Hinter dem Vorhang - Bettina Wohlert - E-Book

Hinter dem Vorhang E-Book

Bettina Wohlert

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Beschreibung

»Das Leben geht weiter« und »Zeit heilt alle Wunden« sagt man, aber Nick zweifelt daran. Er kann diese wohlgemeinten Sprüche der anderen nicht mehr hören. Er kommt einfach nicht darüber hinweg und seine Schuldgefühle fressen ihn auf. Aber er hat sich vorgenommen, mit den Heimlichkeiten Schluss zu machen und fährt nach Salzburg. Dort will er seine Fehler eingestehen und sich Martinas Familie und vor allem Frank stellen. Lügen haben kurze Beine, lernt er und darüber hinaus, wie das mit der Vergebung funktioniert. Auch sich selber gegenüber.

Der zweite Teil von »Der Geruch von Licht«, ein Roman über Verlust und Vertrauen, und das Geheimnis des Lebens – Liebe.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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Bettina Wohlert

Hinter dem Vorhang

Band 2 zu "Der Geruch von Licht"

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Titel und Vorwort

 

 

 

 

Hinter dem Vorhang

 

von

 

Bettina Wohlert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Gericht „Asleep! O sleep a little while“ auf Seite 62 ist von John Keats (1795 - 1821), ohne Titel, aus “Extracts from an Opera”, in “Life, Letters, and Literary Remains of John Keats”, herausgegeben von Richard Monckton Milnes, London, 1848

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © by Bettina Wohlert 2015

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen außerhalb der Nutzung auf einem

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Umschlaggestaltung Bonnyb Bendix

 

 

Hinter dem Vorhang

von

Bettina Wohlert

Inhalt:

 

»Das Leben geht weiter« und »Zeit heilt alle Wunden« sagt man, aber Nick zweifelt daran. Er kann diese wohlmeinenden Sprüche der anderen nicht mehr hören. Er kommt einfach nicht darüber hinweg und seine Schuldgefühle fressen ihn auf. Aber er hat sich vorgenommen, mit den Heimlichkeiten Schluss zu machen und fährt nach Salzburg. Dort will er seine Fehler eingestehen und sich Martinas Familie und vor allem Frank stellen. Lügen haben kurze Beine, lernt er, und darüber hinaus, wie das mit der Vergebung funktioniert. Auch sich selber gegenüber.

 

Der zweite Teil von Der Geruch von Licht, ein Roman über Verlust und Vertrauen, und das Geheimnis des Lebens – Liebe.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bettina Wohlert, Jahrgang 1965, lebt mit ihren beiden Söhnen in Berlin. Hauptberuflich arbeitet sie als Rechtsanwalts- und Notariatsfachangestellte. Viele Jahre schon schreibt sie Kurzgeschichten und kleine Theaterstücke, die in Gottesdiensten für kirchenferne Besucher aufgeführt worden sind, sowie Krippenspiele der moderneren Art. Ihr erster Roman „Das Sonnenmal“ erschien 2013 und wurde mit großer Begeisterung aufgenommen.

 

Bisher erschienen:

Das Sonnenmal - 2013

Fünf-Wort-Geschichten – 2014

Der Geruch von Licht – 2015

eine Kurzgeschichte in der Anthologie: »Kurze Geschichten für zwischendurch«, 2015

Hinter dem Vorhang – 2015

Alle Bücher als eBooks auf Amazon und als Taschenbücher im Online-Shop https://supr.com/online-shop-bettina-wohlert/buecher/das-sonnenmal-taschenbuch/

 

So eine Art Vorwort

 

Zum besseren Verständnis vorweg:

Da einige Personen in diesem Buch gehörlos sind, machen sie sich durch Gebärden verständlich. Sie sind in der wörtlichen Rede mit einfachen Anführungszeichen › ‹ gekennzeichnet, um sie von dem laut gesprochenen Wort » « unterscheiden zu können.

Ich habe diese Gebärden in gedrucktem Wort in korrekter Grammatik geschrieben, um das Lesen leichter zu machen.

DGS – Deutsche Gebärdensprache – kennt konjugierte Verben, Artikel und ausformulierte Sätze nicht. Ist etwas z.B. gestern geschehen, gibt die erste Gebärde – ein Winken über die Schulter – an, dass vergangen ist, was folgend mitgeteilt wird.

Der Satz »Ich bin gestern Rad gefahren« wäre also: ›vergangen‹ ›ich‹ ›Fahrrad‹. (Wie viel Spaß dieser Ausflug gemacht hat, würde man an dem Gesichtsausdruck des Erzählenden sehen, freudestrahlend oder genervt, je nachdem).

Gehörlose verstricken sich üblicherweise nicht in langen Sätzen mit kompliziertem Aufbau, helfen ihrem Gegenüber aber durchaus mit synchronen Lippenbewegungen zu den Wörtern, die sie meinen, auf die Sprünge. Je eingespielter ein Team ist, umso weniger Gebärden sind nötig, damit man sich versteht. Weshalb sie gerne auf Gebärdendolmetscher zurückgreifen, die sie gut kennen.

Die Sprache ihrer hörenden Umgebung ist für Gehörlose wie die erste Fremdsprache, die sie mühsam lernen müssen.

1.

Nick Cameron ließ den Wagen vor der Scheune von Frank Willes Bauernhof in Grödig bei Salzburg ausrollen. Mit eckigen Bewegungen stieg er aus. Schon im Flugzeug hatte er sich gefragt, ob seine Schwägerin Melissa nicht doch recht gehabt hatte. War er wirklich schon soweit? Wie sollte er damit umgehen, wenn Frank Wille und die anderen ihn tatsächlich verurteilten? Coulter von der Mordkommission und sein Handlanger Dr. Sangster hatten das ja auch völlig skrupellos getan. Er hatte immer noch das Gesicht seines Bruders Ethan vor Augen, der ihn, noch bevor er in Linton losgefahren war, vor dem Haus auf dem Vorplatz abgefangen und ihm auf den Kopf zugesagt hatte, dass er masochistisch veranlagt sei. Es war Ethan nicht klarzumachen gewesen, dass er der Meinung war, es sei das Mindeste, was er noch tun könnte. Frank Wille war vor Wochen wutschnaubend in Nicks Büro von Films & Movies aufgetaucht. Er musste sich dem Zorn dieses Mannes stellen, ansonsten würde er für den Rest seines Lebens das Gefühl nicht mehr loswerden, ein elendiger Feigling zu sein.

Nick holte tief Luft und hoffte, dass sich sein Herzrasen legen würde, bis er Frank auf dem Hof gefunden hatte. Ein Bauer würde tagsüber kaum im Haus zu finden sein und daher begann Nick seine Suche bei den Ställen. Als er aus dem Pferdestall in den Hühnerhof trat, sah er im Obstgarten Martinas Söhne Christopher und Robin schreiend hintereinander herjagen. Die beiden Jungs, die er ebenso innig in sein Herz geschlossen hatte, wie Martina Bienert, die Frau seiner Träume, in die er sich vor langer Zeit Hals über Kopf auf den ersten Blick verliebt hatte. Und die wegen ihm ihre Jungs als Halbwaisen zurückgelassen hatte.

Das Verhältnis zwischen Martina und Frank war wohl enger gewesen, als er gedacht hatte, wenn die Jungs bei Frank waren anstatt bei ihrem Vater, oder er hatte doch recht gehabt mit seiner Vermutung, dass Frank Robins Vater war. Dann wäre es nur zu verständlich, dass die beiden hier oben in Grödig waren. Wer würde es wagen, die beiden Brüder, die gerade erst ihre Mutter verloren hatten, zu trennen?

Ein »Grüß Gott« ließ ihn herumfahren. Frank stand in der Stalltür, den Arm gegen die blendende Sonne erhoben.

»Hallo.« Nick hob grüßend die Hand, ließ sie aber auf halben Weg angesichts von Franks finsterem Blick wieder sinken.

»Du!« Frank verschlug es sichtlich die Sprache. »Was gibt’s?«, fragte er eisig, als er sich wieder gefangen hatte.

»Es tut mir leid… Ich wollte nicht stören… Aber… weil du in London warst… dachte ich…«

»Ja?«

»Also, was ich sagen wollte …« Hilflos fuhr sich Nick durch die Haare. Er wusste nicht mehr, warum er je der Meinung gewesen war, es könnte irgendwie gut oder hilfreich sein, mit Frank zu sprechen.

»Was wolltest du sagen?« Frank war überhaupt nicht bereit, Nick auch nur einen Schritt entgegen zu kommen. Er platzte fast vor Wut. Dieser Mann hatte ihn schon immer aufgeregt und er hatte noch nie verstehen können, warum Martina so viel Zeit mit ihm verbracht hatte.

»Kommst du her, weil Martina auf deine Anrufe auf dem Handy nicht mehr reagiert?« Frank merkte durchaus, dass er schrie, aber es war ihm egal.

»Siebenunddreißig Anrufe auf der Mailbox! Ich hab gedacht, ich spinne. Hast du gemeint, dass ihr das noch hilft? Ich habe diese verdammte Sim-Karte weggeworfen, dass du es nur weißt!«

Nicks Knie wurden weich. Er hatte tatsächlich auf Martinas Handy angerufen. Das erste Mal in der Nacht nach der Show, in der Kate Markham, seine damalige Freundin und langjährige Lebensgefährtin, von ihrer Schwangerschaft gesprochen hatte, als er in Martinas Hotelzimmer in London gesessen und sie verzweifelt gesucht hatte, bis er ihr Handy in ihrer Handtasche auf dem Nachttisch gefunden hatte. Aber später, als es dann schon nicht mehr geladen war, und Frank es von Inspektor Coulter wohl mit all den anderen Sachen Martinas erhalten hatte, hatte er trotzdem immer wieder angerufen und der Mailbox zugehört. Immer wieder hatte er Martinas Ansage gelauscht, weil dies die einzige Möglichkeit gewesen war, sie überhaupt noch einmal zu hören. Er hatte es einfach nicht seinlassen können, obwohl er gewusst hatte, dass es ihm alles andere als gut tat. Nick sah schuldbewusst auf den Boden.

»Ich seh schon, so durchdacht wie alles, was du bisher gesagt oder getan hast, wie? Aber ich sag dir was: Ich will überhaupt nichts hören! Was du dir da geleistet hast vor einigen Wochen war so ziemlich das Letzte!« Frank schrie immer lauter und die Hühner begannen, verängstigt zu gackern.

»Ja, ich war in London. Du kannst von Glück sagen, dass du nicht da warst. Ich hätte dich am liebsten erwürgt. Und wenn du jetzt nicht sofort vom Hof kommst, werde ich es vielleicht sogar noch nachholen.«

Nick wich langsam zurück. Abwehrend hob er eine Hand.

»Verdammt, niemand bereut mehr als ich, was passiert ist. Es tut mir leid. Ich wollte doch nur…«

»Verschwinde!« Frank machte langsam einige Schritte auf Nick zu.

»Okay, okay, ich geh ja schon.« Nick drehte sich um. Sein Blick fiel auf die beiden Jungs, die interessiert herübersahen. Als sie ihn erkannten, winkten sie ihm aufgeregt zu. Er hob den Arm und grüßte zurück.

»Lass die Jungs in Ruhe!« Franks Stimme zitterte vor unterdrücktem Zorn.

»Fahr rüber zu Hanna ins Rabengut und hol dir deinen gottverdammten Kram im Häusl ab. Ich habe ihr zwar gesagt, sie soll ihn wegwerfen, aber sie hat ihn aussortiert. Sie muss wohl geahnt haben, dass du kommst. Und dann sieh zu, dass du Land gewinnst. Und lass dir nie wieder einfallen, jemals wieder herzukommen.« Schwer atmend blieb Frank in der Hofeinfahrt stehen und sah dem roten BWM-Cabrio nach, das ziemlich rasch beschleunigte.

»Du Mistkerl, du verdammtes Schwein!« Am liebsten hätte er noch ein paar Steine hinterher geworfen, aber das kam ihm dann doch zu kindisch vor.

 

~~~

 

Es hatte ihn eine ganze Menge Kraft gekostet, zum Rabengut in Liefering bei Salzburg hinaufzufahren. Lange hatte Nick unten an der Hauptstraße im Auto gesessen und sich bemüht, seinen Herzschlag etwas zu verlangsamen, indem er konzentriert und ruhig durchatmete. Nun, als er seinen Wagen auf dem Parkplatz vor dem alten großen Bauernhaus abstellte, waren seine Hände trotzdem schon wieder schweißnass. Er hoffe nur inständig, dass Martinas Cousine Hanna Riedinger oder ihr Mann Klaus nicht auch einen solchen Aufstand machten wie Frank, sobald sie ihn sahen. Er hatte genug damit zu tun, sich soweit zusammenzureißen, dass ihn seine Gefühle nicht ganz aus der Bahn warfen.

Zögernd ging er zu dem kleinen Gartentor. Nichts hatte sich hier verändert. Der große Gartentisch für die Mahlzeiten stand immer noch unter dem Küchenbalkon und sah aus, als ob er vor kurzem noch benutzt worden war. Die Stühle waren zurückgeschoben, als ob alle nur für einen Moment verschwunden waren. Das winzige Philharmonikerhäusl, in dem Martina mit den Jungs gewohnt hatte, lag still und dunkel. Die Tür war immer noch nicht abgeschlossen, stellte Nick fest, als er probehalber die Klinke herunterdrückte. Leise trat er ein. Das Haus roch nach Stille, Staub und Einsamkeit. Früher hatte es nach frischgebackenem Brot, nach Holz und Martinas Kaffee, nach Kindergeplapper und Musik, nach Sonne und Honig gerochen, nun hatte es einen leicht muffigen Geruch angenommen. Aber nachdem es ja auch schon einige Zeit leerstand, war das nicht verwunderlich, fand Nick. Langsam ging er die zwei Stufen in das Wohnzimmer hinab und ließ seine Finger über die Bücher im Regal gleiten. Selbst nach sechs Wochen hatten Hanna und Klaus es offensichtlich noch nicht über sich gebracht, das Haus auszuräumen. Nick schaute in das Zimmer der Jungen. Selten, dass es so aufgeräumt und ordentlich war, aber sie waren bei Frank und hatten ihre Sachen vermutlich alle mitgenommen.

Er trat an das Fenster und sah auf die kleine Gasse hinaus, die direkt davor entlang führte. Das kleine Häuschen gegenüber war immer noch unbewohnt, das Zu-vermieten-Schild im Fenster nur etwas verblasster. So viele Dinge hatten sich in seinem Leben verändert, nichts war mehr so, wie noch vor ein paar Wochen, aber woanders hatte sich nichts verändert.

Auf dem Tisch stand ein offener Karton. Als Nick nähertrat, sah er das Erdbeerservice darin, das er Martina letztes Jahr zu ihrem Geburtstag geschenkt hatte. Hanna hatte offenbar doch etwas zusammengepackt, genau wie Frank gesagt hatte, und es waren ausschließlich die Sachen, die er Martina geschenkt hatte. Als ob sie sie ihm wiedergeben wollte. Er nahm eine der hauchdünnen Porzellantassen in die Hand und drehte sie hin und her. Er sah wieder Martinas sommersprossiges Gesicht vor sich, wie sie ihm erklärt hatte, dass es zwar wunderschön war, aber sinnlos teuer.

In Gedanken versunken stieg er langsam mit der Tasse in der Hand die Treppe zur Küche hinauf. Neben der Spüle stand eine Kaffeetasse und ein Teller mit Krümeln. Nick lächelte wehmütig. Sie war wie immer in Eile gewesen und hatte keine Zeit gehabt, das Frühstücksgeschirr zu spülen, bevor sie zum Flughafen aufgebrochen war, dachte er. Das in der Küche hinterlassene Chaos war so typisch für sie. Er konnte verstehen, dass Hanna es noch nicht über sich gebracht hatte, aufzuräumen. Dieser Raum atmete Martina noch immer so stark, dass er wusste, er war endlich dort angekommen, wo er sein wollte, anderseits es aber kaum noch aushielt vor Sehnsucht nach ihr und jederzeit erwartete, ihr lautes Lachen vom Garten heraufschallen zu hören. Er konnte sogar einen schwachen Hauch ihres Parfums noch riechen. Langsam ging er die Treppe wieder hinunter. Im Garten wurden die Schatten länger und die Abendsonne schien durch die Fenster von Martinas Werkstatt bis in den Garten.

Wie oft hatte er oben in Hannas vermietetem Ferienapartment am Fenster gestanden und durch dieses Sammelsurium von Fensterrahmen in die Werkstatt und den kleinen Laden gesehen. Hatte zugesehen, wie Martina den Kindern und Jugendlichen half, deren kreative Ideen umzusetzen, wie sie aus Zigarrenkistchen Banjos und Mini-Gitarren baute oder mit einer Gruppe aus alten Umschlägen und Altpapier Sammelmappen oder Scrapbooks herstellte.

Langsam öffnete er die Tür und trat in die Werkstatt. Er hatte diese Theke geliebt, ihren Verkaufstresen, der über die ganze Länge des Anbaus ging und deren Platte sie wie in dem Altstadtcafé aus gepresstem Kaffeesatz gemacht hatte. Was genau sie noch dazugemischt hatte, hatte sie ihm nie verraten, aber er hatte sie viele Abende in ihrer Werkstatt gesehen, wie sie die samtige Oberfläche wieder und wieder geschliffen und poliert hatte, damit sie glatt wurde, aber dennoch die charakteristischen Sprünge des Kaffeesatzes behielt. Die ganze Werkstatt hatte wochenlang intensiv nach Kaffee gerochen und ein schwacher Duft hing immer noch in der Luft.

Die tiefstehende Sonne schien genau durch das eine Ladenfenster auf der Straßenseite und durchflutete den gesamten Raum mit goldenem Licht. Nick ließ seinen Blick über all die kleinen Schätzchen wandern, über die er anfangs zwar gelächelt hatte, die ihn aber mehr und mehr in den Bann gezogen hatten, je mehr er Martinas Begeisterung dafür erkannt hatte.

»Des einen Abfall ist des anderen Schatz«, murmelte er leise vor sich hin. Vor sich im Schatten sah er eine hastige Bewegung und zuckte erschrocken zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass er nicht alleine im Laden war. Er blinzelte. Gegen das Licht konnte er nur eine dunkle Silhouette erkennen.

»Oh, Verzeihung, ich wollte hier nicht so hereinplatzen…«

Der Schatten erstarrte in der Bewegung.

»Was machst du denn hier?«

Nick taumelte gegen die Werkbank, weil seine Knie unvermittelt unter ihm nachgaben und die Tasse fiel leise klirrend auf den Boden. Hin und her gerissen zwischen trockenem Schluchzen und hysterischem Lachen schüttelte Nick den Kopf. Er versuchte verzweifelt Luft zu holen. Sein Gehirn spielte ihm einen Streich. Er merkte, dass er kurz davor stand, ohnmächtig zu werden.

Dass sich die Frau wie Martina anhörte, konnte Zufall sein, vielleicht war sie auch nur eine Familienangehörige, die genau wie er zwischen all den Sachen von Martina stand, um Erinnerungen nachzuhängen. Eine ihrer vielen Cousinen möglicherweise, halt nein, ihre Schwester, deren Stimme nur sehr ähnlich war! Natürlich. Martina hatte ihm erzählt, wie sie mit ihrer Schwester Musikstunden geschwänzt und sich darüber geärgert hatte, dass diese dann doch gepetzt hatte.

»Große Schwestern sind die Pest«, hatte sie kichernd gesagt, »aber kleine Schwestern sind einfach der Horror. Ich muss das wissen, ich bin eine kleine Schwester.«

Nick war erleichtert. Die Welt stand wieder still, sein logisches Denken funktionierte, sein Herzschlag beruhigte sich langsam und er konnte auch wieder atmen. Hastig bückte er sich und begann, die Scherben aufzusammeln. Er sah mit einem raschen Blick auf, bevor er vorsichtig weitere Splitter aufhob. Endlich fand er auch seine Stimme wieder.

»Es tut mir leid, äh…wirklich, ich hätte es mir denken können. Sie hat mir ja von ihrer Schwester erzählt.« Er stand mit den Scherben in der Hand auf.

»Meine Schwester?« Der Schatten stand immer noch unbeweglich, hörte sich aber irritiert an. Nick blinzelte gegen das Licht. Mehr als einen dunklen Umriss konnte er immer noch nicht ausmachen.

»Entschuldigung, ich kann es immer noch nicht fassen. Es ist echt ein Schock für mich, allein diese Ähnlichkeit in der Stimme.«

»Du kanntest meine Schwester doch gar nicht.«

»Ich … oh, Entschuldigung. Ich bin Nick. Oder Tommy, je nachdem.«

»Ich weiß doch, wer du bist.«

»Hat sie von mir erzählt?« Er wusste sonst nicht, wie er erklären sollte, warum ausgerechnet er, Nick Cameron, hier im Laden stand. Immer noch versuchte er, etwas gegen das Licht zu erkennen.

»Wer? Meine Schwester? Meine Schwester ist tot.«

»Ich weiß … es tut mir furchtbar leid, verstehen Sie. Es hat mich auch sehr tief getroffen… Sie können mich jetzt hassen und das ist Ihr gutes Recht, weil ich schuld daran bin...« Nick schluckte krampfhaft. Er fühlte sich schrecklich. Er hatte nur in der Werkstatt stehen und sehen wollen, ob Martina dort genauso spürbar war, wie oben in der Küche im Häusl. Stattdessen war er ihrer Schwester in die Arme gelaufen.

»Ich werde jetzt besser gehen und diese Scherben wegwerfen, bevor sich jemand daran verletzen kann…Ich wollte nicht stören.« Betreten drehte Nick sich um. Er wusste nicht, was er sich vorgestellt hatte, als er den Flug gebucht hatte. Vielleicht, dass Frank oder Hanna ihm ein Grab zeigten oder einen Erinnerungsstein und dass er mit ihnen sprechen konnte, darüber wie Martina gewesen war, wie sehr er sie geliebt hatte. Aber Frank hatte ihn auf das Übelste beschimpft, was er ihm kaum verdenken konnte, und diese Frau vor ihm gehörte zwar offensichtlich zur Familie, hatte sich aber bisher weder einen Schritt gerührt, noch wusste sie kaum, dass er in dem Leben ihrer Schwester existiert hatte.

»Meine Schwester ist vor acht Jahren gestorben«, sagte sie leise. »Und daran bist bestimmt nicht du schuld.«

Nick fuhr herum. »Wie war das? Wann?«

»Vor acht Jahren. Was ist denn bloß los mit dir? Was soll dieser Auftritt hier?« Endlich trat sie einen Schritt zur Seite und Nick sah entsetzt, wie sich der Schein der Abendsonne auf ihr Gesicht legte. Er sah die Sommersprossen, den geschwungenen Mund, die irritiert zusammengezogenen Augenbrauen über den bernsteinfarbenen Augen, die roten Locken, die in der Sonne wie ein Heiligenschein aufflammten. Um Nick drehte sich alles. Einerseits war er wie benommen und alles schien völlig unwirklich zu sein, andererseits waren die Farben so strahlend bunt und so klar wie nie zuvor, während die Geräusche von der kleinen Straße vor der Ladentür um ihn herum wellenartig lauter und leiser wurden.

Nick ballte seine Hände entsetzt zur Faust, riss aber die Linke mit einem Aufschrei hoch. Blut tropfte zwischen den Fingern hervor. Der Schmerz holte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Oh, Shit«, murmelte er, als er auf die Scherbe sah, die in seine Hand geschnitten hatte.

»Besser du tust die Scherben in den Abfalleimer.« Sie zeigte in die Ecke unter dem Tresen. Erstarrt stand Nick mitten in der Werkstatt, der Schnitt tat weh, aber der Schmerz hielt ihn irgendwie aufrecht. Wie in Trance hob er den Kopf und sah zu ihr hinüber. Martina. Direkt vor ihm.

»Was ist denn bloß los mit dir? Du siehst furchtbar aus.« Sie kam langsam einen Schritt näher. Mit einem Ruck drehte Nick sich um und stürzte durch den Garten hinüber ins Badezimmer des Philharmonikerhäusls.

 

~~~

 

Würgend erbrach er sich. Nachdem die Übelkeit endlich nachlassen hatte, sank Nick auf den Badewannenrand und ließ kaltes Wasser über seine zerschnittene Hand laufen. Mit der nassen Hand fuhr er sich durch das Gesicht. Jetzt ist es soweit. Nun konnte er zu Dr. Anderson zurück in die geschlossene Abteilung der Klinik in Cambridge. Endlich hatte sie einen Grund, ihn dazubehalten. Halluzinationen waren erst der Anfang. Und er hatte sogar minutenlang in der Werkstatt mit einer gesprochen. Es hatte so real gewirkt, dass er völlig erschüttert war. Er hatte eine dunkle Ahnung, wie es danach weiterging, immerhin hatte er drei Wochen Anschauungsunterricht gehabt. Erst kamen die Wahnvorstellungen, dann die Ängste und Panikattacken und schließlich die Tabletten zum Ruhigstellen, mit denen man nur noch dahinvegetierte. Und er hatte gedacht, dass es nun nach Wochen langsam besser wurde und er nicht mehr am Boden lag. Er sollte zusehen, dass er so schnell wie möglich nach Hause kam, bevor er noch in der Öffentlichkeit Halluzinationen bekam.

Stöhnend erhob er sich und trat in den engen Flur. Alles um ihn herum in diesem kleinen Haus atmete Martina. Es war kein Wunder, dass ihm seine Fantasie einen Streich gespielt hatte und ihm seine sehnlichste Wunschvorstellung vorgegaukelt hatte. Langsam ging er zur Haustür.

»Hast du was Falsches gegessen? Soll ich dir einen Tee machen?«

Auf der untersten Stufe der Treppe saß sein persönliches Gespenst, seine private Halluzination und sah ihn aufmerksam an.

Nick schüttelte entsetzt den Kopf. Er hatte nichts Falsches gegessen. Er hatte fast gar nichts gegessen. Schon weil ihm immer bei Stress oder Ärger sein Magen Probleme gemacht hatte, weil sein Magen revoltierte, sobald etwas schieflief.

»Ich glaube das nicht.« Abwehrend hob er die Hände und wich zurück. Dabei sah er, dass seine Hand immer noch blutete.

»Ich kann dir drüben in der Werkstatt ein Pflaster draufmachen.«

»Du bist doch tot…« Er blieb stehen, als er mit dem Rücken gegen die Haustür stieß. »Du bist doch von der Brücke ins Wasser… Du bist ertrunken.« Nicks Gedanken überschlugen sich. Sein Blick wanderte die Stufen vor ihm entlang, hinauf und hinunter und wieder hinauf. Kurz vor seiner persönlichen Fata Morgana blieb sein Blick wie festgenagelt auf einer Stufe hängen.

»Aber nein …« Langsam hatte er den Eindruck, einer Lösung näher zu kommen. »Sie haben die Leiche nie gefunden, nicht wahr?«, fragte er schleppend, dann zog er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Sein Magen hatte sich zu einer harten Kugel geballt, sein Herz raste. Es gab nur eine Lösung und er wollte es eigentlich nicht hören, wollte gar nichts wissen. Wollte einfach nicht hören, dass alles nur ein perfider Plan gewesen war. Und doch fragte er.

»Erklär es mir. Bitte sag, dass es eine ganz normale Erklärung dafür gibt. Sag mir, warum ich dich für tot halten sollte.« Seine Knie gaben nach und er rutschte kraftlos an der Haustür hinunter, während er Martina anstarrte, die völlig verwirrt aussah.

»Sag mir, warum du mich so bestraft hast. Das, glaube ich, war das Schlimmste, was du mir antun konntest.«

»Wie kommst du auf die Idee, ich wäre tot oder wollte, dass du das denkst? Du redest ziemlich wirres Zeug grad. Du bist das doch gewesen, der nicht schnell genug aus dem Hotelzimmer ins Studio für die Show kommen konnte.« Martina zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Du wolltest mir noch irgendwas erzählen und inzwischen weiß ich auch, was so wichtig war. Kate hat es ja in der Show verraten. Die Überraschung war übrigens perfekt gespielt, alle Achtung, beinahe hätte ich es geglaubt. Aber du hattest ja schon angekündigt, dass du mir etwas Wichtiges sagen wolltest. Und als du dich dann nie wieder gemeldet hast, war das deutlich. Das war ziemlich deutlich. Weshalb ich auch nicht verstehe, warum du jetzt hier bist.«

Nick legte sein Gesicht in die Hände.

»Gott, du warst nicht da, als ich gekommen bin, du warst die ganze Nacht nicht da. Du bist nie wiedergekommen. Ich war bei der Polizei. Zwei Leute haben gesehen, wie du von der Brücke gesprungen bist. Mein Gott, die haben dein Tuch aus der Themse gezogen. Was sollten wir denken? Du hast diese Zettel geschrieben.« Nick schüttelte verzweifelt den Kopf. »Du hast den Spiegel mit Lippenstift vollgeschrieben.«

»Welchen Spiegel?«

»Oh, nein, bitte, tu das nicht. Streite es bitte nicht ab. Ich hab es doch selber gesehen. Es war auf Deutsch, kein anderer hätte das schreiben können. Du musst das gewesen sein. Ich sollte denken, dass du dich umgebracht hast.«

»Ich habe gar keinen Lippenstift dabeigehabt.« Martina schüttelte abwehrend den Kopf. »Und warum hätte ich dich bestrafen sollen? Es ist ja wohl dein gutes Recht, mit Kate ein Baby haben zu wollen. Ich wusste doch immer, dass du eine Freundin hast.« Sie breitete bedauernd die Hände aus. »Du wirst Vater, ihr habt geheiratet, es ehrt dich, dass du es mir selber sagen wolltest. Aber du bist nicht mehr gekommen an dem Abend. Dafür ist diese Sophie Sonst-wie gekommen.«

» Kates Sophie? Sophie Wilkins?«

»Ja, diese Sophie. Sie im Hotel aufgetaucht und hat ein ziemliches Drama gemacht. Irgendein Streit mit ihrem Freund und sie wollte jemanden zum Reden. Sie hat diese Zettel geschrieben. Wir haben die Show gesehen und sie hat die ganze Zeit Whiskey getrunken. Mir ging’s überhaupt nicht gut. Mir war schlecht. Ich wollte nur noch an die frische Luft. Zwei Wochen später bin ich dann im Krankenhaus langsam aus einem furchtbaren Fiebertraum wieder aufgewacht.«

»Krankenhaus«, stöhnte Nick heiser. Wollte Martina sich allen Ernstes mit solch einer billigen Ausrede aus dieser Nummer herausreden? Konnte sie sich nicht denken, dass er sie gesucht hatte?

»Das ist nicht wahr. Ich hab alle Krankenhäuser angerufen, du kannst nicht in einem Krankenhaus gewesen sein. Die Polizei hat auch noch einmal alle überprüft.«

»Ich war fast fünf Wochen dort. Der Bruch ist relativ schnell verheilt, nur die Lungenentzündung haben sie einfach nicht in den Griff bekommen.«

»Was für ein Bruch? Und Lungenentzündung?« Nick schüttelte nur verständnislos den Kopf.

»Mich muss auf dem Weg zum Krankenhaus ein Auto angefahren haben. Ich weiß nichts mehr. Aber die Polizei war da und hat gefragt und gefragt und immer wieder Sophie gesucht. Und die Lungenentzündung…« Martina senkte betreten den Blick. »Karl war zwar der Meinung, ich hätte die von Januar schon über Monate immer wieder verschleppt, aber erst in der zweiten Woche in London sind sie dann darauf gekommen, dass sich ein Fremdkörper in der Lunge befinden musste. Ein Stück Seetang. Vom Strand damals. Eingeatmet bei dem Anfall in der Bucht.« Martina flüsterte nur noch. »Auf den Röntgenbildern war es nicht zu sehen, weil es organisch war. Sie haben Wochen gebraucht, bis sie mich wieder auf den Beinen hatten und mich nach Hause fliegen ließen.«

»Eine verschleppte Lungenentzündung?«, fragte Nick ungläubig. Er war froh, dass er hier in der Ecke saß. Seine Beine machten immer noch nicht den Anschein, als ob sie ihn tragen würde und er zitterte inzwischen am ganzen Körper.

»Vier«, sagte Martina leise. » Vermutlich Neujahr im Nachtcafé auf Iris’ Balkon geholt und dann nie wirklich weggegangen. Dazu das kalte Wasser in Newquay. Du hast mal wieder recht gehabt, wie immer.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sophie muss mich ins Krankenhaus gebracht haben.«

»Sophie soll gewusst haben, dass du im Krankenhaus warst?« Nicks Magenschmerzen verstärkten sich. »Das hört sich alles so abwegig an. Wie soll ich dir das glauben? Warum sollte Sophie ausgerechnet zu dir ins Hotel kommen? Sie kennt dich ja noch nicht mal, zumindest nicht richtig.«

Er war völlig erschlagen. Er hasste sich dafür, dass er ihr nicht uneingeschränkt glauben konnte. Für ihn klang alles, was Martina ihm gerade wie unbeteiligt erzählt hatte, weit hergeholt. Die Polizei hatte in den Krankenhäusern nachgefragt. Sie hätte sie ausfindig gemacht, wenn sie dort gewesen wäre. Sophie hätte ihm gesagt, wo Martina zu finden gewesen wäre.

Nick kam nur zu einem Schluss, dass Martina versuchte sich herauszureden, eine unwahrscheinliche Erklärung nach der anderen erfand, damit sie nicht zugeben musste, dass sie ihm etwas hatte heimzahlen wollen. Vielleicht hatte sie ihn nur erschrecken wollen, ihn für sein ewiges Zögern bestrafen wollen. Aber das war kein lustiges An-der-Nase-Herumführen mehr gewesen, allein diese Schrift auf dem Spiegel hatte ihn schockiert. So etwas schrieb man nicht im Spaß. Diese Worte hatten ihn wochenlang fix und fertig gemacht. Nick stand mühsam auf.

»Das war das Niederträchtigste, was du mir antun konntest!«, stieß er kraftlos hervor. Seine Stimme zitterte, aber das konnte er nicht ändern.

»Und dann willst du auch noch alles feige Sophie in die Schuhe schieben…« Nick brach ab. Ihm war abwechselnd heiß und kalt und sein Magen war kurz davor, erneut zu revoltieren. Er musste dringend aus diesem Haus raus. Er musste unbedingt dort weg. Weg von Martina. Was ein Witz war, dachte er. Vor noch nicht einmal zwölf Stunden hätte er gemordet für die Chance, sie noch einmal lebend zu sehen und nun stand er vor ihr und war nur völlig verwirrt, komplett durcheinander und überhaupt nicht mehr fähig, klar zu denken.

Einerseits wollte er ihr glauben, andererseits passte nichts zusammen von dem, was sie erzählt hatte. Er wollte nicht glauben, dass sie log, dass sie ihn anschwindelte, um sich aus einer Geschichte, die offenbar komplett aus dem Ruder gelaufen war, noch herauszuwinden, und doch fand er einfach keine andere Erklärung.

Er ging wie in Trance durch den Garten, am Auto vorbei und hinunter zum kleinen Bach. Er war im Moment nicht fähig zu fahren. Er musste sich bewegen. Bevor er vor Wut und Frust irgendwo gegen fuhr, einfach weil ihm danach war, etwas kaputt zu machen. Wie wütend musste Martina gewesen sein, um solch einen Satz auf den Spiegel zu schreiben, wie enttäuscht und verärgert, um all diese Zettel zu schreiben. Und wie verletzt, um mich so verletzen zu wollen, dachte er bekümmert. Die beiden Poster mussten sie auf die Idee gebracht haben. Wenn er allein daran zurückdachte, was sie ihm vor den beiden Bildern in der Galerie über unerwiderte Liebe und Herzeleid erzählt hatte, dann musste sie nach Kates Offenbarung in der Show nur einen Blick auf die Bilder werfen, um solch eine Idee zu bekommen. Und wie schnell Martina zu einer Kurzschlusshandlung austicken konnte, die sich zu einem unkontrollierten Wutanfall steigerte, wusste er auch.

Nick ging schneller. Wenn er daran dachte, wie sehr er sich die letzten Wochen gequält hatte und dabei sollte sie nur einen Steinwurf weit weg gewesen sein? In einem Krankenhaus, obwohl er dort zuerst nachgefragt hatte, die Polizei ebenfalls alle überprüft hatte? Es musste ihr doch klar sein, dass er sie gesucht hatte. Wie konnte sie nur annehmen, dass er diese Lüge nicht sofort durchschauen würde?

 

~~~

 

Eine Stunde war er ziellos durch die Stadt gelaufen, durch Straßen, die er nicht kannte, um dann doch immer wieder überraschend an Stellen herauszukommen, an denen Martina mit ihm gewesen war. Immer noch war er zwar völlig aufgewühlt, aber er war auch erschöpft. Inzwischen war er ruhig genug, dass er sich endlich auf eine Bank setzen konnte. Und so saß er auf dem Kapuzinerberg, wieder einmal auf der Bank weitab von den üblichen Touristenströmen, dort wohin ihn Martina an ihrem ersten Ausflug durch Salzburg mitgenommen hatte. Dort, wo sie ihr Eis mit der Gabel gegessen hatte und sein Denken damals nur damit beschäftigt gewesen war, wie er dieses Mädchen davon überzeugen konnte, dass er der Mann ihres Lebens war. Es war inzwischen schon fast dunkel und vom Verkehrslärm des Tages war nur noch ein leises Summen übriggeblieben. Nick schob seine Hände in die Jackentasche und stieß mit den Fingern an das kleine Kästchen, dass er am Morgen dort hineingesteckt hatte. Langsam zog er es heraus und öffnete es. In der Dämmerung war von dem Funkeln des Rubins kaum noch etwas zu erahnen, aber er wusste, dass der Stein sonst in allen Rottönen funkelte, genau wie Martinas Haare, wenn das Licht auf ihnen lag. Der Ehering seiner Großmutter. Was er eigentlich mit dem Ring vorgehabt hatte, darüber war er sich nicht so im Klaren. Wenn Hanna oder Frank ihm ein Grab oder einen Erinnerungsstein gezeigt hätten, hätte er ihn vielleicht dazugestellt.

Trotz allem, was an diesem Tag geschehen war, war er sich nach wie vor sicher, dass es außer Martina nie wieder eine Frau in seinem Leben geben würde, der er diesen Ring schenken würde.

Wie hatte er nur so dumm und naiv sein können?

Liebe auf den ersten Blick. Nick schnaubte durch die Nase. Was für ein schwachsinniges Konstrukt eines offenbar ausgesprochen zynischen Schicksals. Fast immer erwischte es ja wohl nur einen von beiden. Und Martina war direkt genug gewesen, um ihm genau das klarzumachen, dass er der eine war und nicht sie. Dass nie mehr als Freundschaft zwischen ihnen sein würde, dass sie sich lieber mit Frank herumstritt.

Er hatte sie viel zu lange durch seine rosarote Brille gesehen. Sie hatten sich oft genug gestritten, so dass er es eigentlich besser wissen musste. Aber dieses Mal war sie zu weit gegangen. Dieses Mal würde er sogar Schwierigkeiten haben, die Freundschaft aufrechtzuerhalten.

Er liebte sie noch immer, dagegen konnte er so schnell nichts tun. Und das war der Grund, warum sein Herz vor Enttäuschung über Martinas wahres feiges und hinterhältiges Ich schon wieder zerbrach. Weil sich sein naives Idealbild der von ihm geliebten Frau gerade in Nichts auflöste.

Er hatte sie in den letzten Wochen geradezu glorifiziert, sie fast zu einer Art Heiligen gemacht, obwohl er genau wusste, dass sie durchaus ihre Ecken und Kanten hatte. Aber dass sie derartig rachsüchtig sein konnte, dass sie zu solch einem Schlag ausgeholt hatte, das erschütterte ihn zutiefst.

Ethan hatte völlig recht gehabt. Wie hatte er nur jemals zulassen können, dass sie ihn derartig fertig machte? Gut, Ethan hatte Kate gemeint damals, aber seit vorhin passte es genauso gut auch auf Martina. Ob auch nur eine der beiden Frauen länger als eine Minute über ihr Handeln nachgedacht hätte, wenn der Morgen in der Badewanne erfolgreich verlaufen wäre? Ob sie überhaupt betroffen gewesen wären? Sicherlich hätte keine von ihnen auch nur annähernd ein solch erdrückendes Schuldbewusstsein gehabt, wie er. Von Kate wusste, dass sie in dieser Beziehung eiskalt sein konnte. Aber er war so unendlich enttäuscht von Martina. Er hatte sie nie im wahren Licht gesehen, schien es ihm. Vielleicht hätte er ihr irgendwann verzeihen können, wenn sie offen und ehrlich zugegeben hätte, dass sie ihn hatte bestrafen wollen, dass sie ihm hatte wehtun wollen. Aber sie hatte versucht, Sophie vorzuschieben. Sophie, die an diesem Abend gar nicht bei ihr gewesen sein konnte, weil sie wie immer ständig um Kate herumscharwenzelt war, bis diese sie entnervt weggeschickt hatte. Sophie, die jeden Tag mehr versuchte, wie Kate auszusehen und sogar diesen lasziven dunkelrot-verruchten Lippenstift trug, den Kate immer dann auflegte, wenn sie besonders sexy aussehen wollte. Wie an dem Abend der Show. Nick stockte. Endlich ließ sich der Gedanke greifen, der die ganze Zeit in seinem Hinterkopf herumgegeistert war. Dieser verdammte dunkelrote Lippenstift. Dieses Blutrot auf dem Spiegel. Die Farbe, die Martina nie tragen würde. Martina, die er erst zweimal mit einem zart beigen Lippenstift gesehen hatte.

Er riss das Telefon aus der Hosentasche und blätterte hektisch durch das Adressbuch.

»Ja?« Die Stimme hörte sich dünn und zögerlich an.

»Sophie? Ich bin’s.«

»Mr. Cameron.« Täuschte er sich, oder hörte er Resignation in der Stimme statt der üblichen aufgedrehten Betriebsamkeit, die Sophie sonst immer an den Tag legte?

»Sophie«, sagte Nick ohne Einleitung. »Erzähl mir von dem Abend bei der Comedy-Talkshow.«

»Mr. Cameron, ich… das ist so lange her… ich weiß gar nicht mehr…« Er nahm überrascht zur Kenntnis, dass sie verlegen herumstotterte.

»Erinnere dich, es ist wichtig!«, bat er.

»Mr. Cameron, es tut mir so leid… ich hätte das nicht tun dürfen…« Nick wurde heiß und kalt.

»Was… was hättest du nicht tun dürfen?« Er biss sich auf die Lippen vor Anspannung. »Wo bist du hingegangen, als Kate dich weggeschickt hat? Als sie gesagt hat, du hättest doch bestimmt noch wichtigere Dinge zu tun, als dort in den Fluren vor den Garderoben herumzuwuseln?« Nick merkte, dass er sie zu sehr unter Druck setzte und wiegelte etwas ab. »Wohin?«, fragte er etwas ruhiger.

Sophie berichtete ihm leise und anfänglich stockend davon, dass ihr Freund mit ihr Schluss gemacht hätte und sie so sauer und verzweifelt darüber gewesen war. Da Kate sie genervt weggeschickt hatte, sie aber unbedingt die Show hatte sehen wollen, war sie bei Martina im Hotel aufgekreuzt, weil sie es in der Zeit einfach nicht nach Hause geschafft hätte. Außerdem mochte sie sie und hatte gehofft, dass diese ihr ein bisschen Trost spendete in ihrem Liebeskummer.

Nick hörte ihr stumm zu, als sie ihm davon erzählte, wie versteinert Martina zuerst gewesen war, als Kate von ihrer Schwangerschaft berichtet hatte.

»Und dann, sie hat gar nicht mehr aufgehört, sich zu übergeben… und ich wusste nicht, ob das der Schreck war, wegen der Neuigkeit mit dem Baby, oder ob sie wirklich krank war. Auf alle Fälle musste sie zu einem Arzt. Sie war so heiß, hatte echt hohes Fieber und definitiv zu viel getrunken. Sie ist mehrmals minutenlang weggeblieben…«

Dieses minutenlange Wegbleiben kannte er. Es waren zwar immer nur einige Sekunden, die Außenstehenden aber wie Minuten vorkamen, wenn Martina nicht mehr reagierte. Dass diese Absencen Sophie Angst gemacht hatten, konnte er verstehen. Nick ließ Sophie einfach reden. Es hörte sich für ihn danach an, als ob sie beinahe froh wäre, endlich einen Zuhörer zu haben. Es sprudelte geradezu in einer atemberaubenden Geschwindigkeit aus ihr heraus.

»Ich hab sie da irgendwie aus dem Badezimmer herausgekriegt und wollte einen Arzt anrufen, aber sie wollte nicht. Ich bin dann mit ihr nach unten, weil sie meinte, vielleicht würde ihr die frische Luft helfen. Aber unten wurde alles nur noch viel schlimmer. Sie wollte auf die Brücke, weil sie über den Fluss gucken wollte, die Sonne ging gerade unter und es sah schön aus, aber sie hat da gestanden und ewig einfach so ins Wasser gestarrt. Sie musste dann wieder kotzen und wir haben da auf der Brücke gehockt, Gott, es war so peinlich. Und dann ist dieser dumme Schal weggeflogen. Sie hat so ein braunes Tuch dabeigehabt, das sie die ganze Zeit festgehalten hatte. Sie muss es losgelassen haben, als sie sich hingehockt hatte zum Kotzen. Es hat ausgesehen, als ob jemand von der Brücke gesprungen ist. Da waren dann Leute, die erschocken geschrien haben und zu uns gelaufen sind und ich hab Martina da einfach weggezogen, bevor die näher kommen konnten. Sie hat so entsetzlich geschwankt, sie hatte so viel getrunken. Und dann hab ich mir gedacht, es wäre nicht schlecht, wenn wir zum Krankenhaus hinübergingen. Die haben eine Notaufnahme und so weit war es ja nicht vom Hotel. Wir sind die wenigen Schritte die Straße langgegangen. Irgendwann hat sie ihren Schal vermisst und ist einfach ohne zu gucken auf die Straße gelaufen. Ich hab sie gar nicht aufhalten können.« Sophie schluchzte trocken auf.

»Sie ist vor das Auto gelaufen. Ich höre diese quietschenden Bremsen immer noch. Ich bin hingelaufen, wollte ihr helfen, der Taxifahrer und der andere, die haben doch keine Schuld gehabt. Sie war doch völlig betrunken und verwirrt. Der Taxifahrer hatte schon die Sanitäter im Krankenhaus alarmiert. Und als die dann da war, die haben mich einfach zur Seite geschoben. Ich hab mich nicht mehr getraut. Ich hatte Angst. Ich hab ihr doch den Whiskey gegeben und sie nicht zurückgehalten, als sie auf die Straße gelaufen ist. Und dann haben die sie einfach in den Krankenwagen geschoben und alles eingepackt, was da noch herumlag und da war auch meine Handtasche dabei. Die stand da noch, weil ich mich doch neben sie gekniet hatte. Und ich hatte doch Angst, dass die Polizei mich befragen würde. Und ich hätte doch nicht gewusst, was ich sagen sollte. Ich hätte denen doch sagen müssen, warum ich überhaupt bei ihr war.« Endlich verstummte Sophie.

Nick hatte Bilder vor seinem geistigen Auge, wie Martina völlig verwirrt auf die glitzernden Lichter der Autoscheinwerfer zuging. Er sah sie durch die Luft fliegen, getroffen von einem schnell heran schießenden Auto, und dann auf dem Asphalt aufschlagen. Ihm wurde schlecht. Sophies verlorene Handtasche würde erklären, warum niemand im Krankenhaus ihren Namen auf der Patientenliste gefunden hatte. Aber irgendetwas war faul an Sophies Geschichte. Was hatte sie zuletzt gesagt?

»Und was wäre das gewesen? Was hättest du der Polizei erzählen müssen?«, fragte er drängend nach.

»Ich habe Martina erzählt, dass ich mich ausheulen müsste, weil mein Freund mich verlassen hätte.« Wieder schluchzte Sophie. »Aber Kate hatte mich geschickt. Sie hat doch schon bei den Probeaufnahmen gewollt, dass alle über Martina lachen sollten. Sie war so sauer gewesen und an Ihrem Geburtstag, Mr. Cameron, da hat Martina was gesagt, dass es furchtbar peinlich sein müsste, vor so einer Kamera zu stehen und das hatte Kate auf die Idee gebracht. Sie wollte doch nur, dass alle sie anstarren, und sie so richtig dumm und hässlich aussehen soll. Es konnte doch keiner wissen, dass sie dann alle anderen übertrumpft. Kate war so stinksauer.« Sophie schluchzte erneut. Nick hörte ihr mit wachsendem Entsetzen zu.

»Und daher hat sie gesagt, ich müsse unbedingt dafür sorgen, dass sie die Show sieht und dann sofort aus London verschwindet. Und zwar möglichst mit einem riesigen Knall, einem tränenreichen Drama vor möglichst vielen Kameras. Wenn Martina angefangen hätte, richtig wütend rumzuschreien und zu toben, dann hätte ich sie rausbringen sollen, damit es möglichst viele hören. Irgendein Idiot ist immer dabei, der seine Handykamera draufhält, hat Kate gemeint. Sie wollte unbedingt, dass es mindestens auf YouTube kommt. Aber Martina hat einfach keinen Wutanfall bekommen, und da dachte ich, wenn sie irgendwas richtig Wütendes schreibt, dann hätte ich das irgendjemandem im Hotel mit einem Hinweis auf die Presse geben können. Und wir haben da auch den ganzen Block vollgeschrieben. Und ich hab das dann an den Spiegel gemalt. Ich habe es von einem der Zettel abgeschrieben, ich dachte, wenn ich das deutsche Zeugs abschreibe, dann glaubt jeder, dass sie das war. Und wenn das Zimmermädchen das sieht, dann hat sie ein gefundenes Fressen für die Presse. Aber da ist es Martina schon immer schlechter gegangen und ich wollte doch nur noch ins Krankenhaus mit ihr. Das war so nicht geplant gewesen.« Sophie war fast gar nicht mehr zu verstehen am Telefon.

»Catherine hat das gewusst? Dass Martina im Krankenhaus war?«, fragte Nick tonlos vor Entsetzen.

»Ja, natürlich. Ich hab sie doch angerufen und gefragt, was ich tun sollte, weil die doch gedacht haben, ich bin das in dem Krankenhaus, die hatten doch meine Handtasche mit dem Ausweis. Kate hat mich dann noch mal hingeschickt, damit ich mir meine Papiere hole und denen sage, dass ich nur eine Passantin war, die zufällig da war und geholfen hat und die Sanitäter aus Versehen meine Handtasche gegriffen haben. Aber ich sollte das erst nach der Pressekonferenz machen und vorher so tun, als ob ich die ganze Zeit meine Tasche suche.«

Nick wurde mit einem Mal klar, dass das der Anruf gewesen sein musste, den Kate nach der Show erhalten hatte. Sie hatte ihn ins Hotel fahren und die ganze Nacht warten lassen und ihm auch danach kein Wort davon gesagt, dass Martina im Krankenhaus war. Sie hatte ihn einfach in dem Glauben gelassen, dass die Polizei mit ihrer Selbstmordtheorie recht hatte. Wie betäubt legte Nick einfach auf. Catherine! Kate!! Kate hatte dafür sorgen wollen, dass Martina einfach verschwand. Kate, die in ihrer mörderischen Wut wieder einmal Menschen wie Marionetten missbraucht hatte, um ihn an der Stelle zu treffen, die am meisten schmerzen würde. Ihm erst das Baby vor die Nase gehalten hatte, damit Martina damit aus dem Rennen geschlagen wurde, nur um ihm dann den letzten Tritt in der Pressekonferenz zu verpassen. Kate, von der er dachte, dass er sie ein bisschen kennen würde, dass er eine ungefähre Ahnung hatte, wie sie tickte. Kate, von der er schon an seinem Geburtstag in Linton gewusst hatte, dass sie sich rächen würde, aber da noch gedacht hatte, dass er Martina vor ihr schützen könnte. Und sich dann selber nicht hatte schützen können. Kate! Kate, die über Leichen ging, um zu erreichen was sie wollte.

 

Nick wurde übel und er musste sich übergeben. Er hockte hinter der Bank und würgte wieder und wieder, bis sein Magen endlich Ruhe gab. Er war froh, dass ihn dort oben kein Mensch sehen konnte. Erschöpft ließ er sich auf die Fersen sinken und fuhr sich mit einem Taschentuch über das Gesicht.

Der Zufall hatte Kate in die Hände gespielt mit der falschen Selbstmordtheorie der Polizei, der auch er dann schließlich geglaubt hatte. Alles hatte dafür gesprochen, dass Martina sich das Leben genommen hatte. Diese unselige Schmiererei auf dem Spiegel, die Tablettenreste im Glas, Martinas Tröstetuch, das von einer Windböe ins Wasser geweht worden war. Das im Wind ausgesehen hatte, wie jemand, der von der Brücke sprang. Das Tuch, das bei ihm zuhause in der Nachttischschublade lag. Sorgfältig genäht und mit zwei neuen Flicken. Das er so oft in den letzten Wochen in der Hand gehabt hatte und das ihn so gar nicht getröstet hatte. Das ihm wie eine Schuldenlast auf der Seele gedrückt hatte, und doch hatte er es immer wieder hervorgeholt, hatte es nicht wegtun können. Er hatte sich in seinem Schmerz suhlen wollen.

Im Moment brannte in ihm nur der Wunsch, dass Sophie litt. Und vor allem Kate. Er hockte da wie erstarrt. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was Kate noch alles in seinem Leben manipuliert hatte. Und er hatte an Martinas Aufrichtigkeit gezweifelt. Wie hatte er auch nur eine Minute in Frage stellen können, ob sie ihm die Wahrheit sagte? Obwohl er doch genau wusste, dass Kate die Meisterin der verdrehten Worte und der Manipulation war. Wie hatte er nur denken können, Martina wäre genauso eiskalt und rachsüchtig?

Mühsam rappelte er sich auf. Er musste sofort zurück zu Martina, musste dringend mit ihr reden. Ihr sagen, dass er ihr jedes Wort glaubte. Dass er die Wahrheit wusste. Dass er wusste, was tatsächlich passiert war.

 

~~~

 

Er lief durch die Nacht nach Liefering zurück, er rannte und wünschte sich, er könnte fliegen, damit es schneller ging. Er hatte Herzrasen und bekam Atemnot und merkte deutlich, dass er alles andere als fit war. Immer wieder musste er anhalten und nach Luft ringen. Er hatte nicht bemerkt, dass er so weit gelaufen war und er brauchte fast eine halbe Stunde für den Rückweg. Da er seine Brieftasche im Leihwagen vor dem Häusl gelassen hatte, konnte er sich noch nicht einmal ein Taxi nehmen, obwohl er so schnell wie möglich zurück wollte. Endlich stürzte er die schmale Gasse zum Häusl hinauf, blieb dann aber unentschlossen auf dem Vorplatz stehen. Es brannte nirgends in dem Haus Licht und er zweifelte, ob Martina überhaupt noch da war. Er hoffte und betete, dass sie nicht zu Frank und ihren Kindern geflüchtet war, nachdem er sie derartig beschimpft hatte und einfach gegangen war. Wenn er zu Frank auf den Hof musste, um noch einmal mit ihr reden zu können… er wusste nicht, ob er Frank an diesem Abend noch einmal aushalten würde.

Als er vor Stunden nach ihrem ersten Erklärungsversuch, den er für gelogen und frei erfunden gehalten hatte, für eine Ausrede, aufgestanden und gegangen war, hatte er nicht einmal mehr zurückgeblickt. Er hatte ihr gesagt, dass sie niederträchtig sei. Und dabei war sie ganz offensichtlich genau solch ein Opfer von Kates Intrigen wie er.

Er hatte die Bitterkeit in ihrem Blick gesehen, den Vorwurf, dass er als Freund nicht dagewesen war, als sie Hilfe gebraucht hatte, und hatte es einfach ignoriert, weil er so empört über ihre vermeintliche Unaufrichtigkeit gewesen war, dass er gar nicht weiter darüber nachgedacht hatte, wie Martina sich gefühlt haben musste.

Was mochte ihr in den letzten Wochen im Kopf herumgegangen sein? Als sie alleine in einem Krankenhaus gelegen hatte, ohne Familie und Freunde.

Sie konnte nur zu dem Schluss gekommen sein, dass sie ihm völlig egal war. Wenn sie tatsächlich nichts mitbekommen hatte von Kates Bombe bei der Pressekonferenz, dann hatte sie die ganze Zeit annehmen müssen, dass er sie in dem Augenblick vergessen hatte, als er von Kates Schwangerschaft erfahren hatte.

~~~

 

Vorsichtig klinkte er die Tür auf.

»Mari?«, rief er leise. Seine Hand tastete zum Lichtschalter.

»Lass das Licht aus!«

Nick atmete erleichtert auf und merkte erst dabei, dass er die Luft angehalten hatte. Gott sei Dank, sie ist noch da.

Er ließ die Hand kurz vor dem Schalter wieder sinken. Martina musste irgendwo vor ihm auf der Treppe sein. Ob sie sich die ganze Zeit nicht vom Fleck bewegt hatte? Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die dichte Dunkelheit in dem kleinen Treppenhaus.

»Was willst du noch?«, fragte sie gepresst.

»Gott, Mari, ich bin so froh, dass du noch da bist.« Endlich sah er sie, ein paar Stufen höher, mitten auf der Treppe sitzend.

»Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Dass du niederträchtig seiest. Das bist du nicht. Es ist alles wahr, was du gesagt hast.«

»Woher weißt du das?« Er konnte nur an ihrer veränderten Kopfhaltung erahnen, dass sie überrascht war.

»Ich hab Sophie angerufen. Sie hat gebeichtet.«

»Sophie ist also tatsächlich da gewesen«, murmelte Martina, mehr zu sich selber. Nick hockte sich zwei Stufen unterhalb von Martina auf die Treppe. Er versuchte im Dunkeln ihr Gesicht zu sehen.

»Bitte, geh weg.« Martina drehte ihr Gesicht zur Wand. Sie wollte nicht, dass Nick sah, dass sie geweint hatte. Die ganze Zeit im Krankenhaus in London hatte sie sich zusammengenommen. Hatte die Enttäuschung über das abrupte Ende ihrer Freundschaft nicht gezeigt. Und schon gar nicht, als Frank nach Tagen im Krankenhaus aufgetaucht war. Er hatte kein Wort gesagt, kein einziges Ichhab es doch gleich gewusst. Und doch. Als er seine Hand an ihre Wange gelegt hatte, hatte sie in seinen Augen deutlich ein Genau das hatte ich dir ersparen wollen gelesen. Es war nicht nötig gewesen, dass Frank es laut gesagt hätte. Sie hatte ihn auch so verstanden, sie verstand ihm immer ohne Worte. Und doch hatte keiner sehen sollen, wie tief verletzt sie darüber gewesen war, dass Kate und das Baby so zu Nicks Lebensinhalt geworden waren, dass er sich nicht mehr gemeldet hatte. Frank hatte ihr das Handy wiedergebracht und der Stich der Enttäuschung, dass es nicht einmal eine erklärende SMS oder eine Nachricht auf der Mailbox gegeben hatte, war bitter gewesen.

Und dann war Nick vorhin einfach mit wirren Anschuldigungen bei ihr aufgetaucht und hatte sie als niederträchtige Lügnerin und Heuchlerin beschimpft. Sie hatte die letzten Stunden krampfhaft versucht, ihre Tränen zu unterdrücken und hatte es dann doch nicht geschafft. Seitdem saß sie hier im Dunkeln auf der Treppe. Und Nick sollte auf keinen Fall die Genugtuung haben zu sehen, dass sie geweint hatte. Sie war stark, sagte sie sich. Sie hatte die Wochen im Krankenhaus durchgehalten, sie würde auch jetzt durchhalten. Und auf keinen Fall würde sie ausgerechnet vor Nick erneut in Tränen ausbrechen.

Freunde kommen, Freunde gehen. Das war ihr Mantra in den letzten Wochen gewesen. Dass sie Nicks Verrat an ihrer Freundschaft tiefer traf als bei jedem anderen, lag daran, dass sie mehr für ihn empfand als Freundschaft. Aber das war ihr Problem, nicht seines.

»Geh weg!«, sagte sie noch einmal.

»Gib mir eine Chance alles zu erklären, eine halbe Stunde, bitte.«

»Lass mich alleine!« Martina starrte hartnäckig die Wand an.

»Bitte, tu das nicht«, bat er leise. »Schick mich nicht weg. Ich bitte dich nur um eine halbe Stunde. Die sollte ausreichen, dass ich eine Entschuldigung und eine Erklärung für mein Verhalten vorhin zustande bringe.« Er versuchte es mit einem kleinen Lachen, aber es blieb ihm in der Kehle stecken. Er streckte die Hand aus, um sie am Arm zu berühren, und stieß dabei gegen etwas, das laut klappernd die Treppe hinunterpolterte. Das zweite Teil fiel gegen seinen Knöchel und er konnte es gerade noch auffangen.

»Was ist das de…?«, rief er überrascht, verstummte aber schlagartig, als er erkannte, dass er eine Krücke in der Hand hielt.

»Mein Gott, du bist auf Krücken?«, fragte er entsetzt. »Seit wann …? Ach, du meine Güte, der Unfall!«

»Geh weg!«

Nick sprang auf. »Warum sitzt du hier auf der Treppe?«

»Ich sitze verdammt noch mal hier, weil es der einzige Platz in diesem verdammten Haus ist, den man nicht durch eines der verdammten scheiß Fenster sieht. Geh weg! Geh verdammt noch mal einfach weg! Du stehst im Weg!« Martina machte Anstalten aufzustehen.

»Warte, ich helfe dir!« Nick streckte die Arme nach ihr aus, um ihr hochzuhelfen, aber sie schob ihn unwirsch zur Seite.

»Fass mich nicht an! Lass mir doch bitte noch den letzten Rest meiner Selbstachtung.«

Mit einem Ruck stand sie auf und tastete sich vorsichtig die Treppe im Dunkeln hinunter. Nick trat zur Seite. Er konnte deutlich sehen, dass sie beim Gehen Schmerzen haben musste, so langsam und vorsichtig, wie sie die Stufen hinabging. Erst als sie unten im Zimmer verschwunden war, ging er langsam hinterher.

 

»Hör zu, es tut mir leid…« Verlegen fuhr er sich durch die Haare, als er in dem dunklen kleinen Zimmer stand. »Was ich vorhin gesagt habe...«

»Schon gut«, murmelte Martina.

»Nein, es ist nicht gut. Meine Güte, bitte, lass mich Licht machen. Ich kann dich kaum sehen im Dunkeln.«

Er wartete einen Moment und knipste dann einfach das Licht an, als von Martina kein Widerspruch kam. Die Lampe auf dem schmalen Tisch vor dem Bücherregal verbreitete schummriges Licht in dem kleinen Zimmer. Martina hatte sich vorsichtig mit vielen Kissen im Rücken auf ihre Schlafcouch gesetzt, aber ihr Gesicht zur Rückenlehne gedreht. Sie würde ihm genau die halbe Stunde geben, um die er gebeten hatte, aber nicht eine Minute mehr.

»Es war ein richtiger Schock vorhin, dich zu sehen. Ich bin jetzt noch völlig geschockt.« Nick rang um Worte. Neben ihm auf dem Tisch stand der Karton mit dem Teeservice. Er zog einen Bilderrahmen mit seinem Foto heraus.

»Ich sehe, du hast alles zusammengepackt«, sagte er leise. Es tat weh, aber er konnte es ihr nicht verdenken. Für Martina war er genauso schlagartig aus ihrem Leben verschwunden, wie sie aus seinem. Kein Wunder, dass sie alles weggeräumt hatte, was an ihn erinnerte.

»Frank hat angefangen, hier herumzukramen. Er sagte, besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.« Martina hoffte, dass er den enttäuschten Unterton in ihrer Stimme nicht hörte.

»Das sagt er öfter.« Nick drehte sich um und hockte sich vor ihr auf den Boden. »Und genau deshalb war ich mir so sicher, dass du das geschrieben hattest.«

»Was geschrieben?« Martina sah immer noch zur Rückenlehne und wagte nicht sich umzudrehen.

»Diese zusammengeknüllten Zettel. Sie haben im ganzen Hotelzimmer auf dem Boden gelegen. Auf einem stand genau das, was du gerade gesagt hast.«

Martina schob das Kinn trotzig vor. »Ja, verdammt, ich habe diese Zettel geschrieben. Zumindest einen Teil davon. Nenn mich jetzt niederträchtig oder hinterhältig, aber ich wollte doch nur Sophie loswerden. Ich dachte, wenn ich einfach tue, was sie sagt, dann geht sie irgendwann.« Sie sah ihn aufgebracht an, wandte ihren Kopf aber sofort wieder ab.

»Du bist nicht niederträchtig. Ich kann dich nur um Verzeihung bitten, dass ich das vorhin gesagt habe und hoffen, dass du mir das vergibst. Aber Sophie… Kate hat sie geschickt.«

»Kate? Wieso sollte sie? Sophie hatte Liebeskummer und hat sich mit diesem grässlichen Zeug betrunken.«

»Kate hat sie geschickt. Glaub mir. Sophie hat es mir selber am Telefon vorhin gesagt. Kate wollte sicherstellen, dass du dir die Show ansiehst und vor allen Dingen ihre Ankündigung des Babys mitbekommst.«

»Das ist ihr gelungen.«

»Du solltest wütend werden und Sophie sollte dich dann irgendwo hinbringen, wo möglichst viele Kameras dokumentieren würden, was ich für ein Schwein bin. Die schwangere Freundin mit einer anderen betrügen, so in der Art.«

»Ich wäre nie irgendwo hingegangen, wo Kameras sind!«

»Mari, das wissen wir beide, aber nicht Kate oder Sophie! Und genau ab da ist Kates Plan nicht mehr aufgegangen.« Nick zuckte hilflos mit den Schultern.

»Plan? Was für ein Plan?« Martina runzelte die Stirn. »Das einzige, was Kate planen wollte, war eure Hochzeit.«

»Du hast wirklich nichts mitbekommen, da im Krankenhaus, nicht wahr?«

Martina schüttelte kurz den Kopf. Nick kniete sich hin und griff nach ihren Händen.

»Bitte, schau mich an«, bat er. Martina blickte immer noch stur zur Seite.

»Mari, ich weiß auch so, dass du geweint hast und es tut mir furchtbar leid, wenn es wegen mir war. Aber bitte, schau mich an.« Widerwillig drehte Martina den Kopf.

»Kate hat zwei Tage später eine Pressekonferenz organisiert, in der sie mich dann noch einmal so richtig vorgeführt hat. Kates Baby ist nicht von mir. Sie hatte alles geplant. Wie sie dir wehtut und du mich hassen solltest, wie sie mich noch einmal so richtig verletzt, bevor sie diesen Daniel Greenfield heiratet.«

Martina starrte stur auf einen Punkt unter seinem Kinn.

»Du hast nicht einmal mehr angerufen«, flüsterte sie. »Auch wenn Sophie dafür gesorgt hat, dass wir uns im Hotel nicht mehr treffen, du hättest anrufen können.«

»Dein Handy war im Hotel.« Nick holte tief Luft und berichtete dann von der Nacht, die er wartend im Hotel verbracht hatte, von der Suche der Polizei und den Identifizierungsversuchen, von Kates Pressekonferenz, und davon, wie er nach Linton geflüchtet war.

»Ich wusste, dass du nie wieder an das Handy gehen würdest, du warst nicht mehr da, es konnte nicht geladen sein, keiner würde antworten oder zurückrufen, aber ich habe trotzdem immer wieder angerufen.«

»Frank hat mir das Handy ins Krankenhaus gebracht, es war leer.« Martina war kaum zu hören. »Es war kein Anruf in der Anruferliste und kein Nachricht auf der Mailbox.«

Nick hörte die Bitterkeit in ihrer Stimme, die bodenlose Enttäuschung.

»Es ist aber wahr. Siebenunddreißig Mal hat Frank vorhin gesagt, er muss sie gezählt haben.«

»Frank? Er soll das gewusst haben?« Endlich sah sie hoch und er konnte den Unglauben in ihrem Gesicht erkennen.

»Er hat dir eine neue SIM-Karte in das Handy getan.« Nick kam sich mies vor, als ob er petzte, aber Frank hatte sich das selber zuzuschreiben, fand er. Wenn er Martina diesbezüglich manipulieren wollte, dann sollte er auch dazu stehen.

»Ich habe deine Mailbox angerufen. In dieser einen Nacht, wieder und wieder.« Nick brach ab. Wie sollte er ihr erklären, dass er es einfach nicht geschafft hatte, damit aufzuhören? Dass er die ganze Nacht gesessen, ihrer Stimme gelauscht und dabei verzweifelt herzzerreißende Gedichte geschrieben hatte. All die Zettel, die Ethan auf dem Boden gefunden hatte. All die Zeugnisse seines gebrochenen Herzens und seiner unglaublichen Schuld. Und die ganze Nacht hatte er ihre Stimme im Ohr gehabt, leicht atemlos wie immer und so voll sprühender Lebensfreude. Am Morgen hatte er dann einfach den Gedanken nicht mehr ertragen, auch nur noch einen weiteren Tag aufzuwachen und durchstehen zu müssen in der sicheren Gewissheit, dass er daran schuld war, dass er sie nie wieder sehen würde, dass sie nicht mehr da war. Und ab diesem Moment hatte er genau gewusst, was er zu tun hatte.

Leise fuhr Nick fort, erzählte von dem Morgen in der Badewanne, von der Klinik, der Prügelei mit Ethan.

»Ethan hat einen Orden verdient. Schon dafür, dass er es einfach ertragen hat, dass ich ihm wochenlang nicht vergeben konnte. Wahrscheinlich hat er mich deshalb verprügelt.«

Martina sah ihm nach wie vor nicht ins Gesicht.

»Frank hat mich heute Nachmittag mehr oder weniger vom Hof gejagt und ich habe fast zwei Stunden gebraucht, bis ich herkommen konnte, weil ich dachte, ich halte es nicht aus. Dann, als ich dich vorhin in der Werkstatt gesehen habe …«

Er brach ab, ließ er ihre Hände los und drehte seine Handgelenke nach oben. Entsetzt sah Martina auf die roten Linien zwischen den Lederbändern hinab.

Behutsam strich sie darüber.

»Weiß Kate, was sie angerichtet hat?«, fragte sie heiser.

»Ich weiß es nicht.« Nick sah ihr aufmerksam ins Gesicht. »Ich weiß, dass mich ein Fotograf mit seiner Kamera erwischt hat, als ich aus der Klinik zurück war, aber sie haben sich zu Hause sehr bemüht, alles fernzuhalten von mir. Ich weiß nicht, wie weit das in den Medien rumgegangen ist. Und es interessiert mich auch nicht wirklich.« Er zuckte halbherzig mit den Schultern.

Seine halbe Stunde war um, es gab nichts mehr zu sagen. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, das Geräusch der tickenden Uhr war das Lauteste, was zu hören war. Und das in einem Haus, in dem sonst das Leben getobt hatte, dachte Nick betrübt.