Das Zeitportal (Band 2) – Entführt in die Vergangenheit - Patrick McGinley - E-Book

Das Zeitportal (Band 2) – Entführt in die Vergangenheit E-Book

Patrick McGinley

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Beschreibung

Jonas, Anton, Nina und Felix sind die besten Freunde und leben alle in dem kleinen Ort Irrlach – und sie ahnen nichts davon, dass die verlassene Militärbasis im Wald das Potential birgt, die ganze Welt auszulöschen. Eines Tages verschwindet Felix spurlos. Seine Freunde setzen alles daran, ihn zu finden, doch es scheint aussichtlos, und die Polizei will die Suche schon einstellen. Da entdeckt Anton etwas Seltsames: In einem alten Jahrbuch der Schule findet er ein Foto, das Felix zum Verwechseln ähnlich sieht! Kann er es wirklich sein? Und wenn ja – wie ist er durch die Zeit gereist, und wie können die Freunde ihm helfen, wieder nach Hause zu kommen?Ein spannendes und intelligentes Zeitreiseabenteuer, das die Frage stellt, wie unsere Handlungen die Zukunft verändern können, und was uns wirklich wichtig ist

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Seitenzahl: 271

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Für DeirdreIn memory of Linda Lindup

November 1961

Schritte hallten durch den unterirdischen Gang. Vier der fünf Männer waren uniformiert, der andere trug einen teuren Anzug und Krawatte. Die sechste Person war eine Frau, Mitte sechzig, die einen dunkelgrünen Zweiteiler trug. Colonel Blanchard, der die vielen Abzeichen auf seiner Uniformjacke gestern Abend extra noch einmal auf Hochglanz poliert hatte, erzählte, während er die Gäste durch das Gewirr von Korridoren führte.

»Der Staudamm und das angeschlossene Wasserkraftwerk sorgen für eine ununterbrochene Stromzufuhr. Für den Notfall steht ein Dieselgenerator bereit, der die gesamte Basis für mehrere Wochen versorgen kann. Über uns befindet sich eine fünf Meter hohe Decke aus Stahlbeton. Hier unten können wir einen direkten Atomschlag überleben.«

»Wollen wir hoffen, dass es nicht so weit kommt«, murmelte June Rosenfeld, die Frau im Zweiteiler. »Genau deshalb hat der Präsident das Projekt Kristallkugel ja genehmigt.«

»Natürlich«, antwortete Blanchard kurz. Rosenfeld strahlte eine Mischung aus Unfehlbarkeit und Selbstvertrauen aus, die wohl daher rührte, dass ihr Chef der mächtigste Mann der Welt war: der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Blanchard hatte das Projekt Kristallkugel persönlich beaufsichtigt. Erst vor einem halben Jahr hatten sie mit den Ausgrabungen begonnen. Sie hatten das unterirdische Tunnelsystem in halsbrecherischer Geschwindigkeit gebaut. Um überhaupt eine Chance zu haben, das Projekt in der vorgegebenen Zeit fertigzustellen, hatten sie den Komplex in einem bereits vorhandenen Höhlensystem installiert. Durch gezielte Sprengungen hatten sie die Höhlen erweitert und zusätzliche Tunnel gegraben. Außerdem war am Ufer des Flusses eine kleine Militärsiedlung entstanden, sogar mit einem Schulgebäude für die Kinder der hier stationierten G. I.s*. Der Beton war kaum trocken, da hatten sie schon kilometerweise Kabel verlegt, eine Lichtanlage eingebaut und Großrechner installiert. Das Personal, das in der Basis seinen Dienst angetreten hatte, war aus den besten Unis der Vereinigten Staaten rekrutiert und von den Geheimdiensten auf absolute Zuverlässigkeit überprüft worden. Das Herzstück des Komplexes, dem sie sich nun näherten, war erst gestern fertiggestellt worden. Selbst für einen Testlauf war keine Zeit geblieben. Doch diese Miss Rosenfeld zeigte sich von dem betriebenen Aufwand völlig unbeeindruckt. So ist das nun mal, dachte sich Blanchard. Der Präsident hat die Order gegeben, und wir haben sie ausgeführt. Wer ständig Lob erwartet, hat in der US-Armee nichts verloren. Er wollte es sich nicht eingestehen, doch diese Miss Rosenfeld flößte ihm gehörigen Respekt ein.

Die Gruppe erreichte eine dicke Stahltür. Dahinter befand sich das Ziel ihrer Reise.

»Ladies und Gentlemen«, sagte Blanchard und öffnete die Tür. »Operation Kristallkugel.«

Die Gäste betraten den Raum dahinter. Blanchard stellte mit Genugtuung fest, dass selbst die stoische Rosenfeld nun doch einen Ausdruck des Erstaunens zeigte.

»Beeindruckend«, murmelte sie.

An den Wänden des Raumes stand eine Reihe Großrechner, deren Magnetbänder unablässig hin und her spulten. Überall blinkte und piepste es. Doch der Grund für Rosenfelds erstaunten Blick stand in der Mitte des Raums. Es war ein Torbogen, der etwa die Form eines griechischen Omega-Symbols hatte. Er war drei Meter hoch, und vom oberen Teil führte ein dickes Bündel Kabel zu einem Computerterminal, das an der Seite des Tors stand. Der innere Rand des Portals war von gleißend hellem Licht erfüllt. Rosenfeld durchquerte den Raum und stellte sich neben den Torbogen. Sie blickte in den Lichtschein.

»Faszinierend«, sagte sie.

»Sind wir für eine Inbetriebnahme bereit?«, fragte Blanchard einen der Techniker, der auf einer Leiter stand und gerade dabei war, den Kabelstrang an der Oberseite des Torbogens zu inspizieren.

»Bereit«, antwortete dieser.

»Wo bleibt Professor König?«, fragte Blanchard. Der Techniker zuckte mit der Schulter. Blanchard warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Verdammt, hatte dieser Schussel etwa vergessen, dass die Inbetriebnahme heute um Punkt zwölf Uhr stattfinden würde? In diesem Moment flog eine Tür zu einem Nebenraum auf, und ein Mann stürzte herein. Er besaß eine hohe Stirn, weißes kurz geschnittenes Haar und eine kleine Runde Brille, durch die wache Augen blickten. Ein kontinuierlich verwunderter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. In der Hand hielt er einen langen Streifen Endlospapier, der wie die Schleppe eines Brautkleids hinter ihm über den Boden glitt. Er ging auf Blanchard zu und versuchte, dabei nicht auf das Papier zu treten.

»Halt! Stopp! Kommando zurück!«, rief er Blanchard zu.

Blanchard, der es gar nicht mochte, wenn er von Zivilisten Befehle an den Kopf geworfen bekam, räusperte sich lautstark.

»Professor König. Wie schön, dass Sie Zeit gefunden haben, uns mit Ihrer Anwesenheit zu beehren. Sie kommen im richtigen Augenblick. Wir wollten gerade loslegen.«

Professor König hatte den Colonel erreicht und begann wild zu gestikulieren.

»Das können Sie nicht tun!«

Blanchard setzte ein schmales Lächeln auf und deutete auf die Gäste. Durch den Ton in seiner Stimme versuchte er Professor König klarzumachen, wie wichtig die Herren und die Dame waren, die sie da gerade mit ihrem Besuch beehrten.

»Darf ich vorstellen, Professor, Generalleutnant Doohan, Generalmajor Nichols, Brigadegeneräle Prowse und Rockatansky. Sie sind die Befehlshaber der in Westdeutschland stationierten Streitkräfte. Das ist June Rosenfeld, Chefberaterin von Verteidigungsminister McNamara und direkte Abgesandte von Präsident Kennedy. Und das da ist … äh.«

Er deutete auf den letzten Mann, der bis zu diesem Zeitpunkt kein Wort von sich gegeben hatte. Dieser stand in der Ecke und rauchte. Er nahm die glimmende Zigarette aus seinem Mundwinkel, stieß eine Wolke bläulichen Qualms aus und musterte den Professor.

»Special Agent Johnson. CIA.«

»Special Agent Johnson«, wiederholte Blanchard. »Nun, mein lieber Professor König, was ist so wichtig, dass wir die Zeit unserer hohen Gäste verschwenden sollten?«

Professor König zeigte sich von dem hohen Besuch völlig unbeeindruckt. Stattdessen hielt er Blanchard den Streifen Endlospapier vor die Nase.

»Sehen Sie, Blanchard, ich habe alles noch mal durchgerechnet. Schritt für Schritt. Jede Gleichung. Sie müssen verstehen, dass ist alles hochkompliziert. Imaginäre Zahlen, Riemannsche Zeta-Funktion und so weiter …«

Blanchard blaffte ihn ungeduldig an.

»Kommen Sie auf den Punkt, lieber Professor.«

»Wir können das da«, er deutete auf den Torbogen, »nicht einschalten. Es besteht eine Chance von null Komma vier drei vier Prozent, dass wir das Universum auslöschen. Also, diese Version des Universums. Ob Paralleluniversen betroffen sind, kann ich noch nicht sagen. Da müssten Sie mir noch mal ein paar Tage Zeit …«

»Null Komma vier Prozent?«, fragte Blanchard. »Professor, ich bin kein Mathematiker, aber ist das nicht extrem unwahrscheinlich?«

Der Professor blickte ihn ungläubig an.

»Es geht um das Ende der Menschheit.«

Rosenfeld meldete sich.

»Colonel, ich muss heute Abend noch nach Washington zurückkehren, um den Präsidenten zu unterrichten. Klappt das hier heute noch?«

»Natürlich!«, versicherte Blanchard.

»Aber Colonel …«, warf Professor König ein.

»Wenn die Menschheit untergeht, übernehme ich die volle Verantwortung«, zischte Blanchard König an. Er wandte sich an den Techniker, der an dem Terminal stand, das an das Portal angeschlossen war.

»Sie legen jetzt los.«

Der Techniker warf Professor König einen verängstigten Blick zu und begann mit den Vorbereitungen.

»Initiiere die Zeitmatrix. Ich würde Ihnen raten, ein paar Schritte zurückzugehen.«

Blanchard, die sechs Gäste und Professor König stellten sich an die Rückwand des Raums und starrten gebannt auf das Tor.

»Berechnungen fertig«, rief der Techniker. »Ich schalte ein.«

Er tippte einen Befehl in die Tastatur und drückte auf die »Ausführen«-Taste. Das Licht im Inneren des Torbogens nahm an Intensität zu. Ein Wummern ertönte, das den Anwesenden durch Mark und Bein ging. Die Magnetspulen der Rechner drehten sich wild hin und her, und an allen Konsolen blinkten Lichter in schneller Folge auf.

Ein saugendes Geräusch ertönte, und das Licht des Torbogens stabilisierte sich. Die Luft im Zentrum des Portals schien zu wabern, als würde dort Hitze vom Boden aufsteigen.

»Portal aktiv. Sieht alles normal aus«, sagte der Techniker.

Blanchard machte einen Schritt vorwärts.

»Meine Herren«, sagte er in die Runde. »Was Sie dort vor sich sehen, ist ein Tor in die Zukunft. Mit dieser Maschine können wir jeden Zeitpunkt der Weltgeschichte ansteuern. Wir können …«

Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment hallte ein schriller Alarmton durch das Labor. Professor König blickte verschreckt den Techniker an.

»Fehlercode 3718«, stammelte dieser.

»Abschalten«, rief König. »Sofort abschalten!«

Der Techniker tippte einen Befehl in die Tastatur, und das Portal erlosch.

Von einem Moment auf den ande­ren herrschte Stille.

Rosenfeld erlangte zuerst ihre Fassung wieder.

»Was ist hier los, Colonel?«, ging sie Blanchard an.

Blanchard gab die Frage an König weiter.

»Professor?«

König lief zum Terminal und begann zu tippen. Er studierte die Daten, die der Computer auf seinem Bildschirm ausspuckte.

»Fehlercode 3718.«

»Was bedeutet das?«, fragte Blanchard.

»Zugriff auf das Zeitportal durch Unbefugte«, sagte der Professor.

»Wie ist das möglich, König«, fragte Blanchard. »Wir haben es doch eben erst eingeschaltet.«

»Einen Moment«, sagte der Professor. Er tippte einen Befehl in die Tastatur. Ein Drucker, der neben dem Terminal stand, begann, seitenweise Daten auszuspucken. Als der Druck beendet war, riss König das Endlospaper ab und rollte es, wie einen Teppich, auf dem Boden aus.

Blanchard und die sechs Gäste traten an den Ausdruck heran. Er zeigte eine Art Baumdiagramm, das mit einer Linie ganz unten begann und sich nach oben hin in ein Gewirr aus Ästen und Unterästen verdichtete.

»Erklären Sie mir das«, sagte Rosenfeld barsch.

»Das ist das Diagramm aller möglichen Versionen der Zukunft«, sagte König. »Das Portal ist so programmiert, dass es uns automatisch alle paar Monate eine Statusmeldung in die Vergangenheit schickt. Jeder dieser Äste ist eine mögliche Zeit­ebene, und jede Abzweigung ist so eine Statusmeldung.«

Er deutete auf einen Punkt, wo ein Ast zu einem »X«-Symbol führte. Dort endete die Linie.

»Die Punkte mit dem X sind Zeitebenen, in denen das Portal aus irgendeinem Grund zerstört oder ausgeschaltet wird. Die interessante Stelle ist jedoch hier.«

Er deutete auf einen Ast, der bei den Buchstaben »FA« endete.

»FA steht für ›Future Activation‹, also Aktivierung in der Zukunft. Das bedeutet, dass jemand in der Zukunft das Portal eingeschaltet hat und für eigene Zeitreisen benutzt. Und zwar im Jahr … 2019.«

Die Mienen der Gäste verfinsterten sich.

»Wenn das die Russen sind, dann haben wir ihnen gerade die perfekte Waffe geliefert, um den Kalten Krieg zu gewinnen«, murmelte Generalleutnant Doohan.

»Schalten Sie das Ding sofort ab«, rief Rosenfeld.

»Es ist abgeschaltet«, sagte König. »Aber wenn Sie wissen wollen, wer es aktiviert hat, kann ich Ihnen behilflich sein.«

»Wie das?«, fragte Rosenfeld.

»Kommen Sie mit«, sagte König. Er führte die Dame zu dem Terminal neben dem Portal. Die Männer folgten ihnen. Professor König zeigte auf ein zylinderförmiges Gerät, dass über dem Bildschirm hing.

»Sehen Sie das?«, fragte König.

»Natürlich«, antwortete Rosenfeld kurz.

»Was glauben Sie, was das ist?«

»Miss Rosenfeld ist nicht hier, um Ihre Quizfragen zu beantworten«, sagte Blanchard mürrisch.

»Das ist eine Art Fotoapparat. Jedes Mal, wenn das Portal aktiviert wird, macht dieses Ding ein Foto desjenigen, der hier am Terminal steht, und schickt es durch die Zeit zurück.«

»Und wo ist dieses Foto?«, fragte Rosenfeld.

»Ich muss Sie warnen. ›Foto‹ ist vielleicht etwas zu hochgegriffen. Es ist eher ein kruder Schnappschuss. Warten Sie.«

Der Professor gab einen Befehl ein, und der Drucker begann wieder, mit einem lauten Kreischen Bildpunkte auf das Papier zu drucken. Als er fertig war, nahm Professor König den Ausdruck an sich.

»Das sind ja nur Striche und Kreise. Das soll ein Foto sein?«, beschwerte sich Rosenfeld.

»Moment. Es hilft, wenn man das Bild von Weitem betrachtet.« König lief mit dem Bild zur gegenüberliegenden Wand und hielt es hoch. Die Gäste blickten es an. Durch den Abstand setzten sich die Striche und Punkt tatsächlich zu einem groben Bild zusammen.

»Wie ein Russe sieht das nicht aus«, meinte Doohan.

»Eher wie ein Junge. Mit Brille und abstehenden Haaren.«

Rosenfeld drehte sich zu Blanchard um.

»Wie kann ein kleiner Junge Zutritt zu diesem Komplex erlangen, Blanchard? Ich dachte, Sie hätten hier alles abgesichert.«

»Bei allem Respekt, Ma’am, wir sprechen über einen Zeitpunkt, der sechzig Jahre in der Zukunft liegt. Ich übernehme gerne die volle Verantwortung, falls ich mal im Dienst versage, doch im Jahre 2019 habe ich, so Gott will, schon meinte letzte Ruhestätte auf dem Arlington-Friedhof bezogen.«

Special Agent Johnson trat vor und nahm König den Ausdruck ab. Er betrachtete das Gesicht des Jungen und atmete Zigarettenrauch aus.

»Ich schlage vor, dass ich mir dieses Kerlchen mal vorknöpfe«, sagte er und deutete mit der Zigarette auf das Bild. »Ich werde ihn schon zum Reden bringen.«

»Dieses ›Kerlchen‹ befindet sich im Jahr 2019«, sagte Professor König. Der CIA-Agent blickte ihn an.

»Dann wird es wohl höchste Zeit, dass Sie dieses Ding wieder einschalten«, antwortete Johnson und deutete auf das Portal.

*G. I. ist ein Begriff für US-amerikanische Soldaten

Juni 2019

Felix

Bei dem »Kerlchen« handelte es sich um niemand ande­ren als Felix Neuner, dreizehn Jahre alt, angehendes Mathegenie und bester Schüler des Irrlacher Gymnasiums. Er saß auf dem Boden eines schummrigen Kellerraumes und öffnete den Pappdeckel einer Kiste. Alte, leicht vergilbte Dokumente kamen zum Vorschein. Felix griff sich eine Handvoll der Papiere und begann sie zu durchforsten.

»Langweilig … langweilig … langweilig«, murmelte er vor sich hin, während er die Dokumente neben sich aufstapelte. Als er mit der Kiste fertig war, blickte er sich um. Er war umringt von Kisten. Kisten, so weit das Auge reichte. Kleine Stapel, größere Türme, ganze Berge. Alles aus Kisten. Es war zum Verzweifeln.

»Was habe ich mir bloß dabei gedacht?«, fragte Felix sich selbst. Eigentlich war die Idee ja ganz spannend gewesen. Er hatte beschlossen, für seine Hausarbeit in Geschichte einen Aufsatz über die Entstehung des Irrlacher Gymnasiums zu schreiben. Im Stadtarchiv hatte er zwar einige Informationen über die Anfänge des Dorfes gefunden – wie das US-Militär sich nach dem Zweiten Weltkrieg hier angesiedelt hatte und nach und nach ein Dorf entstanden war –, doch Archivmaterial über das Gymnasium gab es kaum. Er hatte herausgefunden, dass die Schule damals für die Kinder der G.I.s gebaut worden war, doch Fotos oder andere interessanten Dokumente waren bisher Fehlanzeige.

Missmutig schob Felix die Pappschachtel zur Seite und widmete sich der nächsten Box. Er öffnete den Deckel. Der Staub, der dort jahrzehntelang gelegen hatte, stieg ihm in die Nase, und Felix musste niesen. Als er sich wieder gefangen hatte, warf er einen Blick in die Box. Er traute seinen Augen nicht.

»Endlich!«, rief er und zog einen Stapel Jahrbücher heraus, die im Inneren der Kiste gelegen hatten. Er betrachtete den Umschlag des ersten Bandes.

USAG IRRLACH HIGH SCHOOLYearbook1961–1962

Ehrfürchtig öffnete er das Buch. Genau das hatte er gesucht! Auf den ersten Seiten fand er Bilder der Grundsteinlegung und der Konstruktion der Schule. Danach Klassenfotos, eine kurze Historie und Bilder aller Schüler und Lehrer, unter denen ihre Namen geschrieben standen. Im hinteren Teil fanden sich Fotos vom Schulleben: Sportfeste, der Schachklub und Bilder einer Militärparade, an der die Schüler teilgenommen hatten. Felix blätterte kurz durch die Seiten und nahm sich vor, die Bücher später genauer zu inspizieren. Er packte die Jahrbücher in seinen Rucksack und stand auf. Er musste seine Beine ein wenig massieren, da das lange Herumsitzen auf dem Boden seine Blutzirkulation eingeschränkt hatte. Als er seine Zehen wieder fühlen konnte, packte er die Kisten in die Regale, schaltete das Licht aus und schloss den Kellerraum hinter sich ab.

Seine Schritte hallten laut auf dem grünen Linoleumboden, mit dem der Kellerkorridor ausgelegt worden war. Über ihm erleuchteten flackernde Neonröhren die Umgebung. Er befand sich in dem Teil der Schule, der im Jahr 1961 gebaut worden war. Man sah es dem Gebäude an, dass es schon fast sechzig Jahre auf dem Buckel hatte. Der graue Betonbau wirkte ein wenig trostlos. In den Außenwänden hatten sich Risse gebildet, und von den Holzrahmen der Fenster platzte die Farbe ab. Lange würde dieses Gebäude auch nicht mehr bestehen. In weni­gen Tagen sollte es abgerissen werden. Die Sprengung war ein heiß ersehnter Tag im Kalender der Schüler Irrlachs. Wann hatte man schon mal die Möglichkeit, dabei zu sein, wenn die eigene Schule in die Luft gejagt werden würde?

Felix stieg die Treppe hinauf und trat ins Freie. Er musste blinzeln, denn dadurch, dass er den halben Tag in dem schummrigen Kellerraum verbracht hatte, waren seine Augen nicht an das intensive Sonnenlicht gewöhnt, das von dem wolkenlosen Himmel herabschien. Er drehte sich um und schloss die Tür zum alten Schulgebäude ab. Dann überquerte er den Sportplatz und betrat den Neubau, in dem der Unterricht normalerweise stattfand. Er klopfte an die Tür des Sekretariats.

»Herein«, rief eine weibliche Stimme von innen. Felix öffnete die Tür. Frau Schwaab, die Sekretärin des Direktors, lächelt ihn an.

»Und? Fündig geworden?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete Felix. »Vielen Dank.«

Er legte den Schlüssel auf ihren Schreibtisch.

»Hast du abgeschlossen?«, fragte ihn Frau Schwaab, während sie den Schlüssel in einer Schublade verstaute.

»Habe ich gemacht.«

»Dann genieß mal deinen Nachmittag.«

Felix war schon auf halbem Wege zur Tür.

»Danke!«

Er verließ das Sekretariat und durchquerte die leere Aula. Durch die Vordertür trat er ins Freie und ging zu den Fahrradständern. Er öffnete das Schloss seines Rads und schwang sich in den Sattel. Als er in die Straße einbog, die ins Dorf führte, fiel ihm ein merkwürdiger Mann auf. Er trug ein weißes Hemd und eine helle Hose. Auf seinem Kopf saß ein altmodischer Schlapphut. Eine brennende Zigarette steckte in seinem Mundwinkel. Felix war sich sicher, dass er den Mann noch nie in Irrlach gesehen hatte. Der Mann blickte ihn an, doch als er bemerkte, dass Felix ihn gesehen hatte, senkte er seine Augen.

Felix trat in die Pedale und fuhr durch das Dorf. Irrlach zeigte sich an diesem Nachmittag von seiner schönsten Seite. Das Sonnenlicht ließ die Blätter der Bäume auf dem Marktplatz in saftigem Grün erstrahlen, und das Wasser des Springbrunnens, auf dem sich zwei Meerjungfrauen tummelten, glitzerte wie Diamanten. Felix fuhr am Maibaum vorbei und dann durch die engen Gassen, bis er Antons Haus erreicht hatte. Er hatte sich mit Anton, Jonas und Nina zum Kino verabredet und wollte seine Freunde nicht lange warten lassen. Als er bei Antons Haus ankam, stieg er ab und rannte die Treppe zu Antons Zimmer hinauf. Er trat ein.

»Hi, Felix!«, rief Anton, der auf einem Drehstuhl an seinem Schreibtisch saß. Er trug ein T-Shirt, das ein Postermotiv des Films Jäger des verlorenen Schatzes zeigte. An der Wand hingen weitere Filmposter, da Anton ein ausgesprochener Kinofan war.

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sagte Felix.

»Macht nichts«, antwortete Jonas, der auf dem Bett saß.

»Nina ist noch beim Fußballtraining.« Er nahm seine Baseballkappe ab und strich sich die roten Locken aus dem Gesicht.

»Wo hast du dich den ganzen Tag rumgetrieben?«, fragte er Felix.

Felix setzte sich aufs Bett und öffnete seinen Rucksack.

»Ich war im Archiv des alten Schulgebäudes«, sagte er. »Und seht mal, was ich gefunden habe.«

Er zog die Jahrbücher aus seiner Tasche und breitete sie auf dem Bett aus. Jonas schnappte sich eins der Bücher.

»Coole Fotos«, sagte er. »Und seht euch mal die Frisuren an. Echt retro.«

»Wofür brauchst du das Zeug?«, fragte Anton, während er in einem der Bücher blätterte.

»Ich schreibe einen Aufsatz für Geschichte. Über die Gründung der Schule in den Sechzigerjahren. Damals wurde sie für die Kinder der amerikanischen Soldaten gebaut.«

Anton betrachtete die Fotos mit regem Interesse.

»Dann frag doch mal meinen Papa«, schlug er vor. »Der arbeitet doch beim Anzeiger. Der kann dir bestimmt weiterhelfen.«

»Gute Idee«, meinte Felix.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Nina betrat den Raum. Ihre Haare waren feucht, und sie trug eine Sporttasche über der Schulter.

»Bin ich zu spät dran?«, fragte sie.

»Hi, Nina«, sagte Anton. »Nee, gar nicht. Ich habe die Tickets schon im Internet bestellt. Wir sollten allerdings los. Lass deine Sporttasche einfach hier. Die kannst du ja später abholen.«

»Danke«, antwortete Nina. »Ich habe keine Lust, mit dem verschwitzten Zeug im Kino zu sitzen.«

Die Freunde standen auf und verließen das Zimmer. Im Erdgeschoss wartete Antons Vater auf sie.

»Na, was läuft denn heute?«, fragte er.

»Undercover«, antwortete Felix. »Ein Spionagethriller.«

»Klingt spannend«, sagte Antons Vater. »Darf ich mitkommen?«

»Ähhh…«, murmelte Anton wenig begeistert.

Sein Vater schmunzelte.

»Kleiner Scherz«, sagte er. »Ich will euch ja nicht den Abend verderben.«

Anton lächelte erleichtert.

Sie gingen zum Auto. Anton setzte sich auf den Beifahrersitz, und die ande­ren stiegen hinten ein. Sein Vater fuhr los. Sobald sie sich in Bewegung gesetzt hatten, drehte Anton sich zu den Freunden um und begann einen Vortrag über den Film zu halten. Felix’ Blick fiel auf Antons T-Shirt.

»Genauso einen Hut hatte der Typ auf dem Kopf …«, sagte er.

»Welcher Typ?«, fragte Anton, der in seinem Redefluss unterbrochen worden war.

»Ach, nicht so wichtig«, antwortete Felix. »Als ich heute aus der Schule kam, stand da so ein Mann rum. Irgendwie kam er mir komisch vor. Er trug so einen Hut wie Mel Gibson da …«

»Das ist Harrison Ford!«, rief Anton und schüttelte entrüstet den Kopf. »Mel Gibson? Wie kann man nur …«

Felix hob beschwichtigend die Hände.

»Ja, ja, schon gut«, sagte er.

»Das ist Harrison Ford in seiner wohl berühmtesten Rolle als Indiana ›Henry‹ Jones Junior, und der Hut, den er trägt, ist ein Fedora. Tsk, das weiß doch jedes Kind.«

»Wie auch immer«, warf Felix ein. »Der Typ, den ich heute gesehen habe, trug so einen Fedora-Hut, oder wie das heißt. Irgendwie komisch. Er wirkte selber wie aus einem Film.«

»Übrigens, ich habe krasse Neuigkeiten!«, rief Jonas unvermittelt.

»Raus mit der Sprache«, sagte Nina.

»Mein Bruderherz hat mir geflüstert, dass das Abrissunternehmen, bei dem er arbeitet, morgen zum Schulgebäude ausrückt.«

»Die Sprengung ist doch erst nächste Woche«, sagte Anton.

»Ja, aber die müssen doch alles genau planen«, meinte Felix. »Meinst du, die zünden einfach ein paar Stangen Dynamit an und werfen sie durch die offenen Fenster?«

Nina und Jonas lachten.

»Schon klar«, sagte Anton. »Aber dass das eine Woche dauert, hätte ich nicht gedacht.«

»Wenn man da nicht vorsichtig vorgeht, fliegt vielleicht aus Versehen ganz Irrlach in die Luft«, meinte Felix.

»Cool. Das wäre doch ein super Artikel für die Schülerzeitung«, sagte Nina. »Arbeitstitel: Der große Knall. Oder vielleicht doch Hurra, die Schule brennt!«

»Feuer sollten bei so einer Sprengung auf keinen Fall entstehen«, sagte Felix. »Diese modernen Sprengstoffe detonieren auf chemischer Basis.«

»Ist ja nur eine Überschrift«, gab Nina zurück.

»Ich weiß was!«, rief Anton. »Ich filme das Ganze mit meinen Action-Kameras. Das gibt sicher tolle Bilder. Vielleicht kann ich sogar eine Kamera im Schulgebäude verstecken.«

»Bist du wahnsinnig?«, sagte Jonas. »Weißt du, wie gefährlich das ist? Wenn du in so eine Explosion reingerätst, ist von dir nur noch ein Ketchupfleck übrig.«

»Du kannst ja zu Hause bleiben, wenn du Angst hast«, blaffte Anton.

»Quatsch, das will ich mir schon ansehen«, meinte Jonas.

»Also mich interessiert ja vor allem die technische Seite«, sagte Felix. »Wie viel Sprengstoff braucht man, um so ein Gebäude zum Einsturz zu bringen. Wie viel Kilojoule Energie wird dabei freigesetzt.«

»Sei aber vorsichtig«, meinte Nina. »Wenn du zu viele dumme Fragen stellst, kriegst du es vielleicht mit dem Geheimdienst zu tun. Die sperren dich dann wegen Terrorgefahr in den tiefsten Kerker.«

Jonas und Anton lachten.

»Als ob der Geheimdienst sich für ein paar Schulkinder interessiert«, sagte Felix ein wenig beleidigt.

Nach dem Kino fuhren Felix und Nina mit zu Anton. Nina schnappte sich ihre Sporttasche und wurde von Antons Vater nach Hause gefahren. Felix hatte sein Rad und seine Jahrbücher bei Anton zurückgelassen. Er packte die Bücher ein, verabschiedete sich von seinen Freunden und radelte nach Hause. Der Film war äußerst spannend gewesen, und Felix war noch kein bisschen müde, als er zu Hause ankam. Er beschloss also, sich noch einmal die Jahrbücher vorzunehmen. Beim Schein seiner Schreibtischlampe blätterte er durch die Seiten der alten Bücher. Sie rochen ein wenig muffig, und das Papier war an den Rändern vergilbt. Als Felix die alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen betrachtete, schweiften seine Gedanken ab. Wie musste es wohl gewesen sein, damals, vor sechzig Jahren, gelebt zu haben? Kein Internet, keine Handys, keine Heimcomputer. Die Welt hatte sich so sehr verändert, dass es ihm vorkam, als betrachtete er Fotos aus der Steinzeit. Er las die Namen einiger Schüler. Julia Holden. Stephen Meloni. Miriam König. Wo waren sie wohl jetzt? Wenn er einen von ihnen ausfindig machen könnte, wäre das eine tolle Informationsquelle für seinen Aufsatz. Ein Zeitzeuge könnte ihm sicher Dinge erzählen, die in keinem Buch mehr standen.

Langsam spürte er doch, wie seine Augenlider von der Müdigkeit schwer wurden. Er klappte das Jahrbuch zu, legte es auf seinen Schreibtisch und löschte das Licht. Als er zum Fenster ging, um den Vorhang zuzuziehen, stutzte er. Sein Blick fiel auf den Bürgersteig auf der ande­ren Seite des Hauses. Eine Gestalt stand dort. Ihr Gesicht lag im Dunkeln. Sie trug einen Fedora-Hut und einen Trenchcoat. Die orange Glut einer Ziga­rettenspitze leuchtete auf, und nun konnte Felix die Gesichtszüge erkennen. Es war der Mann, den er beim Verlassen des Schulgebäudes gesehen hatte. Es bestand kein Zweifel. War das ein Zufall, oder war der Typ ihm gefolgt? Im nächsten Moment ließ der Mann seine Zigarette fallen, drückte sie mit dem Fuß aus und verschwand in der Dunkelheit.

Trotz seiner Müdigkeit dauerte es eine ganze Weile, bis Felix endlich einschlafen konnte.

Nina

Am nächsten Tag war Nina die erste der vier Freunde, die das alte Schulhaus mit dem Fahrrad erreichte. Sie stieg ab und betrachtete den kastenförmigen Bau. Eine Augenweide war er ja nicht gerade. Und der graue Beton, aus dem er konstruiert war, passte nicht zu dem roten Ziegelsteinbau des neuen Schulgebäudes. Nina kramte ihr Handy hervor und machte ein paar Fotos. So konnte sie ihren Artikel gut mit Vorher-nachher-Bildern illustrieren.

Von der Straße her näherten sich Motorengeräusche. Ein ganzer Konvoi von Lastwagen brauste heran und parkte vor dem Gebäude. Die Ladecontainer trugen den Schriftzug des Abrissunternehmens. In oranger Schrift auf blauem Grund stand dort: Meindl und Söhne. Nina machte ein Foto. Die Beifahrertür eines Lastwagens öffnete sich, und ein sechzehnjähriger Junge mit hochgegelten Haaren stieg aus. Er kam auf Nina zugestapft.

»He, weg mit dem Handy!«, rief er lautstark.

»Hallo, Sven«, sagte Nina. »Bist wohl heute mit dem falschen Fuß aufgestanden.«

»Äh«, stammelte Sven. »Also, das Unternehmen Meindl und Söhne hat striktes Fotoverbot verhängt.«

Nina zeigte sich kein bisschen beeindruckt von Svens mürrischer Art.

»Ich mache ein paar Schnappschüsse für die Schülerzeitung. Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd.«

In diesem Moment kamen Felix, Anton und Jonas angeradelt.

»Hi, Nina«, sagte Jonas. »Du bist aber früh dran.«

»Kannst du mal deinen großen Bruder zurückpfeifen«, sagte sie. »Der macht einen auf dicken Max.«

Sven verschränkte die Arme. Er blickte die Freunde an, als hätte er es mit Kleinkindern zu tun.

»Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass hier das Fotografieren …«

»Sven, jetzt hilf doch mal beim Ausladen«, rief eine Stimme von der Rückseite des Lastwagens. »Du kannst dich später noch mit deinen Freunden unterhalten.«

Sven schnaubte, drehte sich um und ging zur Laderampe.

»Viel Spaß beim Ausladen, Sven«, rief Nina ihm mit einem zuckersüßen Lächeln hinterher.

Anton hatte seine beiden Daumen und Zeigefinger zu Ls geformt und hielt sie wie ein Filmregisseur vor seine Augen. Er suchte den perfekten Winkel für seine Action-Kameras, dabei ging er in die Hocke und ließ seinen Blick von links nach rechts schweifen, als würde einen Kameraschwenk ausführen.

»Eine Froschperspektive von hier mit Weitwinkel wäre der Hammer«, sagte er fachmännisch. »Das wird meine Master-Einstellung.«

Felix, Nina und Jonas liefen zum hinteren Ende des Lastwagens aus dem Sven gestiegen war. Er war vollgestopft mit Werkzeug, Messgeräten und Arbeitsbühnen.

»Wow!«, sagte Jonas. »Wo die wohl den Sprengstoff gelagert haben?«

»Den werden sie wohl erst am Tag der Sprengung anliefern«, sagte Felix. »Schließlich kann man nicht riskieren, dass …«

Er brach mitten im Satz ab.

»Was ist los«, fragte Nina.

»Da … da ist er schon wieder«, stotterte Felix. Er nickte mit dem Kopf zur ande­ren Straßenseite, wo ein Mann mit Hut stand und rauchte. »Der Typ mit dem Fedora-Hut. Ich schwöre, dass ich ihn gestern Nacht von meinem Fenster aus auf der gegenüberliegenden Straßenseite gesehen habe. Er stand bloß da und hat eine Zigarette geraucht.«

»Was der wohl will?«, sagte Jonas.

»Ich gehe mal hin und frage ihn«, sagte Nina kurz entschlossen.

»Aber du kannst doch nicht …«, rief Felix ihr hinterher. Nina achtete jedoch nicht auf ihn.

Sie überquerte die Straße und ging auf den Mann zu. Er trug seinen Hut und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er hochgeschlagen hatte. In seinem Mundwinkel steckte eine Zigarette. Er hielt eine Landkarte in der Hand und schien nach irgendetwas zu suchen.

»Hallo, kann man Ihnen behilflich sein?«, fragte Nina.

»Oh, yeah, sorry, ich suche den Staudamm. Von da aus soll man ja eine so tolle Aussicht haben.«

Der Mann sprach mit einem starken amerikanischen Akzent. Nina spürte, dass sein Lächeln ganz und gar unecht war.

»Darf ich mal sehen?«, fragte Nina. Der Mann gab ihr seine Landkarte.

»Also, wir sind hier«, sagte Nina und deutete auf den Punkt der Landkarte, wo sie sich befanden. »Sie müssen die Straße zurückgehen und dann rechts abbiegen. Dann folgen Sie der Landstraße bis hier oben. Von dieser Wiese aus hat man die beste Aussicht.«

Der Mann lächelte erneut.

»Oh, thank you! Vielen Dank! Auf Wiedersehen.«

Er tippte sich an den Hut und begann die Straße entlangzugehen. Nina blickte ihm lange nach. Dann kehrte sie zu ihren Freunden zurück.

»Und, was ist das für ein Typ?«, fragte Felix.

»Amerikaner«, antwortete Nina. »Aber mit dem ist was oberfaul.«

»Warum das denn?«

»Die Landkarte.«

Jonas blickte Nina fragend an.

»Was ist mit der Karte?«

»Ganz oben stand: Irrlach Village and Surrounding Area. Also Irrlach und Umgebung.«

»Und?«, fragte Felix.

»Mitten hindurch verlief eine rote Linie. Links stand West Germany und rechts East Germany. Also West- und Ostdeutschland. Die Karte stammte also aus einer Zeit vor der Wiedervereinigung. Warum sollte ein amerikanischer Tourist hier mit einer Landkarte herumlaufen, die mindestens dreißig Jahre alt ist?«

Felix

An diesem Abend saß Felix noch lange an seinem Aufsatz. Er las noch mal seine Einleitung, mit der er zwar noch nicht ganz zufrieden war, die jedoch für die erste Fassung genügte. Im Internet versuchte er einige der alten Schüler ausfindig zu machen, die das Irrlacher Gymnasium in den Sechzigerjahren besucht hatten. Bei den Schülerinnen hatte er wenig Glück. Das lag möglicherweise daran, dass einige von ihnen mittlerweile geheiratet und ihren Nachnamen geändert hatten. Er fand jedoch einige der männlichen Namen und fertigte eine Liste ihrer E-Mail-Adressen an. Mit dem Plan, morgen ­E-Mails an sie zu senden, steckte er die Liste zwischen die Seiten des Jahrbuchs. Dann schaltete er das Licht aus und legte sich ins Bett.

Felix öffnete die Augen. Es war stockdunkel. Nur die roten Leuchtziffern seines Weckers warfen ein wenig Licht in den Raum. Drei Uhr morgens. Warum war er aufgewacht? Hatte er einen Traum gehabt? Er konnte sich an nichts erinnern. Oder hatte er vielleicht ein Geräusch gehört?

Er setzt sich auf und blickte sich um. Seine Augen hatten sich so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, dass das dünne rote Licht der Zeitanzeige seines Weckers ausreichte, um die Landschaft seines Zimmers sichtbar zu machen. Da war der Stuhl vor seinem Schreibtisch. Sein Rucksack hing an einem Haken an der Wand. Ein Schatten neben seinem Kleiderschrank sah aus wie die Silhouette eines Mannes, der sich mit dem Rücken gegen die Seitenwand presste. Seine Klamotten, die über das Fußende des Bettes hingen, bildeten in dem unheimlichen Licht des Weckers eine Teufelsfratze. Das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos malte einen wandernden Lichtbogen an die Decke.

Vom Gang her drang ein lautes Knarzen an sein Ohr. Die Bodendiele vor seinem Zimmer ächzte jedes Mal, wenn man sein Gewicht darauf verlagerte. Schlich sich da jemand im Haus herum? Vielleicht war es nur seine Mutter oder sein Vater auf dem Weg ins Bad.

Er horchte wieder in die Stille hinein, doch nichts regte sich. Es war fast zu ruhig. Irgendetwas stimmte hier nicht. Felix stieg aus dem Bett und ging zum Fenster. Er blickte auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo der Mann mit dem Hut letzte Nacht gestanden hatte. Die Straße war wie ausgestorben. Nur die graue Katze der Nachbarn saß auf einem Zaunpfahl und leckte sich die Pfote.

Felix wollte sich gerade wieder ins Bett legen, als er den Schock seines Lebens bekam. In der Reflexion der Fensterscheibe war ein Gesicht neben ihm aufgetaucht. Felix drehte sich um.

Der Schatten, den er neben seinem Kleiderschrank gesehen hatte, löste sich von der Wand und kam auf ihn zu. Es war ein uniformierter Mann. Auf dem Kopf trug er ein Barett – einen Hut ohne Krempe –, und sein Gesicht war mit schwarzer Schminke vollgeschmiert.