Das Sonnenmal - Bettina Wohlert - E-Book

Das Sonnenmal E-Book

Bettina Wohlert

0,0
4,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Kriegsreporter ohne Illusionen, ein halbtotes Mädchen mit viel Zukunft, aber ohne Gedächtnis, eine Ärztin mit großem Haus und noch viel größerem Herzen, ein vermeintlicher Engel mit Glauben, aber ohne Herz und Gewissen  ... und Landschaften, die zum Träumen einladen. 

Ben Reevers kehrt nach endlosen Jahren als Reporter in den Kriegsgebieten der Welt zu seiner Familie nach Cornwall zurück. Was er zunächst für eine Leiche hält, über die er mehr oder weniger zufällig stolpert, ist ein junges Mädchen, das sich erst im Krankenhaus und dann in der Obhut seiner Schwester Helen langsam erholt. Als ihr Lebensretter fühlt er sich eng mit ihr verbunden und versucht, ihr auf ihrem Weg zurück ins Leben zur Seite zu stehen. Dies ist allerdings gar nicht so einfach, wie es zunächst scheint… Das Mädchen ist offenbar durch die Hölle gegangen. Auf der Suche nach ihrer Vergangenheit wird sie allerdings von dieser wieder eingeholt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2017

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Bettina Wohlert

Das Sonnenmal

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Titel und Vorblatt

 

 

Das Sonnenmal

von

Bettina Wohlert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt:

 

Ein gut gelungener Mix aus atemloser Spannung, Lovestory und Liebe zum Detail! Ein Kriegsreporter ohne Illusionen, ein halbtotes Mädchen mit viel Zukunft, aber ohne Gedächtnis, eine Familie mit großem Haus und noch viel größerem Herzen, ein vermeintlicher Engel mit Glauben, aber ohne Herz und Gewissen … und Landschaften, die zum Träumen einladen.

 

Ben Reevers kehrt nach endlosen Jahren als Reporter in den Kriegsgebieten der Welt zu seiner Familie nach Cornwall zurück. Was er zunächst für eine Leiche hält, über die er mehr oder weniger zufällig stolpert, ist ein junges Mädchen, das sich erst im Krankenhaus und dann in der Obhut seiner Schwester Helen langsam erholt. Als ihr Lebensretter fühlt er sich eng mit ihr verbunden und versucht, ihr auf ihrem Weg zurück ins Leben zur Seite zu stehen. Dies ist allerdings gar nicht so einfach, wie es zunächst scheint…Das Mädchen ist offenbar durch die Hölle gegangen. Auf der Suche nach ihrer Vergangenheit wird sie allerdings von dieser wieder eingeholt.

 

 

 

Bettina Wohlert, Jahrgang 1965, lebt mit ihren beiden Söhnen in Berlin. Hauptberuflich arbeitet sie als Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte. Viele Jahre schon schreibt sie Kurzgeschichten und kleine Theaterstücke, die in Gottesdiensten für kirchenferne Besucher aufgeführt worden sind, sowie Krippenspiele der moderneren Art. Ihr erster Roman »Das Sonnenmal« erschien 2013 und wurde mit großer Begeisterung aufgenommen.

 

Bisher erschienen:

Das Sonnenmal - 2013

Fünf-Wort-Geschichten – 2014

Der Geruch von Licht – 2015

Hinter dem Vorhang (2. Teil von Der Geruch von Licht) – 2015

 

Alle Bücher als eBooks in den üblichen Online-Shops und als Taschenbuch bei der Autorin im Online-Shop

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Sonnenmal

 

von

 

Bettina Wohlert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © by Bettina Wohlert 2012

2. Auflage

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen außerhalb der Nutzung auf einem e-Book-Reader.

 

 

Die Überschriften sind Zitate aus der Bibel.

 

Umschlaggestaltung Schlunz Arts, Ritze - Altmark

 

 

 

 

 

 

 

 

 

I. Er streckte seine Hand aus von der Höhe und zog mich aus großen Wassern - Psalm 18:16

 

  

 

I. Er streckte seine Hand aus von der Höhe und zog mich aus großen Wassern

                                                                                                                Psalm 18:16

 

 

 

Ben Reevers liebte die engen schmalen Straßen Cornwalls. Sie gaben ihm eindeutig das Gefühl, nach Hause zu kommen. Nirgendwo sonst waren die Straßen so eng wie in Cornwall und nirgendwo sonst preschten die Lastwagen trotzdem einfach so durch, egal was ihnen entgegen kam. Er hätte durchaus auf den großen Schnellstraßen bleiben können, es war frühmorgens und es gab kaum Verkehr. Vor allem standen an den Kreisverkehr-Ausfahrten von den Schnellstraßen um diese Uhrzeit keine Touristen-Wohnmobile völlig verunsichert vom Linksverkehr und hielten den Verkehr auf, weil sie nie schnell genug die Lücken ausnutzten, die sich nur für wenige Sekunden auftaten. Und trotzdem war er vorhin an der nächsten Ausfahrt auf die kleine Landstraße abgebogen, die sich zwischen den hohen Hecken mit vielen Kurven über die Hügel schlängelte.

»Oh, nein, bitte nicht! Nicht ein Milchlaster!« Ben  fluchte und lenkte den Wagen so weit es ging in die schmale Einbuchung in der Hecke. Mit einer raschen Bewegung zog er den Außenspiegel zu sich heran, der ihm schon zu oft auf diesen engen Straßen abgefahren worden war. Ganz langsam und im Schritttempo schob sich der breite Lieferwagen an ihm vorbei. Ben fuhr noch ein Stückchen tiefer in die Hecke und fluchte erneut, als er das Geräusch der auf dem Lack schrammenden Äste hörte.

»Ich hasse diese engen Straßen!«, murmelte er vor sich hin, und versuchte nicht an das hell leuchtende Blech zu denken, dass unter den Kratzern hervorblitzen würde, musste dann aber doch wieder grinsen. So was kommt von so was, dachte er.

Dann war der Milchwagen endlich vorbei und er konnte wieder Gas geben. Langsam fuhr er in Kestle Mill um die spitze Kehre und endlich gaben die hohen Hecken, die bisher die Straßen rechts und links begrenzt hatten, den Blick über die Hügel Cornwalls frei. Jetzt musste er nur noch über die uralte kleine Brücke über den Gannel River, dann auf der anderen Seite aus dem flachen Tal hinaus nach Trenrice hinauf und er würde das Haus seiner Schwester schon sehen können.

 

Langsam rumpelte Ben über die schmale Brücke und atmete tief ein. Eindeutig, Zuhause! Nur noch wenige Meter und er sah rechts die Einfahrt. Vorsichtig zirkelte  Ben seinen Wagen über die schlichte Betonplatte, die den Graben vor Green Meadows abdeckte und schlängelte sich dann über den kurvigen Weg durch das urwaldartige Gestrüpp, den sein Schwager so großspurig Einfahrt nannte. Hier sollte Stu mal Hand anlegen, dachte er. Dann hätte man von der Straße einen viel schöneren Blick auf das Haus. Das konnte sich nämlich durchaus sehen lassen. Behäbig lag es auf halber Höhe des Hügels ein kleines Stück über dem Dorf. Nur wenige Meter hinter dem großen Garten, den Stu genauso scherzhaft Park nannte, begann der Wald, der sich über die Anhöhe zog. Das Haus hatte in einer früheren Zeit offenkundiger Wohlhabenheit zwei zusätzliche Seitenflügel erhalten und konnte somit leicht bis zu zwanzig Kindern nebst Betreuern und Nells Familie ausreichend Platz bieten, ohne dass man sich unweigerlich auf den Füßen stand. Unten schlicht weiß verputzt hatte das obere Stockwerk einen Pseudo-Tudorstil mit schwarzem Fachwerk, der für die Gegend total untypisch war, seinem Vorfahren aber vermutlich als der damalige Inbegriff von eleganter Herrschaftlichkeit vorgekommen war. Stu und Nell hatten aus dem alten Haus wieder ein Schmuckstück gemacht. Während der Wohntrakt für die Ferienkinder mehr funktional gehalten war, hatten sie den ältesten Teil des Hauses irgendwie in eine Art bewohnbares Museum verwandelt, ohne auf moderne Bequemlichkeit zu verzichten.

Ben stellte sein Auto vor dem Pferdestall ab, der jetzt einen großen Aufenthaltsraum für die Kinder beherbergte, und sah auf die Uhr. Halb sechs war eindeutig zu früh, um seine Ankunft kundzutun. Wenn er jetzt ins Haus ging, würde er den Hass der ganzen Familie auf sich ziehen.

Er sprang gerade noch rechtzeitig aus dem Auto, um den Hund abzufangen, bevor dieser mit seinem Pfoten auf dem Lack seines Autos gelandet war.

»Pscht, Abby«, versuchte er die aufgeregte Hündin zu beruhigen und hielt ihr die Schnauze zu. »Aus! Leise! Nein, nicht bellen. Die schlafen doch noch alle!« Aber der Hund jaulte und winselte laut vor Freude und sprang an Ben hoch, um ihm trotz aller Abwehr das Gesicht abzulecken.

Ben sah seine einzige Chance, nicht den Weckdienst für das gesamte Haus zu spielen, nur darin, den Hund vom Hof zu locken.

»Na, mein Mädchen, magst du spazieren gehen?« Ben kraulte der Hündin den Kopf. »Dann lass uns mal gucken, ob wir nicht ein paar Kaninchen für dich finden, die du Jagdhund hetzen kannst.«

Einträchtig stiegen Mann und Hund nebeneinander den Hang hinter Stus Park auf der Rückseite des Hauses langsam bergauf. Prüfend warf Ben einen Blick in den Himmel. Es hatte schon den ganzen Morgen regnerisch ausgesehen, aber inzwischen ballten sich die Wolken am Horizont geradezu unheilverkündend dicht und dunkel zusammen.

»Wenn wir Glück haben, dann zieht das Unwetter dort vorne vorbei und wir bekommen gar nichts ab.« Ben überlegte kurz zurückzugehen, fand aber andererseits, dass er nicht aus Zucker war und ein paar Regentropfen noch keinem geschadet hatten. Er war in den letzten Jahren in so vielen Ländern gewesen, wo man angesichts der Wolken einen Freudentanz in Erwartung des kommenden Regens aufgeführt hätte, dass es ihm wie Frevel vorkam, vor ein bisschen kommenden Geniesel Reißaus nehmen zu wollen.

»Wir sind Engländer, wir ziehen den Kopf ein und gehen einfach weiter. So wie wir das schon immer bei Regen gemacht haben.« Ben grinste stillvergnügt in sich hinein, als er sich dabei ertappte, wie er mit dem Hund sprach.

»Du widersprichst mir wenigstens nicht. Du erziehst nicht an mir herum, kriegst keine hysterischen Anfälle, wenn ich aus Syrien anrufe oder schreist Zeter und Mordio, weil ich mich mal drei Tage nicht melde. Ein sehr sympathischer Gesprächspartner, wie ich finde.« 

 

Nach einer ganzen Weile schlugen sie einen weiten Bogen über die Hügel und gingen langsam wieder bergab, als die ersten Regentropfen hatten sie erreichten und schnell kräftiger wurden. Der Himmel war inzwischen rabenschwarz.

»Vielleicht sollten wir doch zusehen, dass wir von hier verschwinden, bevor uns ein Blitz erwischt.«

Mit langen Sätzen lief Ben hinter Abby her, die pfeilgerade den sanften Hang hinunterrannte. Keine halbe Minute später prasselte der Regen heftig auf sie ein und Ben sah sich suchend nach einem Unterschlupf um. Wenige Augenblicke später ließ er sich schwer atmend unter dem Brückenbogen der Schnellstraße auf den trockenen Boden fallen.

Das schmale Rinnsal, das sich zu seinen Füßen in dem Abwasserkanal gebildet hatte und unter der Brücke hindurch gluckerte, würde wohl nicht so stark anschwellen, dass es ihm hier gefährlich werden könnte. Er sah sich nach Abby um, die noch im peitschenden Regen herumtobte und nur unwillig auf seinen Pfiff reagierte, dann aber zu ihm kam. Bevor er zur Seite springen konnte, schüttelte sie sich direkt vor ihm das Wasser aus dem Fell und nur einen Augenblick später schoss zu allem Überfluss aus einem Abflussrohr über ihm ein wahrer Sturzbach.

»So viel zu trockenem Plätzchen«, fluchte Ben und schüttelte sich ebenfalls, wobei er allerdings das eiskalte Wasser, das ihm in den Kragen gelaufen war, nur gleichmäßig verteilte. Wenn das so weiterging, konnte er auch in aller Ruhe nach Hause laufen, da er sowieso nicht nasser werden konnte, dachte er in einem Anflug von Ärger. Mit einem Mal sprang der Hund an ihm vorbei und blieb wild bellend vor dem Abflussrohr stehen.

»Ja, mein Mädchen, bell das Rohr nur richtig zusammen als Strafe dafür, dass es mich so nass gemacht hat.« Ben hielt sich die Ohren zu.

»Aber jetzt ist genug! Aus! Still!«

In dem Gekläff des Hundes und dem lauten Geplätscher des Wassers, das inzwischen, wie er fand, überraschend schnell stieg, gingen seine Rufe jedoch ungehört unter.

»Abby! Aus!«, brüllte er. Jaulend hörte Abby endlich auf zu bellen. Da die Hündin aber keine Anstalten machte, von dem schmalen Sims herunterzukommen, sondern immer noch aufgeregt jaulte und scharrte, kletterte Ben zu ihr hinauf.

»Was ist los? Was hast du gefunden? Ein totes Kaninchen? In dem Loch da?«

Ben spähte durch das Gitter. »Ist da was drin, was dich aufregt?«

Offenbar war dies das Abflussrohr für das gesammelte Regenwasser der Schnellstraße über ihnen und inzwischen schoss das Wasser in einem schon handbreit hohen Schwall in den Graben hinter Ben.

Da von oben wohl kaum größere Teile durch die Gullischlitze in der Straße passten, war das Gitter wohl eher dazu gedacht, dass dort keiner hineinkletterte oder Müll im Abflussrohr ablegten. Und doch konnte Ben in dem kaum vorhandenen Licht ein recht großes Bündel erkennen, das in dem strömenden Wasser lag.

Er streckte den Arm durch das Gitter und zog vorsichtig an dem nassen Stofffetzen.

»Ist es das, was dich so aufregt, Abby? Aber ich sag dir gleich, wenn das ein totes Tier ist, was ich hier anfasse, dann Gnade dir Gott.«

Das Bündel rutschte ihm nach einem leichten Ruck entgegen und drehte sich dabei. Ben riss die Hand zurück, als sich eine dicke Strähne von Fadenalgen um seine Finger wickelte.

»Abby, du magst so was vermutlich spannend finden, aber das ist jetzt echt eklig!«

Ben tastete nach seinem Schlüsselbund und schaltete die kleine Taschenlampe an, die dort immer hing. In dem kleinen Lichtkegel blitzte ein heller Fleck unter dem im Wasser schwimmenden Algenvorhang auf.

»Das ist doch ...« Ben sah überrascht auf das Gesicht vor ihm, das unter einer Flut von langen nassen Haaren, die sich um seine Hand gewickelt hatten, kaum auszumachen war. Das Gesicht war fast nicht mehr als solches zu erkennen, ein Auge war fast komplett zugeschwollen und die rechte Schläfe schwarz verschmiert, wobei Ben davon ausging, dass das wohl eher getrocknetes Blut war.

Irgendjemand hatte eine Kinderleiche hier abgelegt und er und Abby waren geradewegs darüber gestolpert. Magnetisch angezogen von jeglicher Art an Dramen, die sich in seiner Nähe auch nur abspielen konnten. Wie immer, seufzte Ben und tastete in seiner Hosentasche nach seinem Handy. Vermutlich würde er hier unter der Brücke kein Signal bekommen und durch das gestiegene Wasser im Graben nach draußen waten müssen, um dann klitschnass und durchgefroren Ewigkeiten auf die Polizei oder wen auch immer zu warten. In diesem Augenblick öffnete sich in dem Gesicht das Auge und Ben ließ vor Schreck die Taschenlampe fallen. Mit fahrigen Bewegungen tastete er mit der einen Hand nach der Lampe während er mit dem anderen Arm erneut durch das Gitter griff, um die Gestalt näher zu ziehen, damit er den Kopf über Wasser halten konnte.

»Shhh, keine Angst, ich bin da«, versuchte er das Mädchen zu beruhigen, obwohl er nicht den Eindruck hatte, dass sie ihn irgendwie sah oder bemerkt hatte. Aber es beruhigte auch ihn, auf sie einzureden.

 

Wie um alles in der Welt war sie in das Abflussrohr gekommen? Ben rüttelte probehalber mit der freien Hand am Gitter, das zwar protestierend schepperte, aber ansonsten an Ort und Stelle blieb. Mit der Taschenlampe im Mund sah Ben sich hektisch um. Das Gitter musste sich öffnen lassen, das Mädchen hätte nicht anders in das Rohr gelangen können. Er zerrte das Bündel herum, bis der Kopf etwas höher lag. Er war sich gar nicht mehr so sicher, ob die Kleine sich tatsächlich bewegt hatte und noch lebte. Inzwischen kam das kalte Wasser knietief aus dem Abwasserrohr geschossen und er spürte seine Beine kaum noch. Während er sich bemühte, das Mädchen in einen aufrechtere Position zu ziehen, damit er sie kurz loslassen konnte, ohne dass sie unter Wasser sank, konnte er in dem Kegel der Taschenlampe mehrere blutverkrustete Wunden am Kopf des Mädchens und ihre tiefblauen Lippen sehen. Seine Finger waren vor Kälte viel zu klamm, um nach ihrem Puls zu tasten. Mit einem kräftigen Ruck zerrte er sie noch einmal hoch und endlich schirmte ihr Körper ihr Gesicht von dem um sie herumgurgelnden Wasser ab. Hastig griff Ben nach dem Gitterrand und rüttelte erneut daran. Das Gitter gab nur wenige Zentimeter nach. Jemand hatte den verrosteten Metallbügel, durch den das geschlossene Gitter mit einem Schloss gesichert wurde, zur Seite gebogen, nachdem es wieder geschlossen worden war. Ben fluchte laut. Ein Schloss hätte er vielleicht knacken können, aber die verbogene Falle stellte ein fast unüberwindliches Hindernis dar, wenn er nicht einen großen Stein fand. Das Wasser unter der Brücke stieg beängstigend schnell und würde den kleinen Vorsprung, auf dem er stand, bald erreicht haben.

Voller Wut und Verzweiflung über seine Hilflosigkeit riss Ben noch einmal an dem Gitter und mit einem Ruck gab der verbogene Schlossbügel nach und brach ab. Der Schwung reichte, um ihn rückwärts von dem Vorsprung ins Wasser zu katapultieren und er konnte sich nur mit Mühe in dem unter der Brücke inzwischen rasend schnell dahinströmenden Wasser wieder aufrichten. Mit einem Satz war er wieder auf dem Vorsprung, zog das Kind aus dem Rohr und watete durch das inzwischen brusthohe Wasser ankämpfend ins Freie. Dort stolperte er die schmalen, glitschigen Stufen an der Brücke zur Fahrbahn hinauf, während Abby wild bellend um ihn herumsprang. Ben ließ das Kind ins Gras am Straßenrand sinken und riss das Handy aus der Tasche. Wenn nicht sofort Hilfe kam, würden sie beide hier draußen erfrieren.

 

 

2.

 

»Wollen Sie nicht lieber nach Hause gehen und ein heißes Bad nehmen? Eigene trockene Sachen anziehen?«  Die Schwester schaute ihn besorgt an. »Sie holen sich ja noch den Tod!«

»Das wär doch die Schlagzeile morgen in der Zeitung: ›Kriegsgebiets-Reporter stirbt in der Heimat an läppischem Schnupfen‹.« Ben lächelte die junge Frau schief an. Er kam sich durchaus etwas albern vor in dem blauen OP-Anzug seiner Schwester Allison, die als Ärztin im Krankenhaus von Truro in Ermangelung anderer trockener Sachen einfach die Krankenhausbestände geplündert hatte, und ein heißes Bad hatte ebenfalls etwas sehr Verlockendes.

»Wie geht's der Kleinen?«, fragte er.

Er saß in einer Ecke des Behandlungszimmers und sah Schwester Nancy Jones dabei zu, wie sie die Infusionen kontrollierte, die Wärmedecke über dem Kind feststeckte und die Anzeigen auf dem Monitor prüfte.

»Stark unterkühlt, einige Platzwunden, zwei tiefe Schnitte im Gesicht, mehrere stumpfe Schädeltraumata und unzählige Prellungen am ganzen Körper.«

»Da wollte sie jemand loswerden und hat ordentlich draufgehauen.« Die Tür zu dem kleinen Raum in der Notaufnahme hatte sich geöffnet und Sergeant Carol Carrigan nickte kurz in die Runde. Ben hob grüßend die Hand. Er kannte sie von der Initiative gegen Kindesmissbrauch, Standing together against Child abuse, kurz STACA, der er vor einiger Zeit beigetreten war, um mit seinem in der Öffentlichkeit bekannteren Namen und Gesicht eine größere Resonanz für deren Arbeit zu erreichen.

»Sie dürften gar nicht hier sein«, beschied sie Ben, ging dann aber zu der Liege hinüber und sah zu, wie Schwester Jones gerade den Schmutz unter den Fingernägeln des Mädchens herauslöste. Sie reichte ihr die durchnummerierten Reagenzgläschen zu.

»Weiß man schon, wer sie ist?«

»Nein, aber dafür seid ihr von der Polizei jetzt da. Tut mir einen Gefallen, ja? Findet den Scheißkerl!« Nancy Jones sah aufgebracht auf. »Das Letzte, was wir hier in der Gegend gebrauchen können, ist ein Triebtäter, der sich kleine Mädchen schnappt.«

»Das kann keiner gebrauchen«, Sergeant Carrigan versuchte die Krankenschwester zu beruhigen.

»Ich müsste ein paar Fotos machen«, fuhr sie fort. »Von dem, was ihr noch nicht verpflastert und verarztet habt. Danach könnt ihr sie dann waschen.«

Sie hob eine große Kamera aus ihrer Umhängetasche und begann systematisch jedes Hämatom, jede Platzwunde und jede Verletzung genauestens zu fotografieren. Sie war lange beschäftigt.

Ben blickte von seiner Ecke auf die Röntgenbilder an den Lichtkästen. Mehrere Rippenbrüche, das gebrochene Nasenbein und der doppelter Kieferbruch waren sogar für ihn als Laie zu erkennen. Als Nancy Jones endlich beginnen konnte, die Wunden zu säubern und Carol Carrigan noch weitere Reagenzgläser mit Partikeln und Fasern füllte, kamen immer mehr Schnitt- und Platzwunden und Prellungen zutage. So wie das Mädchen im Moment aussah, würde man nicht einmal erahnen können, wie sie normalerweise aussah.

Er war sich nicht sicher, ob er wollte, dass sie noch möglichst lange bewusstlos blieb und sich damit viele Schmerzen ersparte, oder ob sie bald zu sich kommen sollte, damit sie ihnen sagte, wer sie war und man ihre Eltern verständigen konnte.

Die Polizei würde sich darum kümmern müssen. Chief Inspector Mark Granger, sein bester Kumpel aus Schultagen. Mark würde sich um alles kümmern. Er hatte ihn auch gleich ins Krankenhaus fahren lassen, damit er nach dem Mädchen fragen konnte, und die Vernehmung auf einen Tag geschoben, an dem Ben in eigenen trocknen Sachen bei der Polizei erscheinen konnte.

»Gehen Sie nach Hause!« Sanft schob ihn die Schwester zur Tür.

»Es hat keinen Sinn, dass Sie hier warten. Wir bringen sie gleich hoch auf die Intensivstation und es wird noch Stunden dauern bis sie wieder bei Bewusstsein ist. Vielleicht legt man sie auch erst ins künstliche Koma.«

Ben wandte sich widerstrebend zum Gehen. Vorher wollte er doch erst mal sehen, ob nicht Allison als Ärztin schon mehr in Erfahrung bringen konnte. Wozu hatte man schon eine Schwester, die im Krankenhaus arbeitete?

 

~~~

 

Was immer man im Krankenhaus mit seinen Sachen getan hatte, sie waren in der kurzen Zeit vollständig getrocknet und ihm wurde auch langsam wieder warm. Das Taxi ließ ihn an der Einfahrt hinaus und Ben schlenderte zum Haus hinüber. Nell wohnte mit Stuart und ihren Zwillingen Meghan und Maureen im Familiensitz ihrer Urgroßmutter, einem alten Haus, das vor zweihundert Jahren dem damaligem Landpfarrer mit seiner großer Familie als Wohnsitz gedient hatte, als von Pfarrern noch erwartet wurde, dass sie eine große Familie hatten. Nell und Stu hatten lange daran renoviert und umgebaut, um es als Ferienheim für Kindergruppen aus den grauen Industriestädten anbieten zu können. Für eine nur vierköpfige Familie war das Haus einfach zu groß und viel zu teuer im Unterhalt. Damit es in der Familie bleiben konnte, hatten sie, wie so viele andere im Land, die ihre großen Herrenhäuser nicht mehr unterhalten konnten, sich eine neue Nutzung ausdenken müssen. ›Ferienheim‹ hieß im Klartext nichts anderes, als dass Nell den ganzen Tag am Rennen und Wirtschaften war und Stuart mit seinem Werkzeuggürtel herumlief und so tat, als ob das Haus sonst zusammenfallen würde, wenn er nicht ständig in irgendeiner Ecke schnell etwas hämmerte oder woanders einen Nagel einschlug. Ben lachte ihn regelmäßig dafür aus, dass er diesem Al aus der beliebten Heimwerkerfernsehserie so verflixt ähnlich sah. Er hatte den Verdacht, dass dies durchaus von Stu beabsichtigt war.

 

~~~~~~~

 

Er ging über den Hof und durch den kleinen Küchengarten zur Küchentür.  

»Hallo, die Herrschaften!«, grüßte er freundlich in die vermeintlich leere Küche, bis er seine Schwester kopfüber im Kühlschrank wühlen sah. Nur Stu brachte es fertig, in einer Küche, die aussah wie aus einem Geschichtsbuch, eine Spülmaschine zu integrieren, ohne dass sie auffiel. Nell war viel zu praktisch veranlagt, als dass sie zugelassen hätte, dass Stu aus dem gesamten Haus ein Museum für Früh- und Vorgeschichte machte, in dem sie morgens einen Küchenherd hätte anfeuern oder gar für den Abwasch mit einer alten Handpumpe erst Wasser hätte pumpen müssen, grinste er in sich hinein,

»Ben!« Nell warf die Kühlschranktür zu und fiel ihrem Bruder um den Hals. »Kleiner Bruder!«

»Oh Mann, keine fünf Sekunden hier und du spielst deine Trumpfkarte aus!«

»Bin ich froh, dass du heil und gesund wieder da bist.«

»Ach, komm, so schlimm war es doch auch nicht!« Woher wusste seine Schwester schon wieder, was passiert war? Ben war verblüfft.

»Also bitte, ja!« Empört stemmte Nell die Arme in die Seiten. »Es ist überhaupt nicht lustig, dich nur im Fernsehen zu sehen, wie du von irgendwelchen Militärputschen berichtest, während im Hintergrund die Granaten einschlagen und Schüsse zu hören sind!« Puh, Ben atmete innerlich auf. Sie wusste noch gar nichts. Ally hatte vermutlich anderes zu tun gehabt, als ihre Schwester sofort per Telefon auf den neuesten Stand zu bringen. Auf diese Art würde er noch einige Zeit in Ruhe das Nachhauskommen genießen können, ohne mit Nells zu erwartender Hysterie konfrontiert zu werden, sobald Allison sie ausreichend von seinem kleinen Abenteuer in Kenntnis gesetzt haben würde.

»Nellie, du weißt doch, wie das geht! Wenn du von Steinewerfern gehört hast, dann fährst du da hin, siehst keine mehr, weil die schon weg sind, und drückst ein paar Straßenkindern ein paar Münzen in die Hand, damit sie vor der Kamera ein paar Steine in Gegend werfen und Bingo, hast du deine Aufnahme im Kasten.«

»Als ob du so schummeln würdest.«

Ben grinste nur breit. »Berufsgeheimnis.«

»Los, setz dich hin, ich mach dir Tee. Oder trinkst du nur noch diese modernen Yuppiekaffees?«

Klar, in Syrien oder Libyen in den Rebellenhochburgen gab es Starbucks-Coffeeshops auch wie Sand am Meer. Er lächelte sie nachsichtig an.

»Nell, ich trinke, was du grad da hast und gesundheitlich bedenkenlos trinkbar ist.« Er fand es sehr entspannend, einfach alles trinken zu können, was ihm angeboten wurde, statt sich Gedanken darüber machen zu müssen, woher seine Gastgeber das Wasser geholt hatten und ob er es nicht besser erst einmal entkeimen sollte.

 

Während Nell ihm Löcher in den Bauch fragte und ihn über die Lebensgeschichte von sämtlichen Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, ihm bekannten Nachbarn und aller dazugehörigen Kinder auf den neuesten Stand brachte, sah sich Ben in der Küche um und ließ sein Auge über Trockenblumensträuße, die von der Decke hingen, die Kräutertöpfen auf dem Fensterbrett, die Flickenteppiche auf den alten Holzdielen und die schlafende Katze im Großvaterstuhl in der Ecke wandern.

»Wie verträgt sich Abby mit der Katze?«, unterbrach er Nells steten Redefluss.

»Sie hat einen Heidenrespekt, glaub mir.«

»Oh, da bin ich unbesorgt. Ich bin nur erstaunt, dass Abby noch lebt.«

Ben grinste wieder. Abby hatte es als Hundewelpe vor einigen Jahren nur ein einziges Mal gewagt, den Weg des riesigen Katers zu kreuzen und danach immer einen großen respektvollen Bogen um ihn gemacht, Auch Ben würde es nie im Leben noch einmal wagen, die Katze anzufassen. Er hatte dies völlig unbedarft nur einmal vor Ewigkeiten versucht, als ihm der große Kater maunzend um die Beine gegangen war und ihm vorgegaukelt hatte, gestreichelt werden zu wollen. Kaum hatte Ben damals die Hand auch nur in Richtung des Katzenrückens ausgestreckt, als der Kater auch schon mit allen Krallen in seinem Unterarm gehangen und ihn die Haut zerfetzt hatte.

»Wie alt ist Peg jetzt?«

»Oh, ich glaube, achtzehn oder so ... Vermutlich wird er uns alle überleben.«

»Er wird euch eines Tages nachts im Schlaf niedermetzeln, Ihr werdet schon sehen.« Wohlig ließ Ben sich in die Kissen auf der Eckbank sinken und rührte gedankenverloren in seiner Teetasse, während Nell weiter über solch nette Nebensächlichkeiten auf ihn einschwatzte, dass er deren Banalität geradezu genoss.

 

»Ben! Jungelchen!« Stu stieß die Küchentür auf, gefolgt von Abby, die sich wie eine Irre auf Ben stürzte, um ihm das Gesicht abzulecken.    

»Na, das nenn ich Liebe.« Stu grinste unter seinem Vollbart, während Ben alle Hände voll zu tun hatte, sich Abbys Liebesbezeugungen zu entziehen.    

»Nenn mich nicht Jungelchen, alter Mann!« Freundschaftlich boxte Ben seinem Schwager auf den Oberarm.

»Solange ich mich daran erinnern werde, wie du als Teenager bei meiner Hochzeit ausgesehen hast, werd ich dich Jungelchen nennen.«

»Wie viele hundert Jahre ist das jetzt her, alter Mann?«

Ben lächelte still in sich hinein. Er hätte einfach besser aufpassen müssen, in was für eine Familie er hineingeboren wurde, hatte er immer gefunden. Es war ein absolutes Unding, drei ältere Schwestern zu haben, wenn dazu noch die jüngste schon zehn Jahre älter war als er. Es war, als ob man vier Mütter hatte, die alle an einem herumerzogen und einen nicht  auch nur einen einzigen Atemzug oder Schritt alleine tun ließen. Und wenn Nell und Stu ihn ›kleiner Bruder‹ oder ›Jungelchen‹ nannten, dann konnte er es auch einfach nicht lassen, auf der Tatsache herumzuhacken, dass Stu schon komplett grau war, obwohl er erst knapp Ende vierzig war.

 

Erneut flog die Küchentür mit Schwung auf und Ben sah sich von seinen blonden Zwillingsnichten umringt, die aufgeregt auf ihn einschnatterten. Nur zu gerne ließ er sich von dem liebenswerten Getöse dieser lauten Familie in den Bann ziehen und begann sich langsam wieder heimisch zu fühlen. Nells und Stuarts Entscheidung für den Betrieb von einem Ferienheim war damals mit Sicherheit davon inspiriert, dass sie beide aus großen und lauten Familien kamen, in denen es nie ruhig oder geordnet zuging.

»So ein Haus verlangt nach Leben in der Bude«, war Nells Meinung gewesen. »Im Altersheim kann ich noch früh genug dem Ticken der Standuhr zuzuhören.«

 

~~~

 

Das Essen zog sich mit dem üblichen Geräuschpegel hin und Ben summten die Ohren, als er endlich zum kleinen Pförtnerhaus hinübergehen konnte, um sein Gepäck auszupacken. Es war immer wieder erstaunlich, fand er, wie wenig Gepäck man brauchte, wenn man fünf Jahre in der Welt herumgondelte, um von einem Krisenherd zum nächsten zu kommen. Je weniger man mit sich herumschleppte, umso weniger konnte man verlieren oder bei endlosen Zollkontrollen einbüßen. Er würde sich wohl in den nächsten Tagen um eine etwas zivilere Kleidung kümmern müssen. Feste Trekkingschuhe, Khakihosen mit Cargo-taschen und Hemden aus funktionaler Mikrofaser machten sich in der Wüste, im Hindukusch und in Militär-Jeeps auf Iraks staubigen Pisten nicht schlecht, aber vielleicht konnte er sich wieder etwas kultivierter kleiden, bevor ihn jemand noch mit Indiana Jones anredete.

 

Ben stand in dem kleinen Badezimmer des Gästehäuschens und packte mit jahrelang geübten Handgriffen Zahnbürste und Rasierzeug aus, als sein Blick beiläufig auf sein Spiegelbild fiel. Er würde auch einen neuen Haarschnitt brauchen, fand er, sogar dringend. So wirr, wie die Haare von seinem Kopf abstanden, konnte er ja nicht mehr unter Leute gehen. Ansonsten fand er sein Spiegelbild gar nicht so übel. Unter den dunklen Wirbeln auf seinem Kopf blitzten ihn aus einem sonnengebräunten Gesicht hellblaue Augen an. Wenigstens wurde er braun und nicht hellrot, wie die meisten Engländer unter südlicher Sonne. Und ganz so jugendlich, wie Stu immer tat, sah er auch nicht mehr aus. Mit seinen zweiunddreißig Jahren hatte er schon das eine oder andere Fältchen im Augenwinkel. An  den sozial verträglicheren Haarschnitt würde er sich morgen machen.

 

Ben hatte sich eigentlich für die Dauer seines Heimaturlaubes auf sein kleines Reihenhäuschen in London gefreut und die Tatsache, dass er dort dann endlich wieder einmal ohne Angst und ohne dass ihn das leiseste Geräusch auffahren ließ, in Ruhe schlafen würde. Aber er hatte kaum die Haustür aufgeschlossen gehabt, als die Erinnerungen auf ihn hereingestürzt waren und er die Nacht erst einmal in einem Bed & Breakfast um die Ecke verbracht hatte, bevor er am nächsten Morgen einen Maler und Innenarchitekten angerufen hatte. Fünf Jahre als Reporter in den Krisengebieten dieser Welt hatten auch fünf Jahre Abwesenheit bedeutet, in denen sich keiner um Haus und Garten gekümmert hatte. Fünf Jahre hatte er von Regierungsumschwüngen, Revolutionen, Kriegen und Krisen berichtet, von den Dramen, die alle anderen betrafen, nur um das Drama in seinem eigenen Leben endlich vergessen zu können. Aber als er das Haus betreten hatte, war innerhalb von Sekunden alles wieder präsent gewesen. Er liebte das Haus und auch den kleinen handtuchschmalen Garten. Vor allem mochte er, dass es mitten in London lag, und es zu verkaufen würde ihm nie einfallen. Aber er wollte auch nicht jeden Tag und jede Stunde an Catherine erinnert werden oder an einer sorgsam verschlossenen Tür vorbeigehen mit dem Wissen, dass dahinter ein Kinderbett leer geblieben war.

 

Er war gespannt, was Dick Garrett aus dem Haus machen würde und hoffte nur, dass es nicht zu modern und steril werden würde, sondern seine viktorianisch verwinkelte Seele behalten durfte. Er hatte sich früher zu gern diese Pseudo-Dokus wie Wohnen nach Wunsch angesehen und sich an den Gesichtern der Leute geweidet, die von einem Zwangsurlaub in ihre völlig umgestalteten Wohnungen und Häuser zurückgekommen waren und vor der Kamera gute Miene zum Kuh-Geschmack der selbsternannten hypermodernen Innenarchitektinnen machen und entweder gleich noch einmal renovieren oder mit den Dekorationskatastrophen lila- und türkisfarbener Blumen auf dunkelbraunen Wänden oder grün-grau gestreiften Küchenschränken mit Neon-Ornamenten leben mussten. Mr. Garrett allerdings gehörte nicht in diese Kategorie. Er war dafür bekannt, dass er die Kuh im Dorf ließ, dass man im neugestalteten Haus noch wohnen konnte und es trotzdem einen eigenen Charakter hatte und auch nicht zu einem ›mein-Immobilienmakler-sagt-es-lässt-sich-so-besser-verkaufen‹ - Einheitsbeige wurde. Mr. Garrett würde das Ganze perfekt lösen und dann würde auch Ben endlich anfangen können, sein Leben wieder auf die Reihe bekommen.

 

Ben ging wieder zurück ins Wohnzimmer, wo er Abby auf dem handgewebten Teppich vor der Küchenzeile vorfand.

»Na, Abby, altes Mädchen … Abenteuer überstanden?« Ben kraulte der Hündin, die ihm inbrünstig die Hände ableckte, den Kopf. Dann schob er sie sanft in den Hof hinaus.

»Geh mal nach Hause und stinke lieber dort nach nassem Hund vor dich hin.« Grinsend schloss er die Tür und wanderte in das kleine Bad, um das Wasser für ein heißes Bad aufzudrehen, als hinter ihm die Tür aufgerissen wurde. Mit einem erschrockenen Aufschrei fuhr Ben herum.

»Erschrick mich bitte nie wieder so zu Tode, hörst du?!«, fauchte er seine Schwester an.

»Das musst ausgerechnet du sagen!« Nell funkelte ihn empört an. »Du bist kaum einen Tag hier und schon hast du dich in Lebensgefahr begeben.«

»Ally?«, fragte Ben resigniert.

»Ja, zum Glück ruft meine Schwester mich an, um mir von deinen gefährlichen Aktionen zu berichten! Du hast das ja nicht nötig, mir so etwas zu erzählen!«

»Die einzige Person in Lebensgefahr war das Mädchen.« Ben rollte mit den Augen. »Und ich, aber erst grade! In mörderischer Gefahr, zu Tode erschreckt zu werden. Darf ich jetzt baden, oder willst du kontrollieren, ob ich mich auch hinter den Ohren wasche?«

»Ben! Du bist unmöglich!«

»Und schleich dich bitte nie wieder so an. Sonst erschieß ich dich noch eines Tages, bevor ich merke, dass du es bist. Du weißt schon, da ich so lange in Angst und Schrecken vor barbarischen Horden und auf Journalisten angesetzte Killerkommandos gelebt habe, trage ich meine Waffe immer schussbereit bei mir.«

»Ben! Du hast doch nicht wirklich eine Waffe? Hier im Haus, wo Kinder sind!«

Er grinste Nell nur vielsagend an.

»Du alter Schwindler! Ich hab dir eine Tasse Tee gemacht. Steht ihm Wohnzimmer auf dem Tisch.«

»Das englische Allheilmittel. Wie hab ich eine ordentliche Tasse Tee vermisst, das ahnst du nicht! Hoffentlich mit einem ordentlichen Schuss!«

»Ben!«

Ben zog sich das T-Shirt über den Kopf und begann an dem Reißverschluss der Hose zu nesteln. Erwartungsgemäß ergriff seine Schwester sofort die Flucht.

»Ben! Ben! Ben!«, äffte er sie leise nach. »Tu dies nicht, tu dass nicht. Und vor allem keinen Schuss in deinen Tee!«

Mit einem wohligen Seufzen sank er in das heiße Wasser.

»Und du hast tatsächlich keine Vorstellung, wie sehr ich eine ordentliche Tasse Tee vermisst habe in den letzten Jahren. Und euch mit eurem Trubel und Tohuwabohu. Euch und alle anderen ... Und den Schuss im Tee ...«

 

 

3.

 

 

Ganz langsam löste sich der Nebel in ihrem Gehirn auf. Draußen war Krach. Ein Pumpen und Surren, Klappern, Piepen und Schleifen. ›Draußen‹ war weit weg, kam aber immer näher.  Ungewohnte Geräusche. Technische Geräusche. ›Nur die Schöpfung Gottes und das Werk eurer Hände sollen euch umgeben.‹ Nichts, was hierher gehörte. ›Wieso war sie sich so sicher, was hierher gehörte?‹ Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie war. Vorsichtig blinzelte sie, konnte aber nichts erkennen. Pechschwarze Nacht. In ihrem Mund steckt etwas, lang und dünn, sie musste würgten, als sie es ausspucken wollte, und doch blieb das Ding dort, wo es war. Die Nase tat fürchterlich weh. Sie wollte die Hand heben, um zur Nase zu greifen, konnte es aber nicht. Unwillig drehte sie den Kopf vom Schmerz weg, aber es half nicht. Der Druck des Dinges in ihrem Rachen wurde nur stärker. Irgendwo über ihr piepte es immer durchdringender.

Eine Hand legte sich auf ihren Arm und an ihrem Ohr erklang eine sanfte Stimme.

»Shh, alles wird gut. Wir ziehen dir nur den Beatmungsschlauch und dann ist gleich alles besser.«

Nur wenige Momente später war nach einem fürchterlich würgenden Gefühl der Druck im Hals endlich weg. Sie holte tief Luft und hätte am liebsten laut aufgeschrien, wenn sie nur einen Ton herausgebracht hätte. Der Schmerz in ihrem Brustkorb beim Einatmen war schier unerträglich. Entsetzt hielt sie die Luft an, während um sie herum immer mehr Stimmen murmelten und immer mehr Leute an ihr herumzogen. Sie riss die Augen auf, um ihre Folterknechten zu sehen, aber alles blieb dunkel.

Jemand streichelte ihre Hand und irgendetwas Langes wurde aus ihrer Nase gezogen, wodurch der Schmerz dort endlich nachließ. Sie brachte immer noch keinen Ton heraus. Ihre Kehle war knochentrocken und Schlucken tat außerordentlich weh. Warum taten die ihr das an? Was hatte sie ihnen getan, dass sie ihr so zusetzten? Konnten sie endlich Licht machen? Sie wollte sie sehen.

Alleine zu atmen war anstrengend. Schlucken war anstrengend. Jemand hielt ihr einen Becher mit lauwarmem Wasser hin und sie fand das Wasser im Mund zwar angenehm, konnte es aber kaum herunterschlucken. Wieder streichelte eine Hand ihre Wange, als sie der bleiernen Müdigkeit nachgab und sich vom Schlaf davon tragen ließ.

 

 

~~~

 

 

Der Sergeant deutete auf eine Tür am Ende des Ganges und zwinkerte ihm aufmunternd zu, bevor er kehrt machte und wieder verschwand.

Ben klopfte einmal kurz an und steckte seinen verstrubbelten Kopf durch die Tür, wo er seinen Freund an einem kleinen Schreibtisch sitzend fand.

»Hi, Mark, in was für eine Besenkammer haben die dich denn abgeschoben?«

Ben reichte ein kurzer Blick durch den engen Raum. Beigefarbene Wände, die halbhoch mit Ölfarbe gestrichen waren, um so leichter abwaschbar zu sein. Das sparte eindeutig Renovierungskosten. Auch wenn die Putzfrau die jahrzehntelang gesammelten Fingerabdrücke und Staubspuren nie abwusch. Dass aber die Möglichkeit bestand, sie könnte es in einem Anfall von überschäumenden Arbeitseifer eines Tages tun, hatte gereicht, um dieses Zimmer von einer Liste möglicher Renovierungsobjekte im Polizeirevier zu verbannen. Über Mark hing in Kopfhöhe ein uralter Heizkörper an der Wand. Wäre er unten an der Wand angebracht gewesen, hätte man einen Schreibtisch weniger in dieses handtuchschmale Zimmer stellen können, aber vielleicht wäre das auch sinnvoller gewesen, weil man sich so kaum noch einmal um sich selbst drehen konnte. Zu allem Überfluss befand sich noch ein Beistelltischchen hinter der Tür, auf dem eine Kaffeemaschine stand.

Mark bemerkte Bens Blick.

»Der Kaffee aus dem Automaten draußen im Flur ist ungenießbar.«

»Und hat vermutlich nicht genug Umdrehungen für dich.«

»Du hast es erfasst. Kaffee nur intravenös. Willst du einen? Das Baby kann von Espresso über Cappuccino bis Latte Macchiato alles was dein Herz begehrt.«

Ben nahm ihm dankbar einen doppelten Espresso ab und sah sich suchend nach einem Besucherstuhl um.

»Ich weiß.« Mark breitete entschuldigend die Arme aus. »Klein, aber mein. Nimm Carols Schreibtischstuhl, sie ist unterwegs. Die anderen sind seit Wochen mit dem Umzug in den neuen Anbau beschäftigt, aber ich hab einfach wichtigere Dinge zu tun, als Akten in Umzugskartons zu sortieren und Lagepläne von neuen Besprechungszimmern mit Flipcharts und Beamern zu studieren, um das Briefing nicht zu verpassen.«

»Du wirst trotzdem zum Briefing müssen.« Ben nippte an dem Kaffee. Dann dämmerte es ihm. »Ah, ich verstehe, Carol erledigt das für dich und kommt dann Bericht erstatten. Wie hält sie es mit dir hier drinnen aus? Darf sie elektrischen Strom und einen Computer benutzen oder muss sie noch auf Steintafeln meißeln, weil alles Technische Teufelswerk ist?«

»Jahrelange Gewöhnung?«, bot ihm Mark an.

Ben nickte wissend.

»Habt ihr schon was Neues über das Mädchen?«

»Nichts, was uns weiterhilft. Sie ist gestern operiert worden und liegt noch im künstlichen Koma. Die Spurensicherung hat an der Kleidung Haare und Hautpartikel unter den Fingernägeln sichergestellt, aber wenn ich mir deine Kratzer so am Arm angucke, ahne ich schon, woher die stammen.«

Ben hatte erst heute Morgen die bereits verschorften Kratzer auf seinem Unterarm bemerkt. Betäubt von der Kälte des Wassers hatte er gar nicht bemerkt, dass das Mädchen nach ihm gegriffen oder gar versucht hatte, sich an ihm festzuhalten. Er hob entschuldigend die Hände.

»Wenn sie die Augen nicht geöffnet hätte, ich hätte sie vermutlich gar nicht erst angefasst. Aber so konnte ich sie doch unmöglich da drin liegenlassen bis die Spurensicherung gekommen wäre.«

»Du kannst von Glück sagen, dass der Fahrer des Wohnmobils angehalten hat, um euch zu helfen. Ohne dass ihr die Kleine in die Aludecke gewickelt hättet, wäre sie wohl an Unterkühlung gestorben. Die pumpen sie im Krankenhaus grad mit Antibiotika gegen die Lungenentzündung voll.«

Ben dachte voller Dankbarkeit an den Wohnmobilfahrer auf der Küstenstraße, der angehalten hatte, als Ben wild winkend am Straßenrand gestanden hatte. Sein Handy hatte das Bad im eiskalten Wasser nicht unbeschadet überlebt, was Ben erst auf der Straße gemerkt hatte. Der Fahrer hatte sofort die Aludecke aus dem Erste-Hilfe-Kasten gezerrt, das Mädchen eingewickelt und in der Schlafkoje verstaut und Ben mit einer Wolldecke und einer Tasse heißem Tee versorgt, bis der Krankenwagen gekommen war. Einer der wenigen, der nicht schlaumeiernd selbst ins nächste Krankenhaus gefahren war, sondern auf die Sanitäter gewartet hatte, die ganz andere Möglichkeiten zur Erstversorgung in ihrem Wagen hatten und viel schneller durch den Verkehr kamen. Der Fahrer hatte es in Kauf genommen, dass Ben  und das Kind in seinem Arm sein Wohnmobil unter Wasser setzten und sie trotzdem sofort ins Trockene gebracht.

Wie zur Bestätigung von Marks Worten nieste Ben kräftig. Ganz ohne Spuren war auch an ihm das Bad im eiskalten Regenwasser nicht vorübergegangen.

»Hast du schon in den Vermisstenlisten geguckt? Sie wird doch aus der Gegend hier sein.«

»Nichts, nada. Die üblichen Verdächtigen, die immer wieder ausreißen und die wir an den immer gleichen Plätzen einsammeln, oder die Meldung gleich an die Kollegen in London weitergeben. Nichts, was auch nur einigermaßen passt.«  Mark zuckte mit den Schultern.

»Mach dir nicht zu viele Hoffnungen. Sie hat die typischen Symptome einer Drogensüchtigen, zahllose Einstichstellen, die klassische Unterernährung des letzten Stadiums, sie wird vermutlich auf dem Straßenstrich gewesen sein und wahrscheinlich auch obdachlos. Ihr verwahrloster Zustand spricht Bände in dieser Beziehung.«

»Sie ist ein Kind! Wie alt? Zehn, zwölf?«

»Sehr klein und sehr dünn für ihr Alter, aber von der Entwicklung  her mindestens vierzehn, fünfzehn.«

»Ein Kind, sag ich doch.«

»Eine jugendliche drogensüchtige Ausreißerin trifft es wohl eher.«

»Aber sie hat Eltern. Jeder hat Eltern! Die müssen sie doch vermissen!«

»Ben, komm wieder runter. Wenn die Ärzte sie aus dem Koma holen, werden wir mit ihr reden. Entweder sagt sie uns dann, wer ihr das angetan hat und wie sie heißt, oder sie hält sich das Hintertürchen offen und  verschwindet bei nächstbester Gelegenheit aus dem Krankenhaus auf direktem Weg zu ihrem Zuhälter, dem Straßenstrich und der Nadel.«

»Jemand hat sie dort absichtlich in das Abflussrohr gestopft. Sie hat sich doch nicht selbst auf den Kopf gehauen und ist dann dort reingeklettert und hat das Gitter hinter sich wieder zugemacht.«

»Ja, das wissen wir doch. Aber das Regenwasser hat uns die Spurensuche da unter der Brücke nicht gerade leichter gemacht.«

»Mist. Aber ohne dieses Unwetter wäre ich da nie runter gekrochen und dann hätte sie vermutlich nie einer gefunden.«

»Du ziehst diese Dinge magnetisch an, oder?« Mark grinste breit und erinnerte Ben daran, dass er in der Schule immer der Idiot gewesen war, der ständig unwissentlich in den dümmsten Unfug anderer geraten war und einmal in einem beispiellosen Einsatz von Mut und vor allem Dummheit zur Gaudi aller anderen statt eine zum Sprung bereite junge Frau eine Schaufensterpuppe vom Schuldach gerettet hatte. Wenn jemand in der Schule etwas vor Lehrern oder Hausmüttern hatte verstecken wollen, hatte er sicher sein können, dass Ben unbeabsichtigt darüber stolpern würde, egal wie genial das Versteck war. Und selbst wenn Ben versucht hatte, das Geheimnis seiner Kameraden zu hüten, so war er sofort beim Schwindeln für die anderen erwischt worden. Keiner seiner Schulkameraden hatte ihn je beim Planen von Streichen dabeihaben wollen und es damit begründet, dass man in diesem Falle gleich ein Schild mit ›Achtung, hier ==> ‹ hätte aufstellen können. Bei eigenen Streichen und Schandtaten war er sowieso immer erwischt worden, was ihm den Spaß an der Sache ziemlich schnell verleidet hatte. »Man sieht dir das Schwindeln auf zehn Meter Entfernung an«, hatten seine Lehrer immer behauptet und da ihn auch seine Eltern und drei nervige Schwestern immer bei allen Heimlichkeiten erwischt hatten, hatte er es irgendwann einfach aufgegeben, um den Rest seines Schullebens in Freiheit ohne ewiges Hausarrest verbringen zu können.

»Ich habe mir diese Gabe zum Beruf gemacht«, grinste Ben zurück. »Wenn ich jetzt über ein lebensbedrohendes Drama stolpere, halte ich die Kamera drauf.«

»Willst du über deine Heldentat von gestern auch berichten?« Mark sah Ben abwägend an. »Ich weiß noch nicht, ob wir das überhaupt rausgeben an die Presse. Lass uns erst mal abwarten, ob wir noch eine Vermisstenanzeige hereinbekommen oder das Mädchen uns weiterhilft.«

»Ja, klar, melde dich bitte, wenn du was Neues hast, okay?«

»Logo, die Story geht an dich, du Held.« Mit einem kurzen Winken zur Tür war Ben entlassen.

 

~~~~ 

Reichlich genervt griff Sergeant Carol Carrigan nach dem Telefon.

»Ja?«, meldete sie sich knapp.

Nicht nur, dass sie hier mit einer Menge Schreibkram saß, die überhaupt nicht mehr zu bewältigen war, und schon gar nicht, wenn sie ihre normale Arbeit nebenbei auch noch erledigen sollte, nein, den ganzen Tag klingelte dieses Telefon schon mit nervtötender Penetranz.

»Hall hier.«

Carol sah vor ihrem inneren Auge das schmale Gesicht des Laboranten, der in der Pathologie arbeitete. Sie unterdrückte ein Lachen. Noch nie hatte sie ihn ohne den Mundschutz gesehen, den er ständig trug. Sie war sich nicht sicher, ob er nur immer wieder vergaß ihn abzunehmen oder ob er schon ein fester Bestandteil seines Outfits geworden war. Und so gedämpft, wie sich seine Stimme anhörte, telefonierte er auch offenbar mit Mundschutz.

»Hallo, was gibt’s?«

»Dachte, es interessiert euch vielleicht. Heute Morgen hat mir jemand einen Sack auf den Tisch gelegt. Über und über mit Blut beschmiert. Haben die Polizisten vor Ort bei der Spurensicherung aus dem Abwasserkanal gefischt. Hat bestimmt der Cornwall-Mädchenmörder da mit reingestopft.«

»Der wer?« Carol zog die Augenbrauen hoch.

»Na, der Typ, der die Kleine, die ihr gefunden habt, so zugerichtet habt. Wenn das erst mal über alle Nachrichtenkanäle geht, braucht der doch einen Namen. Ist doch besser, wir haben dann schon einen.«

»Noch ist er kein Mörder. Sie lebt noch.« Carol schüttelte unwillig den Kopf. Hall würde die nächste Stunde kein Ende finden, wenn es in diesem Tempo weiterging.

»Und? Was ist mit dem Sack?«

»Na ja, ich hab den also hier auf den Tisch bekommen und hab mir noch gedacht: Mensch, das sieht man doch gleich, dass das kein Blut sein kann. So rot ist doch kein Blut! Wenn Blut trocknet, wird das nämlich ziemlich braun.«

Carol nickte ergeben. Es hatte keinen Sinn, Hall zu erklären, dass sich dieses Wissen ihrer Kenntnis nicht entzog. Sie hoffte, dass er schneller zum Schluss käme, wenn sie ihn nicht allzu häufig unterbrach.

»Na ja, was soll ich sagen? Ich hab das also untersucht. Und es war doch tatsächlich Blut. Wissen Sie, was Hämolyse ist? Das ist das Aufbrechen von roten Blutkörperchen bei einem Verletzungstrauma, durch den Schmerz und den Schock. Dabei tritt Hämoglobin aus, der rote Blutfarbstoff. Wenn aber jemand ein schweres und beständiges Trauma erleidet, hat die Leber keine Zeit, das Hämoglobin zu verarbeiten, sondern gibt es direkt an das Blut ab. Und dann entstehen solche grellroten Flecken, die aussehen, als ob jemand Farbe vergossen hat.«

Und? Was ist jetzt sooo interessant für mich? Carol hütete sich, ihre Gedanken laut auszusprechen.

»Und wissen Sie was? Es ist sogar von dem Mädchen. Ich hab es mit ihren Werten verglichen. Und die Fasern, die wir von ihren Wunden abgenommen haben, stimmen mit dem Sackleinen überein.«

Carol setzte sich etwas aufrechter hin.

»Sie sagen, Sie haben einen Sack, in dem sie wahrscheinlich transportiert worden ist?«

»Nicht nur transportiert. Wahrscheinlich war sie auch da drin, als sie geschlagen, getreten oder sonst was wurde. Ihre Verletzungen sind von einem oder mehreren stumpfen Gegenständen. Ich plädiere ja für mehrere, weil die Abdrücke so unterschiedlich sind. Sonst hätte der Täter die Waffe bei jedem Schlag anders anfassen müssen. Und wer macht das schon, wenn er grad so richtig in Fahrt ist?«

Bei Thomas Hall hörte es sich an, als ob er ständig Schlaginstrumente benutzte, um andere Menschen zu verprügeln, wobei es ihm furchtbar lästig erschien, sie für besondere Fälle ständig umdrehen zu müssen.

»Seid ihr fertig mit dem Sack?«

»Ja, vier Seiten Bericht mit Ergebnissen, die so allgemein sind, dass auch ihr nichts damit anfangen könnt. Außer der Tatsache, dass er zu dem Mädchen gehört. Müsst ihr die eigentlich alle Jane Doe nennen, nur weil ihr nicht wisst, wie sie wirklichen heißen? Irgendwann werd ich da mal durcheinander kommen. Na ja, hättet ihr mehr Fantasie, wärt ihr nicht bei der Polizei.«

Wahrscheinlich wären wir Laborant in der Pathologie, dachte Carol gehässig.

»Irgendwas über die Herkunft des Sackes?«

»Nein, zumindest nichts Hilfreiches.«

»Ein ganz normaler Sack? Wer hat ihn hergestellt?«

»Keine Ahnung. Er ist – halten Sie sich fest – handgewebt und handgesponnen. Aus Leinen. Aber genauer können wir die Herkunft des Leinens nicht eingrenzen. Keine Übereinstimmung mit uns bekannten Herstellern. Den kann jeder hergestellt haben, der ausgefallene Hobbys hat.«

»Kein Firmenaufdruck? Keine eingewebten Markierungen?«

»Nein, nichts. Wär mir aufgefallen.«

Carol seufzte. »Danke erst mal, vielleicht hilft uns das ein bisschen weiter.«

Sie legte den Hörer auf. Es konnte nicht allzu viele Menschen in England geben, die noch fähig waren, Leinen zu verspinnen oder einen Webstuhl besaßen. Jetzt galt es nur herauszufinden, in welchen Vereinen und Gruppen noch handwerkliches Brauchtum und Tradition gepflegt wurde und wer davon Säcke herstellte. Üblicherweise war man mit selbstgesponnenen Leinen sehr sparsam und stellte aus dem daraus gewonnenen Leinentuch eher Kleidung für die mittelalterlichen Jahrmärkte her, für die es jede Menge Besucher und Laiendarsteller gab, die sich nur zu gerne derartig verkleideten. Wer aus diesem aufwendig in Handarbeit gefertigten Stoff Säcke herstellte, verkaufte darin garantiert nichts Billiges. Oder benutzte sie nur zum Eigengebrauch. Carol tippte ›alte Handwerkstradition‹ in das Google-Suchfenster und begann, das Internet nach autarken Gruppen zu durchsuchen, die industriell hergestellte Produkte ihrer Umwelt ablehnten.

 

~~~

 

Mark griff nach dem dicken Umschlag mit den Fotos, die Carol im Krankenhaus von dem Mädchen gemacht hatte.

»Hast du schon gefrühstückt?« Carol sah von ihrem Monitor auf.

»Ja, warum?«

»Sind keine Bilder auf’n nüchternen Magen.«

»Es sind nie Bilder auf nüchternen Magen, die du machst.«

Mark blätterte die Fotos stumm durch.

»Muss ganz schön zäh sein die Kleine, dass die immer noch lebt.« Er überflog den Bericht aus dem Krankenhaus.

»Die Anzahl der Brüche kann einer Eishockeymannschaft Konkurrenz machen. Hör dir das an: doppelter Kieferbruch, Nasenbeinbruch, zwei Rippenbrüche, Schädelbasisbruch. Und dann die Liste mit verheilten alten Brüchen: Schlüsselbeinbruch, mehrere Rippen, Handgelenk und Mittelhandknochen, das muss ein alter Hundebiss sein, siehst du hier die Narben? Sie muss die Hand schon seit Ewigkeiten nicht mehr richtig bewegen können. Und das andere, da muss sich ein richtiger Perverser mit der Kleinen eine ganze Zeitlang ausgetobt haben… Narben von Peitschenstriemen auf dem Rücken, mindestens zwei Schichten und unzählige vernarbte kleine Brandwunden, auf dem ganzen Körper, von Zigaretten wahrscheinlich.«

Er legte die letzten Fotos aus der Hand, die die Schnittwunden im Gesicht des Kindes zeigten.

»Was Neues in den Vermisstenanzeigen? Die Liste der bekannten Kinderschänder und Pädophilen schon durch?«

»Nein, nichts bei. Hast du die Fotos mit den Einstichstellen in den Ellenbeugen gesehen? Fixerin. Vermutlich das gleiche Muster, wie bei den anderen auch immer: von zu Hause abgehauen, an den falschen Freund geraten, angefixt und dann auf den Strich geschickt worden. Und dann hat ein Freier oder sogar ihr Macker ab und an mal rot gesehen und zugeschlagen. Beim letzten Mal dann etwas zu stark. Hat es dann wohl mit der Angst zu tun bekommen, dass sie bei ihm abtritt und wollte sie da im Abwasserrohr krepieren lassen. Armes Schwein.«

Carol griff nach dem Krankenhausbericht. »Ach du meine Güte, schwanger ist sie auch noch. Ein Wunder, dass sie das Kind noch nicht verloren hat.«

»Vielleicht war das ja der Grund, warum ihr Macker beim letzten Mal ein bisschen fester zugeschlagen hat. Würde echt gerne wissen, womit er sie geschlagen hat.«

»Du wirst auf die Laborergebnisse warten müssen. Die sind noch nicht so weit.« Carol schob die Fotos auf dem Schreibtisch vor sich hin und her, während sie ab und eines eines griff, um es näher zu betrachten.

Mark stutzte. »Warte mal, mach noch mal zurück … Da, was ist das?« Sein Finger blieb auf einem der Bilder liegen. Carol betrachtete das Foto eingehend.

»Hm, sieht aus wie eine weitere Narbe. Ganz schön auffällig. Wenn die Mädchen nicht spuren und abhauen wollen, greifen manche Zuhälter zu solchen Strafen.«

»Ja, die zerschneiden Gesichter oder den Brustansatz«, Mark drehte das Bild mit den Schnitten im Gesicht zu sich, »aber sie machen hässliche Narben und keine kunstvollen Schnitzereien.« Er drehte das Foto, das ihn hatte stutzen lassen, zu Carol. »Das hier sieht aus wie eine Sonne mit einem großen V.«

»Das ist nicht geschnitten, das ist eingebrannt. Branding ist modern. Es gibt viele Jugendliche, die halten freiwillig still.«

»Du meine Güte. Aber ich hab das hier schon mal gesehen. Vielleicht fällt’s mir noch ein. Los, komm jetzt, wir haben’s eilig.«

~~~

 

 

Nell hatte natürlich wieder ihre Bedenken geäußert und befürchtet, Ben mache sich mit seiner Menschenliebe und Fürsorge etwas vor. Sie hatte ihm vorgeworfen, dass er in allen nur die guten Seiten sähe, und ihn gefragt, ob er in den letzten fünf Jahren nicht gelernt hätte, dass es mit Sicherheit auch das Böse in dieser Welt gäbe, Hässliches und Schmutziges.

»Ja«, hatte er ihr geantwortet. »Aber ein halbtot geprügeltes Kind von dreizehn oder vierzehn Jahren ist nicht hässlich, böse oder schmutzig. Es ist ausgenutzt und hilflos.« Und dieses Kind ist noch dazu allein, weil sich keiner darum kümmert, herauszufinden, wer es ist, hatte er bekümmert gedacht.

Und so fuhr er also jeden Tag nach Truro, um im Krankenhaus nach dem Mädchen zu sehen und Mark auf die Nerven zu gehen. Ben wusste, dass Nell es nicht so hart meinte, wie sie es gesagt hatte. Sie wollte ihn nur vor der Enttäuschung bewahren, wenn die Kleine, wie Mark unkte, das wiedergeschenkte Leben wegwerfen und sich aus dem Krankenhaus davonstehlen würde, nur um wieder auf der Straße zu landen. Und er wusste, dass Nell in ihrer Angst recht hatte. Er war gerade dabei, sein Herz an dieses Kind zu hängen. Aber die hilflosen Seelen dieser Welt hatten schon immer das Helfersyndrom in ihm ausgelöst und er fühlte sich irgendwie verantwortlich für sie.

»Nur solange, bis sie wieder zu Hause ist«, versuchte er, sich selbst zu beruhigen, als er in den Krankenhausflur einbog.

 

 

»Wo ist das Mädchen?«  Ben starrte entsetzt auf das leere Bett in der Intensivstation. Fragend sah er sich nach der nächsten Schwester um. »Wo ist das Mädchen?«

»Jane? Die ist heute Morgen aufgewacht und jetzt in der Wachstation.«

»Sie heißt Jane?« Ben wurde vor Erleichterung fast schwindelig, als er hörte, dass die Kleine doch nicht gestorben war, wie er im ersten Moment angenommen hatte. Wenn die Polizei endlich ihren Namen wusste, würden ihre Eltern vermutlich nicht allzu lange auf sich warten lassen.

»Keine Ahnung, wie sie heißt. Sie redet kaum und hat ihren Namen nicht gesagt. Die Polizei hat sie erst mal unter Jane Doe registriert.«

Ben nickte. Auf diesen Gedanken hätte er selbst kommen können. Alle Unbekannten hießen erst mal Jane oder John Doe. Aber leider hieß es auch, dass ihre Eltern vorerst nicht auftauchen würden.

»Sie machen grad alle möglichen Tests mit ihr. Und die Polizei kommt auch bald. Hoffentlich erwischen die den Dreckskerl, der das getan hat! Haben Sie gewusst, dass der Irre sie schon seit Monaten durch die Mangel gedreht hat? Sie hat den ganzen Rücken voll mit Peitschennarben, die mehrere Monate alt sind.«

Ihm drehte sich fast der Magen um, als er die Vermutungen der Schwester hörte.

»Man hört ja soviel über Kindesmisshandlungen. Vermutlich war es der Vater oder Stiefvater.« In dem sicheren Bewusstsein, ihr Wissen an den Richtigen gebracht zu haben, stolzierte die Schwester davon.

»Wenn Mark sich nicht endlich bemüht, das Schwein zu finden, such ich ihn selbst«, knurrte Ben. Er würde den Vater oder Stiefvater der Kleinen sehr genau im Auge behalten, sobald die Eltern hier auftauchten. Er würde jeden Mann sehr genau im Auge behalten, der jemals in Janes Nähe auftauchte. Mörder kehren immer an den Ort ihres Verbrechens zurück. Auch Ben hatte seinen Anteil an Kriminalliteratur gelesen. Er würde bereit sein, nahm er sich vor.

 Auf der Wachstation hatte er keine Chance. Die resolute Oberschwester entfernte jeden, der sich zu Jane vorgearbeitet hatte, nach nur fünf Minuten, damit die Kleine endlich Ruhe bekam und Ben wusste sich in der Liste der Wichtigkeit weit hinter allen Psychologen, Polizisten und Ärzten eingereiht. Mit diesem Drachen auf dem Flur hätte ein möglicherweise auftauchender Mörder, der seine Arbeit zu Ende bringen wollte, keine Chance. Eine Tatsache, die ihn durchaus beruhigte.

4.

 

Sie musste dringend aufstehen. Sie würden nicht erfreut sein, wenn sie so untätig hier herumlag, während so viel Arbeit wartete. Die Wäsche musste aufgehängt werden. Ob das Wetter morgen besser war? Dieser dauerpiepsende Lastwagen stand schon Ewigkeiten mit eingelegtem Rückwärtsgang in der Einfahrt neben dem Laden. Der Hahn krähte aber früh, es war ja noch völlig dunkel draußen. Es war so kalt und feucht im Loch. Der Mond war viel zu hell, jeder würde sie sehen können. Die Wäsche war viel zu nass zum Aufhängen. Sie musste dringend aufstehen, bevor die anderen sie fanden, wie sie untätig herumlag. Der Weizen stand hoch dieses Jahr, es würde viele Hände zur Ernte brauchen. Es war so kalt, dunkel und feucht. Wie lange war sie schon hier? Sie musste die Kerzen anzünden, um das neue Baby willkommen zu heißen. Rose quälte sich schon lange, bald war es soweit. Ohne die Gemeinschaft war sie ein Nichts. Sie musste sich unterordnen. Es regnete draußen. Und Gott ließ Manna vom Himmel regnen, um sein Volk zu versorgen. Alle zusammen sind eins.

Jane blinzelte vorsichtig, konnte aber nichts erkennen.

Es ist pechschwarze Nacht. Ihr war kalt. Das Piepsen des Lastwagens sollte hier hinten nicht zu hören sein.

Nur Gottes Natur und das Werk eurer Hände Arbeit soll euch umgeben. Sie musste sich Gottes Willen und Worte erst genug verinnerlichen bevor sie im Laden helfen durfte.

Laden? Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern, wo der Laden war.

Welcher Laden? Weit entfernt konnte sie Schritte hören, die näher kamen. Immer noch war es stockdunkel.

Die Schwester blieb kurz an Janes Bett stehen und überprüfte die Anzeigen der Geräte. Immer noch war keine Veränderung festzustellen, wenn man von dem gelegentlichen Aufbäumen des abgemagerten Körpers absah. Und dabei hätte sie schwören können, dass irgendetwas anders war.

 

Jane blieb ganz ruhig liegen und wartete, bis die Schritte verklungen waren, ehe sie wieder Luft holte. Es hatte keinen Sinn, die Augen aufzumachen. Es war zu dunkel draußen. Die Schritte waren endlich weg. Prüfend wackelte sie mit den Zehen. Am linken Bein schaffte sie es problemlos, rechts tat sich gar nichts. Sie hielt noch einmal die Luft an, damit sich ihr Herzrasen endlich beruhigte, aber es half nicht. Sie probierte es noch einmal, mit den Zehen rechts zu wackeln. Wieder nichts. Obwohl sie nichts tat, begann sie zu schwitzen.  Sie versuchte, die rechte Hand zu heben. Auch Fehlanzeige. Die linke? Konnte sie heben, aber nur ein wenig, dann stieß sie an einen Widerstand. Hatte man sie hier festgebunden? Sie zog stärker an der Hand, atmete tief ein und hielt entsetzt die Luft an, als sie ein heftiges Stechen im Brustkorb spürte. Langsam wurde sie unruhig. Sie spürte einen beginnenden Krampf im linken Bein und zog erneut keuchend die Luft ein, das Stechen in ihrer Brust ignorierte sie dieses Mal. Sie zerrte heftiger an der Hand und bekam sie ein endlich frei. Inzwischen lief ihr der Schweiß über das ganze Gesicht und der Schmerz raste durch den ganzen Körper. Der Schmerz kam von innen und hatte sich mit dem Krampf in ihrem Bein ausgebreitet. Stöhnend rang sie nach Luft, während sie versuchte, endlich diese heiße Decke von ihrem Körper zu ziehen, die förmlich auf ihrer Haut brannte. Jetzt war auch ihre rechte Seite wieder zu spüren, die Krämpfe zogen auch dort die Muskeln von Arm und Bein zusammen, allerdings konnte sie weder das Bein strecken noch die Hand heben. Sie schwitzte noch heftiger. Ihre Haut fühlte sich an, als ob sie in Flammen stünde. Wenn sie doch nur endlich etwas sehen würde. Der Schmerz explodierte förmlich in ihren Adern und endlich hatte sie genug Luft in der Lunge, um einen wimmernden Schrei auszustoßen.

 

Ben stand schockiert an der Scheibe und sah entsetzt zu, wie die Schwester den linken Arm des Mädchens wieder mit einer Binde am Gitter des Bettes festband und dann die Laufgeschwindigkeit der Infusion veränderte. Was die Schmerzen offensichtlich kaum zu lindern schien.

Es war grauenvoll genug, fand er, hier hinter der Scheibe zu stehen und nichts tun zu können. Wieder einmal zur absoluten Hilflosigkeit und zum Warten verurteilt zu sein. Warten worauf? fragte er sich bekümmert. Nell hatte irgendwie recht gehabt. Es war nicht gut, wenn ausgerechnet er in ein Krankenhaus fuhr. Es war schon vor Tagen in der Notaufnahme nicht gut gewesen und hatte ihn massiv aufgeregt, und wurde jetzt nicht besser. Er hatte nie wieder ein Krankenhaus von innen sehen wollen. Bekümmert sah er zu dem Mädchen hinüber. Die Kleine wand sich immer noch schweißüberströmt wimmernd von einer Seite auf die andere, wobei sie von der festgebundenen Hand behindert wurde.

Meine Güte, warum geben sie ihr nicht endlich etwas Stärkeres gegen die Schmerzen?