Das Steinerne Tor - Pia Guttenson - E-Book

Das Steinerne Tor E-Book

Pia Guttenson

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Beschreibung

Schottland in heutiger Zeit. Am Strand der Insel Skye wartet seit Jahren ein Steinernes Tor auf diese beiden Menschen: Isandora und Ian. Das Schicksal hat sie dazu bestimmt, die Welt Fenmar jenseits des Tores zu retten. Doch Isandora weiß nicht, dass sie aus Fenmar stammt – bis sie in ihre einstige Heimat zurückkehrt. Der Schotte Ian MacLeod folgt ihr heimlich, nichts ahnend, dass er in eine Welt gelangt, die der seinen ähnelt und doch nicht gegensätzlicher sein könnte. Wesen wie Elfen, Elben, Zwerge und Einhörner bevölkern Fenmar, und befinden sich im Krieg gegen das albtraumhafte Volk der Moorguhls. Was tust du, wenn die Welt, wie du sie kennst, aus den Fugen gerät? Was ist, wenn du nicht die bist, für die du dich gehalten hast? Wie weit gehst du für das Leben deines Kindes und die Liebe deines Lebens? Trittst du durch das Steinerne Tor?"

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Seitenzahl: 707

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Das Buch
Die Autorin
Karte von Fenmar
Prolog
Glückliche Wendung
Wer zu tief ins Glas schaut ...!
Zuhause, wo dein Herz ist
Wo die Wurzeln der Vergangenheit ruhen
Der Widerspenstigen Zähmung
Bild Hold Fast
Das Steinerne Tor
Jagdbeginn
Von Wasser und Feen
Freund oder Feind
Gemeinsame Feinde
Flucht nach vorne
Master Hobaraks heilige Hallen
Das Karussell der Gefühle
Noch mehr Annäherungsversuche
Der Feind, den man kennt, ist besser ...
Liebe liegt im Auge des Betrachters
Glücklich die Braut, die im Mondlicht sich traut
Vorbereitungen
Die Henkersmahlzeit
Unter der Erde
Große Würmer und noch größere Wunder
Eine Frage der Herkunft
Mondschein
Amon Engwar, die kränkliche Stadt der Menschen
Eine alte Geschichte
Sklavenhändler
Ians Geschichte
Sklavenhändler 2
Ende gut - alles gut ... ?
Schottisch-Gälisch
Glossar
Für Schottland-Freunde
Mòran Taing!
Vorschau
Impressum

Impressum neobooks

Das Steinerne Tor Band 1 : Die Rückkehr

Pia Guttenson

Pia Guttenson

Silvanerweg 17

74376 Gemmrigheim

[email protected]

Covergestaltung: Basil Wolfrhine

Illustrationen: Arts & More by Cori

Copyright © 2017 Pia Guttenson

Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtschutzgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig und strafbar. Handlung und Namen dieser Geschichte sind frei erfunden. Namensgleichheiten und andere Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und stellen keine Diffamierung oder Beschuldigung dar.

Kinder sind das schwächste Glied unserer Gesellschaft.

Zu klein, um sich zur Wehr zu setzen,

werden sie misshandelt, verhungern,

fallen Verbrechen zum Opfer oder reißen von Zuhause aus.

Unerkannt, ungesehen und ungehört.

Jede Stunde sterben unzählige Kinder-

oder sie verschwinden und kehren nie wieder zurück.

Das Buch

Schottland in heutiger Zeit.

Am Strand der Insel Skye wartet seit Jahren ein Steinernes Tor auf diese beiden Menschen: Isandora und Ian.Das Schicksal hat sie dazu bestimmt, die Welt Fenmar jenseits des Tores zu retten. Doch Isandora weiß nicht, dass sie aus Fenmar stammt – bis sie in ihre einstige Heimat zurückkehrt. Und der Schotte Ian MacLeod folgt ihr heimlich, nicht ahnend, dass er in eine Welt gelangt, die der seinen ähnelt und doch nicht gegensätzlicher sein könnte. Wesen wie Elfen, Elben, Zwerge und Einhörner bevölkern Fenmar, und befinden sich im Krieg gegen das albtraumhafte Volk der Moorguhls. Was tust du, wenn die Welt, wie du sie kennst, aus den Fugen gerät? Was ist, wenn du nicht die bist, für die du dich gehalten hast? Wie weit gehst du für das Leben deines Kindes und die Liebe deines Lebens? Trittst du durch das Steinerne Tor?«

Die Autorin

Pia Guttenson wurde 1974 in Backnang im Rems-Murr-Kreis geboren und wuchs in den Dörfern Hohnweiler und Unterweissach auf. In ihrer Schule, dem Bildungszentrum Weissach im Tal, sah man Pia Guttenson in jeder freien Minute in der Bibliothek.Bücher und Schreiben war ihre große Leidenschaft. Daher ist es eigentlich seltsam, dass Pia Guttenson eine Lehre zur Friseurin machte, gefolgt von einer Ausbildung im Einzelhandel. Jedoch hörte sie nie auf zu schreiben und bis heute liest sie noch immer pro Woche zwei Bücher. Die Romanschriftstellerin bekommt Anregungen für ihre Werke aus ihrem Umfeld.Inspiration erfährt die Autorin aber auch beim Nordic-Walking in den idyllischen Weinbergen der Umgebung, beim Tanzen oder beim Bogenschiessen. Pia Guttenson liebt die keltische Kultur und hat auf Reisen ihr Herz in Schottland verloren.So wird es den Leser nicht überraschen, dass Schottland und die schottische Kultur in allen ihren Büchern eine Rolle spielen. Ferner ist Pia Guttenson auf Messen, Lesungen und Veranstaltungen anhand ihrer Tartankleider gut zu erkennen.

Mehr zu Pia Guttenson unter: http://piaguttenson.de

Für Mama,

die mir die Liebe zu Bücher

in die Wiege gelegt hat

und mich zu demMenschen gemacht hat, der ich bin.

Ich liebe dich Mama

Tha gràdh mòr agam ort, Thomas

Karte von Fenmar

Prolog

Einst – als die Welt noch jung – Zeit und Raum nur unbedeutende Worte waren. Einst – als Hexen als weise Frauen verehrt, Menschen, Einhörner, Drachen, Elben, Elfen, Zwerge und das kleine Volk (Gnome, Goblins, Sternenstaub-Elfen) noch in friedlichem Miteinander lebten und die Steinernen Tore der Welt noch für jedermann offen waren.

Zu jener Zeit erschufen der Herr der Sterne und die Ältesten der Welt sieben Schwerter – „Sternenschwerter“ genannt – geschaffen aus Meteoreisen, geschliffen von Elbenhand im Feuer der großen Drachen. Sie sollten den Frieden zwischen den Völkern Fenmars bewahren und Gut und Böse im Gleichgewicht halten.

Silelen – das Schwert der Menschen, Alcarinque – das Schwert der Elben, Carnil – das Schwert der Elfen, Elemmire – das Schwert der Einhörner, Mahtan – das Schwert der Zwerge, Nenar – das Schwert der Drachen und Soronume das Schwert des kleinen Volkes.

Doch die Elben und Elfen waren hochmütig und maßlos in ihrer Herrschaft, denn jeder wollte alleine über alle Völker Fenmars herrschen. In ihrem Hochmut erhoben sie die Schwerter gegeneinander und die Waffen zerbarsten. Das Gleichgewicht Fenmars geriet ins Wanken.

In seinem Zorn erschuf der Herr der Sterne die Krük aus Elb und Elf mit deren Hochmut, dem Hass der Menschen und der Gewalt der Zwerge. Die Völker sollten sich einen, um den Frieden untereinander wiederherzustellen, denn nur gemeinsam war dieser Feind zu bezwingen. Doch dies schlug fehl und endete in einem gewaltigen Blutbad.

Zwietracht herrschte unter den Völkern und sie verrieten sich gegenseitig. Einige Drachen flohen durch das Tor in die Menschenwelt, sie wurden dort gejagt und getötet, denn die Menschen dort verstanden ihre Sprache nicht. Von den Menschen verraten, überlebten nur wenige der Drachen.

Mit herben Verlusten auf allen Seiten trieb ein kleiner Clan der Menschen unter dem Banner des Hauses up Devlay, zusammen mit Einhörnern, Zwergen und ein paar Elben und Elfen, mithilfe des kleinen Volkes die Krük in die Moore am Ifrinns Schlund – wo sie das Moor verschlang. Das Schwert der Zwerge und das Schwert des kleinen Volkes gingen für immer in dieser Schlacht verloren. Von Nenar – dem Schwert der Drachen – fehlt jede Spur. Die Steinernen Tore in die Welt der Menschen wurden für immer geschlossen.

Doch die Gefahr war längst nicht gebannt. Die vier Lords der Noctrum hatten sich erneut erhoben und das Haus des Clans up Devlay vernichtet - bis auf ein Kind, das Sternenkind genannt, dessen sie nicht habhaft wurden. Dieses Kind wurde durch die Kraft der Liebe ihrer Mutter und Magie durch das Steinerne Tor in die Welt der Menschen geschickt, denn eine alte Prophezeiung besagt, dass sie die Welt Fenmar retten wird, um das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse zu erneuern, da die Macht der Sternenschwerter nicht länger Fenmars Hoffnung ist.

Auf Dunvegan Castle, auf der Insel Skye, hütet der Clan MacLeod seit jeher ein altes Geheimnis. Die Legende des Clans besagt: Die Frau des Chiefs John MacLeod war eine Fee und sie hat die Fairy Flag mitgebracht. Der Fairy Flag und der Macht der Fee ist es angeblich zu verdanken, dass der Clan die Zeit der Kriege und Hungersnöte ohne große Verluste überstanden hat. Die Fee und das Steinerne Tor sind die Verbindung zwischen der Welt, wie wir sie kennen und der Welt Fenmar, welche sich hinter dem Steinernen Tor verbirgt.

Glückliche Wendung

Zu einem Selbstmord braucht es vor allem eines, nämlich eine große Portion Mut.

Also, wie – verdammt noch eins – war es nur soweit gekommen? Ich war durchgefroren, dessen war ich mir sicher, aber spüren … spüren konnte ich das schon lange nicht mehr.

Eigentlich war der Kilt Rock die Sehenswürdigkeit schlechthin auf der schottischen Insel Skye, sah man mal von Dunvegan Castle ab. Von hier oben hatte man eine spektakuläre Aussicht aufs Meer und die steile Küste. Die Landschaft war ein Traum, lockte mit ihren steilen Klippen und dem wogenden Farbenspiel aus dem Blau des Meeres, dem saftigen Grün der Küste und dem Grau bis Gelb der Klippen zu jeder Jahreszeit Scharen von Touristen an.

Ich hatte selbstverständlich gewartet, bis der Touristenstrom versiegt und ich alleine hier auf dem Kilt Rock zurückgeblieben war. Lange genug hatte ich warten müssen, bis auch der letzte Japaner seine Kamera wieder eingepackt hatte und gegangen war.

Ich lachte leise auf. Kein Tourist hatte sich nah an den Abgrund getraut oder über das Geländer. Tja, ich schon. Genauer gesagt, hingen meine Beine in die endlose Leere des Kilt Rock. Über mir kreischten die Möwen und unter mir klatschten die tosenden Wellen gegen den Felsen. Es wurde zunehmend nebeliger, nicht mehr lange und die Dämmerung würde einsetzen. Erfrieren! Das wäre doch auch noch eine Möglichkeit, schoss es mir durch mein total verwirrtes Hirn.

„Ha ha ha“, lachte ich laut vor mich hin.

Die salzige Luft kitzelte meine Nase, mein Hosenboden war durchnässt vom feuchten Grün, auf dem ich saß.

Touristin zu nah am Abgrund – Stopp – alkoholisiert mit Whisky – Stopp – stürzt sich vom Kilt Rock in den Tod – Stopp

Ich sah die Schlagzeile schon in der Zeitung vor mir. Zumindest würde es keine Fotos von mir geben, da meine Überreste mit großer Wahrscheinlichkeit nicht fotogen sein würden. Zerrissen, innerlich leer, die Augen gerötet vom vielen Heulen. Himmel! Wie war ich nur auf diese absurde Idee gekommen? Was sollte sich hier schon groß ändern? Aber vielleicht war dies ja alles nur ein Albtraum.

Ich kniff die Augen fest zu und zwickte mich in den Arm. „Aua, tut das weh!“, entfuhr es mir.

Also doch kein Traum. Ich ließ mich mit geschlossenen Augen rückwärts ins Gras fallen. Bruchstückweise kam meine Erinnerung zurück. Glasgow – die Menschenmenge beim Auschecken vom Flugzeug.

Das gestelzte „Willkommen zu Hause Mrs. Georgy!“, der perfekt gestylten Blondine an der Passkontrolle. Sie hatte mich mit ihrer ganzen Art an eine dieser Barbiepuppen erinnert und unter ihrem abschätzenden Blick kam ich mir mit meinen verwaschenen Jeans und den roten Chucks regelrecht schäbig vor. Ganz zu schweigen von der überteuerten Fahrt mit dem Taxi nach Shiel Bridge. Dann zum Autoverleih – einen knallroten Mini, genau so einen hatte ich bekommen.

Und dann? Die schmale Single Track Road inmitten der Highlands. Vorbei an einem romantischen Traum aus Lochs und Glens. Zu einer anderen Zeit hatte ich diese Strecke heiß und innig geliebt, ganze Filmrollen verschossen. Doch das war in einem anderen Leben, das war eine andere Isa. Das war, bevor Sam spurlos verschwand und er – obwohl ich Himmel und Hölle in Bewegung setzte – nicht mehr zu mir zurückkam.

Ach ja – Eilean Donan Castle stieg vor meinem geistigen Auge auf – das Aushängeschild der Highlands schlechthin. Die trutzige Burg markierte mir immer den Heimweg. Früher hatten Oli und ich stundenlang auf der Mauer am Ufer des Loch Duich gesessen, den Wechsel von Ebbe und Flut am Eilean Donan Castle beobachtet oder uns über die Touristen aus all den fremden Ländern amüsiert. Vom Eilean Donan Castle war es nicht weit bis zum Kyle of Lochalsh – dort legte die Autofähre nach Kyleakin ab. Ich fuhr an den majestätischen Five Sisters und jenem Castle vorbei und kam gerade rechtzeitig zur nächsten Fährenüberfahrt am Kyle of Lochalsh an.

Und dann wäre da noch Mrs. Pomfries Bed & Breakfast in Broadford. Rosa, rosa und nochmals rosa. Teppiche in ebendieser Farbe, die jegliches Geräusch schluckten. Blümchentapeten, passende Vorhänge, selbst die Bettwäsche mit gleichem Muster und wie könnte es anders sein? In Rosa.

„Kindchen, bei mir sind Sie in den besten Händen“, höre ich sie sagen. „Wo ist denn Ihr Gepäck? Soll ich Ihnen tragen helfen, Kindchen?“

Und ihr Blick erst – als ich ihr erklärte, dass ich nur meinen Rucksack und die kleine Tasche an Gepäck dabei hatte. Bei dem Gedanken an ihre gerümpfte Nase mit der schiefen Brille darauf, die sie aussehen ließ wie eine Eule, wurde mir ein bisschen warm ums Herz.

„Kindchen! Meine Freundin Kathy ist Friseurin mit eigenem Salon, sie bringt Ihre Haarfarbe im Handumdrehen wieder in Ordnung!“

Ich hätte schreien können vor Lachen, brachte es aber nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass meine Haare tatsächlich so feuerrot waren – eine Laune der Natur, nicht die eines schlechten Friseurs. Ich hasste meine Haare. Sie waren weder glatt noch lockig, und dann diese Farbe – feuerrot. Da half auch der beste Star-Figaro der Welt nicht. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, ihr mein Drachentattoo zu zeigen, das mir vom Rücken bis zur Mitte des Oberschenkels reichte. Vermutlich würde sie in Ohnmacht fallen.

Verflixt, Isandora Georgy! Was zum Henker tust Du hier?

Der Wind nahm wieder zu und zerrte an mir. Ob es sehr wehtun würde? Bei meinem letzten Versuch hatte ich mir die Pulsadern aufgeschnitten, was damit endete, dass meine Freundin Eve mich fand (es war kein schöner Anblick) und ich beim Psychologen landete.

„Sie müssen damit abschließen und – so hart es klingt – weiterleben! Sie können es schaffen. Sam ist tot. Wenn Sie sich umbringen, wird es nicht besser!“

Springen oder springen, das ist hier die Frage. Was tue ich?

„Samy, oh Samy …“, flüsterte ich leise vor mich hin.

Ein lautes Räuspern neben mir brachte mich dazu, die Augen zu öffnen.

„Ähm, Lady. Sie sind etwas zu nah am Abgrund. Falls Sie nicht vorhaben, zu springen … würden Sie bitte etwas zurückrutschen!“

Ich sah große feste Stiefel, abgewetzte Bluejeans, ein kariertes Holzfällerhemd und das besorgte Gesicht eines Riesen, der sich über mich beugte.

„Nein!“, krächzte meine Stimme. „Nein, ich bleibe, wo ich bin!“

Ich starrte in dieses markante Gesicht mit Augen im dunkelsten Braun, das ich je gesehen hatte und hielt den Atem an.

„Ts ts. Nur schade um den guten Tropfen!“, murmelte der Riese und deutete auf die Whiskyflasche neben mir im Gras. Schließlich ließ er sich geräuschvoll neben mir nieder. „Ian Tormod Robert MacLeod, zu Ihren Diensten, Lady. Sie wollen doch nicht wirklich …?“

Er blickte skeptisch und voller Abneigung in den Abgrund und wieder zu mir.

„Also, ich ... ich ... kann Ihnen doch egal sein!“, krächzte ich mit einer Stimme, die mir nicht zu gehören schien und meine Finger umklammerten die Whiskyflasche. „Oh, ich verstehe.“

Nein, der Ansicht war ich ganz und gar nicht, ich sprach es jedoch nicht aus.

Er nahm mir den Whisky meiner Lieblingsmarke Aberlour weg. Betrachtete den Rest in der Flasche und dann mich. Der Blick dieses MacLeods spiegelte Ungläubigkeit und – wie mir schien – Missbilligung wider.

„Was, verdammt?“, fuhr ich ihn an.

„Oh, hmm… nichts.“ Er schraubte den Deckel ab und nahm einen kräftigen Schluck, den er erst im Mund behielt und dann genüsslich schluckte. Seine Augen schienen mich doch tatsächlich zu verspotten. Er sagte nichts weiter, betrachtete mich nur versonnen und ließ seinen Blick dann über den schönen Ausblick schweifen. Verflixt, dieser elendige Kerl brachte mich langsam in Rage. Er saß da, als wäre es das Normalste der Welt, mit einer Selbstmord-Kandidatin am Abgrund zu sitzen und Whisky zu trinken. Himmel, konnte man sich noch nicht mal in Ruhe umbringen?

„Zum Henker, was?“, schrie ich, zumindest dachte ich das. Allerdings hörte es sich eher wie heiseres Gebrummel an.

Ich hatte mich zu schnell aufgesetzt und die Welt begann sich um mich zu drehen. Zur gleichen Zeit umfingen mich zwei starke Männerarme und zogen mich vom Abgrund weg. Ungefähr ab demselben Moment wurde mir schlecht, wirklich sehr, sehr schlecht, was damit endete, dass ich mich in nicht endenwollenden Kaskaden übergab. Noch immer spürte ich die starken Arme, die mich sanft, aber doch energisch festhielten.

Eine raue, beruhigende Stimme an meinem Ohr flüsterte: „Whisky genießt man und eine Lady betrinkt sich nicht mit Whisky. Schade um den guten Tropfen!“

„Sch…, keine Lady!“, lallte ich.

Den Riesen schien dies nicht im Geringsten zu stören. Er lachte leise und sagte: „Ge milis amfion, tha e searbh ri dhiol!“ Was so viel bedeutete wie: Der Wein ist süß, das Zahlen bitter.

Im hintersten Winkel meines Hirns erkannte ich, dass es sich um Gälisch handelte, brachte es aber nicht fertig, irgendetwas zu erwidern. Klar, genau genommen war ich ja auch völlig betrunken. Eine warnende Stimme in meinem Kopf schrie: Du bist vollkommen wehrlos, Idiotin! Vorsichtig hoben die Arme mich hoch und gähnende schwarze Leere umfing mich.

Sie war nicht gerade leicht. Trotzdem - oder gerade deshalb fühlte sie sich so gut an in seinen Armen. Er hatte tatsächlich gedacht, dass sie springen würde. Was für eine absurde Idee, ausgerechnet vom Kilt Rock, der Traumkulisse eines jeden Touristen, springen zu wollen.

Er schätzte sie auf Mitte 30. Das Auffälligste an ihr waren die langen feuerroten Haare. Sie hatte sie zu einem Zopf gebunden, der sich langsam auflöste und etliche Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht. Das Gesicht einer Fee … Daran erinnerte sie ihn.

„O Mann, so dumm siehst du gar nicht aus, Lady! Also, wie zum Teufel bist du auf so eine Idee gekommen?“, brummte Ian vor sich hin.

Er war besudelt mit ihrem Erbrochenen. Glücklicherweise wurde ihm selbst nicht so schnell übel. Tatsächlich hatte Colin, sein Freund, dasselbe schon weitaus öfter fertiggebracht.

Lachend schüttelte er den Kopf. Zuerst hatte er sie für eine von diesen unsäglich lästigen, aber leider notwendigen, Touristen gehalten. Doch dann, als er näher zu ihr gegangen war, da war ihre Verzweiflung so greifbar und ihre Verletzlichkeit so deutlich, dass er ihr einfach helfen musste. Was hätte er auch sonst tun sollen?

A Dhia, Weiber!

Nein, er hätte sie nicht springen lassen. Schließlich war es seine Aufgabe für Ordnung zu sorgen, auf dem Land seiner Vorfahren. Einem überaus schönen, wilden Land, wie er fand. Er kümmerte sich um entflohene Schafe, fing sie wieder ein, reparierte Zäune, schnitt Bäume und gab dem Personal von Dunvegan Castle Anweisungen, sollte der Chief, sein ältester Bruder, nicht da sein. Er war der Verwalter und er liebte diesen Job. Scheinbar war sein Aufgabengebiet seit heute jedoch gewachsen: Selbstmorde verhindern!

Sie lag schwer in seinen Armen, atmete aber regelmäßig, was ihn zumindest etwas beruhigte. Der Parkplatz, mit all seinen Schlaglöchern und matschigen Pfützen und mit ihm sein alter, verbeulter Range Rover kam endlich in Sicht. Neben seinem Wagen gab es nur noch einen knallroten Mini, sonst war weit und breit kein Auto mehr zu sehen. Das war einerseits gut, hieß es doch, dass die Touristen sich endlich auf dem Heimweg in ihre Hotels oder B & B’s befanden, andererseits sah er sich einem winzigen roten Mini gegenüber.

„Daingead. Eine Konservenbüchse, was kommt sonst noch?“, fluchte Ian.

Doch zumindest zahlte sich sein Training als Schwertkampfdouble in diversen Historien-Filmen endlich einmal aus. Schließlich brauchte man fast eine Stunde für den Weg zum Kilt Rock und das ohne zusätzlichen Ballast. Sie wog zwar ein wenig mehr als seine übliche Schutzausrüstung und die Waffen, trotzdem war er nur leicht ins Schwitzen geraten.

Vorsichtig wich er den Pfützen aus und legte sie behutsam in das einigermaßen schlammfreie Gras neben dem Mini. Dort durchsuchte er ihre Jacke und förderte einen Schlüsselbund zutage. Er schloss den Mini auf und fand im Handschuhfach auf Isandora Dorothea Georgy ausgestellte Papiere.

Eine Engländerin? Eine Sassanach, nein. Halt! Ian stutzte. Geboren in Sligachan Skye, stand da.

„Aha, eine schottische Lady. Wer hätte das gedacht!“ Ian drehte sich zu ihr um. Bleich und bewusstlos lag sie da. „Dann bringen wir dich mal heim, Mylady!“

Das ins Auto setzen war noch das Einfachste, zumindest was die Lady betraf. Er fand in ihrem Geldbeutel die Adresse von Mrs. Pomfries Bed & Breakfast und ein abgegriffenes Foto eines braunhaarigen Jungen. Unter etlichen derben Flüchen brauchte er fast zehn Minuten bis er seine 1,98 m in den Mini(Baujahr 1990) gefaltet hatte, und zwar so, dass es ihm noch möglich war, mit eingezogenem Genick, an die Pedale zu kommen, ohne sie komplett durchzudrücken. Wobei er sich weiß Gott wie viele blaue Flecken und eine Beule am Kopf zuzog.

Mrs. Pomfrie war jedoch das weitaus größere Problem. Eine ältere, streng katholische Dame, mit noch strengeren Ansichten. Ein richtiger Hausdrachen, dem es gar nicht gefallen würde, wenn ausgerechnet er eine offensichtlich betrunkene Frau ablieferte. Mit Sicherheit würde sie ihm alle möglichen Schandtaten unterstellen, die er nicht begangen hatte. Zumindest nicht mit dieser Frau.

Zugegeben: Er war kein Kostverächter. Frauen gefielen ihm. Sehr sogar. Aber nicht diese hier. Sein Findling entsprach genau dem Typ Frau, der einem Mann nichts als Ärger einbrachte. Und davon hatte er in der Vergangenheit mehr als genug gehabt.

Amadain! Hast wohl immer noch nichts dazugelernt!

Mit einem Seufzer brachte er den Mini vor Mrs. Pomfries Bed&Breakfast zum Stehen, schälte sich aus dem Gefährt und machte sich daran, seinen Fahrgast aus dem Wagen zu hieven.

Wer zu tief ins Glas schaut ...!

Ein Klopfen wie von tausend Hämmern weckte mich unsanft auf.

„Kindchen, sind Sie wach?“, flötete Mrs. Pomfrie.

Ich fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch, was mir mein Kopf sofort äußerst übel nahm und mit einer Sternchenschar vor den Augen quittierte. Mit einem ordentlichen `Rums´ prallte die schwungvoll aufgestoßene Tür gegen die Wand, wo eine Delle davon zeugte, wie oft dies schon geschehen war.

„Ts, ts, ts, Kindchen, Kindchen, was machen Sie nur?“

Ich zog mir erschrocken die Decke bis zur Nasenspitze und wünschte mir sehnsüchtig ein Loch, um darin zu verschwinden. Mit mehr Lärm als meinem malträtierten Kopf zuträglich war, stellte sie klirrend ein Tablett auf meinem Nachttisch ab. Augenblicklich schwebte der Duft nach frischem Toast, Tee und Würstchen durchs Zimmer. Fast genauso schnell drehte es mir den Magen um. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie mich an und rümpfte missbilligend die Nase, sodass ihre Brille einen Moment einen Hopser machte.

„Das Beste ist, etwas zu essen Kindchen! Glauben Sie mir nur. Sie sind schon ganz grün um die Nase!“

Ich wollte schon widersprechen, aber sie ignorierte mich einfach und wuselte geschäftig durchs Zimmer. Öffnete die Blümchen - Vorhänge und sammelte unter Gebrummel meine im ganzen Zimmer verteilten Kleider auf. Moment. Meine Kleider?

Oh Gott! Meine Kleider.

Mir wurde schlagartig kalt und heiß. Verflixt! Was hatte ich überhaupt noch an? Ich hielt den Atem an. Glücklicherweise war Mrs. Pomfrie im Begriff zu gehen.

„Wenn Sie mich noch brauchen, Kindchen, zögern Sie nicht, mich zu rufen!“

Geräuschvoll fiel die Tür ins Schloss. Mit einem Ruck riss ich die Bettdecke zurück und atmete in einem lauten Seufzer aus. Zumindest war der Riese kein Lüstling. Ich hatte noch mein T-Shirt nebst Boxershorts an. Mit einem Satz war ich aus meinem Bett und an der Tür.

„Ähm, Mrs. Pomfrie, äh, wie …?“, rief ich ihr den Gang hinterher.

Mit dem Staubwedel in der Hand drehte sie sich um. „Keine Sorge, Kindchen! Mr. MacLeod war so freundlich. Nicht, dass es sich schickt, Kindchen. Aber in Ihrem Zustand, mmpf. Und ausgerechnet ein Gentleman, wie dieser Mr. MacLeod!“

Sie sah mich an wie eine Eule, die soeben dabei war eine Maus zu verspeisen. Sie musterte mich von oben bis unten. Beschämt wurde mir bewusst, dass ich ja nur ein T-Shirt und Boxershorts trug und mich zudem in einem hellen, langen Korridor befand, wo jeden Moment ein anderer Gast aus seinem Zimmer treten konnte. Schnell drehte ich mich um und knallte die Tür hinter mir zu.

„Beruhig dich!“, murmelte ich vor mich hin, wie ein Mantra. „Tief ein- und ausatmen, Isa, ganz ruhig!“

Meine Beine trugen mich nicht mehr und ich rutschte wie in Zeitlupe am harten Holz der Tür entlang zu Boden. Meine Hände krallten sich, nach Halt suchend, in den weichen, rosa Plüsch des Teppichs.

„Sam, oh Samy. Mami hat es wieder nicht geschafft“, flüsterte ich gequält und rollte mich zu einer Kugel zusammen.

Irgendwann, nach einiger Zeit, raffte ich mich auf. Der Tee war zwar nur noch lau und den Toast zwang ich trocken hinab, dennoch weckte beides meine Lebensgeister, was eine anschließende heiße Dusche noch verstärkte. Fast zu heiß, dank einer absurden Konstruktion von Mrs. Pomfrie verstorbenen Mannes, einem Klempner. Die wie folgt aussah: Man musste in eine alte Badewanne steigen, welche tatsächlich noch Löwentatzen als Beine hatte. Dort stöpselte man einen Schlauch an den Wasserhahn, drehte rechts warm und links kalt Wasser auf, betete, dass man die richtige Temperatur erwischte, und dass der Schlauch auf dem Wasserhahn blieb. Mit ganz viel Glück kam dann aus dem alten Brausekopf, der unbeweglich in die pinkfarbenen Wandplättchen betoniert war, ein dünnes Rinnsal Wasser. Wahlweise in kochend heiß oder eiskalt!

Ich beschloss, endlich nach Sligachan ins Kloster St. Mary zu fahren. Im dortigen Waisenhaus war ich aufgewachsen. Als gerade mal Dreijährige hatte Schwester Agnes mich dort am Gedenkstein des Heiligen Georgs gefunden, mit nichts am Leib als einem Hemdchen, eingewickelt in eine Babydecke. Um den Arm trug ich ein Namenskettchen mit dem Namen Isandora Dorothea. Das war vor mehr als 30 Jahren. Vom Heiligen Georg hatte ich meinen Nachnamen bekommen.

Wie oft hatte ich als Kind gefragt, ob ich nicht wenigstens einen normalen Vornamen bekommen könnte. Schwester Agnes ermahnte mich immer, mich in Demut zu üben, schließlich hätten meine Eltern mir einen Namen gegeben und es sei nicht rechtens diesen anzuzweifeln.

Im Gang pfiff Mrs. Pomfrie eine Melodie vor sich hin, was äußerst praktisch war. So wusste ich, wo sie war. Denn wenn ich eines nicht wollte, dann Mrs. Pomfrie begegnen. Leise schlich ich die frisch gebohnerte alte Holztreppe hinunter, welche absurderweise im Moment fast nackt aussah, ohne die rosa Plüschtreppenschoner. Ich kam mir vor wie mit 16 Jahren auf der Flucht vor Schwester Agnes. Für einen winzigen Moment fühlte sich mein Herz nicht an wie aus Eis.

Mein Leihwagen stand perfekt eingeparkt vor dem typischerweise mit schottischen Rosen umwucherten Cottage. Fast, als wäre der gestrige Abend nie passiert. Okay. Meine Kopfschmerzen sagten allerdings etwas anderes.

Wie hatte dieser Kerl es angestellt mich über eine Stunde vom Kilt Rock zum Auto zu schleifen? Klar, er war ein Riese, aber ich war keine Elfe.

Guter Gott, fiel es mir siedend heiß ein, hatte ich ihn tatsächlich angespuckt? Wie bedankte man sich für so etwas? Mit einem Gutschein für die Reinigung?

Was mich zu der Frage brachte: Wieso verflixt noch mal, konnte ich keinem Fettnäpfchen ausweichen? Ich sprang immer mit beiden Beinen hinein. Verflixt!

Langsam drehte ich mich zum rosenumwachsenen Cottage von Mrs. Pomfrie um. Es strahlte eine trügerische Ruhe aus mit all den Rosen, den Schmetterlingen und den summenden Bienen. Wie in einem dieser furchtbar kitschigen Rosamunde - Pilcher - Filme. Tatsächlich war ich versucht, meine kleine Reisetasche zu nehmen und einfach abzuhauen.

„Oh nein. Nein Isa, so nicht!“, machte ich mir Mut.

Na toll, jetzt fing ich an, Selbstgespräche zu führen!

Beim Einsteigen in meinen Mini stellte ich sofort fest, dass der Riese ihn gefahren hatte. Ich kam gerade noch mit Ach und Krach an die Pedale, so weit hinten war mein Sitz und der Boden war voller festgetrocknetem Schlamm.

„Ha, jetzt sind wir quitt, MacLeod. Sie schulden mir eine Autoreinigung!“, triumphierte ich. Unwillkürlich stieg in mir ein Lachen auf. Das hätte ich doch sehr gerne gesehen. Ein Riese zusammengefaltet in einem Mini! Was für ein Bild!

Mann oh Mann, was tat ich nur hier? Ich hatte Mrs. Pomfrie eine Notiz hinterlassen, nicht dass sie sich Sorgen machte. Wie lange ich in Sligachan blieb, war schließlich noch völlig unklar. Im Moment war die Ortsmitte von Broadford mein Ziel. Ich wollte bummeln und mir über einiges klar werden. Mein Kopf glich im Augenblick einem Schweizer Käse, voller Löcher und mein Herz fühlte sich an wie der Eisberg, an dem die Titanic zerschellt war. Absolut tolle Aussichten also!

Zur selben Zeit traf sich Ian MacLeod, wie jeden Mittag, mit Colin MacCrimmon zum Essen im Golden Lion. In dem urigen Dorf-Pub trafen sie sich schon, seit sie zum ersten Mal in ein Pub durften, was schon etwas länger her war.

Es herrschte reges Treiben, da das Essen von Donnie, dem Koch sehr schmackhaft und die Portionen reichlich waren. Außerdem war die Atmosphäre besonders heimelig. Die alten Eichentische, das schummrige Licht, die bequemen Holzbänke mit den unzähligen, selbst bestickten Zierkissen und zu guter Letzt Harry und Molly Grant, das Wirtspaar, die Seelen des Pubs.

Heute jedoch stand das Essen unberührt vor Ian auf dem Tisch, und auch sein Bier schien ihm nicht zu schmecken. Colin hatte den Kopf in die Hand gestützt und beobachtete mit fragend gehobenen Augenbrauen seinen Freund. Ian bemerkte es nicht. Lustlos stocherte er in seinem Essen herum. Das war Colin überhaupt nicht gewohnt. Für gewöhnlich war Ian mehr als gesprächig und sie unterhielten sie sich über Gott und die Welt.

„Also gut mo charaid, was ist los? Spuck es aus, Mann!“

Ian sah Colin erschrocken an.„Nichts, alles in Ordnung. Mir geht es gut“, brummte er.

„Also, wen glaubst du, hast du vor dir? Ich sehe es dir an der Nasenspitze an. Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?“

Ian zeigte nicht den Hauch einer Reaktion. Er war damit beschäftigt, nachdenklich in sein Bier zu starren.

„Erde an Mac! Hörst du mich?“

„Hm, es ist nichts, okay?“, kam die mürrische Antwort.

„Oh, na klar. Siehst ja nur aus wie Betty Morris’ Katze, wenn sie nass wird, hmpf!“

„Is’ was mit dem Essen?“, meldete sich nun auch Harry hinter seinem Tresen.

„Nein, verdammt! Kann man nicht mal in Ruhe nachdenken?“, brauste Ian auf.

„Ha, seit wann denkt der nach?“, mischte sich Harry erneut ein, während er ein Glas abtrocknete, besann sich aber schnell anders, als Ians böser Blick ihn traf.

„Sag mal Mac, hast du plötzlich Bammel vor deinen Auftritten? Oder is’ es nich’ wegen Samstag?“, fragte Colin mit vollem Mund und stieß Ian über den Tisch aufmunternd gegen die Schulter. Tatsächlich hatten sie beide mehrere musikalische Auftritte und einen Schaukampf mit historischen Schwertern, dem Höhepunkt im Programm der alljährlichen Sommersonnwendfeier auf Dunvegan Castle. In beiden Dingen waren sie von Kindesbeinen an Profis.

„Also, äh … nein, die Antwort lautet: nein. Für Lampenfieber bin ich zu alt.“

Colin hob skeptisch die Augenbrauen und sah Ian durchdringend an.

Ian begegnete dem Blick seines Freundes und fragte sich im Stillen, wieso ihm dieses eine, verfluchte Frauenzimmer nicht mehr aus dem Kopf ging.

Colin zog ungefragt Ians unberührten Teller zu sich herüber. „Du gestattest?“

Ian wedelte zustimmend mit der Hand und kratzte sich gedankenverloren am Kopf. „A Dhia, verflixtes Weib!“, brummelte er.

Colin spitzte die Ohren.„Ha, ach so ist das!“ Ein verschmitztes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Und wer ist es diesmal? Kenne ich die Arme?“ Er zeichnete eine üppige Frauenform in die Luft. „Lass mich raten. Molly Fraser vielleicht oder eine der Monrose - Zwillinge? Doch nicht gleich alle zwei auf einmal, oder?“, fragte er gespielt entrüstet.

Harry hinter dem Tresen lachte laut auf. Ian warf ihm einen derart giftigen Blick zu, der nicht nur Harry, sondern auch Colin zum Verstummen brachte.

Ian konnte Colin allerdings kaum vorwerfen, dass er ihn mit seiner Wirkung auf die Frauenwelt aufzog. Er war kein Kostverächter. Ganz und gar nicht. Die Jagd machte ihm Spaß. Wenn er es darauf anlegte, konnte er mit seinen zwei Metern, dem durchtrainierten Körper, dem keltisch markanten Gesicht und den langen, dunkelbraunen Haaren jede Frau zu fast allem überreden. Und wenn das immer noch nicht genügte, sang er ihnen mit seinem tiefen, ein wenig rauen Bariton ein keltisches Liebeslied vor. Spätestens dann lag ihm jede Frau zu Füßen. Warum sollte er, verdammt noch mal, ablehnen, was sie ihm freiwillig anboten?

Weil es niemals genug war. Weil es das Loch in seinem Herzen nicht füllte. Weil es nicht das war, wonach er sich sehnte.

Ian hatte gelernt, die mitleidigen Blicke seiner Nachbarn zu ignorieren. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Ihm war das gleichgültig. Er nahm sich die Frauen, die ihm gefielen- und zur Hölle mit `für immer´ und `bis dass der Tod euch scheidet´. Er hatte allen Grund sein Leben zu genießen. Ja, den hatte er.

Mit vor der Brust verschränkten Armen musterte Ian seinen Freund. Colin war das krasse Gegenteil von ihm. Einen ganzen Kopf kleiner, fiel er durch sein nordisches Aussehen mit den blonden Haaren und den durchdringenden blauen Augen jedoch nicht minder auf. Und im Gegensatz zu ihm war er bereits seit Jahren in festen Händen.

Ihn hatte man nicht vor dem Altar stehen lassen. Ihn hatte niemand vor all seinen Freunden und der eigenen Familie aufs Übelste gedemütigt.

Mit Sarah hatte Colin seine Seelenverwandte gefunden und sie hatte ihm zwei Kinder geschenkt. Sie waren verdammt glücklich miteinander.

„Na, rede schon, oder muss ich dir neuerdings alles aus der Nase ziehen?“

Eigentlich hatte Ian nicht die geringste Lust über die Geschehnisse der letzten Nacht zu reden. Allerdings würde ein Colin MacCrimmon auch nicht locker lassen. Seine Gefühle dieser Fremden gegenüber machten ihm ernsthaftes Kopfgrimmen. Schließlich fing er doch an und erzählte Colin von dem vergangenen Abend.

„Eine Stunde über Stock und Stein. Wow! Ich wusste ja gar nicht, was für ein Gentleman in dir steckt!“, sagte Colin mit einem Hauch von Bewunderung.

„Äh, sie war nicht so schwer und ich bin ja nicht gerade der Schmächtigste“, antwortete Ian. Als er Colin von ihrem roten Mini erzählte, lachte dieser schallend los.

„Ha, ha, ha, das hätte ich doch zu gerne gesehen. Wie ein Hecht in der Sardinenbüchse, a Dhia!“

Vor Lachen standen Colin Tränen in den Augen, so amüsierte er sich.

Was Ian nicht erzählte, war, dass er sie bis auf T-Shirt und Boxershorts ausgezogen hatte. Ihr Anblick hatte ihn fast umgehauen. Genauso wenig erwähnte er ihren Duft. Unter dem säuerlichen Geruch nach Erbrochenem roch sie nach ... Vanille, Honig und der Erde vom Kilt Rock. Sie hatte ein großes Tattoo auf dem Rücken, das sich vom rechten Schulterblatt bis zu ihrem linken Oberschenkel zu erstrecken schien. Natürlich wusste er es nicht genau. Denn er hatte der Versuchung wacker getrotzt und nicht nachgesehen. Eine kleine Weile hatte er ihr beim Schlafen zugesehen, war sich aber dabei wie ein Eindringling vorgekommen und letztendlich gegangen. Was auch an der alten Mrs. Pomfrie gelegen hatte, die er mit gespitzten Ohren vor der Tür fand.

„Die Kleine ist in Sligachan geboren, hat aber einen englischen Ausweis. Laut Mrs. Pomfrie hat sie dort was zu erledigen.“ Er zuckte mit den Schultern und ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, bei dem Gedanken an Isandora und Mrs. Pomfrie.

„Hat dich der alte Drache nicht gleich gelyncht?, fragte Colin erstaunt. „Das wundert mich!“

„Pah, du hast ihr Gesicht nicht gesehen, als ich die Kleine ins Zimmer getragen habe. Als ob der Teufel persönlich ihr Haus betreten hätte. Ich konnte sie die ganze Zeit vor der Tür auf- und abgehen hören.“

Sie lachten beide lauthals los und hörten erst damit auf, als sie bemerkten, dass die anderen Gäste sie anstarrten.

„Guter Gott ich wäre zu gerne dabei gewesen. Allein Mrs. Pomfries Gesicht!“

„Nein, Colin, ich glaube kaum, dass ich auf diese Kleine Eindruck gemacht habe. Auch wenn sie so voll war wie zehn Schotten. Ich hab noch nie eine Frau gesehen, die so betrunken war und dennoch so kratzbürstig.“ Bewunderung schwang in seiner Stimme mit.

„Tja, das muss ein blindes Mädchen oder ein besonders cleveres Exemplar sein!“, gluckste Colin vergnügt, während sich Ian an seinem Bier verschluckte.

„Hat ihn abblitzen lassen, ha, gutes Mädchen!“

Ian wurde schlagartig ernst. Colin wusste doch ganz genau, dass man solche Dinge in seiner Gegenwart besser nicht erwähnte.

„Fühlst dich wohl in deiner Ehre gekränkt. An den Hörnern gepackt, hä, Mac?“, frotzelte Colin fröhlich weiter. Er schien völlig unbeeindruckt von Ians Zorn. „Also Mac...“

„Wenn du nicht auf der Stelle dein Schandmaul hältst, dann gerbe ich dir das Fell!“, polterte Ian zornig.

Colin sah seinen Freund verdutzt an. Schließlich breitete sich ein Grinsen über sein Gesicht, das für Ians Geschmack entschieden zu schadenfroh und zufrieden wirkte. „Da scheint doch endlich einmal eine Frau deinen Schutzpanzer zu durchdringen, mein Lieber! Das wurde aber auch Zeit.“

Zuhause, wo dein Herz ist

Als ich mich durchrang, endlich loszufahren, war es schon Mittag geworden.

Und die Menge an Breakfast -Tee, die ich in einer schnuckeligen Teestube zu mir genommen hatte, forderte ihren Tribut. Ich war gezwungen, mehrmals anzuhalten, um meine Blase zu entleeren. Jeder Kilometer, der mich näher ans Kloster und an die Umgebung meiner Kindheit brachte, bereitete mir körperliche Schmerzen und Unwohlsein.

Ich hatte Angst.

„Gott verzeiht alles!“, pflegte Schwester Agnes zu sagen. Aber was, wenn ich Gott nicht verzeihen konnte?

Er hatte mir meine Eltern genommen, Oli Buchanan, meinen besten Freund, den einzigen Mann, mit dem ich mir hatte vorstellen können, alt zu werden und meinen über alles geliebten Sohn Sam.

Wie konnte ich ihm das verzeihen?

Seit Sam weg war, war ich innerlich tot und nur mit Selbstmord-Gedanken beschäftigt. Die Buchung des Fluges, die Anmietung des Leihwagens oder Skye als Ziel meiner Reise, das alles war ungeplant und wie in Trance geschehen. Seit ich hierher gefunden hatte, hatte ich weder Augen für das saftige Grün des Grases, noch für die duftenden Rosen oder das strahlend schöne Wetter, das mit außergewöhnlich viel Sonne und fehlendem Nebel aufwartete. Ein Wetter, das zu anderen Monatszeiten Touristenmassen anziehen würde. Für mich hatte Schottland seinen Zauber verloren.

Konzentrier dich auf die Straße, ermahnte ich mich selbst. Das beständige Brummen des Motors und Clannads ruhige Musik aus dem CD-Player lullten mich ein und beruhigten mich zumindest.

Denk positiv, sagte ich mir. Was genau tat ich eigentlich hier? Ich bemühte mich, bewusst zu atmen. Ein und aus, ein und aus. Vor meinem inneren Auge stiegen Bilder auf wie Seifenblasen, nur kurz an der Oberfläche, um dann zu platzen: ich schwanger mit Sam und daneben sein Erzeuger Paul.

„Mach es weg, Schlampe! Glaub nicht, dass du je auch nur ein Pfund siehst. Wessen Bastard ist es?“

Ich erinnerte mich noch ganz genau an den Wortlaut und daran wie unsäglich dumm ich mir vorgekommen war. In einem erbosten Wutanfall hatte ich meine Haarmähne mit der Küchenschere bis auf drei Zentimeter abgeschnitten. Mit wehenden Fahnen war ich umgezogen. Neue Haare, neues Leben.

Paul hatte sich nie bemüht, uns zu finden und ich zog es vor, keinen Kontakt mit ihm zu haben.

Ich sah Bilder von Sam - bei der Geburt, beim Schulanfang und am Tag des Ausflugs mit seiner Patentante Rose, bei dem er verschwunden war. Einfach so, am helllichten Tag. Mit gerade mal sechs Jahren. Nicht ganz acht Monaten waren seither vergangen.

Meine Gedanken machten einen Sprung zurück auf die Straße und zu einer Kurve, die ich gerade noch erwischte.

Verdammt! Wie hatte mein Psychologe gesagt?

„Sie müssen in die Zukunft sehen und die Vergangenheit ruhen lassen.“

Nun, das war leichter gesagt als getan. Die Stunden am Kilt Rock fielen mir ein. Was hätte er wohl dazu gesagt? Vermutlich wäre ich in einer Klapsmühle gelandet.

Der Riese kam mir in den Sinn: Ian Tormod Robert MacLeod. Seltsamerweise hatte ich mir, trotz der Menge Alkohol, den Namen merken können. Ich verdrängte den Gedanken an diese tiefbraunen Augen. Nur nicht wieder weinen, Isa! Ganz ruhig. Der Weg war mein Ziel und ich war fast da. Upps, fast wäre ich an der Abzweigung nach Sligachan vorbeigefahren.

Die Straße – falls man sie so nennen mochte – war genauso schlecht wie vor sechzehn Jahren, als ich, gerade zwanzig Jahre alt, mit einem Kopf voller Träume gegangen war. Schlagloch folgte auf Schlagloch und dazwischen tief ausgefahrene Rinnen. Nun war ich wieder hier, schämte mich, und war ein Schatten meiner selbst. Wie zum Teufel sollte ich es Schwester Agnes erklären, dass ich mit Gott gebrochen hatte? Dass dieser Gott nicht mehr der Meine sein konnte, da er mir alles genommen hatte, was mir lieb und teuer war? Wie? Ich wusste es nicht!

Sligachan war ein kleines Nest, mit nichts als einer Hauptstraße, die schnurgerade auf das Kloster St. Mary zuführte. Es thronte auf einem kleinen Hügel und drum herum gab es nur ein paar verstreute Bauernhäuser und Felder soweit das Auge reichte. Von Weitem gesehen, hinterließ dies den Eindruck einer Patchwork-Decke. Das dazugehörende Waisenhaus lag ein Stück abseits des Klosters, ein unscheinbarer Bau aus rotem Backstein, mit einem typischen rosengesäumten Kiesweg und weiß gestrichenem Lattenzaun.

Ich parkte auf dem kleinen penibel gepflegten Besucherparkplatz und stieg mit wackeligen Beinen aus. Eine Kulisse wie aus einem dieser Touristenführer:Nobel, kitschig, doch sehr charmant.

„Und um die Ecke kommt der Prinz geritten und das prachtvolle Schloss liegt gleich hinterm Berg“, philosophierte ich leise vor mich hin.

Mir war unbeschreiblich flau im Magen und ich kam mir unendlich klein, jung und naiv vor.

Die Sonne knallte heiß vom Himmel, die Rosen verströmten wohlriechende Düfte und die Bienen summten. Plötzlich vermisste ich meine Nikon. Hier hatte ich perfekte Postkarten-Motive und meine Kamera lag auf meinem Bett in Mrs. Pomfries Bed & Breakfast.

Verflixt!

Der Kies unter meinen Füßen knirschte bei jedem meiner Schritte. Ich war Zuhause. Wie selbstverständlich lief ich auf das kleine Gatter unter dem Rosenbogen zu und öffnete es. Ein durchdringendes Quietschen ertönte und ließ mich zusammenzucken, doch es kam niemand.

Mit pochendem Herzen folgte ich dem Gartenweg, umrundete das Haus, lief verbotenerweise quer über den akkurat gepflegten Rasen, um die alte schottische Kiefer zu erreichen.

Meine Kiefer.

„Danke, danke, dass du noch da bist!“, murmelte ich dem Baum zu. Mit meiner Hand fuhr ich über das wackelig eingeritzte Herz in der Rinde. `O & I´ stand dort. Es war noch immer gut lesbar. Oliver & Isandora. Ich lehnte die Stirn gegen das in die Rinde geritzte Herz. Innerlich zitternd bis ins Mark.

Oliver Buchanan war ein trauriges Kapitel meines Lebens. Von Kind an war er an meiner Seite, mein bester Freund und letztlich mein Partner und Geliebter.

Oli wurde nur 24 Jahre alt. Er, mein Weltverbesserer, mein allzeit bereiter Tröster, der Kindskopf schlechthin. Oli, mit dem ich Kinder in die Welt setzen wollte, ging als Sanitäter in den Kosovo und kam nie mehr zurück. Eine Mine zerfetzte den Wagen, in dem er mitfuhr. Zerriss mein Herz und diese Wunde wollte und wollte nicht heilen. Bis heute.

Langsam drehte ich mich um, ließ mich mit dem Rücken an dem rauen Stamm zu Boden gleiten. Mein Atem ging stoßweise, aber ich begann mich wieder zu beruhigen. Das war schon immer so gewesen, die Kiefer, mein Baum, hatte schon immer etwas an sich, das mich ruhig werden ließ, mich tröstete und letztendlich wieder zum Lächeln brachte. Wie oft waren wir in seine Krone geklettert oder hatten unter ihm gesessen, Oli und ich. Ob unsere alte Schatzkiste wohl noch hier vergraben war? Unter ihrem Nadeldach fühlte ich mich geborgen und behütet. Hier war ich Zuhause. Ich blieb noch eine Weile regungslos sitzen, beobachtete die Vögel und lauschte dem rauschenden Lied des Windes, der die Kiefernadeln sanft streichelte. Versuchte erneut dem Zauber Schottlands zu erliegen. Warum funktionierte es nicht mehr? Wieso hatte dieser Ort seine Magie für mich verloren?

Schließlich erhob ich mich und ließ den Baum hinter mir. Auf dem Weg zum Kloster konnte noch nicht einmal der knirschende Kies das Klopfen meines Herzens und das Rauschen meines Blutes in meinen Ohren übertönen. Der Wind verstrubbelte mir den kläglichen Rest meiner Frisur. Ganz damit beschäftigt mein nicht zu bändigendes Haar in den Haargummi zu stecken, bemerkte ich die junge Novizin zunächst nicht.

„Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein, junge Dame?“ Ein offenes, freundliches und in Anbetracht der förmlichen Anrede erstaunlich junges Gesicht sah mir fragend entgegen.

„Ähm, also ...“, druckste ich herum. „Ich bin auf der Suche nach Schwester Agnes. Sie wissen nicht zufällig, wo ich sie finden kann?“, fragte ich nun etwas selbstbewusster.

Einen Moment lang sah sie mich irritiert an, doch auf einmal zeichnete sich Erstaunen in ihrem Gesicht ab. „Dem Herrn sei Dank für seine unendliche Güte. Sie sind es, Sie sind Isandora. Das sind Sie doch, oder?“ Sie war ganz aufgeregt.

„Mhm, ja die bin ich, aber …?“

„Oh, deine Haare, sie hat so oft von dir gesprochen. Sie hat es sich so sehr gewünscht. Sie wollte dich unbedingt noch einmal sehen!“

Noch einmal sehen?, fragte ich mich. Ich wollte zu einer Frage ausholen, aber sie nahm mich an der Hand und zog mich unter eifrigem Geplapper hinter sich her.

„Zündhölzer, deine Haare, wie Zündhölzer, pflegte sie zu sagen. Ja, ja in der Tat. Sie hatte völlig recht. Im Übrigen bin ich Schwester Silvia. Guter Gott, dass ich das noch erleben darf!“

Wie ein Kleinkind fühlte ich mich an ihrer Hand und es war mir ziemlich unangenehm. Leider ließ Schwester Silvia mich nicht mehr los. Einige Nonnen begegneten uns mit fragenden Blicken, doch dies brachte Schwester Silvia nicht zum Anhalten, während ich wenigstens versuchte, freundlich nickend zu grüßen.

„Natürlich müssen wir zuerst zur Mutter Oberin, dich anmelden. Du kennst das ja, nicht wahr? Bist hier aufgewachsen, hab ich gehört.“

Sie erwartete, glaubte ich, keine Antworten auf ihre Fragen, da sie immer weiter quasselte und dabei strahlend lächelte.

„Du warst ein richtiger Wildfang, erzählt man sich. Fotografierst du gerade hier in unserer schönen Gegend? Agnes hat erwähnt, dass eine sehr begabte Fotografin aus dir geworden ist.“

Nein, ich versuche, mich hier in dieser schönen Gegend umzubringen, antwortete ich in Gedanken sarkastisch. „So ähnlich könnte man es nennen.“

Gleich würde mich der Blitz treffen und ich sah vorsichtig in den strahlend blauen Himmel. Glücklicherweise war Gott, mit seinen Gedanken-Röntgen-Strahlen woanders zugange.

„So was, so was, eine berühmte Fotografin hier in St. Mary!“

„Also eigentlich bin ich nicht berühmt. Genau genommen gar nicht.“

Wieso nur hatte ich das Gefühl, dass sie mir nicht im Geringsten zuhörte? Sie brummelte immer noch etwas von Berühmtheit vor sich hin. Vermutlich gab ich ein absolut lächerliches Bild ab an der Hand von Schwester Silvia. Aber was konnte ich tun? Sie ließ mich einfach nicht los. Hoffentlich sah und hörte uns niemand!

Ich sehnte das Zimmer der Mutter Oberin herbei. Ha, von wegen berühmte Fotografin, dachte ich. Okay, ich hatte ein paar nette Fotos für National Geographic geschossen, doch vier Fotos machten noch lange keine Berühmtheit aus mir. Meistens verdiente ich mir mein Geld, indem ich Fotos für Zeitschriften oder Landschaftsreportagen schoss, also nichts Aufregendes. Scheinbar hatte ich vergessen, dass man das auf der ‚Insel‘, auf dem Land, nicht so sah. Ich hätte es besser wissen müssen!

Mein Sohn hatte mein Zuhause nie kennengelernt. Ich war zu beschäftigt gewesen, meine kleine Familie über Wasser zu halten, dass ich keine Gelegenheit dazu gefunden hatte, ihm St. Mary zu zeigen, was ich nun bitterlich bereute.

Plötzlich fühlte ich mich verloren, klein und unsagbar verletzlich. Himmel! Ausgerechnet jetzt, während ich innerlich zitternd vor Aufregung, an der Hand einer Novizin den Kreuzgang entlang eilte, musste mich meine Vergangenheit einholen!

Selbst die wärmenden Strahlen der Sonne, die den Kräutergarten in der Mitte des Klosterhofes malerisch beleuchtete, vermochten nicht, die Kälte in meinem Inneren zu vertreiben. Ebenso wenig wie der betörende Duft, der von den Kräutern ausging, mich beruhigte.

Mitten im nächsten Schritt wurde ich unsanft abgebremst, indem ich gegen Schwester Silvia lief, die vor einer alten, grob gezimmerten Holztür stehen blieb,.

„’tschuldigung“, nuschelte ich verlegen.

„Macht nichts! Wir sind jetzt da.“ Schwester Silvia rückte ihre Ordenstracht zurecht, steckte die Haare wieder sauber unter ihren Schleier, holte tief Luft und klopfte schließlich energisch gegen die Tür. Ein ‚Herein‘ hatte ich nicht vernommen, aber wir traten dennoch ein.

Der Raum war lichtdurchflutet, die vielen Bleiglasfenster sahen aus, als wären sie hell erleuchtet. Ein überdimensionaler Schreibtisch nahm fast den ganzen Raum für sich ein. Oh ja, ich kannte diesen Raum. Auch wenn die kleine, drahtige Person hinter dem Schreibtisch nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Mutter Oberin meiner Kindheit hatte, so erinnerte sie mich trotzdem an diese. Ich sah mich mit acht Jahren, in einem zerrissenen Kleid und blutigen Knien. Die Ehrwürdige Mutter Margareta, die vehement versuchte, mir zu erklären, dass kleine Mädchen nichts auf Bäumen zu suchen hatten. Es schickte sich nicht für ein katholisches Mädchen, die Beine zu entblößen, egal was Oliver Buchanan mir gesagt hatte. Mein Kleid musste ich selbst flicken und bekam noch 40 Ave Marias oben drauf. Das hatte ich nie vergessen, nur geändert hatte es damals nichts. Am nächsten Tag war ich wieder auf dem Baum – unserer Kiefer – und soweit ich mich erinnern konnte, hatten Oli Buchanan meine entblößten Beine, zumindest zu diesem Zeitpunkt, nicht interessiert. Er hatte allerdings auch nie gepetzt, dass die Idee mit dem Baum von mir alleine war.

„Ehrwürdige Mutter, wir haben Besuch!“ Schwester Silvia schien den strengen Blick, der uns musterte nicht zu sehen oder sie war ihn gewohnt. Im Gegenteil. Sie strahlte von einem Ohr bis zum anderen und plapperte munter weiter, während ich immer kleiner wurde.

„Es ist Isandora Georgy, Ehrwürdige Mutter.“

Sie schob mich etwas nach vorne, wo sich die Mutter Oberin mit ernstem Gesicht einen Zwicker (kannten die denn keine Brillen hier?) auf die Nase setzte. Sie musterte mich von oben bis unten und ein abschätzender Blick begegnete dem Meinen. Gerade noch konnte ich dem Impuls widerstehen, mich einmal um die eigene Achse zu drehen damit der Dame nichts entging.

„Sie ist es wirklich, Ehrwürdige Mutter! So wie es sich Schwester Agnes gewünscht hat. Der Herr sei gepriesen!“

„Amen. Schwester Silvia. Beruhigen. Sofort! Es ist nicht schicklich, loszuplappern wie ein Waschweib. Danke. Jetzt gehen Sie und geben Schwester Agnes Bescheid. Wir kommen nach.“ Mit einem herrischen Wedeln der Hand wurde eine sichtlich geknickte Schwester Silvia hinauskomplimentiert, jedoch nicht ohne mir an der Tür aufmunternd zuzuzwinkern.

Der Witz einer Freundin fiel mir ein: ‚Wieso kommen Schwiegermütter in den Himmel? Na klar, Drachen können fliegen.‘Ein Lachen verkniff ich mir.

„So!“, schnarrte die Stimme vom Schreibtisch. „Isandora – wie könnte ich diesen Namen je vergessen? Der Wildfang! Schwester Agnes erzählt andauernd von, na ja nennen wir es Streiche. Setzen Sie sich Kind. Nun, ich will nicht um den heißen Brei reden. Zeit ist kostbar. Schwester Agnes hat ein gesegnetes Alter erreicht – 92 Jahre.“

Sie lag im Sterben. Das versuchte die Mutter Oberin mir schonend beizubringen. Es schien, als hätte sie nur auf mich gewartet, um mir Lebewohl zu sagen.

Drei Tage blieb ich im Kloster. Wie ich sie überstand, konnte ich hinterher nicht mehr sagen.

Wir lachten viel und weinten noch mehr. Agnes. Meine Agnes erzählte mir eine Menge Geschichten, die ich teils verdrängt und teils vergessen hatte.

Ihre Haare waren weiß wie Schnee und ihre Haut trocken und dünn wie Papier, doch ihr Lächeln war dasselbe wie damals. Am zweiten Tag wurden ihre Atemzüge immer länger und sie gab mir ein kleines Päckchen. Das sei ihr Vermächtnis an mich und ein Zeichen der Liebe meiner Eltern zu mir.

„Sterben ist leicht, mein Goldstück. Ich bin 92 Jahre alt geworden. Mein Leben als Nonne war mehr als erfüllt, denn Gott hat mir sogar eine Tochter geschenkt: Dich, Isa! Hadere nicht mit deinem Leben. Es ist ein Geschenk Gottes. Wirf es nicht weg!“

Das waren ihre letzten Worte an mich. Worte, die mich bis ins Mark erschüttert hatten.

Eng umschlungen lagen wir in ihrem kleinen Bett, wie Mutter und Tochter. Sie schlief friedlich, ohne Schmerzen in meinen Armen ein. Ihr letzter Atemzug war nur ein leises Seufzen. Mein Kopf ruhte auf ihrem Herzen und selbst im Tod lag ihre Hand noch ruhig, wie um mich zu segnen, auf meinem Haar.

Die Beerdigung am dritten Tag war überraschenderweise schön. Der Klosterfriedhof thronte auf dem höchsten Punkt des Hügels und dank des schönen Wetters war die Sicht so klar, dass ich bis zu den Inseln Barra, North Uist und Lewis sehen konnte. Der Wind und die Gischt des Meeres sangen ihr Lied, als ob es nur für Agnes wäre, die Sonne schien in ungewohnter Stärke und der kleine Klosterfriedhof strahlte Ruhe aus. Bienen summten, Möwen kreischten, als wäre es ein ganz normaler Tag. Irgendwann, als alle zurückgingen, zu dem, was Nonnen nun eben so tun, setzte ich mich auf die alte Friedhofsmauer, direkt neben Olis Gedenkstein und blickte aufs Meer. Endlich kamen die Tränen und ich weinte, schrie und weinte noch mehr, bis ich nicht mehr konnte.

Wo die Wurzeln der Vergangenheit ruhen

Wann hatte ich gepackt? Ich war in meinem Zimmer bei Mrs. Pomfrie, nur, wie war ich dorthin gekommen? Also, auf jeden Fall war ich gut versorgt mit selbst gebackenen Keksen und Tee in meiner bescheidenen rosa Bleibe gelandet. Mrs. Pomfrie war die Erleichterung anzusehen. Trotz meines Anrufes (wann hatte ich sie angerufen?) schien sie sich Sorgen gemacht zu haben, die Gute. Es beunruhigte mich, nicht zu wissen, wann ich gefahren war und was ich am Telefon gesagt hatte. Aber es war nichts zu machen, der totale Filmriss. Zum Teufel, nada, keinerlei Erinnerung. Surreal und unwirklich.

Tock, tock, tock. Es klopfte laut an der Tür.

„Kindchen, oh Kindchen, fast wäre es mir entfallen: Mr. MacLeod hat ein paar Mal nach Ihnen gefragt!“

Entgeistert blickte ich auf das Päckchen in meinem Schoß, das ich von Agnes erhalten hatte. „Aha. Und wieso hat Mr. MacLeod nach mir gefragt?“ Und wie oft, verflixt noch mal?, setzte ich in Gedanken hinzu.

„Auf Dunvegan Castle ist am Samstag die große, mittelalterliche Sommersonnwendfeier und da werden Sie erwartet. Habe schon für Sie zugesagt. So etwas lässt man sich nicht entgehen. Er ist dort Verwalter und wird Ihnen sicher die Burg zeigen, also das Wahrzeichen von Skye und ...“

„Moment mal, Sie haben was? Aber Mrs. Pomfrie, Sie können doch nicht über meinen Kopf ...!“

„Ein ausgezeichneter Sänger, dieser Mr. MacLeod, er spielt Dudelsack wie ein Gott. Alle tragen historische Gewänder und Kilts. Ein Schotte im Kilt ist ...“ Ohne Punkt und Komma redete sie, wohlgemerkt mit meiner geschlossenen Zimmertür, weiter. Was bei meiner jetzigen Laune besser für ihre Gesundheit war.

Schließlich holte sie einmal Luft und ich warf ein: „Mrs. Pomfrie, ich habe keine historische Kleidung, außerdem habe ich nicht vor ...!“

„Oh, oh, in ihrem Schrank hängt ein Kleidersack, ich hab nicht gewagt, reinzusehen, na ja nur ein bisschen. Er hat es für Sie abgegeben. Ein schönes Kleid! So ich hab zu tun, Kindchen, falls Sie noch Abendessen möchten ...?“

„Nein, danke!“, schrie ich giftiger als beabsichtigt.

Himmel! Verflixte alte Schachtel! Sie hatte einfach zugesagt und war an meinem Schrank gewesen, das konnte doch alles nicht wahr sein. Ich war vor lauter Zorn aufgesprungen und das Päckchen fiel vor mir auf den rosa Plüsch des Teppichs.

Im Spiegel über der Kommode sah mich ein strubbeliges Etwas mit roten Haaren an. Falls Mrs. Pomfrie Kinder hatte, so wünschte ich ihr keine Schwiegertochter oder einen Schwiegersohn, denn sie war die Personifizierung eines Hausdrachens! Ich holte aus und stauchte gegen meine Chucks, traf aber zu meinem Leidwesen das Bein der Kommode.

„Verdammt, tut das weh!«, zischte ich durch zusammengebissene Zähne. Elende Mrs. Pomfrie! Verflixter MacLeod! Was bildet sich der Kerl ein? Ein Held zu sein?

Humpelnd bewegte ich mich zum Tischchen und schaltete den einzigen modernen Gegenstand im Zimmer ein, den Wasserkocher. Verärgert riss ich ein Päckchen Caddburys -Trinkschokolade auf und leerte es samt dem heißen Wasser in eine dieser kitschigen, rosenbedruckten Porzellantassen. Ich brauchte Schokolade um meine Nerven zu beruhigen. Schließlich gewann meine Neugierde die Oberhand und ich ging zum Kleiderschrank, wobei ich meinen lädierten Fuß so wenig wie möglich belastete. Unter Knarzen öffnete ich die Tür des alten Eichenschrankes. Tatsache, da hing es, in einem Kleidersack, auf dem mit goldenen Lettern stand: Historische Gewandungen – Eileen Connor – Edinburgh.

Ich öffnete den Reißverschluss und fragte mich laut: „Der Kerl ist doch nicht extra nach Edinburgh gefahren – wegen mir und einem Kleid?“

Nein, überlegte ich. Schotten waren eigenartig. Ja, teils auch etwas verrückt in ihren Ansichten und Bräuchen, aber das? Nein. Mir blieb fast die Luft weg, als ich die Hülle hinab zog. Das Kleid war wundervoll. Tannengrün mit geschnürtem Mieder, eigentlich ganz nach meinem Geschmack. Mal abgesehen von einem seltsam anmutenden Horn, welches an einem zum Kleid passenden Gürtel aus wunderbar weichem Leder, hing.

Dumme Pute!, schalt ich mich. Das heißt gar nichts, und nein, ich mag Sie kein bisschen, Mr. MacLeod. Nichts da, Ian Tormod Robert MacLeod. Ich falle nicht auf Sie rein! Am Bügel hing ein kleiner Brief. Ich sah ihn voller Abscheu an, doch er wich nicht. Na ja, ich konnte ihn ja zumindest lesen!

Vor Nervosität merkte ich erst, als ich Luft holte, dass ich den Atem angehalten hatte. Als ich den Brief öffnete, stand da: „Sehr geehrte Mrs. Georgy. Ich erwarte Sie am kommenden Samstag, gegen 18.30 Uhr zur Sonnwendfeier auf Dunvegan Castle“, in einer für einen Mann schönen Handschrift und weiter: „Dort hoffe ich, Sie einmal lachen zu sehen, wobei ich mich gerne zur Belustigung zur Verfügung stelle. Es besteht Kostümzwang! Ihr ergebener Diener, Ian Tormod Robert MacLeod. PS: Das Grün hat die Farbe Ihrer Augen.“

Was bildete sich dieser eingebildete Schotte eigentlich ein? Glaubte denn jeder hier auf Skye, er könnte über mich bestimmen? Wutentbrannt zerknüllte ich den Brief und warf ihn in den Mülleimer neben dem Schreibtisch. Natürlich traf ich daneben!

„Verflixt! Klappt heute denn gar nichts?“, schimpfte ich und ließ das Corpus Delicti liegen, wo es war. Mein Blick fiel wieder auf das durch die Sonnenstrahlen vom Fenster angeleuchtete Päckchen von Agnes.

Was soll’s? Ich ließ mich neben ihm nieder, klemmte den Kopf zwischen die Beine und seufzte laut. Ich bräuchte nur die Hand auszustrecken und es zu öffnen. Ganz leicht, einfach öffnen. Stell dich nicht so an.

‚Du bist kein kleines Pflänzchen, nee, du bist ‘ne stachelige Rose!’, pflegte Oliver Buchanan zu sagen. Es sollte ein Kompliment sein, ich bekam es mit vierzehn samt meinem ersten Kuss von ihm.

Vorsichtig machte ich mein Erbe auf. Es verströmte den Duft der Rosen des Klosters, roch aber auch nach Agnes und ihren Kräutern. Das Packpapier entblößte einen liebevoll mit Rosenpapier- oh, Agnes was sonst! - beklebten Schuhkarton. Mit spitzen Fingern, als könne er zerbrechen, hob ich den Deckel an und schaute in das neugierige Gesicht eines dreijährigen Kindes mit grünen Augen und flammend roten Haaren. Das war ich mit meinem Hasen Eddie im Arm, schüchtern an den Rock einer strahlend schönen Schwester Agnes geklammert.

Es folgten einige Schnappschüsse. Oli und ich auf unserem Baum, vermutlich still und heimlich aufgenommen. Eine energisch dreinschauende 14-Jährige, gefolgt von einer 16-Jährigen in Jeans und Wanderstiefeln, Arm in Arm mit einer lächelnden Agnes. Jetzt erst wurde mir bewusst, wie sehr sie mich geliebt haben musste.

Das letzte Foto zeigte eine 20-Jährige mit Koffern. Sie hatte es gemacht, als ich ging, es war etwas fleckig und an den Ecken abgegriffen. Eine Woge der Trauer erfüllte mich. Ich nahm das Foto mit mir und Agnes und drückte es fest an meine Brust. Verflixt, nicht schon wieder heulen. Schniefend zog ich die Nase hoch. Nein gar nicht ladylike. Unter den Fotos kam eine Babydecke zum Vorschein, sie war kunstvoll bestickt. Beim näheren Betrachten stellte ich fest, dass es sich um Fabelwesen handelte. Da waren Einhörner, Drachen, Elfen und Zwerge. Die Decke war zauberhaft. In ihrer Mitte prangte ein großes Emblem oder Wappen. Ein ineinander verschlungenes I, ein kleines U und ein D, verbunden mit einem bunten Drachenreigen. Das gleiche Wappen fand ich kunstvoll gestaltet als Amulett mit einer alten ... War das tatsächlich Pergament? Es war eine Art Rolle, an den Rändern stark ausgefranst, vergilbt und übersät mit undefinierbaren braunen Spritzern. Blut?

„Ha, ha, ha, du hast einen Vogel, Isa und definitiv zu viele Krimis gesehen und gelesen!“, sagte ich laut zu mir.

Vor der Tür begann Mrs. Penibel einmal mehr ihre furchtbar schmutzige Treppe mit dem Staubsauger zu malträtieren. Ich war mir sicher, gleich würden die Geräusche des Wischmopps hinzukommen. Wie gut, dass nicht alles gleichzeitig ging. Mrs. Pomfries Bed & Breakfast musste wohl ständig komplett ausgebucht sein. Na ja, jedem Tierchen sein Pläsierchen. Ich drehte ihr, hinter verschlossener Tür, eine lange Nase.

Das Amulett lag angenehm warm in meiner Hand. Ich betrachtete es näher. Die Drachen hatten grüne Augen. Wie ich, kam mir in den Sinn, während die Einhörner goldene Augen hatten. Wie von selbst legte ich es mir um den Hals und ließ es in meinen Ausschnitt gleiten. Entschlossen machte ich mich daran, die Pergamentrolle zu entrollen. Vielleicht würde ich nun endlich mehr über mich erfahren. Weshalb mich meine Eltern weggegeben hatten und ob und wo sie noch lebten. Mit klopfendem Herzen und zwischenzeitlich schweißnassen Händen entrollte ich das alte Papier ganz und strich es vorsichtig glatt. Ich hatte die Augen zugekniffen, lauschte dem Rauschen meines Blutes und dem Pochen meines Herzens.

„Na los jetzt, sei kein Frosch!“, murmelte ich, um mir Mut zu machen. Ich hatte so lange gehofft, gewartet und gebetet, dass ich mehr über meine Herkunft erfuhr. Doch alle Suchen nach meinen leiblichen Eltern waren vergeblich geblieben. War es nun endlich so weit? Augen öffnen und beruhigen. Los, Augen öffnen und beruhigen, ging ich in Gedanken mein neues Mantra durch. Seufzend holte ich Luft und begann zu lesen:

„Der Krieger durch Liebe gebunden.

Ein Kind das gefunden.

Zu richten und zu binden das alte Geschlecht.

Ein Pakt aus Blut und Tränen gemacht.

Was war und wird sein mit vereinter Macht.

Um zu öffnen, des Buches Tor und zu binden das Gift der Vier.

Im Herzen des Moors.“