Bogmail - Patrick McGinley - E-Book

Bogmail E-Book

Patrick McGinley

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Beschreibung

'Eales muss vernichtet werden', findet Pubbesitzer Tim Roarty, und zwar bevor der Barmann seine lüsternen Spielchen mit Roartys Tochter zu weit treibt. Das Giftpilzomelett versagt, also muss Band 25 der Encyclopædia Britannica als Mordwaffe herhalten. Die Leiche wird im Moor vergraben, Eamon Eales scheint Geschichte. Dann allerdings tauchen aus dem Moor Briefe auf, unterzeichnet mit 'Bogmailer', und Roarty beginnt sich zu fragen, welcher seiner exzentrischen und leidenschaftlich intriganten Stammgäste ihn zu erpressen versucht. Kenneth Potter vielleicht, der Engländer, mit dem ihn fast eine Freundschaft verbindet? Als der Bogmailer seine Forderungen mit einzelnen Körperteilen des Mordopfers unterstreicht und der ebenso unterbeschäftigte wie überambitionierte Dorfpolizist McGing sich nicht abschütteln lässt, scheint ein zweiter Mord unausweichlich. Patrick McGinley hat einen genauen Blick für die Abgründe des idyllischen Örtchens Glenkeel ganz im Westen Irlands und seiner so sympathischen wie durchtriebenen Bewohner. Bogmail ist psychologischer Spannungsroman und dörfliche Komödie in einem, mit herrlich ausufernden Thekengesprächen, bei denen das Wesen der weiblichen Sexualität so erörternswert ist wie der gemeine Regenwurm.

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AUS DEM ENGLISCHEN

Inhaltsverzeichnis
BOGMAIL
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
IMPRESSUM

EINS

Roarty machte ein Omelett mit den Pilzen, die Eamonn Eales am Morgen in Davy Long’s Park gesammelt hatte. Es waren gute Pilze, mittelgroß, delikat und wohlschmeckend, genau das Richtige für ein ganz besonderes Omelett, eine Omelette surprise sozusagen. Die besten Pilze hatte er für sein eigenes Omelett herausgesucht; das Omelett, das er für Eales zubereitete, war deshalb etwas ganz Besonderes, weil es nicht nur die Pilze aus Davy Long’s Park enthielt, sondern auch eine Handvoll fieser Düngerlinge mit schwarzen Lamellen, die er selbst auf dem Misthaufen hinter dem Stall gesammelt hatte. Er hoffte, vier davon würden genügen, um seinen wollüstigen Barkeeper zu vergiften; mehr hineinzutun wagte er nicht, falls dieser Lunte roch.

Eales war ein wählerischer Esser, der niemals die Kruste des Frühstücksspecks, die krosse Schwarte eines Schweinebratens oder die dünnen Adern weißen Fetts anrührte, die den besten Räucherschinken so schmackhaft machten. Weder aß er den gekräuselten Fettrand gegrillter Lammkoteletts und Lendensteaks noch die knusprige, erdige Pelle von Ofenkartoffeln. Dass er Letzere verschmähte, hätte Roarty ihm normalerweise nicht übel genommen, denn die Schalen der Kartoffeln einiger Bauern waren rissig, schorfig und von Wucherungen überzogen. Aber Roartys Kartoffeln waren anders; liebevoll im sandigen Boden bei der Flussmündung angebaut, fühlten sie sich so glatt an wie vom Meer blank geschliffene Strandkiesel. Ein Mann, der sich nicht dazu bewegen ließ, die Schale solcher Kartoffeln zu essen, war nichts anderes als ein Schuft. Er war blind gegenüber den Schönheiten des Lebens und den wahren Freuden einer gesunden Küche. Vermutlich war er ein Mann, der böse Gedanken gegen seinen Nachbarn hegte, jemand, vor dem alle klugen Männer ihre Töchter wegschließen würden, zumindest jene, die sich ihre Jungfräulichkeit bewahrt hatten. Die Schlussfolgerung war unvermeidlich: Eales musste vernichtet werden.

Die Düngerlinge waren eine glänzende Idee, besser als das Jakobskreuzkraut, das ihm zunächst in den Sinn gekommen war, das als Methode jedoch ernsthafte Nachteile gehabt hätte. Erst vergangene Woche hatte Sergeant McGing am Tresen von seinen giftigen Eigenschaften gesprochen, und fände dann der Gerichtsmediziner bei der Obduktion Rückstände der Pflanze in Eales’ Verdauungstrakt, würde McGing schnell zwei und zwei zusammenzählen.

»Wie ist das Jakobskreuzkraut in den Magen des Verstorbenen gelangt?«, würde er in seiner ganzen selbstgewissen Aufgeblasenheit fragen. »Schließlich war Eales keine Kuh.« Jakobskreuzkraut konnte nicht rein zufällig in den Magen eines Menschen gelangen, ein Düngerling hingegen schon. Eales hatte die Pilze selbst gesammelt, und es war durchaus möglich, dass er in der Eile auch ein paar giftige erwischt hatte. Bekümmert würde Roarty gestehen, das Omelett zubereitet zu haben; da man ihm jedoch kein Mordmotiv nachweisen könnte, würde er ungeschoren davonkommen. Es wäre ein perfekter Mord, sauber ausgeführt, mit so wenig Aufhebens und Aufwand wie möglich, besser als unnützes Blutvergießen; das war etwas für Dummköpfe, die ihre Leidenschaften nicht bezähmen konnten.

Eales saß in der ekelhaft gelben Weste, die er an Wochentagen trug, auf einem hochbeinigen Hocker hinter dem Tresen und las Old Crubog die Rennergebnisse vor. Er war gerade mal zwanzig Jahre alt, hochgewachsen, mit dunklem Teint und schmalem Gesicht, und strahlte jene unerschütterliche Ruhe aus, die in der unverhohlenen Überzeugung gründete, dass andere Menschen nur zu seinem Amüsement existierten. Old Crubog, der einzige Gast, hörte ihm aufmerksam zu, den Kopf schief gelegt, vor sich einen unberührten Pint Stout.

»Dein Abendessen ist fertig«, rief Roarty von der Küchentür.

Eales faltete die Zeitung zusammen, legte sie vor Crubog auf den Tresen und hechtete hungrig an seinem Arbeitgeber vorbei.

»Ich fürchte, mit der Zeitung kann ich nichts anfangen. Hab meine Brille zu Hause gelassen«, sagte Crubog, nahm einen langen Schluck aus seinem Glas und schmatzte mit gekräuselten Lippen, die sich über seinem locker sitzenden künstlichen Gebiss schlossen. »Der erste Pint heut Nachmittag«, sagte er, und seine wässrigen Augen leuchteten auf vor gierigem Genuss.

Roarty lehnte sich über den Tresen, hörte ihm zu und pries vergangene Zeiten, während er sich in einer entlegenen Kammer seines Geistes fragte, wann Eales wohl krepieren werde. Würde er unmittelbar nach der Mahlzeit das Bewusstsein verlieren? Oder würde er sich mannhaft durch den Abend kämpfen und in der Nacht sanft entschlafen? Ihn so problemlos, so perfekt loszuwerden schien zu schön, um wahr zu sein.

Die Hand auf dem Zapfhahn für das Stout, blickte er aus dem Westfenster in das intensive Abendsonnenlicht hinaus, das auf dem Meer lag, einer ebenen Fläche glitzernden Wassers. Um Rannyweal, das unter der Wasseroberfläche liegende Riff, das sich von der Südküste fast über die Hälfte der Bucht erstreckte, war nicht einmal ein Schaumspritzer zu sehen. Es war ein herrlicher Sommer gewesen, der beste, an den sich irgendwer erinnern konnte, ausgenommen Old Crubog. Seit Ostern war kein einziger Tropfen Regen gefallen, und jetzt war bereits die erste Augustwoche. Das Getreide stand nur halb so hoch wie sonst, und die Kartoffeln, obwohl schön mehlig, waren kümmerlich, sowohl nach Größe wie nach Zahl. Die Bauern murrten schon seit Juni, und der Gemeindepfarrer, selbst Landwirt, betete in den Sonntagsmessen um Regen. Nur die Touristen, die Torfstecher und die Fischer waren zufrieden. Aber auch für Gastwirte war es ein guter Sommer. Noch nie hatte Roarty Abend für Abend so durstige Männer erlebt; noch nie hatte er so viel Ale und Stout ausgeschenkt. Ständig kam jemand in den Pub, und stets mit gewaltigem Durst, der gelöscht werden musste. Als Roarty bemerkte, dass das Regal mit den Flaschen Stout fast leer war, holte er aus dem Vorratsraum zwei neue Kästen und stellte die Flaschen in drei ordentlichen Reihen auf, bereit für den abendlichen Ansturm. Dann schenkte er sich ein großes Glas irischen Whiskey und Wasser ein und sagte zu Crubog: »Kommt nicht oft vor, dass man über Rannyweal keine weißen Wellenkämme sieht.«

»Die Pilze waren richtig gut«, sagte Eales, der aus der Küche zurückkam. »Noch nie bessere gegessen.«

»Ich finde, ein paar von denen haben etwas streng geschmeckt«, sagte Roarty.

»Einbildung. Meine waren köstlich.«

»Wo hast du sie denn gefunden?«, fragte Crubog.

»In Davy Long’s Park. Hab jeden von ihnen eigenhändig gepflückt«, brüstete sich Eales.

»Die beste Stelle für Pilze.« Crubog sprach mit Autorität. »In Davy Long’s Park findest du nie ’nen schlechten Pilz, jeder von denen ist so saftig wie ’ne Jaffa-Orange.«

Roarty überließ Eales und Crubog ihrem Gespräch und ging hinters Haus, wo der Anblick des vertrockneten Nadelbaums alle Gedanken an Pilze aus seinem Kopf vertrieb. Er füllte zwei Eimer mit Wasser aus dem Außenhahn und goss den Inhalt an die Wurzeln des absterbenden Baumes. Die aufgesprungene Erde sog das Wasser auf, als wäre es nur ein Fingerhutvoll, und Roarty schleppte sechs weitere Eimer herbei, beharrlich und entschlossen, wenn auch mit dem schwarzen Gefühl der Hoffnungslosigkeit im Herzen. Den angeblich immergrünen Baum hatte er siebzehn Jahre zuvor gepflanzt, an dem Tag, als Cecily zur Welt gekommen und seine Frau gestorben war. Im ersten Winter hatte ein Sturm aus dem Westen ihn eines Nachts entwurzelt, doch mit Hilfe eines Stützpfahls hatte Roarty ihn wieder aufgerichtet, und so war er zusammen mit Cecily herangewachsen, hoch und schlank, dunkelgrün, mit sich verjüngenden Zweigen, die sich unter dem Gewicht der Nadeln bogen. Mit der Zeit hatte Roarty den wachsenden Baum mit den Veränderungen in Verbindung gebracht, die Cecily durchmachte: mit der kaum merklichen Veränderung der Form ihrer Nase, für die selbst er keine Worte finden konnte, als sie sechs war; mit dem Nachdunkeln ihres flachsblonden Haars, als sie neun war; dann mit dem Längerwerden ihrer spindeldürren Schulmädchenbeine; und schließlich mit der Herausbildung ihrer Brüste. Sie war ein liebes Mädchen, dem Aussehen nach ihrer Mutter nicht unähnlich und doch so anders. Obwohl er sie nie geküsst hatte, nicht einmal, als sie noch ein Kind war, fühlte er sich ihr nahe. Inzwischen konnte er kaum an sie denken, ohne den Stich einer bösen Vorahnung zu verspüren. Es hatte recht daran getan, sie damals nach London zu schicken. Nun aber konnte er den Gedanken, dass sie so verletzlich und so weit fort war, kaum ertragen. Seit der Baum begonnen hatte zu vertrocknen, hatte er nicht mehr an sie denken können, ohne den Atem anzuhalten.

Als er nach einem Ast über seinem Kopf griff, zerbröselten die brüchigen Nadeln in seiner Hand zu Staub. Die Zweige hatten angefangen, sich zu verbiegen, während das dunkle Grün einem helleren Grün mit gelblichem Farbstich gewichen war, und doch weigerte er sich zu glauben, dass ihr Baum sterben würde. All den anderen Bäumen im Garten ging es prächtig, möglicherweise wegen ihrer tieferen Wurzeln. Er hatte sich dafür entschieden, einen Nadelbaum zu pflanzen, weil dieser kein Laub abwarf. Hätte er doch nur gewusst, wie empfindlich der Baum gegen Trockenheit war! Hätte er doch nur rechtzeitig bemerkt, wie hell das dunkle Grün geworden war!

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Allegro, eine von Eales’ Katzen, auf das niedrige Vogelhäuschen sprang. Er hechtete quer durch den Garten und packte die elende Kreatur am Nackenfell, aber er kam zu spät – der Sperling in ihrem Maul war bereits tot. Eales war das Böse. Roarty bereute den Tag, an dem er ihn so gutgläubig zu seinem Barkeeper gemacht hatte. Eales’ anzügliches Grinsen, als er an einem Sommerabend in die Bar hereinspaziert war, einen Rucksack auf dem Rücken und unter jedem Arm eine schwarze Katze, hätte ihm eine Warnung sein sollen. Die eine Katze hatte er als Allegro, die andere als Andante vorgestellt und das zweifellos lustig gefunden. Diese Unverfrorenheit, seine Katzen vorzustellen, als wären es Menschen!

»Einen Pint Porter«, hatte er gesagt. »Und einen Job, falls Sie einen für mich haben.«

Schon damals hätte Roarty wissen müssen, dass ein Mann, der mit zwei schwarzen Katzen herumzieht, niemand ist, auf den man sich einlässt, aber er brauchte einen Barkeeper, und keiner der Ortsansässigen wollte den Job.

»Was führt Sie ausgerechnet zu mir?«, hatte er gefragt.

»Ich hab mich im Pub am andern Ende des Dorfes erkundigt, und es hieß, Sie hätten Arbeit für mich. Ich versteh was davon, hab früher schon Bier gezapft.«

Er war ein guter Barkeeper, konnte rasch die Gedanken eines langsamen Gastes lesen und an Abenden, wenn viel Betrieb herrschte, ebenso rasch das Wechselgeld herausgeben, war beliebt bei den Stammgästen und geschäftig auch dann, wenn es nicht viel zu tun gab. Doch die aufreizende Art, wie er einen ansah, hatte etwas Unnatürliches. Er war verschlossen, scharfzüngig und übertrieben selbstbewusst, hatte aber keinen einzigen engen Freund. Obwohl er mit jedem Mädchen ausging, das ihm auch nur einen zweiten Blick zuwarf, benahm er sich, als würde er nicht einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass eine von ihnen jemals seine Frau werden könnte.

Auch sein Sinn für Humor war unnatürlich. An seinen freien Tagen stellte er einen Teller mit Brotkrumen ins Vogelhäuschen, setzte sich ans Küchenfenster und wartete darauf, dass Allegro oder Andante zuschlug. Das Vogelhäuschen hatte er absichtlich in der Nähe der Blumenbeete aufgestellt, damit sie seinen Katzen Deckung verschafften. Und jedes Mal, wenn eine von ihnen einen Vogel fing, schlug er sich lachend auf den Schenkel. Dann schüttelte er beide Fäuste und rief: »Guter alter Allegro. Schon den zweiten heute erlegt.«

Eines Abends Ende Mai hatte Roarty ihn dabei beobachtet, wie er so lange den Bergahorn schüttelte, bis von einem der oberen Äste ein kleines Vogeljunges herabfiel. Während die beiden Eltern in der nahe gelegenen Esche wütend schimpften, war das arme Vögelchen vor Angst wie gelähmt und konnte nur schwache Flugversuche unternehmen, und Eales ging lachend davon, um seine Katzen zu suchen. Roarty war so entsetzt, dass er die Leiter holte und das Küken wieder ins Nest setzte. Gerade stieg er wieder herunter, als Eales mit Allegro und Andante zurückkam und den weiß-gelben Fleck auf seinem Hemdärmel sah.

»Das ist der Dank dafür, dass du ein Küken rettest: Vogelscheiße auf deinem Ärmel.«

Das war Beweis genug. Eales war das Böse. Eales musste vernichtet werden.

ZWEI

Am nächsten Morgen war sein erster Gast Crubog; dieser beschwerte sich über den Wolkenbruch, der ausgeblieben war.

»Hast du gesehen, was passiert ist?«, fragte er. »Die Wolken sind einfach nur von Ost nach West über den Himmel gezogen. Der Regen ist über dem Meer niedergegangen, wo man ihn am allerwenigsten gebrauchen kann.«

Roarty zapfte ihm einen Pint Stout und nahm aus seiner zitternden Hand eine zerknautschte Pfundnote entgegen. Nachdem er ihm zweiundsechzig Pence Wechselgeld zurückgegeben hatte, schenkte er ein großes Glas Whiskey ein und stellte es neben den Pint auf den Tresen.

»Was hast du im Sinn?«, fragte Crubog.

»Nichts, was nicht noch warten kann«, sagte Roarty mit einem gedankenverlorenen Blick auf Rannyweal und das Blau der Bucht.

»Immer, wenn du einen Drink ausgibst, weiß ich, dass du Unfug im Sinn hast. Do shláinte, a chailleach!«

»Sláinte na bhfear, is go ndoiridh tú bean roimh oíche.«

Crubog hob das Glas und goss sich den unverdünnten Whiskey hinter die Binde. In der Tat war es eher ein Gießen als ein Trinken, dachte Roarty. Er hatte Crubogs Adamsapfel beobachtet, und der hatte sich nicht bewegt.

»Geht doch nichts über ’nen Whiskey pur als Erstes am Morgen, um die alten Röhren durchzuspülen. Wenn man sich’s nur leisten könnte…«

»Könntest du schon, wenn du nur wolltest«, sagte Roarty vertraulich.

»Wie das?«, fragte Crubog und glättete das einzige Büschel Haare, das auf seinem ansonsten kahlen Schädel spross. Es war wie ein Büschel verdorrter Quecken, in der Mitte hatte er es gescheitelt und sich je eine Strähne über die Ohren gekämmt. Er bot einen ungewöhnlichen Anblick, klein, mager und sonnengebräunt – und verschlagen wie ein alter Fuchsrüde.

»Hab ich dir doch schon gesagt. Du brauchst nur dein Land zu verkaufen.«

»Und wie viel bietest du heute dafür?« Crubog war clever genug, ein gewisses Interesse anzudeuten, das Thema aber gleichzeitig wie einen alten Witz zu behandeln.

»Genauso viel wie letzte Woche. Viertausend sind ein anständiger Preis. Die würden dich bis zu deinem letzten Atemzug mit Whiskey versorgen.«

»Das ist Ansichtssache, aber ich muss zugeben, es ist eine starke Versuchung.«

»Was hält dich dann noch zurück?«

»Du bist nicht der Einzige, der’s auf mein Land abgesehen hat. Rory Rua, um nur einen zu nennen, hat auch ein Auge drauf geworfen.«

»Rory Rua ist ein Großkotz. Er redet viel, wenn der Tag lang ist.«

»Wenn ich verkaufe, dann nur an jemanden, der Bauer ist wie ich und wie mein Vater und mein Großvater vor mir. Land ist zum Bestellen oder zum Beweiden da. Was würde jemand wie du damit anfangen?«

»Und was würde Rory Rua damit anfangen? Der ist eher Fischer als Bauer.«

»Er hat zwei Kühe und zwei Färsen, und er denkt daran, sich einen Bullen zuzulegen. Ein Bulle braucht Auslauf. Würdest du einen Bullen kaufen?«

»Ich habe noch keine Pläne. Vielleicht benutze ich’s als Weide- oder Ackerland. Mal sehen, wie’s läuft.«

»Wenn du’s kaufen willst, musst du mir zuerst verraten, was du damit vorhast. Das wäre Teil des Geschäfts.«

Crubog war unmöglich. In den vergangenen vier Jahren hatte ihm Roarty jeden Morgen einen Whiskey eingeschenkt, ohne ihm auch nur ein Verkaufsversprechen entlocken zu können. Es ergab einfach keinen Sinn. Alles, was Crubog zum Leben hatte, war seine Rente, während sein Land nur als Tummelplatz für Krähen diente und ihm keinen Penny einbrachte. Das hätte weiter nichts ausgemacht, wenn es fruchtbares Land gewesen wäre. Sein sechs Morgen umfassender Grundbesitz bestand aus felsigem Ödland, aber was Roarty daran interessierte, war »das große Stück Land am Berg«, das dazugehörte. Von einem Freund in Dublin hatte er erfahren, dass die Fremdenverkehrsbehörde eine Panoramastraße über den Hügel bauen wollte, genau durch Crubogs Land, und er sah schon den Tag nahen, an dem der Straßenrand von Wochenendhäuschen und Ferienchalets gesäumt würde. Falls die Straße wirklich zustande käme und er der Besitzer des »großen Stücks Land am Berg« wäre, wie Crubog es nannte, hätte er gute Chancen, ein Riesengeschäft zu machen.

»Na dann, ich muss meine Rente abholen«, sagte Crubog und schlürfte den Schaum, der sich auf dem Boden seines Glases abgesetzt hatte. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, vor dem Mittagessen komm ich vorbei und lass dir etwas davon da.«

Roarty goss sich den zweiten Whiskey an diesem Morgen ein. Die Schankstube war leer, und Eales, dieser Teufel, war nach Killybegs gefahren. Roarty schaute aufs Meer hinaus, das genauso dalag wie am Vortag und am Tag davor. Gelangweilt ging er mit seinem Glas nach oben in Eales’ Zimmer. Das Fenster stand offen, aber es hing ein Geruch im Raum, kein unangenehmer, aber doch ein Geruch – ein Geruch nach Lotion und Talkumpuder. Kein gesunder männlicher Tagesgeruch, sondern ein Geruch, der an die üblen Ausdünstungen nächtlicher Manöver erinnerte. Das Zimmer war ordentlicher als sein eigenes, der niedrige Frisiertisch mit allen möglichen Fläschchen und Haarbürsten bedeckt. Die Eitelkeit dieses Kerls! Die völlig unangebrachte Selbstgefälligkeit! Jedenfalls pflegte er seinen räudigen Kadaver. Wusch sich ständig die Haare oder nahm ein Bad, trotzdem stanken seine Füße wie ein Misthaufen. Die Düngerlinge hatten versagt; munter wie eine Lerche war Eales um sechs Uhr aufgestanden und hatte Allegro und Andante zu sich gerufen, noch bevor das Morgenkonzert der Vögel ganz verstummt war. Was also als Nächstes? Fingerhut? McGing hatte gesagt, aus den Blättern könne man Digitalisglykoside gewinnen, sofern man sie zum richtigen Zeitpunkt sammelte. Aber was war der richtige Zeitpunkt? Wenn er das Ausmaß seiner Unwissenheit bedachte, fühlte er sich ganz klein; nicht einmal die Encyclopædia Britannica wusste die Antwort. Bis Samstag musste er sich etwas ausdenken. Vielleicht ein weiteres Omelett, diesmal aber mit einer größeren Überraschung?

Er ging zum Bett und hob die rosafarbene Tagesdecke hoch, dann das parfümierte Kopfkissen. Darunter lag, eingerollt in einen rot-braunen Pyjama, ein Sexmagazin, wo immer Eales es auch herhaben mochte. Die Hochglanzseiten voller Farbbilder von nackten Schönheiten, die in den einladendsten Posen ihre retuschierten Hintern und Muschis darboten oder mit geschlossenen Augen in Verzückung gerieten, weil sie ihre dicken Möpse zusammenpressten. Bei dem Andrang schier ungeahnter Möglichkeiten wurde Roarty ganz schwindelig. Er warf einen Blick auf die Leserbriefseite. Triolismus. Fellatio. Cunnilingus. Alles war vorhanden, der ganze verrückte Zirkus einer moralisch abnormen Welt. Eales war Bürger dieser Welt. Eales musste vernichtet werden.

Voller Schuldgefühle legte Roarty das Magazin weg und hob müßig einen Werbecoupon vom Nachttisch, der von Eales ausgefüllt worden war, von wem auch sonst? Ungläubig las er laut:

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Er sann über die Bedeutung von »ergonomisch« nach, ging über den Flur in sein eigenes Zimmer und nahm eine alte Ausgabe des Concise Oxford English Dictionary vom Regal, doch das einzige Wort, das dem gesuchten ähnelte, war »erg«, eine Maßeinheit für Arbeit oder Energie. Er würde Potter fragen. Der war Ingenieur, der musste es wissen. Zerstreut schlug er den fünften Band der Ausgabe der Encyclopædia Britannica aus dem Jahre 1911 auf und zog einen halbseitigen Brief aus dem Vorsatzblatt. Die Enzyklopädie hatte er an einem Samstagnachmittag vor über zwanzig Jahren für zehn Shilling in einem Ramschladen in Sligo erstanden. Sie war das Geschäft seines Lebens und das einzige literarische Werk, das er besaß, das Wörterbuch und eine Biographie Schumanns einmal ausgenommen. Er hielt sich den Band dicht unter die Nase und atmete tief ein. Der leicht rauchige Geruch des Buchrückens löste jedes Mal einen Schauer esoterischen Vergnügens aus, das noch dadurch erhöht wurde, dass viele der Artikel seit langem veraltet und völlig unzuverlässig waren.

Als er den Brief las, den er bereits auswendig kannte, konnte er nicht umhin, sich über den Impuls zu wundern, der in ihm den Wunsch aufkommen ließ, in seiner Brust noch einmal den lähmenden Schmerz der Verunsicherung zu verspüren.

Lieber Eamonn,

nur noch drei Wochen, nur noch einundzwanzig Tage und Nächte. Wie ich mich danach sehne, diesen Mauern zu entkommen, Dich wiederzusehen, Dich jeden Tag zu sehen. Immer wieder muss ich an den Abend unter der Minister’s Bridge denken und an die seltsamen Dinge, die du mit mir angestellt hast. Ich habe versucht herauszufinden, ob die anderen Mädchen davon wissen, aber immer, wenn ich eine Andeutung mache, sehen sie mich verständnislos an. Wie unser Englischlehrer sagt: »Ich halte dafür, dass es keine Sünde gibt außer der Unwissenheit.« Gleich müssen wir das Licht ausmachen. Ich muss aufhören. Hundertundeinen Kuss von Deiner Dich liebenden

Cecily

DREI

Es war Samstagabend, der Pub war überfüllt und Roarty ganz der Gastwirt. Nach dem vierten doppelten Whiskey seit dem Mittagessen hatte er ohne wahrnehmbare äußerliche Veränderung die »Wohlfühlbarriere« durchstoßen. Es lief immer auf dasselbe hinaus. Der erste Doppelte zeigte keine Wirkung, ebenso wenig der zweite; der dritte taute ihn auf; der vierte wärmte ihn; und der fünfte entzündete eine Kerze in seinem Kopf, deren Licht die innere Dunkelheit durchdrang und in Farben tauchte wie ein Wintermond, der durch eine dichte Wolkendecke bricht. Der selbstzerstörerische Impuls verflüchtigte sich aus seinen Gedanken, Worte strömten wie helles Quellwasser aus ihm heraus, und mühelos und ohne ersichtlichen Grund stellte sich Heiterkeit ein. Zwischen dem fünften und dem achten Doppelten lebte er auf einem Plateau bedenkenlosen Vergnügens, das er bis zur Sperrstunde auszudehnen suchte. Auf den zehnten Doppelten folgte stets ein rasanter Niedergang – die gebräuchlichsten Wörter wurden zu Zungenbrechern, und die Gedanken formten sich so langsam wie der letzte Tropfen einer ausgequetschten Zitrone. Das war wenig erfreulich – ein Stadium, das er tunlichst vermied. Er richtete es so ein, dass sein »Zehnter« mit der Sperrstunde zusammenfiel. Wenn Eales und er abgewaschen hatten, ließ er den Dosierer beiseite und schenkte sich einen »häuslichen Doppelten«, so nannte es Potter, direkt aus der Flasche ein. Den nahm er mit in sein Zimmer und nippte daran, während er sein »Offizium« für den Tag las, einen unzeitgemäßen Artikel über irgendeinen Aspekt der Wissenschaft in der gelehrten Encyclopædia Britannica.

Für einen Touristen auf der Suche nach Lokalkolorit zapfte Roarty einen Pint und lauschte voller Genuss einem nicht enden wollenden katechetischen Gespräch zwischen Crubog, Cor Mogaill, Rory Rua, Gimp Gillespie und dem Engländer Potter, der, obwohl er neu im Tal war, schnell lernte.

»Warum folgen die Möwen nicht mehr dem Spaten oder dem Pflug?«, fragte Crubog.

»Weil zu wenig Regenwürmer im Erdboden sind«, antwortete Rory Rua, der diese Unterhaltung schon einmal gehört hatte.

»Und warum sind Regenwürmer so selten wie Sovereigns?«, wollte Crubog wissen.

»Weil der Kunstdünger sie tötet«, kicherte Cor Mogaill.

»Es wird Zeit, dass ihr alle mal ein neues Gesprächsthema findet«, beschwerte sich Rory Rua.

»Würdest du’s vorziehen, wenn wir uns über dich unterhalten?«, höhnte Cor Mogaill.

»Als wir noch Seetang und Kuhmist in den Boden getan haben und sonst nichts«, sagte Crubog, »hat’s in der Erde von Regenwürmern nur so gewimmelt, von dicken, fetten roten Regenwürmern, die sich wie Aale gewunden haben, wenn man sie mit dem Spaten durchschnitt. Und an Frühlingstagen war der Himmel schwarz von Möwen, so viele gab’s von denen. Jetzt kannst du von Juni bis Januar graben und pflügen, ohne dass auch nur ein Rotkehlchen aufmerkt. Die Düngemittel haben alles Nahrhafte im Boden abgetötet, sodass nicht mal ein Regenwurm darin leben kann. Wie soll man in toter Erde guten Hafer züchten? Weißt du darauf eine Antwort, Rory Rua?«

»Ihr seid samt und sonders verrückt«, sagte Rory Rua. »Ich geh rauf zu McGonigle’s für ein vernünftiges Gespräch.«

»Drei Kreuze!«, sagte Cor Mogaill, als Rory Rua gegangen war. »Der ruiniert jedes gesellige Beisammensein und jede Unterhaltung. Hat nur die Hummerpreise im Kopf.«

»Und Land!«, warf Crubog ein. »Ständig liegt er mir in den Ohren, dass ich ihm mein großes Stück Land am Berg verkaufen soll.«

»Aber um darauf zurückzukommen, was wir eben besprochen haben«, schaltete sich Gimp Gillespie, der Lokaljournalist, ein. »Was wir brauchen, ist Humus. Die Wissenschaft hat den Kreislauf der Natur zerstört. Gebet der Erde, was der Erde ist, und dem Labor die Erzeugnisse der Wissenschaft.«

»Wer hat das gesagt?«, fragte Potter. »Ich bin sicher, dass ich das irgendwo schon mal gehört habe.«

»Wie viele Tonnen Erdreich lockert der durchschnittliche Regenwurm im Jahr?« Crubog ließ sich nicht ablenken. »Weißt du darauf eine Antwort, Cor Mogaill? Du darfst auch gern deine Privatbibliothek konsultieren!«

Cor Mogaill, ein junger Mann von nicht mehr als zwanzig Jahren, sah sich als den Dorfintellektuellen. Er kam nie ohne seinen Rucksack in den Pub; darin bewahrte er seine Fahrradpumpe, alte Ausgaben der Irish Times und A History of Ireland and Her People von Eleanor Hull auf. Dann versuchte er den ganzen Abend über, ein Streitgespräch zu entfachen, das ihm eine Gelegenheit böte, seine Privatbibliothek zu konsultieren. Jetzt warf er Crubog einen kritischen Blick zu, doch der Rucksack blieb auf seinem Rücken.

»Was weißt du schon über die Physiologie des Regenwurms, Crubog?«

»Ich hab’s aus zuverlässigster Quelle. Hab’s vor zwanzig Jahren, als du noch in die Windeln gemacht hast, in der People’s Press gelesen. Die Antwort lautet: vierzig Tonnen und keine Unze weniger. Ein Bachelor der Agrarwissenschaft könnte sich die Seele aus dem Leib scheißen, so viel er will, und würd’s doch nicht schaffen. Jetzt werde ich meinen täglichen Tribut an die Natur entrichten und die Qualität des Bodens verbessern.«

»Ich komme mit«, sagte Cor Mogaill. »Wir setzen unser Gespräch fort und schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe.«

»Nein, das tun wir nicht. Das Rezept für ein langes Leben lautet: Scheiße in Frieden und lass dein Wasser ungehindert fließen.« Auf dem Weg zur Außentoilette lachte Crubog in sich hinein.

Es war ein Abend schwungvoller Unterhaltung. Crubog war so einnehmend wie lange nicht, voll spritziger Anekdoten und überlieferter Geschichten, und Gimp Gillespie und Cor Mogaill lockten ihn mit unauffälligem Geschick aus der Reserve – zum offensichtlichen Entzücken des Engländers Potter; dieser leitete das Gespräch mit dem intellektuellen Urteilsvermögen eines Mannes, der sich für eine Art Wissenschaftler hält. Ihre Beiträge gewannen Farbe dank der Abseitigkeit der Themen und dem Bedürfnis der Redner, ihre relative Unwissenheit dadurch wettzumachen, dass sie ihre Gedanken mit gutgelauntem Humor ausschmückten. Zuerst erörterten sie die Frage, ob eine Häsin ihren Nachwuchs auf einmal wirft oder sicherheitshalber jedes Junge in einem getrennten Nest unterbringt. Als sie keine Antwort fanden, wandten sie sich der Fallenjagd auf Füchse zu. Als Sachkundigster oder zumindest als Meinungssicherster von allen erwies sich hierbei Gimp Gillespie. Er überraschte jedermann mit der Bemerkung, er verwette das Hemd auf seinem Leib, dass eine tote Katze, vorzugsweise in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung, der beste Köder sei, da ein Fuchs sie sogar in windstiller Nacht wittern könne. Als Cor Mogaill sich nach der Quelle dieser wenig überzeugenden Information erkundigte, sagte ihm Gillespie, er habe sie von Rory Rua, der im Farmers’ Journal davon gelesen habe.

»Auf Rory Rua kannst du dich nicht verlassen! Der zählt noch an den Fingern ab.«

Crubog ließ sich jedoch nicht zum Schweigen bringen. Er fragte, woher Brachvögel, wenn sie im Binnenland nach Nahrung suchten, wüssten, dass die Flut nachzulassen beginnt und es Zeit ist, wieder dem Ufer zuzustreben. Und er stellte die Frage mit einer Miene so düsterer Allwissenheit, dass Potter meinte, es sei gut, dass kein Ornithologe unter ihnen sei, da sein Fachwissen jedes Gespräch abwürgen würde.

Hin und wieder versuchten sie, Roarty in ihre Runde mit einzubeziehen, aber sein Verstand war anderweitig beschäftigt. An diesem Abend schienen die Gesichter auf der anderen Seite des Tresens weit entfernt. Er sehnte sich nach Zugehörigkeit, nach Teilhabe an ihrem ungezwungenen Geplänkel, doch die Erinnerung an den Traum der letzten Nacht nahm all seine Gedanken gefangen.

Er war wieder ein Junge von zwölf Jahren gewesen, der seine zehnjährige Schwester Maureen auf einer Wiese voller Gänseblümchen jagte. Plötzlich hielt sie an und sagte: »Bring mir den Schmetterling da.«

»Warum?«, fragte er und spürte, dass er keinen freien Willen hatte.

»Weil ich ihm die Flügel ausreißen will!«

Der Wunsch kam ihm so natürlich vor, dass er hinter dem Schmetterling herrannte, ganz benommen von dessen Auf und Ab im Sonnenlicht und von dem Weiß seiner Flügel, so weiß wie die Gänseblümchen im Gras.

Am Ufer eines Sees blieb er stehen. Der Schmetterling war über die glatte Wasseroberfläche geflattert und ruhte sich in der Mitte auf einer einsamen Seerose aus.

»Wenn du nicht auf deine Füße schaust, kannst du auf dem Wasser gehen«, erklärte seine Schwester hinter ihm.

Widerstrebend trat er einen Schritt vor. Das Wasser vor ihm teilte sich und gab weichen torfigen Schlamm frei, der seine Fußsohlen kühlte und zwischen seinen Zehen hervorquoll. Mit einem gluckernden und glucksenden Geräusch sog die Erde das Wasser auf, und die Seerose, ihres natürlichen Elements beraubt, lag beschmiert und beschmutzt im dunklen Schlamm. Er untersuchte den Stiel und das düstere runde Loch im Herzen der Blume. Zärtlich hielt er sie zwischen den Fingern, da steckte eine hässliche grüne Raupe ihren Kopf durch das Loch und kroch, indem sie sich auf abstoßende Weise zusammenzog, über das Blatt.

»Du hast das Böse bis in seine Höhle verfolgt«, rief Maureen vom Ufer.

»Und habe es im Herzen der Schönheit gefunden.« Er sprach mit zugeschnürter Kehle; er traute sich nicht, ein weiteres Wort zu sagen.

Die Zärtlichkeit, die er empfunden hatte, als er die Seerose in den Händen hielt, und sein Grauen angesichts der Schändung der Blume verschmolzen zu finsterer Wut, und er kam ganz durcheinander, als er die Gläser einer Runde zählen wollte.

»Roarty wird die Antwort wissen«, sagte Crubog. »Schließlich ist er der zweitbeste Schnepfenschütze in der Grafschaft.«

»Worum geht’s?«, fragte Roarty, der Potter einen doppelten Glenmorangie einschenkte.

»Wie schlägt das Schnepfenmännchen im Frühjahr seinen Zapfenstreich?«, fragte Crubog.

»Was für einen Zapfenstreich?«

»Wie trommelt das Schnepfenmännchen?«, drückte Potter die Frage anders aus.

»Mit den äußeren Schwanzfedern«, antwortete Roarty. »Wenn es herabstößt, spreizt es sie steif im rechten Winkel ab.«

»Falsch«, sagte Eales. »Ihr liegt alle falsch.«

»Klär uns auf«, sagte Roarty und errötete unter seinem Bart.

»Natürlich mit seiner Syrinx«, sagte Eales.

»Alle Achtung, Eamonn«, sagte Cor Mogaill, der die zunehmende Spannung genoss.

»Mit seiner Sphinx?«, erkundigte sich Crubog, der schwerhörig war.

»Syrinx«, brüllte Eales. »Mit der bringen die meisten Vögel ihre Töne hervor.«

»Aber das Trommeln der Schnepfe? Das ist doch was ganz anderes«, sagte Roarty.

»Ich wette einen doppelten Whiskey, dass ich recht habe«, sagte Eales.

»Und ich wette eine ganze Flasche«, sagte Roarty, der es nicht leiden konnte, wenn sein in Kerry geborener Barkeeper ihn herausforderte.

»Darf ich so lange auf den Wetteinsatz aufpassen?«, fragte Crubog hoffnungsfroh.

»Kannst du beweisen, dass du recht hast?«, fragte Eales schmunzelnd.

»Im Augenblick nicht. Nach der Sperrstunde schlag ich’s nach.«

Die Uhr zeigte halb zwölf, und die Gäste erwarteten, dass er ihnen zwanzig Minuten Zeit zum Austrinken ließ. Er legte zwei Geschirrtücher über die Zapfhähne und ging auf den Hof, um frische Luft zu schöpfen. Aber er wurde enttäuscht. Es war eine schwüle Nacht mit einer schwachen Brise, die immer wieder nachließ. So stand er an der Hintertür, keinen Wind in den Segeln und mit einem Kloß im Hals, der ihm das Atmen schwer machte. Der östliche Himmel war eine tintenschwarze Wolkenmasse, ein durchhängendes Dach, das auf die Hügelspitzen drückte und sowohl den Mond als auch die Sterne verdeckte. Die Regenwolken waren schon seit der Mittagszeit aufgezogen, aber überraschenderweise hatte niemand im Pub sie erwähnt. Er lauschte auf das Gemurmel der Unterhaltung aus der Schankstube und dachte, dass ein Pub um diese Stunde der unwirklichste Ort auf Erden war.

»Und wo ist dein Beweis?«, fragte Eales, als sie abgespült hatten und der letzte Gast gegangen war.

»In meiner Enzyklopädie. Ich geh sie holen.«

Er ging nach oben in sein Zimmer und überflog den Artikel über Schnepfen, zu aufgelöst, um sich darüber zu freuen, dass er recht hatte.

Inzwischen war es still; die letzten paar Versprengten torkelten über die Landstraßen nach Hause. Trauer und unerfüllbare Sehnsucht erstickten ihn, als er sich an Sommerabende mit Cecily erinnerte – sie in ihrem Zimmer am Klavier, das ganze Haus von perlender Musik erfüllt. Auf Flügeln des Gesanges, Für Elise, Wohl mir, dass ich Jesum habe: all die alten Lieblingsstücke. Die Unverdorbenheit jener Abende trieb ihm eine Träne ins Auge. Die Unverdorbenheit jener Abende – für immer dahin.

Nachdem er im Papierkorb den Brief an Eales gefunden hatte, hatte er an Maureen geschrieben und sie gebeten, Cecily für den Sommer nach London einzuladen. Es war nichts, was er sich gewünscht hätte, aber es blieb ihm keine andere Wahl. Wenn sie nach Hause käme, dann zu dem Lustfinger; sie würde ihm niemals verzeihen, wenn er Eales ohne guten Grund kündigte. Und selbst wenn er ihm kündigte, würde Eales das Tal ganz bestimmt nicht verlassen. Zweifellos würde er eine andere Stelle ganz in der Nähe finden und Cecily auch weiterhin schänden. Und jetzt waren all seine Vorsichtsmaßnahmen gescheitert; Eales beabsichtigte, in der kommenden Woche nach London zu fahren. Er hatte keinen Grund genannt; er brauchte keinen zu nennen. Roartys Hände zitterten vor Wut und Verbitterung. Eales war das Böse. Eales musste vernichtet werden.

Er fand sich auf halber Treppe wieder, die rechte Hand hielt den fünfundzwanzigsten Band der Encylopædia Britannica umklammert, seine Finger auf dem Buchrücken öffneten und schlossen sich unwillkürlich. Eales stand, über ein Fass gebückt, hinter dem Tresen und prüfte einen Plastikschlauch.

»Na, dann lass deinen Beweis mal sehen«, sagte er, ohne aufzuschauen.

Mit beiden Händen hob Roarty das Buch in die Höhe und ließ es mit aller Kraft auf Eales’ Hinterkopf herabsausen. Als Eales’ Kopf gegen den Rand des Fasses schlug, wich mit dünnem Ächzen der Atem aus ihm. Bei dem Versuch, sich aufzurichten, griff er mit beiden Händen nach dem Fass. Es schwankte. Roarty hob das Buch ein zweites Mal. Eales sank in die Knie und fiel zu Boden, ohne auch nur ein Wimmern von sich zu geben.

Roarty erschauerte, eher vor Angst denn vor Entsetzen. Er hatte ohne Vorsatz gehandelt, der Eingebung des Augenblicks folgend, etwas, was ein intelligenter Mann nicht tun würde. Was, wenn jemand vorbeigekommen wäre und Eales in seinem Todeskampf um Hilfe gerufen hätte? Zum Glück hatte Eales sich schweigend gefügt, und soweit Roarty sehen konnte, gab es keine verräterischen Blutspuren. Aber was, wenn Eales nur betäubt war? Roarty schob ihm eine Zeitung unter den Kopf und holte aus der Küche einen Handspiegel, den er ihm vor Mund und Nase hielt, doch der Spiegel beschlug nicht. Kaum zu glauben, aber Eales musste durch die Wucht des Schlages sofort gestorben sein. Allerdings war der Spiegeltest nicht absolut zuverlässig. Laut Sergeant McGing, einer Autorität auf diesem Gebiet, war das sicherste Anzeichen für den Tod eines Menschen das Absinken der Körpertemperatur im Rektum auf 21 Grad oder darunter. Roarty widerstand der Versuchung, das Thermometer aus seinem Zimmer zu holen; seine Bereitschaft, mit wissenschaftlichen Methoden vorzugehen, kannte Grenzen. Außerdem war Eales’ Körper noch warm. Es mochte eine Stunde oder noch länger dauern, bis die Temperatur im Rektum auf 21 Grad abgesunken war. Nachträglich kam ihm der Einfall, Eales’ Puls zu fühlen, aber in seiner Blutbahn rührte sich nichts. An der Oberlippe, dort, wo Eales sich am Fassrand gestoßen hatte, bemerkte er Blutstropfen. Vorsorglich stülpte er eine Plastiktüte über den Kopf und band sie mit einem Stück Schnur um den Hals fest. Eales hatte einen ungewöhnlich dicken Hals, fast wie ein Backofenschinken. Das war ihm bis dahin noch gar nicht aufgefallen, und Cecily höchstwahrscheinlich auch nicht. Nur das konnte ihre unfassbare Schwärmerei für den soeben Dahingeschiedenen erklären.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete er nach oben und erreichte die Toilette keinen Moment zu früh. Sein Stuhlgang war der schnellste und befriedigendste, den er erlebt hatte, seit seine Mutter ihm eine Überdosis Glaubersalz verabreicht hatte. Sie wäre erstaunt gewesen, wenn sie erfahren hätte, dass Mord ein noch besseres Abführmittel war.

Die entspannende Wirkung seiner Darmentleerung war jedoch nicht von Dauer. Er schwitzte übermäßig, ein feuchtkalter Schweiß, der sein Hemd unter den Achseln durchnässte und ihm in kitzelnden Rinnsalen von der Stirn in die Augenbrauen sickerte. Als er die Treppe hinunterging, hatte er weiche Knie und verspürte großen Durst. Er griff nach der Flasche Black Bush und schraubte den Verschluss auf, doch das Ausmaß des nächsten Problems – wie in aller Welt sollte er die Leiche entsorgen? – ließ ihn innehalten. Er stellte die Flasche wieder ins Regal und füllte ein Glas mit Leitungswasser. Obwohl er sich unbehaglich nüchtern fühlte, durfte er das Risiko eines weiteren Whiskeys nicht auf sich nehmen. Wenn dies ein perfekter Mord werden sollte, würde er mit Klugheit und Weitsicht vorgehen müssen. Er befahl sich, seine Gedanken zu sammeln, doch als er es versuchte, stellte er fest, dass schlüssiges Denken seine Kräfte bei weitem überstieg. Hundert zufällige Gedanken schossen ihm durch den Kopf, keiner aber blieb lange genug haften, um sich mit irgendeinem anderen zu verbinden. Sein Verstand war ein Sieb, durch das die Gedanken rannen wie Wasser. Um sich besser konzentrieren zu können, setzte er sich mit einem aufgeschlagenen Notizbuch an den Kiefernholztisch in der Küche. Stockend kamen ihm die ersten Gedanken, und bevor sie Zeit hatten, sich ins Hinterstübchen zu verflüchtigen, schrieb er acht Wörter nieder:

Feuer  >  Herd

Wasser  >  Meer, See

Erde  >  Garten, Moor

Eine Verbrennung war undurchführbar; er hatte nur einen Herd zur Verfügung. Und verschmorendes Fleisch, Fett und Knochen würden einen unheimlichen Gestank im Dorf verbreiten. Somit blieben ihm nur Versenken oder Vergraben, und von diesen bevorzugte er Ersteres, da es weniger Arbeit bedeutete. Er könnte nach Westen zu den Klippen fahren und die Leiche über den Rand ins Meer hieven. Oder er könnte ein Gewicht an den Leichnam binden, in die Bucht hinausrudern und ihn über Bord werfen. Als er sich sein Vorgehen in allen Einzelheiten ausmalte, wurde ihm rasch klar, dass die Sache gleich mehrere Haken hatte. Er ruderte nur ungern im Dunkeln hinaus, da er die Position der Felsen unter Wasser nicht gut genug kannte, um sich ganz sicher zu fühlen. Außerdem standen entlang des Ufers Häuser, und es war denkbar, dass er jemandem begegnete. Und was, wenn die Leiche an Land gespült wurde? Bei der unvermeidlichen Autopsie würde der Gerichtsmediziner feststellen, dass sie kein Salzwasser in den Lungen hatte und der Tod demzufolge nicht durch Ertrinken eingetreten sein konnte. Man würde eine Untersuchung der Todesursache anordnen, und er würde Fragen, bohrende Fragen, beantworten müssen. Natürlich könnte er die Leiche auch in einem der Bergseen entsorgen; da diese aber weit abseits der Straße lagen, würde er einen fast achtzig Kilogramm schweren Leichnam mehr als eine Meile bergauf schleppen müssen. Keine verlockende Aussicht in dunkler Nacht und über unebenes Gelände.

Somit blieb nur noch die vierte oder fünfte Möglichkeit: Entsorgung durch Vergraben. Am leichtesten wäre es, Eales im Garten zu verscharren, möglicherweise unter dem toten Nadelbaum, doch falls es zu einer Untersuchung kam, wäre der Garten die erste Stelle, wo McGing nachschauen würde. Er würde Eales im Torfmoor vergraben müssen, dem am wenigsten offensichtlichen Ort, der ihm einfiel. Er würde zwei Meilen weit die Straße nach Garron entlangfahren, rechts in die Torfstraße abbiegen und die Leiche mitten im Moor vergraben, ein gutes Stück weit von der Stelle, wo Torf gestochen wurde. Es war ein einsamer Flecken Erde. Das nächste Haus war drei Meilen entfernt und die Wahrscheinlichkeit, dass er gesehen wurde, gering. Die einzige Gefahr bestand darin, dass er auf der Hauptstraße einem anderen Auto begegnen könnte, vielleicht auf dem Rückweg von einer Tanzveranstaltung in Dunkineely. Hastig blätterte er den Donegal Dispatch durch, aber Anzeigen für Tanzveranstaltungen in einem der umliegenden Städtchen gab es nicht. Trotzdem, man wusste nie, welchem Nachzügler man spätnachts auf einer Landstraße begegnen mochte, und sein silberner Wagen war jedem im Tal bekannt. Er würde eine Ausrede benötigen, und welche nachvollziehbare Ausrede könnte er dafür vorbringen, dass er an einem Sonntagmorgen um eins in Richtung Garron fuhr? Eine plötzliche Kolik, starke Magenschmerzen, hervorgerufen von einem Black Bush zu viel? Das würde die Notwendigkeit eines dringenden Besuchs bei Dr.McGarrigle erklären. Und falls er gesehen würde, könnte er immer noch sagen, dass der Schmerz auf halbem Weg abgeklungen und er nach Hause gefahren sei, ohne den Arzt aufgesucht zu haben. Es wäre nicht die beste Ausrede, aber sie würde genügen müssen.

Er öffnete die Hintertür, um einen Blick in den Nachthimmel zu werfen. Die Wolken im Osten schienen dunkler und näher. Die Luft war nach wie vor schwül, sie hing über seinem Kopf wie ein unsichtbares Netz, beladen mit dem Duft schnupftabaktrockenen Heus von den umliegenden Wiesen. Obwohl es bereits ein Uhr war, brannte in etlichen Cottages am Südberg noch Licht; er würde bis zwei Uhr warten müssen, bevor er sich hinauswagen konnte. Die schwere Nachtluft lastete auf seinen Schultern wie die Bürde eines unerträglichen Gedankens.

Schwerfällig stapfte er die Treppe hinauf und öffnete einen Band der Britannica. Er legte sich aufs Bett, nippte an einem Orangensaft und überflog eine Seite. Mord. Siehe Homizid. Keine Traute, die Sache beim Namen zu nennen? Der Artikel über Homizid war enttäuschend, es mangelte an Details. Das Werk eines weitschweifigen Kriminologen vermutlich, jedenfalls nicht das eines Gelehrten, der über eigene Erfahrungen verfügte. Ihm kam der Gedanke, dass der Bericht, den er nun selbst verfassen konnte, für einen scharfsichtigen Nachrichtenredakteur durchaus interessant sein mochte – eine Geschichte, die von dem bitteren Gefühl der Unvermeidlichkeit erzählen würde, mit dem der Mörder auf den hingestreckten Leib seines Opfers hinabblickt, und davon, wie der Hass, den er nur eine Stunde zuvor gegen einen anderen empfunden hat, sich nunmehr gegen ihn selbst richtet.

Von Jugend an ist er von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und Filmen geprägt worden, die allesamt auf dem Grundsatz beruhen, dass Verbrechen sich nicht auszahlt, dass es am Ende immer nur der Verbrecher selbst ist, der bezahlen muss. Wenn er jetzt den abkühlenden Körper betrachtet, kann er nicht umhin, sich zu fragen, ob er selbst eine dieser seltenen Ausnahmen sein wird. Und doch weiß er, dass ihm der Körper seines Feindes dank der geheimnisvollen Möglichkeiten der Forensik im Tod gefährlicher werden könnte, als er es im Leben jemals war. Monatelang war er von dem Opfer besessen, und jetzt ist er wahrhaft allein, sieht sich der instinktiven Verachtung jedes ehrbaren Bürgers, der unpersönlichen Beharrlichkeit der Polizei bei ihren Ermittlungen und möglicherweise der unerbittlichen Tretmühle der Gerichte ausgeliefert, während ihm, um sein eigenes Überleben zu sichern, nur seine Gerissenheit und seine Intelligenz zur Verfügung stehen. Einen Moment lang fragte sich Roarty, ob er intelligent genug war.

In dieser Nacht, von allen Nächten des Jahres, musste er jede Eventualität vorwegnehmen. Gab es eine Möglichkeit, die er nicht erwogen, einfache Dinge, die er übersehen hatte? So hatte er zum Beispiel den Mond nicht berücksichtigt. Nur noch zwei Tage bis Vollmond. Wenn es aufklarte, würde er Eales in gespenstischem, aber allzu enthüllendem Licht vergraben müssen. Er musste dafür sorgen, dass er wachsam blieb; beim Graben den Himmel im Blick behalten. Ein weiteres Indiz für seine hinderliche Zerstreutheit war, dass er überhaupt im Donegal Dispatch nachgeschaut hatte; dabei hätte er doch wissen müssen, dass es in Dunkineely samstags nie Tanzveranstaltungen gab.

Er hatte fünf Optionen notiert. Nun quälte ihn auf unerträgliche Weise die Andeutung einer unbekannten sechsten. Er war in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt – von seinem Unvermögen, das Spektrum seiner Wahlmöglichkeiten durch Vorstellungskraft zu erweitern. Der freieste Mensch ist der, der sich der meisten Möglichkeiten bewusst ist, und in der Vergangenheit hatte er sich gebrüstet, ein solcher Mensch zu sein. Jetzt waren die Möglichkeiten, die ihm tatsächlich offenstanden, von fünf auf eine einzige zusammengeschrumpft. Und diese eine verbleibende Möglichkeit war nicht sonderlich attraktiv.

Einen Moment lang erhellte die sechste Möglichkeit das innere Dunkel; er würde das vordere Fenster einschlagen, die Kasse aufbrechen, das Geld verstecken und vortäuschen, Eales sei von einem Einbrecher niedergestreckt worden. Das hätte den Vorteil, dass er zur gewohnten Stunde ins Bett gehen und am Morgen um die übliche Zeit aufstehen konnte. Beim Frühstück würde er Radio hören, nach einem schwarzen Kaffee mit einem gehörigen Schuss Black Bush Eales »entdecken« und die Polizei rufen. Das jedoch mochte zu heiklen Fragen führen. Wieso hatte er nicht das Geräusch der zerbrechenden Glasscheibe gehört und nicht den Krach, der darauf gefolgt sein musste? Mord, erinnerte er sich, musste verheimlicht werden, nicht veröffentlicht. Seine sechste Möglichkeit war zerfallen wie ein Gespinst. Wieder blieb ihm nur die eine.

Nachdem er die sechste Möglichkeit erwogen hatte, quälte ihn nunmehr der Gedanke, es könnte eine unbekannte siebente geben. In der Küche starrte er mit steinerner Miene auf sein Notizbuch mit der Liste der Optionen, diese aber weigerten sich hartnäckig, sich zu vermehren. Er hatte sich stets für gescheit gehalten, jedenfalls für gescheiter als die meisten seiner Kunden. Nun, da es auf Intelligenz mehr ankam denn je, schwächelte er. Viele Menschen verwechselten Intelligenz mit einem gutem Gedächtnis oder mit der Fähigkeit, sich zu merken, wie etwas getan wird, und aufs Genaueste zu imitieren oder zu reproduzieren, was sie bereits wussten. Wahrhaft intelligente Menschen waren eine ganz eigene Spezies, vom Rest der Menschheit so verschieden wie ein Schafbock von einem Spitzhengst. Ihr Scharfsinn drang stets zum Kern der Sache vor, und ihre Fähigkeit, leidenschaftslos abzuwägen, führte sie weit über die Grenzen ihrer früheren Erfahrungen hinaus. Ihre Fähigkeit ließ sich mit einem Wort zusammenfassen – Analyse. In diesem einen Wort lag sein gegenwärtiges Versagen begründet: Er war unfähig, eine Situation zu analysieren. Oder versagte womöglich seine Vorstellungskraft?

Er hielt ein Streichholz an die verfängliche Liste seiner Optionen und zerrieb die Asche mit dem Schürhaken zu Staub. Dann zog er sich eine alte Hose an, die er zum Anstreichen verwendete, ein dunkles Hemd, das im Mondlicht nicht reflektierte, und ein Paar Gummistiefel, um das Moorwasser abzuhalten.

Ihm fiel wieder der abscheuliche Lustfinger ein, und als er in Eales’ Zimmer ging, fand er ihn unter dem parfümierten Kopfkissen. Jetzt würde er tief schlafen können. Nie wieder würde der Lustfinger seine Träume beunruhigen. Er holte Eales’ Reisetasche aus dem Kleiderschrank und stopfte das Sexmagazin, den rot-braunen Pyjama, Eales’ Zahnbürste, Zahnpasta, Rasierer und Rasierschaum, ein Hemd zum Wechseln und drei Fläschchen Deodorant hinein. Letzteres war, sagte er sich, ein genialer Schachzug, denn ohne sein Deodorant wäre Eales nicht einmal bis zur Haustür gegangen. Eine wirkliche Analyse war das zwar nicht, musste er zugeben, aber trotzdem ziemlich raffiniert.

Voreiliges Selbstlob musste jedoch unbedingt vermieden werden. Die Zeit für Überheblichkeit wäre allenfalls am nächsten Morgen oder in drei Jahren gekommen, wenn Eales in ebenso geschichtlicher Ferne läge wie ein versteinerter Pterodactylus. Versteinern würde er natürlich nicht. Torfmoore waren bekannt für ihre konservierende Kraft. In fünfhundert Jahren würde ihn ein begriffsstutziger Torfstecher mit seinem Spaten zutage fördern, eine von Tannin konservierte Zeitkapsel, das Datum des Magazins in der Reisetasche ein verwirrender terminus a quo für die ländlichen Ordnungshüter. Er war angetan von seiner eigenen Kaltblütigkeit. Er wusste, eigentlich sollte er Reue empfinden, aber er empfand keine. Nur die nagende Sorge, er könnte etwas vergessen haben, oder in letzter Minute könnte etwas schiefgehen.

Die Uhr zeigte zwei, als er wieder nach unten kam. Zeit, sich auf den Weg zu machen, nun da die Talbewohner in ihren Betten lagen. Leise öffnete er die Garagentür, wobei er sie für den Fall, dass sie auf dem Betonboden schabte, leicht anhob, und verstaute die Reisetasche und den widerstandslosen Eales im Kofferraum seines Autos. Die Leiche war kaum abgekühlt. Die Totenstarre hatte noch nicht eingesetzt, obwohl die Haut bereits ihre Elastizität einzubüßen begann. Schwer zu glauben, dass diese schlaffe Masse, dieser ungenießbare Kadaver, dieses unverwertbare Ding einmal der Mann gewesen war, der seinen süßen Seelenfrieden gefährdet hatte. Es kam ihm unwirklich vor, zu schön, um wahr zu sein. Halb rechnete er damit, dass Eales ein Auge aufschlug und noch einmal seine Lieblingsverse rezitierte:

Und nehm ich mir jemals ein Weib,

Dann nur des Gastwirts Töchterlein,

Denn dann trink ich eiskalten Schnaps

Und lass es mir angenehm sein.

Plötzlich fiel ihm ein, dass die Autobatterie fast leer war, und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Wenn er zu oft den Zündschlüssel drehte, würden alle Dorfbewohner, die sich in ihren Betten herumwarfen, ahnen, wessen Auto da Schwierigkeiten machte. Er ließ das Seitenfenster herab und schob den Wagen so auf die Straße, dass er in Fahrtrichtung auf der abschüssigen Strecke am westlichen Ende des Dorfes stand. Wenn er die Häuser hinter sich gelassen hätte, würde er den Wagen anrollen lassen, vor der Umgehung kehrtmachen und die Straße nach Garron nehmen, ohne noch einmal ins Dorf zurückzufahren.

Er war schon fast auf dem Weg, als ihm einfiel, dass er den Spaten vergessen hatte. Na, großartig! Er ging in die Garage zurück und holte einen Spaten, zur Sicherheit auch noch ein Torfeisen sowie eine Taschenlampe, die er eventuell gebrauchen konnte. Er schaltete in den zweiten Gang, trat die Kupplung durch und ließ den Wagen den Abhang hinunterrollen. Auf halber Strecke, als der Wagen Fahrt aufnahm, ließ er die Kupplung kommen. Der Motor sprang sofort an, und ein Triumphlied im Herzen, war er auf und davon.

Die Straße, die aus dem Tal nach Garron führte, stieg eine Meile lang steil an. Mit durchgedrücktem Gaspedal fuhr er im dritten Gang und genoss die kühle Nachtluft, die zum offenen Fenster hereinwehte. Er blickte hinab in das zurückweichende Tal zur Linken. Auf der gesamten Länge des Nordbergs war kein einziges Licht zu sehen. Wahrscheinlich hatte der stets wachsame McGing seiner Frau den Rücken zugedreht und träumte von Sugillation, Saponifikation und einem Dutzend weiterer forensischer Geheimnisse, auf die es zu seinem Verdruss wenig ankam, wenn er Männer wegen Schwarzbrennens oder Radfahrens ohne Licht verwarnte – Delikten, die er für unter der Würde eines seriösen Polizisten hielt, wie er einer war. Wenn er wüsste, was für eine goldene Gelegenheit er verpasste!