular oder dachte Landry sich das aus?
„Sie wohnen dort als Untermieter?“ Landry sah sich das Haus genauer an. „Das Dachgeschoss wurde zu einer Wohnung ausgebaut.“
André antwortete nicht.
„Seit wann wohnen Sie hier?“
„Warum ist das von Bedeutung?“
„Ich will wissen, ob Sie so etwas Ähnliches schon einmal beobachtet haben, falls Sie bereits länger hier wohnen.“
„Ich wohne hier seit zehn Monaten.“ Er konnte von Glück reden, dass er diese Unterkunft gefunden und bekommen hatte. Philip hatte ihn bei der Wohnungssuche unterstützt. André war damals verzweifelt gewesen. Aber daran wollte er jetzt nicht denken. „Was meinen Sie mit Ihrer Frage, ob ich so etwas schon einmal beobachtet habe? Einen Transporter, der vor einer Ausfahrt hält?“
„Ein demoliertes Fahrzeug, das direkt vor ihrer Ausfahrt abgestellt wird.“
André zuckte die Schultern. „Nein, das gab es noch nie.“
„Sind Sie verheiratet?“
„Ja.“ Ja und nein.
„Hat Ihre Frau den Vorfall auch beobachtet?“
„Sie wohnt nicht hier. Wir leben getrennt.“ Deswegen hatte er sich eine Wohnung suchen müssen.
Landry sah ihn an, dann konzentrierte er sich auf sein Formular. „Was sind Sie von Beruf?“
André hob den Arm und sah auf seine Uhr, die er deshalb mit der anderen Hand berührte. Er ließ sich dabei Zeit, um Landry verstehen zu geben, dass er nicht an einem Plauderstündchen interessiert wäre. „Wofür ist das wichtig?“
Landry hob den Blick. „Herr Cronway, Sie können sich entscheiden. Entweder Sie beantworten meine Fragen und können dann gehen oder Sie warten, bis Hauptkommissar Graham eintrifft und sprechen dann mit ihm. Wie möchten Sie es haben?“
„Ich bin Physiker.“
„An der Universität in Neuhelsing?“
„Nein.“
„Sondern …?“
„Ich arbeite zurzeit nicht als Physiker.“
Landry neigte den Kopf und sah ihn direkt an. „Als was arbeiten Sie?“
Vermutlich ahnte Landry nicht einmal, wie persönlich seine Fragen waren. Er las sie von seinem Formular ab oder fragte aufs Geratewohl, ohne nachzudenken. Wie oft hatte sich André diese Fragen in den letzten zwei Jahren selbst gestellt? Er war Physiker, das gehörte zu seiner Identität. Nachdem er die Möglichkeit, als Physiker am Institut für Raumfahrt zu arbeiten, verlor und danach auch von der Firma Big Blue Star entlassen worden war, war er dann immer noch Physiker? Es war sein Traumberuf, seine Berufung. Doch Physiker war kein Status, es war Tun, es war wissenschaftliche Arbeit. Insgeheim, ganz tief im Innern, lebte auch nach dem Abschied vom Institut sein Traum weiter, als Physiker zu forschen. Irgendwann würde er vielleicht eine Möglichkeit finden, seinen Traum zu verwirklichen. Bis dahin würde er sich einer anderen, nicht weniger interessanten Tätigkeit widmen. Man musste sich im Leben für eine Aufgabe entscheiden und dann alles geben, um sie zu erfüllen.
„Herr Cronway!“
„Ich besitze ein Antiquariat.“ Streng genommen gehörte es Philip.
Landry nickte, als hätte er die Antwort vorhergesehen. „Sie sind also Buchhändler.“
André atmete tief ein und stieß die Luft aus. Er sah keine Möglichkeit, seine momentanen Verhältnisse in wenigen Sätzen darzulegen, sodass auch ein begrenzter Verstand sie erfassen konnte.
„Wollten Sie noch etwas ergänzen?“
André schüttelte resignierend den Kopf. Buchhändler. Das war nie sein Traum und so sah er sich auch jetzt nicht. Er war jemand, der Kultur vermittelte. So hatte sich Philip ausgedrückt. Das hatte ihm gefallen. Das hatte sich gut angefühlt. Es würde eine Zeit sein, in der er seinen eigenen Horizont erweitern konnte. Aber er wollte nicht wie jemand sein, der für eine Übergangszeit einen Job als Schuhverkäufer annahm und dann sein Leben lang Damenschuhe verkaufte und nur noch von seinen Erfolgen beim Schulsport schwärmte.
„Seit wann haben Sie Ihr Antiquariat?“
„Wollen Sie mich auch nach meiner Lieblingsfarbe, meiner Schuhgröße und dem zweiten Vornamen meiner Großmutter väterlicherseits fragen?“
„Wie bitte?“
„Schon gut. Seit sieben Monaten.“
„Erzählen Sie bitte, was Sie gesehen haben.“
Während André mit wenigen Worten den Hergang schilderte, versuchte Landry, alles mitzuschreiben.
„Kennen Sie den Fahrer?“
„Nein.“
„Warum ist der Fahrer weggelaufen?“
André sah Landry einen Moment an und wartete. Der meinte die Frage wirklich ernst. „Woher soll ich das wissen?“
„Wohin ist er gelaufen?“
„Das müssen Sie ihn selbst fragen. Kann ich jetzt gehen?“
„War jemand bei Ihnen oder in Ihrer Nähe, als das passiert ist?“
„Niels Porter, mein Nachbar von gegenüber. Er hat Sie angerufen.“
„Und sonst noch jemand?“
„Ich weiß nicht, wer das sonst noch gesehen hat.“
„Wohin wollten Sie gerade, als der Transporter vorfuhr?“
André stöhnte innerlich auf. „Ins Antiquariat, wohin sonst?“
„Ich frage nur. Fahren Sie immer so spät in Ihr Antiquariat oder haben Sie auf etwas gewartet?“
Landrys Kollegin kam jetzt zum Einsatzfahrzeug. Sie schob die Tür auf. „Keil, das musst du dir ansehen!“
„Warten Sie hier“, sagte Landry zu André und folgte ihr dann zum Hyundai-Kleintransporter.
André stieg aus und versuchte zu erkennen, was die Polizistin so aufgeregt hatte. Irgendetwas an Landrys Auftreten irritierte ihn, aber er konnte nicht sagen, was es war.
Der Transporter enthielt ein paar Kisten, Kartons und Thermobehälter. Auf dem Boden lag eine Person, die sich nicht bewegte.
Landry kletterte in den Laderaum. Er kniete sich neben dem liegenden Körper, prüfte den Puls, sah zu der Polizistin und schüttelte den Kopf. Seine Partnerin, die hinter dem Fahrzeug stehen geblieben war, holte ihr Smartphone heraus. Während sie telefonierte, ging sie einen Schritt zurück und gab das Kfz-Kennzeichen durch.
Landry fotografierte mit seinem Smartphone die Leiche. Dann sprang er aus dem Transporter, redete kurz mit seiner Kollegin und kam zurück zum Einsatzwagen. Er holte eine Rolle Absperrband heraus und spannte es von einem Lichtmast zum anderen auf der Straßenseite, auf der das Fahrzeug stand. Dabei musste er immer wieder Schaulustige bitten, zurückzutreten.
Nachdem der Polizist die Rolle mit dem Absperrband zurückgebracht hatte, kam er wieder auf André zu.
„Kennen Sie den Toten?“, fragte er unvermittelt.
„Dazu müsste ich ihn sehen.“
Landry sah André an und überlegte. Er schien jede Antwort anzuzweifeln. Dann holte er sein Smartphone hervor und zeigte eines der Bilder, die er gerade aufgenommen hatte.
„Nein, nie gesehen.“
Landry notierte sich die Aussage.
André sah auf seine Uhr. Er bewegte seinen Arm bewusst langsam, damit es Landry nicht entgehen konnte. Innerlich war er schockiert. Eine Leiche. Vor seinem Haus. Und die Umstände sprachen nicht für einen natürlichen Tod.
„Sagt Ihnen die Firma eXpanded space travel irgendetwas? Haben Sie schon einmal mit dem Unternehmen zu tun gehabt?“
„Xtravel? Die kennt doch jeder. Steht die Firma mit dem Toten in Zusammenhang?“
„Herr Cronway, bitte!“
Die Befragung nahm plötzlich eine Wende, die seine Wunden berührte. Nachdem die ESA vor zwei Jahren fünfzig Millionen Euro für den ersten Europäer auf dem Mars ausgeschrieben hatte, gingen zahlreiche Firmen an den Start. Wenige Monate später blieb nur noch ein Konglomerat aus mehreren europäischen Unternehmen übrig, die sich unter dem Firmennamen Big Blue Star zusammengetan hatten und verschiedene wissenschaftlich-technische Ansätze vorantrieben. Die gesetzte Frist von vierundzwanzig Monaten forderte ein konzentriertes Vorgehen. Weitere Wochen später beschloss die Führung des Unternehmens, die Ressourcen ausschließlich auf die Fusionsrakete zu fokussieren. Alle anderen Ansätze wurden eingestellt. André und seiner Crew wurde alles Gute für ihren weiteren Berufsweg gewünscht. Ein Teil seines Teams wollte sich damit nicht abfinden und gründete die Firma eXpanded space travel, oder kurz Xtravel, um den Marstransfer mit Dunkler Materie zu realisieren und BBS, also Big Blue Star, in dem Rennen um den Preis der ESA-Ausschreibung zu schlagen. André war aber nicht mehr dabei. Er wollte nicht noch einmal abserviert werden.
Ja, er kannte Xtravel. Und er kannte sie doch nicht. Er wusste nicht, was dort getan wurde und ob sie überhaupt etwas umgesetzt hatten. Die Firma Xtravel wollte den Mars erobern. Den Medien war zu entnehmen, dass sie einen Investor gefunden hatten, die Firma Green Hill, ein Finanzdienstleistungsunternehmen. Das war auch schon alles, was er wusste.
Die Firmen Xtravel und BBS waren so verschieden wie Firmen nur sein konnten, wie David und Goliath. Was anfangs noch für Wirbel und viel Diskussionen in den Medien und im Internet gesorgt hatte, war mit der Zeit in den Hintergrund getreten. BBS hatte bereits ein Raumschiff gestartet, dessen Landekapsel mit dem Astronauten Alvar Laneuville an Bord in zwei Tagen den Marsboden berühren sollte. Der Ausgang des Wettlaufs stand fest. Keiner rechnete mehr damit, dass sich das Ergebnis noch ändern könnte.
Obwohl sich die Meldungen über den Wettlauf zum Mars eine Zeit lang in allen Medien überschlugen, gab es einen Streifenpolizisten namens Landry, der davon anscheinend nichts wusste.
„Der Transporter gehört der Firma Xtravel, wie Sie sie nennen“, fuhr Landry fort, als André nicht antwortete. „Arbeiten Sie für dieses Unternehmen oder kennen Sie jemanden, der dort arbeitet?“
„Nein, ich habe überhaupt keine Verbindung zu diesem Unternehmen.“ Das stimmte nur zur Hälfte, aber ausführliche Erklärungen würden wohl auf wenig Verständnis stoßen.
Landry sah ihn an und runzelte ungläubig die Brauen. „Haben Sie noch irgendetwas zu diesem Vorfall hier zu sagen?“
„Nein. Kann ich jetzt gehen?“
„Wenn Sie irgendetwas verschweigen, was für die Ermittlungen von Bedeutung sein könnte, machen Sie sich strafbar.“ Landry sah ihn mit gesenktem Kopf von unten her an und hielt sein Schreibgerät bereit.
„Ich weiß nichts.“ André konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Landry zu viele Polizeifilme im Fernsehen gesehen hatte.
Landry dachte nach, aber ihm fielen offenbar keine Fragen mehr ein. „Sie können gehen, aber halten Sie sich bereit. Hauptkommissar Graham wird bestimmt mit Ihnen sprechen wollen.“ Er äußerte es in einer Art und Weise, die fast wie eine subtile Warnung klang.
André war aber mit seinen Gedanken schon woanders. Er lief im Eiltempo die Straße hinunter in die Stadt. Vorher hatte er sich noch einmal nach dem schwarzen BMW umgesehen, aber der war weggefahren.
Die Polizei brachte ihn mit einem Mord in Verbindung.
André lief in einem Tempo, als ob er vor etwas fliehen würde und gleichzeitig unauffällig bleiben wollte. Nachdem die Straße einen Bogen machte und er an der nächsten Kreuzung bereits eines der alten Stadttore sehen konnte, wurde er sich seiner Umgebung bewusst. Und wie irrational er sich benahm. Er verlangsamte seine Schritte und holte tief Luft. Die Anspannung ließ nach.
Die Befragung hatte ihn stärker getroffen, als es Landry, der Polizist, ahnen konnte. Es waren Fragen, die er sich selbst oft gestellt hatte, Fragen, die seine Identität betrafen. Und sie rissen seine seelischen Wunden wieder auf. Die Entlassung aus dem Team von BBS hatte ihn verletzt. Er fühlte sich entwurzelt. Was konnte er danach anfangen? Wie sollte es in seinem Leben weitergehen? Wenige Tage nach der Kündigung offenbarte ihm Solveig, seine Frau, dass sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann hatte und die Scheidung wollte. Seine Ratlosigkeit wurde noch größer, er fühlte sich hilflos.
Wie er die Wochen und Monate danach überstanden hatte, konnte er nicht mehr sagen. Bis er die Möglichkeit bekam, zusammen mit Philip das Antiquariat in Kogegaden zu übernehmen. Das half ihm, vieles zu verdrängen. Kogegaden war eine einnehmend schöne Stadt, zwischen Neuhelsing und Kreelsund am Meer gelegen. Er kannte die Stadt von früheren Besuchen. Die sorgsam erhaltene Architektur aus der Hanse-Zeit hatte ihn verzaubert.
Als er zum ersten Mal nach Kogegaden kam, um sich das Antiquariat anzusehen und zu entscheiden, ob er sich darauf einlassen sollte, wurde er von dieser Stadt verzaubert. Er wusste sofort, dass er hier leben wollte. Die Straßen von Kogegaden halfen ihm dabei, über seine persönlichen Rückschläge hinwegzukommen. Alle Aufregung, aller Ärger legte sich, wenn er sich die Menschen vorstellte, die hier in den letzten Jahrhunderten gewohnt und gearbeitet hatten. Er dürfte aber auch nicht zu lange darüber nachdenken, denn das führte wieder zu der Frage: Was war wirklich wichtig in seinem Leben?
Das Leben eines einzelnen Menschen war nur ein Wimpernschlag in der Geschichte der Menschheit und kürzer als das Aufblitzen eines Funkens am Lagerfeuer im Vergleich zum Zeitlauf des Universums. Letztlich bestimmte jeder selbst, welchen Sinn sein Leben haben sollte. Doch wie weit reichte die Selbstbestimmung?
Sein Leben wurde von anderen zerstört. Er war jetzt ein Verkäufer, wie ihm unverblümt gesagt wurde. Das war nicht das, was er erreichen wollte, das hatte er nicht selbst bestimmt. Er wollte Forscher sein, sich in die lange Reihe der Erfinder und Entdecker einreihen. Aber das sollte wohl nicht sein. Trotzdem war er nicht bereit, an ein Schicksal zu glauben, dem man sich ergeben müsste. Wenn es keinen direkten Weg gab, dann eben einen Umweg! Am Ende würde etwas bleiben, was das eigene Leben auf diesem Planeten rechtfertigte, so wie der Springbrunnen an der Gabelung zweier Gassen in diesem mittelalterlichen Stadtkern, der an die Menschen erinnerte, die ihn gebaut hatten.
Diese Endlosschleife der Gedanken, die immer wiederkehrenden Fragen verbunden mit dem Gefühl der Machtlosigkeit, sein eigenes Leben zu bestimmen, ermüdeten ihn. Er musste sie verdrängen, ersetzen.
In diesem Sommer war wieder ein Mittelalterfest in Kogegaden geplant. So ein Ereignis passte in diese Stadt. Man konnte sich das Stadtleben des fünfzehnten Jahrhunderts in den engen Straßen und Gassen gut vorstellen. Die Straßen von Kogegaden waren einer der Gründe, warum er den Weg zum Antiquariat gern zu Fuß zurücklegte. Hier bewegte er sich durch eine Stadt, die Musik in sich trug.
Madlen, seine Tochter, spielte Klarinette im Jugendblasorchester, das auch einen Auftritt auf dem Mittelalterfest plante.
„André! Was ist los? Du siehst mich an und läufst einfach vorbei.“
„Solveig? Was machst du hier? Entschuldige, ich bin in Gedanken gewesen. Ich muss dringend einen Termin wahrnehmen.“ Solveig hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt.
„Ich wollte zu dir. Wir müssen dringend miteinander reden.“
Von Solveig ging ein gewisses Strahlen aus, eine Lebendigkeit, die ansteckend wirkte. Ihr schulterlanges, dunkles Haar, die große Brille, die ihre braunen Augen noch betonte, und ihr offenes Lächeln weckten Erinnerungen. Sie war zwar nur eins sechzig groß, hatte aber Energie für zwei Frauen. Immer hatte sie irgendwelche Pläne, war gleichzeitig an mehreren Projekten beteiligt und kannte tausend Leute. Ihre Zeit war stets verplant. Er wusste sofort wieder, warum er sich in sie verliebt hatte. Die vielen Streitereien der letzten Wochen und Monate hatten diese Erinnerungen verschüttet. „Worüber willst du reden?“
„Über Madlen. Können wir irgendwo hingehen und uns einen Moment setzen?“
Ihre gemeinsame Tochter war zum Hauptthema ihrer Auseinandersetzungen geworden. Madlen war bereits elf Jahre alt, aber Solveig wollte das alleinige Sorgerecht. André vermutete, dass ihre Anwältin ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Wenn sie jetzt über Madlen sprechen wollte, konnte er sie nicht einfach stehen lassen. „Zweihundert Meter weiter auf der linken Seite befindet sich eine Bäckerei-Filiale.“ André deutete in Richtung Markt. „Dort können wir hineingehen.“
André bestellte an der Theke zwei Kaffee. Sie setzten sich an einen Tisch in Fensternähe. Um diese Zeit waren nur ein Viertel der Tische besetzt. „Was ist mit Madlen? Hast du es dir noch einmal überlegt?“
„Nein, darum geht es jetzt nicht. Kannst du sie bis morgen zu dir nehmen?“
„Sicher. Wo ist sie? Was machst du eigentlich in Kogegaden?“
„Ich bin hier, um eine Abenteuerreise anzutreten.“
„Küstenstadt, Abenteuerreise. Willst du über die Weltmeere schippern oder den Grund der Ozeane erforschen? An einem Tag?“
„So ähnlich. Und du arbeitest wirklich in einem Antiquariat?“
„Ich baue mir eine neue Existenz auf, ja.“
„André, das sieht dir gar nicht ähnlich. Antiquariat – das ist ein Abstellbahnhof für alte Leute. Du musst raus, in die Welt und etwas erleben.“
Er musste jetzt das Thema wechseln. Diese Fragen hatten ihn schon den ganzen Morgen heruntergezogen. „Du hast eine Abenteuerreise vor? Was genau meinst du damit?“
„Das kann ich nicht sagen. Noch nicht.“ Sie lachte. „Aber wenn ich zurück bin, werde ich dir alles ausführlich berichten.“
Ihr Lachen war bezaubernd. Wollte sie ihn jetzt zum Narren halten? Er versuchte, auf den Spaß einzugehen. „Mir kannst du es verraten, ich erzähle es keinem weiter. Wird es eine Regenwaldexpedition in Brasilien? Oder wirst du unentdecktes Leben auf dem Grund des Atlantiks erforschen?“
„Nein, aber ich wollte von dir etwas anderes wissen. Letztes Jahr habe ich jemanden kennengelernt. Du hast bestimmt schon von ihm gehört oder gelesen: Alvar Laneuville.“
Irgendwo war ihm der Name schon einmal begegnet, aber André wusste nicht, wo er ihn einordnen sollte. „Verheiratet? Verlobt?“
„Nein, so nicht. Du weißt nicht, von wem ich spreche?“
„Ich kann nicht auf Anhieb sagen, woher ich den Namen kenne.“
Eine der Verkäuferinnen brachte ihnen den bestellten Kaffee.
„Alvar ist der Astronaut“, setzte Solveig das unterbrochene Gespräch fort, „der gerade zum Mars unterwegs ist.“
Jetzt fiel es André wieder ein, wo er den Namen Laneuville gelesen hatte. „Das Raumschiff von BBS?“
„Genau der. Er will der erste Mensch auf dem Mars sein.“
„Das wird er wohl auch werden. Irgendwann in den nächsten Stunden müsste er ankommen.“ Nachdem der Zirkus vor zwei Jahren begonnen hatte, wurde viel darüber spekuliert, ob es überhaupt möglich wäre, innerhalb der kurzen Frist einen europäischen Astronauten auf den Mars zu bringen und die fünfzig Millionen Euro zu gewinnen und wer der Sieger im Rennen werden könnte. Doch mit der Zeit hatten sich die Verhältnisse geklärt. Die Firma Big Blue Star hatte eine neue Antriebstechnik entwickelt und einen Astronauten in den Weltraum befördert. Das Raumschiff näherte sich dem Mars und könnte rechtzeitig auf dem roten Planeten ankommen. Die Aufregung um die Vorgänge zur Fünfzig-Millionen-Euro-Ausschreibung hatte sich gelegt, und die Aufmerksamkeit der Medien wurde von verschiedenen Katastrophen in der Welt gefesselt.
„Warten wir es ab“, sagte Solveig. „Alvar ist Archäologe. Er hat die Gelegenheit genutzt, die sich ihm bot. Wärst du auch bereit gewesen, zum Mars zu reisen, wenn du die Chance dazu gehabt hättest?“
„Ich bin nie in die Situation gekommen, mich dafür oder dagegen entscheiden zu müssen. Deswegen denke ich auch nicht darüber nach.“
„Ja, aber nur mal angenommen, dir würde jemand anbieten, zum Mars zu fliegen. Du könntest der erste Marsianer sein und würdest dafür auch noch eine Million Euro erhalten. Würdest du zusagen?“
André versuchte, sich das vorzustellen. Es fühlte sich nicht gut an. „Die Risiken wären sehr hoch. Selbst wenn ich hin und auch wieder zurückkommen würde, bliebe immer noch die Frage nach den gesundheitlichen Folgen. Allein wegen der Strahlung.“
„Du findest tausend Gründe dagegen. Das hätte ich nicht von dir erwartet. Wie kann man denn in Neuland vorstoßen, neue Welten entdecken, wenn man keine Risiken eingehen will? Was ist ein Leben ohne Risiko?“
„Würdest du dich darauf einlassen?“
„Ja, sicher.“ Solveig sagte das so entschieden und ohne darüber nachzudenken, dass André sich feige vorkam, kleinlich, spießerhaft.
„Alvar hat sich dafür entschieden“, setzte sie fort, „obwohl er verheiratet ist und einen kleinen Sohn hat. Du hättest ihn hören sollen. Er war so euphorisch darüber, dass er ausgewählt wurde. Und sein Sohn Demian könnte stolz auf seinen Vater sein. Das war ihm wichtig. Was konnte daran verkehrt sein?“
„Nichts daran ist verkehrt. Nur ist nicht jeder Mensch als Entdecker geschaffen.“
„Alvar macht etwas aus seinem Leben. Das finde ich beeindruckend. Du trägst zu viel Angst mit dir herum, André. Du musst einfach loslassen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, aus einer Raumkapsel, die zwischen Erde und Mars unterwegs ist, auf den blauen Planeten hinauszusehen. Dann auf den roten Planeten. Auf die vielen Sterne, deren Licht die Dunkelheit durchbricht. Das fühlt sich nach Freiheit an. Ich glaube, dass solch ein Erlebnis einem die Bedeutung des Lebens wirklich verstehen lässt. Ich würde alles für eine Reise zum Mars geben.“
„Alvar Laneuville ist Archäologe?“, sagte André mehr zu sich selbst. Was suchte ein Archäologe auf dem Mars. Hinterlassenschaften von Menschen wohl kaum.
„Archäologe, na und? Ich bin Biologin. Angenommen, ich hätte anstelle von Alvar die Möglichkeit bekommen, mit einem Raumschiff zum Mars zu fliegen, und ich wäre zu dir gekommen, um darüber zu sprechen. Was hättest du mir geraten?“
„Ich weiß nicht …“
Solveig sah auf die Uhr. „Oh, die Zeit läuft mir davon. Ich muss los.“ Sie stand auf.
„Wo kann ich Madlen abholen?“
„Ich bringe sie zu dir.“
„Du findest mich im Antiquariat.“
„Wo genau ist das?“
„Frankenstraße 64 in der südlichen Vorstadt.“
„Ich werde es finden. Bis nachher.“ Mit einem Lächeln war sie verschwunden, bevor André etwas erwidern konnte.
Eine seltsame Begegnung. André ließ das Gespräch noch einmal Revue passieren. Solveig hatte wenig über sich selbst erzählt, aber immer wieder von Alvar Laneuville. Warum? Was hatte sie von ihm erwartet?
Hätte er behaupten sollen, dass er bereit wäre, sich in ein Abenteuer zu stürzen? So wie Laneuville? Ein Archäologe auf dem Mars. Hier ging es doch nur um Ruhm und Reichtum. Das waren für André aber nie Kategorien mit höchster Priorität. Letztlich tat Laneuville doch auch nur, was andere von ihm erwarteten.
Was wollte ihm Solveig mitteilen, indem sie immer wieder auf Laneuville zu sprechen kam? Was hätte er ihr geraten, wenn sie ihm offenbarte, dass sie zum Mars reisen könnte? ‚Ich weiß nicht‘ wäre eine dumme Antwort. Das war eine dumme Antwort. Sie war vor seinem Stumpfsinn geflohen.
Er musste ins Antiquariat. Wie wichtig war das? Er hatte wieder einmal versagt.
Cillian Eckstrom stellte sich an die Tür seines Büros und blickte sich um. Bald schon würde er diesen Raum und dieses Haus verlassen und in die Chefetage eines Hochhauses einziehen. Hier wirkte alles provisorisch. Die Möbel strahlten die Aura einer vergangenen Zeit aus. Das einzig Extravagante war der Schreibtisch mit seiner riesigen Glasplatte. Er schritt durch den Raum zum Fenster. Es bot einenBlick auf ein Gewerbegebiet mit Ruinen, Bürogebäuden und Hallen, die neu gegründete Firmen beherbergten. Vor zwei Jahren musste es schnell gehen. Er brauchte Räumlichkeiten, um in kürzester Zeit seinen Plan zu verwirklichen. So gesehen, war dieses Haus seine Garage, die er in wenigen Tagen als Millionär verlassen würde, um in den Lauf der Welt einzugreifen.
Er hatte schon einmal Anlauf genommen, um mit einer eigenen Firma reich zu werden, und war gescheitert. Damals hatte er das als Lehrgeld angesehen, das er zahlen musste. Und er hatte seine Lektion gelernt. Mit Xtravel hatte er seine zweite Chance bekommen. Die hatte er zu nutzen gewusst. Einen dritten Versuch würde er nicht benötigen. Seinem Erfolg stand nichts mehr im Weg.
Er hatte sich schon lange nicht mehr so beschwingt gefühlt. Cillian warf sich in seinen Bürosessel und drehte sich damit dreimal, bis ihm fast schwindlig wurde. Solveig musste nur noch ihre Tochter unterbringen, dann würde er sie auf ihren Einsatz vorbereiten. In zwei Tagen wäre er der Gewinner von fünfzig Millionen Euro. Obendrein würden sich alle seine Kredite in Luft auflösen. Und nicht zuletzt würden sich seine Spielschulden in Peanuts verwandeln, die er mit Links begleichen könnte.
Jorben Sundborn trat ein. Er hatte angeklopft und gleichzeitig die Tür geöffnet. „Cillian, hast du eine Minute Zeit?“ Jorben leitete das Labor, in dem verschränkte Teilchen hergestellt und in separaten Boxen aufbewahrt wurden.
Cillians spürte, wie sich seine heitere Stimmung verflüchtigte. Er konnte es nicht ausstehen, wenn jemand den Raum betrat, ohne dass Elaine den Besucher angekündigt hatte. Auch bei Jorben musste er auf Distanz achten. Jorben Sundborn war seine rechte Hand im Unternehmen und sorgte für Nebeneinnahmen, von denen das Finanzamt nichts wissen dürfte. Trotzdem war er der Chef und nicht Jorben. Allzu viel Vertraulichkeit konnte zu falschen Schlüssen und letztendlich zum Scheitern des ganzen Unternehmens führen. „Ist Elaine nicht an ihrem Platz?“, fragte er deshalb.
Jorben sah sich um. „Doch, ist sie“, sagte er und schloss die Tür. „Es gibt nur etwas, das du wissen solltest. Ich glaube, es könnte ernste Folgen haben.“ Er ging zum Schreibtisch und nahm auf dem Stuhl davor Platz.
Die ungute Ahnung, die Cillian erfasst hatte, als Jorbens das Büro betrat, verstärkte sich weiter. Offenbar fühlte sich Jorben in seinem Büro wie zu Hause. „Was gibt es so Dringendes?“
Jorben zögerte. Er sah zu Boden, dann sagte er: „Es gibt Unregelmäßigkeiten mit den Boxen.“
„Unregelmäßigkeiten? Deswegen kommst du zu mir? Dafür bist du zuständig. Bring das in Ordnung.“ In seiner Vorstellung sah Cillian ein großes, schwarzes Gespenst hinter Jorben stehen. Weshalb war er wirklich gekommen?
Jorben schien nachzudenken. „Es fehlen ein paar Boxen“, sagte er schließlich.
„Jorben, was ist los?“
„Wie erkläre ich das am besten? Es fing mit Eric Petersen an. Schon seit einiger Zeit hatte ich ihn im Verdacht, dass er etwas unternimmt, was Xtravel schaden könnte. Deshalb habe ich ihn beobachtet und war ihm gefolgt, als er in die Stadt ging. Er suchte ein Antiquariat auf. Ich fragte mich, was er dort zu suchen hatte.“
„Was für ein Antiquariat?“ Cillian wusste nicht, worauf Jorben hinaus wollte.
„Es gibt nur eins in Kogegaden, neuerdings mit den Inhabern Rojas und Cronway. Zwei Tage später ging er wieder dorthin.“
Eric Petersen war der Sicherheitschef von Xtravel. Cillian vertraute ihm. „Vielleicht suchte er ein Geschenk für jemanden?“
„Das glaube ich nicht. Jedenfalls kam er letzten Freitag zu mir und sprach mich wegen der fehlenden Boxen an. Er verdächtigte mich, Boxen zu stehlen und zu verstecken.“
Eric Petersen war Anfang letzter Woche zu Cillian gekommen und hatte ihm mitgeteilt, dass er die Mars-Box sichern wollte. Sie war zwar in einem gesonderten Raum untergebracht, aber das reichte ihm nicht.
„Habt ihr das miteinander klären können?“