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Der 14jährige Finn und sein älterer Bruder Oliver könnten unterschiedlicher nicht sein: Während Finn eher schüchtern ist und sich schwertut, neue Freundschaften zu schließen, ist sein großer Bruder allseits beliebt, sportlich und auch in der Schule ein echter Überflieger. Trotzdem sind die Brüder unzertrennlich und teilen ein Interesse für Astronomie, weswegen sie häufig gemeinsam die Sterne durch ihr Teleskop betrachten. Doch als Oliver auf ein privates Elite-Internat wechselt, ist Finn plötzlich auf sich allein gestellt. Und Oliver stellt in seiner neuen Schule bald fest, dass hier etwas Seltsames vor sich geht, denn er wird zu einem geheimen Wettbewerb einer mysteriösen Organisation eingeladen, bei dem die Schüler sich in gefährlichen Aufgaben messen. Und dann verschwindet Oliver plötzlich. Finn macht sich auf eine abenteuerliche Suche … Ein spannender und actionreicher Science-Fiction-Roman über Geschwisterliebe und die Zukunft der Menschheit.
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Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2024
Finn
Oliver
Finn
Oliver
Finn
Oliver
Finn
Oliver
Finn
Oliver
Finn
Finn
Oliver
Finn
Finn
Eine Scheibe
Trauerfeier
DNA
Unfallort
Europatour
Paris
Flucht
Rock Eiffel
Die Verschwundenen
Jokkmokk
Die nächste Reise
Schwedisches Wetteramt
Flug nach Norden
Schwierigkeiten
Tief im Wald
Die Prüfung
Die Entscheidung
Nein
Anreise
Der schönste Ort des Universums
Countdown
Nachthimmel
Die Kugel hing im schwarzen Nichts, wie eine gigantische Murmel, die durch ein unachtsames Fingerschnippen Millionen von Kilometern über das Ziel hinausgeschossen war.
Mars.
Der Rote Planet.
Finn presste sein Auge so fest an das Okular des Teleskops, dass seine Augenhöhle zu schmerzen begann. Der Planet schien zum Greifen nahe, als könnte Finn die Hand danach austrecken und ihn in die Tasche stecken.
»Er sieht so klein aus«, sagte Finn. »Kaum zu glauben, dass da oben gerade ein menschengemachtes Fahrzeug herumkurvt. Wie heißt es noch mal?«
»Perseverance«, antwortete sein Bruder Oliver. »Das bedeutet ›Ausdauer‹.«
»Perseverance«, wiederholte Finn ehrfürchtig.
»Es wird sogar noch besser«, meinte Oliver. »Die Landesonde hat einen Minihubschrauber dabei.«
»Echt wahr?«, fragte Finn.
»Kein Scherz«, sagte Oliver. »Es gibt im Internet ein Video davon, wie er abhebt und wieder aufsetzt.«
Finn nahm sein Auge von dem Teleskop. Er formte seine Hände zu einer Höhle, blies warme Luft hinein und rieb dann die Handflächen gegeneinander. Es herrschte klirrende Kälte, und sein Atem stieg in einer Dunstwolke in die Luft. Finn und Oliver hatten eine Picknickdecke auf dem hart gefrorenen Boden des Ackers ausgebreitet und das Teleskop auf sein Stativ montiert. Oliver hatte sich schon immer für Astronomie interessiert, und der Funke war nun auch auf Finn übergesprungen.
»Wir sollten zurückfahren«, sagte Oliver. »Es ist spät, und du hast morgen Schule. Ich will auf keinen Fall, dass du dich hier draußen noch erkältest.«
»Noch nicht«, sagte Finn. »Bitte. Ich will noch mehr sehen.«
Seine Neugier war nicht der einzige Grund, weshalb Finn darauf beharrte, weiter den Sternenhimmel zu erkunden. Er wusste, dass sein großer Bruder morgen in sein neues Internat aufbrechen würde, und nichts machte Finn mehr Angst, als plötzlich allein zu sein.
»Na gut«, meinte Oliver. »Was willst du als Nächstes sehen?«
Finn blickte mit dem nackten Auge in den schwarzen Himmel. Es war eine klare Neumondnacht, und die Milchstraße sah aus, als wäre ein riesiger Pferdewagen über das Firmament gerast, der im Vorbeifahren eine Staubwolke aus Sternen aufgewirbelt hatte. Finn deutete zum hellsten Punkt am Himmel, einem Stern, der genau im Süden knapp über dem Horizont stand.
»Was ist das für ein Stern?«, fragte er Oliver. »Der helle da.«
»Das ist Sirius, im Sternbild Canis Major«, antwortete sein Bruder. »Das bedeutet ›Großer Hund‹. Deshalb nennt man den Stern auch den Hundsstern.«
Oliver löste die Fixierschrauben des Teleskops und blickte durch das kleinere, auf den Tubus montierte Suchfernrohr. Wenige Sekunden später hatte er das Teleskop auf den Stern Sirius ausgerichtet.
»Sieh ihn dir an.«
Finn blickte wieder durch das Okular. Der Hundsstern leuchtete hell.
»Fällt dir etwas auf?«, fragte Oliver.
Finn betrachtete den Stern genau, doch er konnte nichts Besonderes erkennen.
»Was sollte mir daran auffallen?«, fragte er.
»Sieh genau hin.«
Jetzt entdeckte Finn das Objekt, auf das sein Bruder angespielt hatte. Neben dem gleißend hellen Feuerball befand sich ein winziger Lichtpunkt, nicht größer als ein Nadelstich.
»Da ist noch ein zweiter Stern«, sagte Finn.
»Gut erkannt«, antwortete Oliver. »Du hast ein Auge für Details«.
Finn, der immer noch gebannt durch das Objektiv blickte, konnte an Olivers Stimme hören, dass dieser stolz auf ihn war.
»Sirus ist ein Doppelstern. Sirius A ist groß und hell, doch Sirius B ist im Vergleich dazu winzig. Die beiden Sterne kreisen umeinander.«
»Sie gehören zusammen«, sagte Finn.
»Genau. Ihre Schwerkraft zieht sie gegenseitig an.«
Finn betrachtete die beiden Sterne, als wollte er sich das Bild für immer einprägen.
»Wusstest du, dass man Sterne nicht nur sehen, sondern auch hören kann?«
Finn wandte sich vom Okular ab und sah zu seinem Bruder.
»Verarsch mich nicht«, sagte er.
»Wirklich wahr«, antwortet Oliver. »Man kann die Radiowellen, die ein Stern aussendet, in Töne umwandeln. Was meinst du, wie Sirius klingt?«
»Wenn es wirklich der Hundsstern ist, dann bellt er wahrscheinlich.«
Oliver musste lachen.
»Nicht ganz«, sagte er schließlich. »Ich zeig’s dir.«
Oliver kramte sein Handy aus der Jackentasche und öffnete ein Browserfenster. Dann navigierte er zu einer Webseite der NASA. Dort klickte er auf eine Audiodatei.
»So hört sich der Stern Sirius an, wenn man die Wellen, die er aussendet, in Tonsignale umwandelt.«
Er drückte auf Play. Aus dem Lautsprecher des Handys drang ein unheimliches Dröhnen, das wie ein geisterhafter Chor klang. Finn sah wieder durch das Teleskop. Er betrachtete den Doppelstern, während er den schauerlichen Klängen lauschte.
»Das ist aber noch nicht alles, was man hören kann«, meinte Oliver. »Wenn man den hohen, tiefen und mittleren Tönen verschiedene Instrumente zuordnet, dann klingt es plötzlich wie Musik.«
Oliver startete ein zweites Video. Zuerst ertönten die sanften Klänge eines Windglockenspiels, dann gesellten sich Harfen und Streicher dazu, die zusammen ein magisches Orchester bildeten.
»Die Musik der Sterne«, sagte Oliver.
Finn kniff die Augen zu und lauschte den Klängen. Es war, als würde er die Stimme des Universums hören.
»Jetzt müssen wir aber wirklich los«, meinte Oliver. Er schaltete sein Handy aus und steckte es in die Hosentasche. Die Musik des Sterns Sirius erstarb abrupt. Finn kam es vor, als wäre er aus einem Traum aufgewacht.
»Du hast recht«, meinte er. Missmutig half er Oliver, das Teleskop abzumontieren. Zusammen verstauten sie es in der dunkelblauen Tragetasche, die Oliver nun schulterte. Finn faltete die Picknickdecke zusammen, auf der sie gesessen hatten, und klemmte diese auf den Gepäckträger seines Fahrrads. Sie schoben ihre Räder über den unebenen Boden des gefrorenen Ackers, bis sie die Landstraße erreicht hatten, und saßen dann auf. Oliver fuhr voraus, und Finn folgte ihm durch die Nacht. Die Lampen ihrer Mountainbikes durchschnitten die Dunkelheit und warfen ihren Lichtschein auf die Landstraße. Finn klebte dicht an der Rückleuchte seines Bruders. Er wollte sich auf keinen Fall in der Nacht verfahren. Sie wohnten noch nicht lange in Pappelberg, und Finn kannte sich in der Umgebung noch nicht besonders gut aus. Erst kurz vor Weihnachten waren sie in das neue Haus eingezogen. Ihr Vater hatte eine Stelle bei einem Mikrochiphersteller am Stadtrand angetreten, und ihre Mutter arbeitete im Büro des Bürgermeisters.
Die Scheinwerfer eines herannahenden Autos blendeten Finn. Er kniff die Augen zusammen und verringerte die Geschwindigkeit, bis der Wagen an ihnen vorbeigerauscht war. Nun passierten Oliver und Finn das Ortsschild von Pappelberg. Links und rechts erschienen die ersten Häuser aus der Dunkelheit. Ihre Fenster waren hell erleuchtet, und aus einigen Wohnzimmern drang das blaue Schimmern eines Fernsehers. Oliver bog nach rechts in die kleine Straße ein, in der sie nun wohnten. Finn folgte ihm. Kurze Zeit später kamen sie an dem kleinen Haus mit Vorgarten an, in das sie vor wenigen Monaten eingezogen waren. Sie verstauten ihre Fahrräder in der Garage und trugen das Teleskop zusammen durch die Haustür in die gemütliche Diele. Finn zog sich die Stiefel aus und rieb seine eiskalten Hände. Gemeinsam gingen die Brüder in die Küche, und Oliver füllte zwei Tassen mit Milch und stellte sie in die Mikrowelle. Nach wenigen Minuten nahm er die dampfenden Tassen heraus und rührte Kakaopulver hinein.
»Haben wir noch diese kleinen Marshmallows?«, fragte Oliver. Finn kramte eine angebrochene Packung aus dem Küchenschrank hervor. Er verteilte den verbliebenen Inhalt auf die beiden Tassen und sah dabei zu, wie die Marshmallows langsam in den heißen Kakao schmolzen. Er wärmte seine Hände an der Tasse und nippte vorsichtig an der Schokolade. Oliver setzte sich auf die Tischkante und ließ die Beine herunterbaumeln. Finns Gedanken schweiften ab. Er dachte an die Schule und daran, dass Oliver morgen einfach nicht mehr da sein würde. Wieso musste er in dieses blöde Internat ziehen? Wieso konnte alles nicht einfach so bleiben wie bisher?
»Alles okay mit dir?«, fragte Oliver.
Finn blickte auf.
»Äh. Ja. Ich dachte nur an Sirius.«
Oliver lächelte.
»Ich kenne dich zu gut, Bruderherz. Ich weiß doch, wenn dich was bedrückt.«
Finn zögerte. Er wollte Oliver nichts vorjammern; wollte nicht mehr der kleine Bruder sein, der dauernd Hilfe brauchte.
»Stress mit der Schule?«, fragte Oliver.
Finn nickte.
»Ich weiß nicht, was ich falsch mache«, sagte Finn. »Irgendwas stimmt nicht mit mir.«
»Was meinst du?«
»Die Jungs aus meiner Klasse … mögen mich nicht besonders. Als ich mich vorgestellt habe und gesagt habe, von wo wir hergezogen sind, haben die sich über irgendeinen Fußballverein lustig gemacht und mich Fischkopf genannt. Dabei interessiere ich mich gar nicht für Fußball. Und jetzt will niemand mehr was mit mir zu tun haben. Ich finde einfach keine Freunde.«
»Das braucht Zeit, Finn.«
Finn blickte seinen Bruder an.
»Du hast gut reden. Du siehst aus wie ein Profisportler. Praktisch zwei Meter groß, blond, blaue Augen. Alle mögen dich. Die Mädchen liegen dir zu Füßen. Ich bin ein dürrer Zwerg mit braunen Kraushaaren. Manchmal glaube ich, du hast alle guten Gene abgekriegt und ich nur den Restmüll.«
Oliver sprang von der Tischkante und sah Finn durchdringend an.
»Hey! Hör mir zu! So darfst du nie und nimmer über dich selbst reden. Hast du das kapiert?«
Finn rollte mit den Augen.
»Das meine ich todernst. Wenn du so über dich redest, dann glaubst du diesen Scheiß irgendwann noch. Du bist kein Restmüll. Du kennst nur deine eigenen Stärken noch nicht.«
Finn zuckte mit den Schultern.
»Und was sollen das für Stärken sein?«
»Du bist klug, viel klüger als ich. Und du hast Sinn für Humor.«
»Was hilft mir das, wenn meine Mitschüler mich dauernd mobben?«
»Das wirst du noch lernen.«
»Flo und seine Gang machen mir ständig das Leben schwer«, fuhr Finn fort. »Der einzige Grund, warum sie mich nicht dauernd im Klo einsperren, ist, dass du mein Bruder bist und sie Angst vor dir haben.«
»Ich werde mit ihnen reden.«
»Wann denn? Du fährst doch morgen früh ins Internat!«
Finn merkte gar nicht, dass er laut geworden war.
»Wenn ich wiederkomme.«
»Im Sommer? Toll! Dann kann ich mir ja bis dahin die Kloschüsseln von innen ansehen.«
Finn sprang auf und lief aus dem Zimmer.
»Finn! Jetzt warte doch!«
Oliver versuchte, ihn vor der Küchentür abzufangen, aber Finn war schneller. Er lief die Treppe hinauf in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Er wollte nicht weinen, aber die Tränen kamen einfach. Schluchzend legte er sich auf sein Bett und schloss die Augen. Er wollte nichts hören, nichts sehen und an nichts mehr denken. Olivers Schritte waren auf der Treppe zu hören. Er kam in den ersten Stock hinauf und klopfte an Finns Tür, doch Finn ignorierte ihn. Irgendwann gab Oliver auf. Seine Schritte entfernten sich.
Am nächsten Morgen kam Finn nicht aus seinem Zimmer, um sich von seinem Bruder zu verabschieden. Er wartete, bis dieser mit seinen Eltern zum Bahnhof abgefahren war.
Oliver sah der Landschaft zu, die draußen vor dem Fenster des Zugs vorbeihuschte. Er dachte an Finn. Es tat ihm leid, dass sie sich gestritten hatten, doch Finn war kein Baby mehr. Er musste endlich lernen, auf eigenen Füßen zu stehen und sich zu behaupten, auch wenn das Leben manchmal unangenehm war. Andererseits war er aber auch sein kleiner Bruder, und Oliver hatte es immer als seine Pflicht angesehen, ihn zu beschützen. Er kramte sein Handy hervor, um Finn eine Nachricht zu schreiben. Sein Daumen schwebte über der Tastatur auf dem Display, doch er wusste auf einmal nicht mehr, was er schreiben sollte. Stattdessen wechselte er zu einem Webbrowser und scrollte durch die Nachrichten. Zugunglück in Frankreich, Erdrutsch in Brasilien, Flutkatastrophe in Thailand. Eine Rakete, die sechs Astronauten zur Internationalen Raumstation ISS bringen sollte, war durch einen Sabotageakt auf der Startrampe explodiert. Wie durch ein Wunder hatten die Astronauten schwer verletzt überlebt. Oliver schaltete sein Handy ab und steckte es in die Hosentasche. Es erschien ihm, als gäbe es in letzter Zeit nur noch schlechte Nachrichten, als würde die Welt von einer Krise in die nächste schlittern. Konnte er es Finn da verdenken, dass ihm alles Angst machte? War er vielleicht wirklich zu hart mit ihm ins Gericht gegangen? Er durfte nicht vergessen, dass Finn erst 14 Jahre alt war. Oliver kramte sein Handy wieder hervor, und diesmal tippte er eine kurze Nachricht:
Einige Sekunden später wurde die Mitteilung als ›gelesen‹ markiert, es kam jedoch keine Antwort von Finn. Oliver steckte das Handy wieder weg. Bald würde für ihn ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Als er im letzten Sommer die Zusage des Internats erhalten hatte, war er außer sich vor Freude gewesen, denn die Geiger Akademie galt als eine der besten Schulen Europas. Die Anwärter wurden nicht nur auf ihre geistigen Fähigkeiten, sondern auch auf ihre sportlichen Leistungen überprüft. Nur die besten, die in allen Disziplinen hohe Punktzahlen erreichten, hatten eine Chance, aufgenommen zu werden. Oliver hatte aus einer Laune heraus an dem dreitägigen Aufnahmeverfahren teilgenommen. Dass er einen Platz erhalten hatte, hatte ihn wirklich überrascht. Wie würde er sich wohl in der neuen Schule einleben? Er hoffte inständig, dass er unter seinen Mitschülern gute Freunde finden würde. Sein Handy summte. Finn hatte geantwortet. Oliver musste grinsen, als er die Antwort seines kleinen Bruders las:
Finn lief eilig die Treppe hinunter und nahm dabei zwei Stufen auf einmal. Er warf einen Blick über seine Schulter und sah, wie Flo und seine drei Freunde ins Treppenhaus gerannt kamen, ihm dicht auf den Fersen. Flo grinste breit, als er Finn am unteren Ende der Treppe entdeckte. Er strich sich durch seine kurz geschorenen blonden Haare und beschleunigte seine Schritte. Sven und Max wichen nicht von seiner Seite, wie zwei Bluthunde, die ihrem Herrchen folgten. Sie waren alle 14 Jahre alt, doch da seine Verfolger einen Kopf größer waren als Finn, kam es ihm so vor, als wäre er viel jünger.
Finns Fuß trat ins Leere. Er stolperte und rollte unsanft die letzten drei Treppenstufen hinab. Ein dumpfer Schmerz pochte in seinem Fußgelenk, doch Finn ignorierte ihn. Er rappelte sich auf und hielt auf die Tür zu, die zu den Umkleidekabinen der Sporthalle führte. Die Schritte seiner Verfolger waren ihm so nahe gekommen, dass er sich nicht traute, einen erneuten Blick nach hinten zu werfen. Er kam an der Tür an und rüttelte an der Klinke.
Vergebens.
Abgeschlossen.
Finn drehte sich um – und fand sich Angesicht zu Angesicht mit Flo wieder, der ihn immer noch breit angrinste. Er war so dicht bei ihm, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. Finn konnte Flos Sommersprossen zählen.
»Riecht ihr das?«, fragte Flo. Die Frage war an seine beiden Freunde gerichtet, die Finn links und rechts flankierten. Sven war groß, mit langen dunklen Haaren, und Max war dürr, mit einem Adamsapfel, der weit herausragte.
Sven und Max kicherten böse.
»Riecht wie Fisch, der zu lange in der Sonne gelegen hat.«
Flo begann, an Finn herumzuschnüffeln, wie ein Schwein, das nach Trüffeln suchte. Finns Herzschlag wummerte in seinen Ohren. Er bildete sich ein, dass sein Puls laut schepperte, bis er begriff, dass das Geräusch gar nicht von seinem Herzen kam. Es drang durch eine der Türen, die von dem Korridor abgingen, in dem sie sich befanden. Irgendjemand spielte in einem der Zimmer Schlagzeug – und zwar mit voller Wucht.
Flo schnippte vor Finns Nase mit dem Finger, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Hey, Fischkopf, Quizfrage: Was stinkt am Morgen nach Käsefuß, am Mittag nach Misthaufen und am Abend nach Kanalisation?«
Sven und Max lachten.
Irgendetwas ging mit Finn durch; er hatte keine Lust mehr, ängstlich zu sein und vor diesen Blödmännern zu kuschen. Bevor er es sich anders überlegen konnte, hatte er es schon getan. Er schnüffelte in Richtung von Flos Mund und verzog das Gesicht.
»Also, dem Geruch nach zu urteilen, ist es jetzt Mittag, aber weißt du, was da hilft? Ein gutes Mundwasser.«
Svens und Max’ Gesichtszüge entgleisten. Es dauerte einen Moment, bis Flo Finns Beleidigung komplett begriffen hatte.
»Falsche Antwort, Fischkopf!« rief Flo. Er packte Finns Arme. Sven und Max halfen ihm dabei, Finn in Richtung eines Mülleimers zu bugsieren, der in der Ecke stand. Finn versuchte, sich mit aller Kraft zu wehren, doch die drei waren zu stark für ihn. Flo trat ihm in die Kniekehlen, sodass Finn vor dem Mülleimer zu Boden stürzte. Gemeinsam drückten die Jungen Finns Kopf nach unten und pressten ihn in den stinkenden Inhalt des Eimers. Finn musste würgen. Es roch nach verfaulten Bananen und abgelaufener Milch. Finn wand sich und versuchte, sich aus der Umklammerung der drei Grobiane zu befreien, doch es war zwecklos. Er presste die Augenlider fest aufeinander. Die Zeit schien stillzustehen. Wieder musste er würgen, und beinahe kam ihm das Mittagessen hoch. Das Geräusch des Schlagzeugs war nun lauter als zuvor.
»Fischkopf, Fischkopf, Fischkopf!«, skandierten Flo und seine Freunde im Takt der Trommeln. Plötzlich verstummte das Schlagzeug. Finn hörte Schritte, und dann öffnete sich eine Tür.
Von einem Moment auf den anderen ließen Flo, Sven und Max von Finn ab. Er zog seinen Kopf aus dem Mülleimer und blickte sich um. Im Türrahmen eines der Zimmer stand ein Mädchen, das Finn bekannt vorkam. Sie hieß Mia und ging in seine Klasse. Mia war gerade mal einen Meter fünfzig groß, mit dunklen krausen Haaren, die in einem kugelrunden Afro-Haarschnitt von ihrem Kopf abstanden und ihr zusätzliche zehn Zentimeter Körpergröße bescherten. Ihre Haut war dunkel und ihre Augen grün. Ihre Finger spielten mit einem hölzernen Trommelstock, den sie so schnell herumwirbelte, dass man ihn kaum sehen konnte. Der andere Trommelstock steckte in der hinteren Tasche ihrer abgewetzten Jeans. Sie zeigte mit ihrem Finger auf die verdutzten Jungs.
»Ihr drei. Klappe halten! Ich versuche hier, Musik zu machen, und euer Gegröle raubt mir den letzten Nerv.«
Flo fand als Erster seine Fassung wieder. Er prustete los.
»Verpiss dich, du hässlicher Gartenzwerg.«
Finn sah Mia an. Ihr rechter Mundwinkel zog sich kaum wahrnehmbar nach oben.
»Wie hast du mich genannt?«, fragte sie Flo langsam, jedes einzelne Wort betonend.
»Gar-ten-zwerg«, antwortete Flo.
Bevor er die letzte Silbe zu Ende gesprochen hatte, war Mia schon bei ihm. Ihr Trommelstock beschrieb eine schier unmögliche Schleife durch ihre Finger und endete in ihrer Faust. Sie umklammerte ihn fest und stieß ihn Flo direkt in sein rechtes Nasenloch. Flo schrie vor Schmerz. Das Mädchen ließ jedoch nicht locker und bohrte so weit nach oben, dass Flo auf Zehenspitzen stehen musste, um den Schmerz auszuhalten.
»Möchtest du das noch mal wiederholen, Witzbold?«, fragte sie und funkelte ihn an. Flo schüttelte den Kopf, vorsichtig, da ihm jede Bewegung ein schmerzendes Nasenloch bescherte. Sven und Max sahen tatenlos dabei zu, wie ihr Freund gedemütigt wurde.
Das Mädchen zog ihren Trommelstock zurück und nickte mit dem Kopf in Richtung der Treppe.
»Abflug!«, fauchte sie.
Die drei Fieslinge ließen sich das nicht zweimal sagen und nahmen Reißaus.
Finn, der die ganze Szene vom Boden aus beobachtet hatte, musterte Mia. Sie hielt ihm die Hand hin und zog ihn auf die Füße. Als er vor ihr stand, war er einen ganzen Kopf größer als sie.
»Komische Freunde hast du«, sagte sie und blickte den drei Jungs nach, die die Treppe hinaufhasteten.
»Das sind nicht meine Freunde«, antwortete Finn.
»Was du nicht sagst«, antwortete Mia trocken. Sie hielt den Trommelstock in die Höhe, mit dem sie Flo malträtiert hatte, und betrachtete den Kopf.
»Igitt«, sagte sie. »Jetzt muss ich mir neue Sticks kaufen. Mit dem angerotzten Ding kann ich nicht mehr spielen. Ich glaube, da klebt noch ein wenig Hirn mit dran.«
Finn verzog das Gesicht.
»Das musst du Flo aber unbedingt zurückgeben«, sagte Finn und wischte sich mit den Händen den Müll aus den Haaren. »Hirnmasse ist bei dem Mangelware.«
Mia blickte Finn an und stieß ein lautes, donnerndes Lachen aus.
»Ich bin Mia«, sagte sie und hielt ihm die Hand hin, die in einem fingerlosen Lederhandschuh steckte. Finn schlug ein.
»Ich weiß«, sagte Finn. »Ich bin Finn.«
»Okay, Finn, ich muss weiterproben. Halt dich von Mülleimern fern. Übrigens, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du könntest eine Dusche vertragen.«
Sie zwinkerte ihm zu und verschwand wieder in dem Raum, aus dem sie gekommen war. Als Finn die Treppe erklomm, drang wieder lautes Trommeln aus dem Probenzimmer. Finn war fast oben angekommen, als er innehielt. Kurz entschlossen drehte er sich um, ging wieder nach unten und betrat den Probenraum. An den Wänden hingen Poster verschiedener Rockbands, die Finn nicht kannte, und in einem Regal an der Rückwand standen alte Schulbücher. An der Seitenwand waren Stühle aufgestapelt. Mia saß auf einem Hocker an einem Schlagzeug, das aus mehreren Trommeln und Becken bestand. Sie war so schmächtig, dass nur ihr Afro hinter dem riesigen Instrument hervorragte, und doch spielte sie mit einer Inbrunst, die die Stapel der Stühle wackeln ließ. Mia hatte Finn noch nicht bemerkt, und dieser versuchte nun, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem er an den Türrahmen klopfte. Natürlich ging das Geräusch in der Klangkulisse des Schlagzeugs völlig unter. Finn hielt sich beide Hände wie einen Trichter an den Mund und rief, so laut er konnte:
»Mia!«
Jetzt hatte das Mädchen ihn entdeckt und hörte mit einem letzten Trommelschlag auf zu spielen.
»Was gibt’s?«, fragte sie.
»Klingt echt gut«, sagte Finn. »Was ist das?«
»Basket Case von Green Day. Du kennst nicht zufällig jemanden, der gut singen und Gitarre spielen kann? Wir suchen noch einen Frontmann. Bass und Drums sind besetzt.«
Finn schüttelte den Kopf.
»Nein, ich kenne niemanden.«
»Was ist mit dir?«
»Ich habe noch nie eine Gitarre in der Hand gehabt, und wenn ich singe, jaulen die Hunde in der Nachbarschaft.«
Mia lachte.
»Schade.«
»Wie heißt eure Band?«, fragte Finn.
»Einen Namen suchen wir noch. Irgendwas das nach Rock oder Punk klingt.«
Finn dachte nach. Dann kam ihm eine Idee. Er schnippte mit dem Finger.
»Ich hab’s: The Fishheads!«
Mias Augen leuchteten auf.
»The Fishheads. Das gefällt mir.«
Sie spielte einen Lauf auf ihren Tom-Toms und endete mit einem Schlag auf das Becken.
»Ich hab Hunger«, sagte sie und stand auf. »Komm, lass uns was zu essen suchen.«
Eine Viertelstunde später standen Finn und Mia am Tisch einer Würstchenbude und schoben sich Pommes in den Mund. Trotz klarem Himmel und Sonnenschein war es ein kalter Nachmittag, und die heißen Pommes spendeten ihnen ein bisschen Wärme. Finn musterte Mia. Sie trug ein Nietenarmband um ihr rechtes Handgelenk und ein T-Shirt, das eine Hand zeigte, die eine Splittergranate in Form eines Herzens hielt. Ihre Füße steckten in ausgelatschten regenbogenfarbenen Converse-Schuhen. Seit er in ihre Klasse gekommen war, hatte Finn sich immer ein wenig vor ihr gefürchtet. Sie wirkte so selbstsicher und cool, dass er sich nicht getraut hatte, sie anzusprechen.
»Erzähl mir mal, warum du dich so rumschubsen lässt?«, sagte Mia, als sie ihren ersten Heißhunger gestillt hatten.
»Weißt du, ich bin neu hier in der Stadt und kenne noch niemanden. Die Jungs sind wahrscheinlich zu jedem erst mal ein bisschen ruppig.«
Mia schüttelte den Kopf.
»So was darfst du dir nicht gefallen lassen. Das musst du im Keim ersticken.«
»Leicht gesagt, aber die sind zu dritt.«
»Sieh mich an«, sagte Mia und deutete mit der Hand auf sich selbst. »Ich bin ein Dreikäsehoch und habe sie in die Flucht geschlagen. Eins musst du über solche Möchtegern-Schläger wissen: Sie sind immer, immer, immer Feiglinge. Große Klappe, nichts dahinter. Wenn du einmal zurückhaust, lassen sie dich in Ruhe.«
Finn zuckte mit der Schulter.
»Früher hat mein Bruder mich beschützt. Aber jetzt ist er im Internat.«
»Dein Bruder ist nicht dein Babysitter«, sagte Mia. »Du musst auf eigenen Füßen stehen.«
»Das hat er auch gesagt«, meinte Finn. »Lass uns über was anderes reden. Wie läuft’s mit der Band? Ist der Bassist auch aus unserer Klasse?«
»Ja. Oskar. Er sagt nicht viel, aber er hat am Bass echt Skills. Die anderen Typen aus unserer Klasse sind alles, nur nicht Punk.«
»Ich nehme an, die stehen mehr so auf Heavy Metal?«, sagte Finn.
Mia prustete.
»Heavy Metal, ja klar! Die gehen alle in dieselbe Tanzschule. Die hören so ganz fürchterlichen Dance-Pop. Zum Weglaufen.«
»Da ist also auch kein Leadsänger darunter?«
»Auf keinen Fall.«
Finn kratzte sich am Kopf.
»Hey, ich habe eine Idee. Warum organisiert ihr kein Casting für euren Sänger? Vielleicht findet ihr so jemanden.«
Mia nickte.
»Das ist eine tolle Idee.«
Mit ihrem Zeigefinger stieß sie ihn in die Brust.
»Und du hilfst uns dabei.«
Finn stutzte.
»Ich?«
»Klar«, sagte Mia. »Warum nicht?«
»Ähhh«, brachte Finn heraus.
»Du hast der Band ihren Namen gegeben. Ob du willst oder nicht, du bist jetzt auch Punk!«
Finn musste lachen.
»O…okay«, murmelte er.
Sie warfen ihre Papierteller in einen Mülleimer neben der Imbissbude, und Finn begleitete Mia zur Bushaltestelle.
Nachdem er mit Mia auf den Bus gewartet hatte, lief Finn nach Hause. Er dachte über die Ereignisse des Nachmittags nach. Es war das erste Mal, dass er sich mit jemand aus seiner Schule richtig gut verstanden hatte. Vielleicht würde er ja doch noch Freunde finden. Mia hatte recht. Er musste endlich lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Wahrscheinlich hatte er seinem Bruder unrecht getan. Oliver war nicht für ihn verantwortlich. Hatte Finn überreagiert, als Oliver ins Internat gefahren war? Er beschloss, seinen Bruder anzurufen, sobald er zu Hause war. Als er durch die Vordertür trat, begrüßte ihn seine Mutter mit einem Kuss auf die Stirn.
»Wie riechst du denn?«, fragte sie entgeistert. Finn wollte ihr nicht die ganze Wahrheit sagen, sie jedoch auch nicht anlügen.
»Ich hatte eine unangenehme Begegnung mit einem Mülleimer«, sagte er deshalb nur.
Seine Mutter blickte ihn verständnislos an.
»Ab unter die Dusche«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich mach uns was zu essen.«
Nachdem er geduscht und erneut gegessen hatte, ging Finn in sein Zimmer. Er nahm sein Handy aus der Hosentasche und wählte Olivers Nummer. Nach kurzem Klingeln nahm dieser ab. Sein Gesicht erschien auf dem Display. Er trug Sportkleidung, und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Im Hintergrund sah Finn einen Sportplatz, auf dem sein Bruder gerade einige Runden drehte. Sein Atem ging schnell und dampfte vor Kälte.
»Was gibt’s, Finny?«, fragte Oliver.
»Ich wollte nur anrufen, weil es mir leidtut. Unser Streit neulich Abend«, sagte Finn.
Oliver winkte ab.
»Mach dir nichts draus. Ich weiß, wie schwer es ist, 14 zu sein. Du wirst sehen, das wird besser.«
»Ich glaube, ich habe heute eine Freundin gefunden.«
Oliver pfiff durch die Zähne.
»Holla!«, rief er. »Das ging aber schnell. Das musst du mir aber genauer erzählen.«
»Nein! Keine Freundin-Freundin. Einen Freund, der ein Mädchen ist.«
»Alles klar, Chef.«
Oliver zwinkerte ihm zu.
»Sie heißt Mia und spielt Schlagzeug in einer Punkband.«
Jetzt lachte sein Bruder laut.
»Da lässt man dich einmal eine Woche alleine, und schon hängst du mit einer Punkband rum!«
»Sie ist echt cool.«
»Ich freue mich für dich, Finn. Ehrlich wahr. Ich wünschte, ich könnte mehr für dich da sein.«
»Wie ist das Internatsleben?«
Oliver schien sich seine Worte genau zurechtzulegen.
»Sehr intensiv«, sagte er. »Ich kann dir leider nicht zu viel verraten. Wir sind zum Stillschweigen verpflichtet.«
Finn verstand nicht, was sein Bruder damit meinte.
»Stillschweigen? Wie meinst du das?«
Aber Oliver hatte ihn nicht gehört oder tat jedenfalls so, als ob.
»Ich muss los, Bruderherz. Fühl dich geknuddelt.«
Schon hatte Oliver aufgelegt.
Finn grübelte nach.
»Stillschweigen?«, murmelte er zu sich selbst.
In der Nacht schlich sich Finn allein aus dem Haus. Er packte Olivers Teleskop auf sein Fahrrad und radelte zu dem Acker außerhalb des Dorfes, auf dem sie die Sterne beobachtet hatten. Als er angekommen war, stellte er das Teleskop auf und richtete es auf den Hundsstern aus, der mittlerweile ein wenig nach Westen gewandert war. Er blickte durch das Okular und spielte auf seinem Handy die merkwürdigen Klänge ab, die Sirius durch seine Radiowellen erzeugte. Obwohl es ohne seinen Bruder ein wenig unheimlich hier draußen war, fühlte er sich weniger einsam als noch vor einigen Tagen. Klar, er hatte immer noch jeden Morgen Angst, in die Schule zu gehen und von Flo und seinen Freunden gemobbt zu werden, doch er hatte sich auch ein wenig mit Mia angefreundet, und er spürte zum ersten Mal, dass er ohne Oliver nicht ganz allein war.
Trotzdem, der Gedanke an seinen Bruder machte ihn traurig. Er fühlte sich immer so sicher, wenn Oliver bei ihm war, als könnte ihm niemand auf der Welt etwas anhaben. Finn fiel ein, dass Olivers 18. Geburtstag bald anstand. Als Wiedergutmachung für sein Verhalten wollte er ihm etwas Besonderes schenken, etwas, das Oliver für immer an ihn erinnern würde. Als er die hellen Flammen des Hundssterns durch das Teleskop betrachtete und den sphärischen Klängen der NASA-Webseite lauschte, kam ihm eine Idee. Am nächsten Tag nach der Schule würde er sich auf die Suche machen.
Oliver biss die Zähne zusammen und rannte die letzten Meter, bis er die Ziellinie überquert hatte. Schwer atmend lief er an der Seitenlinie aus. Ein Lehrer, der mit Clipboard und Stoppuhr bewaffnet an der Zielgeraden stand, rief ihm seine Zeit zu.
»Zehn Minuten 23 Sekunden. Das müssen wir unter zehn kriegen.«
Oliver seufzte und lief zu einer Mitschülerin, die ebenfalls gerade ins Ziel gelaufen war.
»Geht das hier immer so ab? Die haben ganz schön krasse Vorstellungen von Fitness.«
Das Mädchen lächelte ihn an.
»Du kennst wohl das offizielle Motto der Schule noch nicht.«
»Und das wäre?«
»Tantum fortes hortum ingredient.«
Oliver kratzte sich am Kinn. Das Mädchen nahm zwei Wasserflaschen aus einer Kühlbox, die auf dem Boden stand.
»Da Sprachen nicht meine Stärke sind, bin ich leider mit meinem Latein am Ende«, sagte Oliver.
Sie warf ihm eine der Flaschen zu.
»Nur die Harten kommen in den Garten«, übersetzte sie, lächelte und verließ den Sportplatz in Richtung der Umkleidekabinen. Oliver öffnete die Flasche und nahm einen tiefen Schluck. Den Rest des Wassers leerte er über seinem Kopf aus. Er blickte zum eindrucksvollen Hauptgebäude des Internats hinüber. Hinter dem modernen Bau aus Glas und Beton zeichnete sich ein malerischer Blick auf das Alpenmassiv ab, dessen weiße Gipfel wie ein Gebirge aus Zucker in den Himmel ragten. Um den Sportplatz herum war eine Tribüne errichtet worden, auf der Zuschauer bei öffentlichen Sportveranstaltungen mitfiebern konnten. Auf der obersten Sitzreihe entdeckte Oliver eine kleine Gruppe, die die Schüler aufmerksam zu beobachten schienen. Ihm fiel eine Frau auf, die in einen schwarzen Wintermantel gehüllt war. Auf ihren schulterlangen feuerroten Haaren saß eine weiße Wollmütze. Sie befand sich auf der anderen Seite des Sportplatzes, doch Oliver hätte schwören können, dass die Frau ihn die ganze Zeit beobachtet hatte.
Seine Smartwatch, die er an seinem Handgelenk trug, piepste laut. Er sah auf das Display. Physikseminar in zehn Minuten. Wenn er vorher noch unter die Dusche wollte, musste er sich beeilen. Als er die Treppe zu den Umkleidekabinen hinunterlief, entging ihm nicht, dass die Frau ihm mit ihrem Blick folgte.
Nach einer Stunde Einzelunterricht brummte Oliver der Kopf. Sein Physiklehrer, Herr Kovacz, hatte sechzig Minuten lang fast ohne Pause geredet und auf einem Whiteboard komplizierte Gleichungen, Formeln und Diagramme aufgezeichnet. Oliver hatte sich die Finger wund geschrieben und alle Mühe gehabt, auch nur einen Teil dessen zu verstehen, was der Lehrer ihm da zu vermitteln versucht hatte. Er schätzte Herrn Kovacz auf Mitte sechzig. Was Olivers Verständnis noch erschwerte, war die Tatsache, dass dieser Herr Kovacz aus Ungarn stammte und mit einem starken Akzent sprach.
»Ich weiß, dass das alles ein bisschen viel ist«, sagte der Physiklehrer. »Aber wir haben hier an der Geiger Akademie eben einen anderen Anspruch als an einer normalen Schule.«
»Ist schon in Ordnung«, meinte Oliver mit einem gespielt zuversichtlichen Ton. »Ich beiße mich da schon durch.«
Tantum fortes hortum ingredient, dachte er sich, als sich die Tür des Klassenzimmers öffnete und eine Frau den Raum betrat. Sie war Mitte vierzig und hielt ein Clipboard in der Hand, welches sie nun konsultierte.
»Oliver Janssen?«, fragte sie.
»Ja?«, antwortete Oliver.
»Folge mir bitte.« Ohne auf ihn zu warten, verließ die Frau das Klassenzimmer. Oliver fegte sein Buch, sein Heft und seine Stifte vom Tisch in seinen Rucksack und eilte ihr hinterher. Die Frau trug einen hellblauen Kittel, an den ein Namensschild gepinnt war. »Dr. Lavoisier« stand darauf.
»Wo geht es denn hin, Frau Doktor?«, fragte Oliver, während sie den Gang entlangliefen.
»Du bist für einige Tests angemeldet.«
»Tests?«