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"Los Angeles war die Hölle. Der Urlaub eine schlichte Katastrophe. Und natürlich trug Paul an allem die Schuld." Ein toter Schriftsteller, ein verschwundener Privatdetektiv, eine Villa im Berliner Umland und eine "Tödliche Vergangenheit": Pauls Urlaub endet katastrophal. In einem anrüchigen Motel in Los Angeles findet er die Leiche eines heruntergekommenen Schriftstellers. Alles sieht nach Selbstmord aus, doch als Paul nach Berlin zurückkehrt und dort Maria, die Tochter des Opfers aufsucht, stellt er fest, dass weit mehr hinter der Sache steckt. Ein Privatdetektiv ist verschwunden, fast jeder hat ein Geheimnis und die Spur führt sie zurück in die Vergangenheit - zu zwei alten Männern, die eine sehr unterschiedliche Sichtweise auf die Geschichte haben ... "Ein feines Netzwerk hat Autor Mani Beckmann da gesponnen. Das Buch ist unterhaltsam und vor allem: spannend bis zum Schluss." - Tagesspiegel Berlin "Kunstvoll und packend hat Beckmann ein komplexes Geflecht aus Beziehungen und Zufällen, Geschichte und Geschichten, Zwangsläufigkeiten und überraschenden Wendungen geknüpft." - Ruhr-Nachrichten
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Vierter Teil
Fünfter Teil
Sechster Teil
Siebter Teil
Achter Teil
Impressum
Dieser Roman erschien erstmals 2001 unter dem Titel "Tödliche Vergangenheit" im be.bra verlag, Berlin. Die vorliegende Ausgabe ist vollständig überarbeitet und entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
Weitere Informationen im Internet unter www.manibeckmann.de
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1
Los Angeles war die Hölle. Der Urlaub eine schlichte Katastrophe. Und natürlich hatte Paul an allem die Schuld.
Während er vor der geöffneten Tür auf der Veranda saß, eine Zigarette rauchte und den mexikanischen Angestellten dabei zuschaute, wie sie von Zimmer zu Zimmer eilten, um die Bettwäsche zu wechseln und den einschlägig bekannten Geruch mit einem süßlichen Duftspray zu übertünchen, saß Dorothee schmollend im Zimmer auf dem Bett und starrte auf den Fernseher, aus dem in ohrenbetäubender Lautstärke Rockmusik dröhnte. Sie könne das Gestöhne und Geschreie nicht mehr ertragen, hatte sie vor einer halben Stunde gesagt und ihn seitdem mit Missachtung gestraft. Aber das Zimmer zu verlassen, das kam erst recht nicht in Frage. Sie sei ja nicht lebensmüde!
Adult Motel! Wer konnte auch so etwas ahnen? Selbst Dorothee hatte den kleinen, aber bedeutsamen Zusatz erst gesehen, als es zu spät war und sie den Preis für drei Nächte bereits bar gezahlt hatten. Nur für Erwachsene!
„Three nights?“, hatte die kleine Mexikanerin an der Rezeption gestaunt, die Augenbrauen gehoben und verständnislos mit dem Kopf geschüttelt. „Are you sure, señor?“
„Sure“, hatte Paul geantwortet, die Geldscheine in die Durchreiche gelegt und mit seinen Spanischkenntnissen geprahlt: „Seguro, señorita!“
„Bueno!“ Sie hatte mit den Achseln gezuckt, ihm den Schlüssel gegeben und ihn angestarrt, als wäre er ein widerlicher Sittenstrolch. „Number five, please!“
Dass sie wie eine Kassiererin in einer Bank hinter gepanzertem Glas saß und lediglich durch ein kleines vergittertes Loch in der Scheibe mit ihren Gästen kommunizierte, hatte ihn zwar gewundert, aber nicht wirklich alarmiert. Los Angeles war eben ein heißes Pflaster.
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Die Sonne war vor wenigen Minuten untergegangen, aber der mit Gewitterwolken verhangene Himmel leuchtete noch in schwärzlichem Rot. Einzelne verspätete Regentropfen plätscherten aufs Verandadach und von dort in dünnen Bindfäden vor seine Füße in den Hof. Irgendwo erklang eine Polizeisirene. Die Situation war so absurd, dass er gelacht hätte, wenn er nicht selbst betroffen gewesen wäre. Was war er doch für ein Idiot!
Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und fuhr sich mit der Hand durch die Haartolle über seiner Stirn. Mit der Zigarette im Mundwinkel, der roten Wildlederjacke und den nach hinten gekämmten Haaren, die vorne wegen eines hartnäckigen Wirbels strubbelig abstanden, erinnerte er ein wenig an Jim Stark in „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Dorothee hatte das einmal scherzhaft behauptet. Er sehe beinahe aus wie James Dean, hatte sie gesagt, aber leider habe er so gar nichts von einem Rebellen an sich.
Paul schlug den Kragen seiner Jacke hoch, schnaufte abfällig und warf die Zigarette in den Hof. Die Neonreklame auf dem Dach des Motels blinkte im Sekundentakt, grüne und blaue Buchstaben vor einem sündig roten Schmollmund. Als sie vor anderthalb Stunden angekommen waren, hatte noch nichts geblinkt. Von leuchtenden Schmollmündern keine Spur.
„Es ist mir inzwischen ganz gleich, wo wir unterkommen“, hatte Dorothee gefaucht, durch die regennasse Scheibe auf die Straße gestarrt und den Stadtplan frustriert zusammengefaltet. „Hauptsache, ich komme bald unter eine warme Dusche und kann mich auf einem Bett ausstrecken. Ich hab keine Lust mehr, Paul!“
Sie waren auf dem Washington Boulevard in östlicher Richtung landeinwärts gefahren und hatten den Strandort Venice, in dem sie eigentlich hatten übernachten wollen, längst hinter sich gelassen. Entweder waren die Motels und Pensionen in Strandnähe ausgebucht oder unverschämt teuer gewesen, und so hatten sie sich schweren Herzens entschlossen, nicht direkt am Venice Beach zu wohnen. Culver City nannte sich der benachbarte Stadtteil, dessen Grenze sie gerade passiert hatten, und er sah alles andere als einladend aus. Umzäuntes Brachgelände zur Linken, neonerleuchtete mexikanische Diners und asiatische Imbissstände zur Rechten, hässliche Flachbauten, die selten mehr als zwei oder drei Stockwerke besaßen und neben den breiten, bis zu sechsspurigen Straßen wie Garagen oder Wohncontainer wirkten. Eine christliche Mission oder Suppenküche, vor der die Leute Schlange standen. „Jesus loves you“, war auf einem Schild zu lesen. „Merry Christmas!“
Dorothee deutete mit einem Mal durch die Windschutzscheibe, auf der die Scheibenwischer sich redlich, aber vergeblich abmühten, dem Wolkenbruch zu trotzen, und rief: „Da vorne ist ein Motel! Sieht nicht allzu teuer aus. Lass uns dort mal fragen!“
Es war kalt, es regnete in Strömen, und sie waren seit dem frühen Morgen unterwegs. Die Müdigkeit steckte ihnen in den Knochen. Der Urlaub hatte an ihren Nerven gezerrt. Sie wollten einfach und endlich ankommen.
Und jetzt hatten sie den Salat.
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Auf dem Hof des Motels herrschte mittlerweile ein Treiben wie in einem Bienenstock, ein Kommen und Gehen wie bei einem Drive-In-Schnellrestaurant, und immer war es die ewig gleiche Prozedur: Ein älterer Mann saß am Steuer, eine für ihr Alter viel zu alte Frau auf dem Beifahrersitz. Der Mann zahlte an der Rezeption, das Paar verschwand im Zimmer und kam bald darauf mit erhitzten Gesichtern wieder heraus – zumindest zeigten die Männer rötliche Zeichen der Erregung auf ihren Wangen. Die Frauen zupften an ihren BHs, zogen ihre Lippen mit dem Lippenstift nach und richteten ihre Frisuren, man stieg ins Auto und verschwand. Anschließend kamen die Mexikaner mit der Bettwäsche und dem Spray. Sie trugen hellblaue Schürzen oder Kittel mit einem Aufnäher auf der Brust: Encore-Motel.
Ausgerechnet in einem Stundenhotel hatten sie landen müssen. Fünfunddreißig Dollar die Nacht. Ein Spottpreis. Kein Wunder, schließlich blieb in diesem Etablissement kein Mensch länger als eine halbe Stunde. Jedenfalls nicht aus freien Stücken.
Im Zimmer Nummer eins, auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes, stand die Tür sperrangelweit auf. Ein dicker, glatzköpfiger Mann saß in Unterhemd und Jogginghose auf dem Bett und blätterte in einer Zeitung. Neben ihm auf dem Boden stand eine halb volle Whiskyflasche, aus der er dann und wann einen großen Schluck nahm. Eine Frau konnte Paul in dem Zimmer nicht erkennen, womöglich stand sie noch unter der Dusche. Der Mann schaute einen Moment lang zu ihm herüber, betrachtete ihn scheinbar gelangweilt aus den Augenwinkeln, nahm dann einen Schluck Alkohol und widmete sich wieder seiner Zeitung.
„Was mache ich hier eigentlich?“, murmelte Paul und steckte sich eine weitere Zigarette an. „Ich muss doch total übergeschnappt sein!“
Los Angeles war die Krönung, der finstere und hässliche Endpunkt einer unheilvollen Reise, aber das Desaster hatte viel früher angefangen.
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2
Dorothee und Paul waren bereits seit einem Jahr ein Paar, aber die Amerikareise war ihr erster gemeinsamer Urlaub. Noch nie waren sie über so lange Zeit auf so engem Raum und so ausschließlich einander ausgeliefert gewesen, und schon bald hatte sich herausgestellt, dass es ein Fehler gewesen war, ihre Urlaubskompatibilität nicht wenigstens während eines Kurztrips an die Ostsee zu testen. Erst der Urlaub hatte offenbart, wie unterschiedlich sie waren und wie wenig gewillt, diese Unterschiede zu tolerieren. Zu Hause hatte jeder seine eigene Wohnung und ging seiner Wege, sie waren beide berufstätig und sahen sich fast nur an den Wochenenden, an denen sie sich bemühten, friedvoll und harmonisch miteinander umzugehen. Sie hatten nicht genug Zeit gehabt, sich zu streiten oder zu langweilen. Erst der banale Alltag – ausgerechnet im Urlaub! – und das ständige Beieinandersein hatten die schlummernden Konflikte ans Tageslicht gebracht. Dorothees an Stupidität grenzende Langsamkeit, ihre Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, und ihre Angewohnheit, die falschen Entscheidungen anschließend Paul anzulasten, brachten ihn mit hübscher Regelmäßigkeit auf die Palme. Sie lebte gänzlich aus dem Bauch heraus und schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, sich niemals mit ernsthaften Gedanken zu belasten. Gleichzeitig schien sie Paul für einen Spießer und Langweiler zu halten. „Du mit deinem Ordnungs- und Pünktlichkeitsfimmel!“, sagte sie und nannte ihn einen Hektiker, weil er nicht einsehen wollte, worin der Reiz lag, einen Bus oder ein Flugzeug beinahe zu verpassen, nur weil man seinen Kaffee noch nicht ausgetrunken oder seine Maniküre noch nicht beendet hatte.
„Was machst du immer für einen Stress?“, war eine ihrer Lieblingsfloskeln. „Die werden schon nicht ohne uns abfahren.“
„Natürlich werden sie das“, erwiderte er dann gereizt. „In fünf Minuten fährt der Bus, und wenn du weiter so trödelst, kommen wir niemals an die Küste. Kannst du deine Nägel nicht nachher feilen?“
„Die fahren eh nicht pünktlich ab“, lautete ihre prompte Antwort, und mit verkniffener Miene setzte sie hinzu: „Entspann dich doch endlich! Wir sind schließlich im Urlaub.“
Natürlich erwischten sie in letzter Sekunde den Bus, der sie von San Francisco an die Central Coast bringen sollte, und natürlich sagte Dorothee anschließend: „Siehst du! Warum immer diese Hektik?“
Bereits nach wenigen Tagen in Kalifornien gingen sie sich dermaßen auf die Nerven, dass nur die strahlende Sonne, der herrliche Strand von Pismo Beach und die ungeheure Menge neuer Eindrücke sie leidlich bei Laune hielten. Zwar war das Wasser des Pazifiks viel zu kalt, um darin zu baden, und die Sonne hatte ebenfalls an Kraft eingebüßt, aber allein der Gedanke an das verschneite Berlin stimmte sie versöhnlich. Als jedoch der Regen und der Sturm kamen, war es damit vorbei, und der Alptraum begann. Vermutlich war es ein Fehler gewesen, ausgerechnet im Dezember nach Amerika zu fliegen.
Sie beschlossen kurzerhand – nein, Paul beschloss, und Dorothee verdrehte dazu die Augen –, sich ein Auto zu mieten und ins Landesinnere zu fahren, um die zahlreichen Nationalparks abzuklappern. In der Wüste, so glaubte er, würde bestimmt die Sonne scheinen. Außerdem war er der naiven Hoffnung, ein wenig Action und Abenteuer könne ihnen nur gut tun.
Als sie im Death Valley ankamen, war der Regen bereits da. Wo sonst die Luft flirrte und der heiße Sand einem die Füße durch die Schuhsohlen verbrannte, bildeten sich nun Pfützen im Mondgestein. Vom legendären Zabriskie Point aus gab es nichts als schlammig beigefarbenes Gelände zu bestaunen, das an den Tagebau in den ostdeutschen Braunkohlegebieten erinnerte. Zu allem Überfluss wurden die Motels spartanischer und ungepflegter, je weiter sie sich vom Pazifik entfernten, Kakerlaken und spinnenartiges Getier wurden ihre ständigen Begleiter, und da die Wüstenorte, in denen sie übernachteten, kaum mehr als ein paar Dutzend Seelen beheimateten, war an den Abenden nicht gerade für Abwechslung gesorgt. Die Dorfkneipen waren noch waschechte Saloons, in denen eine Vielzahl von Fernsehgeräten die vorwiegend männliche Kundschaft über die sportlichen Ereignisse im Lande auf dem laufenden hielt. Dorothee und Paul wurden beäugt wie Marsmenschen und zogen es bald vor, ihr wässriges amerikanisches Bier im Motelzimmer zu trinken. Was jedoch – nicht allein wegen des Ungeziefers – kaum zur Erheiterung beitrug und zwangsläufig zum Streit und zu gegenseitigen Schuldzuweisungen führte.
Um sich möglichst wenig miteinander beschäftigen zu müssen, hechelten sie von Ort zu Ort, ließen keinen Nationalpark und keine Sehenswürdigkeit aus und bestraften sich anschließend für all die Mühsal mit einem Besuch der weihnachtlich geschmückten Stadt Las Vegas, wo sie Unsummen von Geld verspielten und sich einzureden versuchten, das sei ein Heidenspaß.
Am östlichsten Punkt ihrer Reise, dem Grand Canyon, gerieten sie schließlich in ein derart dichtes Schneegestöber, dass sie vom Rand des Canyons aus weder den Colorado noch die gegenüberliegenden Felsformationen zu sehen bekamen. Wegen des Wetters war es auch nicht erlaubt, in den Canyon hinunterzusteigen. Die atemberaubende Aussicht ins Tal gab es nur auf Ansichtskarten und Videos zu bewundern.
Das war der Zeitpunkt, an dem Dorothee einen hysterischen Anfall bekam. Erst weinte sie, dann schrie sie, und schließlich hämmerte sie mit den Fäusten auf Paul ein. „Du bist an allem schuld!“, kreischte sie und schlug wie wild um sich. „Wenn es nach mir gegangen wäre, dann lägen wir jetzt in der Sonne auf den Kanaren. Aber nein, du wolltest ja unbedingt hierher. Weihnachten in den Staaten. Dass ich nicht lache! Das haben wir nun davon! Hier bleibe ich keine Minute länger!“
„Und was sollen wir deiner Meinung nach jetzt tun?“
„Ich will sofort zurück nach San Francisco!“, antwortete sie, stieg ins Auto und schnappte sich die Landkarte.
„Jetzt?“ Paul setzte sich hinters Steuer und starrte sie ungläubig an.
„Auf der Stelle!“
„Aber das sind fast tausendfünfhundert Kilometer!“
„Nicht wenn wir die kürzeste Route nehmen.“ Sie tippte auf die Karte und nickte energisch. „Lass mich nur machen, Paul. Jetzt sage zur Abwechslung mal ich, wo es langgeht.“
Statt – wie es am einfachsten gewesen wäre – erst auf dem Highway nach Westen bis Bakersfield und von dort in Richtung Norden nach San Francisco zu fahren, wollte Dorothee die direkte Verbindung ausprobieren.
„Wenn wir über Las Vegas und dann in Richtung Sacramento fahren“, erklärte sie, „sparen wir fast vierhundert Kilometer. Außerdem kommen wir mitten durch den Yosemite Nationalpark! Den wollten wir uns doch sowieso ansehen.“
Paul zuckte mit den Schultern, startete den Wagen und fuhr los.
Woran weder Dorothee noch er gedacht hatten, war die Tatsache, dass der Yosemite Nationalpark mitten in den bis zu viertausend Meter hohen Bergen der Sierra Nevada lag und dass die wenigen Pässe mit Beginn des Winters geschlossen wurden. Als sie nach einem ungemütlichen und nicht enden wollenden Husarenritt endlich in den verschneiten Bergen ankamen, mussten sie feststellen, dass sie zwar nur noch dreihundert Kilometer von San Francisco entfernt waren, dass es aber weit und breit keine passierbare Straße gab, auf der sie weiter in westlicher Richtung hätten fahren können.
„Closed for the winter!“, stand auf dem Schild an der Schranke. „No trespassing!“ Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als sechshundert Kilometer nach Süden und in einem riesigen Bogen um die Berge herumzufahren.
„Bakersfield“, empfahl ihnen ein Ranger, den sie um Rat gefragt hatten.
Diesmal war es Paul, der einen hysterischen Anfall bekam.
Nach einer durchfrorenen und durchwachten Nacht in einem zugigen Bergmotel und einem wortlosen Frühstück in einem Trucker-Imbiss, machten sie sich am Morgen auf zur nächsten Etappe. Als sie endlich die südliche Spitze der Sierra Nevada erreicht hatten, waren sie nur noch zweihundert Kilometer von Los Angeles entfernt, und Paul beschloss diktatorisch: „Mir reicht’s! Wir fahren jetzt nach Venice Beach! Basta!“
Kaum hatten sie die Stadtgrenze von Los Angeles erreicht, schon goss es wie aus Kübeln. Und Dorothee schaute ihn an, als hätte sie es gewusst.
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3
„Whatta ya doin’ out there?“, erklang plötzlich von irgendwoher eine rauchig krächzende Männerstimme.
Paul fuhr auf, schaute sich um und konnte weit und breit niemanden erkennen. „Sorry?“, antwortete er.
„Why’re ya sittin’ outside?“ Die Stimme kam aus dem Zimmer Nummer eins. Der dicke Mann im Unterhemd stand schwerfällig auf, legte die Zeitung beiseite und stellte sich in den Türrahmen. Die Whiskyflasche hielt er wie einen Säugling im Arm. „It’s fucking raining“, setzte er hinzu und hustete böllernd. „You’re getting wet!“
Paul nickte und deutete auf seine Zigarette. „My girl-friend doesn’t like cigarettes“, sagte er und zuckte mit den Schultern.
„I see“, antwortete der kahlköpfige Dicke und kratzte sich das stoppelige Kinn. „You’re a tourist, right?“
Wieder nickte Paul.
„Where from?“
„Berlin“, erwiderte er. „Germany.“
Für einen Moment flammte der alkoholgetrübte Blick des Dicken auf, doch dann grunzte er abfällig, hielt Paul die Flasche hin und sagte: „Wanna drink?“
„I don’t like whisky!“, erwiderte Paul ausweichend.
„Glaubst du, mir schmeckt das Zeug?“, antwortete der andere in fließendem und beinahe akzentfreiem Deutsch. „Aber darauf kommt’s ja nicht an. Hauptsache, es benebelt die Sinne. Komm schon, Junge, trink mit mir!“ Er lachte anzüglich, winkte Paul zu und ging zurück ins Zimmer.
„Wieso sprechen Sie so gut Deutsch? Waren Sie mal in Deutschland?“
„Kann schon sein“, murmelte der Mann und setzte mit einem Mal die Flasche an den Mund, als wollte er damit die Erinnerung hinunterspülen. Er schüttelte sich, hustete und setzte hinzu: „Come on, pal!“
Paul blieb sitzen, wo er war, er dachte nicht daran, sich von einem betrunkenen Kerl hochprozentigen Fusel aufdrängen zu lassen. Der Typ sah aus, als hätte er den Whisky nicht nur getrunken, sondern auch darin gebadet. Sein Unterhemd hatte er sicherlich seit Wochen nicht mehr ausgezogen, die gelben Flecken unter den Achseln und die schwarzen Brandlöcher auf dem Schmerbauch sprachen Bände. Das Gesicht des Mannes war nicht weniger abstoßend. Die Ränder unter seinen Augen waren von einer tiefen Schwärze, und seinen Stoppelbart hatte er seit Wochen nicht mehr rasiert. Er war weit über fünfzig, zumindest sah er so alt aus.
„What’s the matter with you?“, rief er Paul zu, während er in der einen Hand die Flasche hielt und mit der anderen sein Gemächt kratzte. „Bin ich dir nicht fein genug? Beleidige ich deine Augen und deine empfindliche Teutonennase? Keine Bange, ich bin nur betrunken und ungepflegt, aber nicht wirklich gemeingefährlich. Auch wenn das einige Leute ganz anders sehen!“ Er zog den Rotz hoch und spuckte in hohem Bogen auf die Veranda. „Trink mit mir auf meine Tochter! Sie hat heute Geburtstag.“
Paul wusste nicht, warum er es tat, aber er stand auf, zuckte mit den Schultern und ging hinüber. Seine Neugier war größer als sein Widerwille, und schlimmer konnte es heute ohnehin nicht mehr kommen.
„Cheerio!“, begrüßte ihn der Glatzkopf in seinem Zimmer und reichte ihm ein Wasserglas voll Whisky. „Auf meine kleine Maria!“
„Auf Maria!“, echote Paul zögerlich und nippte an dem Getränk, während er sich gleichzeitig im Raum umschaute. Der Fußboden war übersät mit leeren Bierdosen, halbvollen Schnapsflaschen, zerknülltem Papier und Zigarrenstummeln. In einer Ecke des Zimmers war ein riesiger Stapel von Zeitungen und Zeitschriften angehäuft, auf dem Bett stand eine mechanische Schreibmaschine, und auf der Bettdecke waren Dutzende Seiten beschriebenen Papiers verstreut, etliche von ihnen zerrissen und wieder zusammengeklebt, andere mit handschriftlichen Korrekturen versehen. Ein riesiger Aschenbecher stand neben dem Bett auf dem Boden, doch die Asche darin stammte nicht von Tabak, sondern von verbranntem Papier. Ein beißender Geruch hing in der Luft, es stank nach billigem Rasierwasser, ranzigem Schweiß, abgestandenem Zigarrenrauch und Alkoholausdünstung.
„Was machst du in Berlin?“, fragte der Dicke. „Wovon lebst du? Was ist dein Job?“
„Eigentlich bin ich Mathematiker“, antwortete Paul, „aber ich arbeite im Computerzentrum einer Bank. Buchungen, Statistiken, Abrechnungen und so weiter. Eigentlich nicht der Rede wert. Ziemlich langweilig.“
„Ihr Deutschen!“, rief der andere und lachte abfällig. „Warum müsst ihr euch immer für alles entschuldigen? Weshalb könnt ihr nicht einfach zu dem stehen, was ihr tut? Ständig schämt ihr euch und zerfließt in Selbstmitleid.“
„Das sagt ja der Richtige“, erwiderte Paul, betrachtete das Chaos in dem Zimmer und deutete dann auf die Flasche in seiner Hand. „Ausgerechnet Sie reden von Selbstmitleid? Was soll das hier sein, der grandiose american way of life?“
Der Mann fuhr regelrecht zusammen, schien Paul mit seinem Blick durchbohren zu wollen, winkte dann aber plötzlich ab, lachte trunken und sagte: „Du gefällst mir, wenigstens nimmst du kein Blatt vor den Mund.“ Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, als er das sagte, und er setzte hinzu: „Und wie kommt ’n Langweiler wie du in so ’ne Absteige?“
„Aus Dummheit“, antwortete Paul.
„Das ist allerdings ein Grund“, sagte der Dicke, lachte und klopfte Paul anerkennend auf die Schulter. „Und deine Freundin nimmt dir das nun übel?“
Paul sah ihn überrascht an, nickte und fragte: „Woher wissen Sie das?“
„Es stand in deinem Gesicht geschrieben. Als du vorhin von deinem girl-friend gesprochen hast, sahst du nicht besonders glücklich aus. Glaub mir, ich kenne diesen Blick!“
„Und was treiben Sie in dieser Absteige?“, erwiderte Paul, um das Thema zu wechseln. Er nippte erneut an dem Whisky und merkte, wie er ihm zu Kopf stieg. Seit dem Mittag hatte er nichts mehr gegessen, und Hochprozentiges gehörte nicht gerade zu seinen täglichen Grundnahrungsmitteln. „Sie sehen auch nicht gerade so aus, als würden Sie sich hier mit einer Frau amüsieren.“
„Meine Frau liegt dort auf dem Bett“, antwortete der Mann und deutete auf die Schreibmaschine. „Aber sie will nicht so, wie ich es möchte.“ Er grinste und setzte hinzu: „Welche Frau tut das schon?!“
„Sind Sie Journalist?“, hakte Paul nach. „Oder Schriftsteller?“
„Es gibt Leute, die behaupten, dass ich mal einer war. Sogar ’n ziemlich guter, aber was will das schon heißen?“
Der Kerl gab Antworten wie das Orakel in Delphi, dachte Paul. Jede Antwort forderte eine weitere Frage heraus. Doch obwohl er lallte und sich nur schwankend auf den Beinen hielt, schien alles, was er sagte, wohlüberlegt. Sein Äußeres war widerlich, sein Gehabe abstoßend, aber dennoch hatte Paul das Gefühl, als wäre er der Zuschauer eines Schauspiels, als inszenierte der Dicke sich selbst. Auch seine rotzige Sprache klang wie einstudiert. Er gefiel sich als betrunkenes Ekel.
„Übrigens, mein Name ist Phil“, sagte er und hielt Paul sein Glas hin. „Phil Inn. I-double-N. Pleased to meet you! Und du kannst mich ruhig duzen.“
„Paul Weber“, antwortete Paul, stieß mit ihm an, und erst dann wunderte er sich über den Namen. Phil Inn? Fill in! Ein Pseudonym. Oder er hielt Paul einfach zum Narren. „Wie hieß Ihr … dein letztes Buch?“, fragte er. „Könnte es sein, dass ich es kenne?“
„Das glaub ich kaum“, antwortete Phil Inn und schnaufte abfällig. „Als es erschien, gingst du vermutlich noch zur Schule. Und es war nicht gerade ein Schulbuch.“
„Sondern?“
„Sex and crime.“
„Arbeitest du deshalb in einem Stundenhotel? Ist das so eine Art Recherche?“
„Der Schuppen ist diskret und anonym“, antwortete Phil und setzte sich aufs Bett, nachdem er die Papiere achtlos auf den Boden geworfen hatte. „Hier stellt keiner Fragen, niemand will wissen, wer du bist. Man wird in Ruhe gelassen, solange man bar bezahlt. Ich bin so ’ne Art Dauergast und bekomme sogar Rabatt! Ich gehöre mittlerweile zum Inventar dieser Bruchbude. Hin und wieder helfe ich den Blaukitteln sogar beim Saubermachen.“
„Warum willst du in Ruhe gelassen werden? Und von wem?“
Phil zuckte mit den Schultern, bückte sich, soweit sein Bauch das zuließ, und holte eine Zigarrenschachtel unter dem Bett hervor. „Feinstes kubanisches Kraut“, sagte er und bot Paul eine Havanna an.
Eine Zeit lang saßen sie schweigend da, in der einen Hand den lauwarmen Bourbon, in der anderen eine dicke qualmende Zigarre. Draußen nieselte es, es war inzwischen stockfinster, sie befanden sich in einer miesen Bruchbude, und Paul kam es vor, als wären sie Figuren in einer Kurzgeschichte von Ernest Hemingway. Ein in die Jahre gekommener Autor und gestrandeter Alkoholiker und ein grünes Bürschlein, dessen Beziehung sich gerade in Luft auflöste und dem das völlig egal war, weil sich der Whisky und das Nikotin wohlig in seinem Hirn ausbreiteten.
Paul erzählte Phil, woran er dachte, und dieser lachte laut los.
„Ich wag’s kaum zu sagen“, antwortete er, „aber ich kann Hemingway nicht ausstehen. Das sollte ein Amerikaner niemals zugeben und ein amerikanischer Autor schon gar nicht, aber so ist es nun mal. Fucking creep!“
„Ist seine Tochter nicht vor einigen Jahren gestorben?“
„Welche Tochter?“, rief Phil und funkelte ihn böse an.
„Hemingways Tochter“, antwortete Paul erschrocken. „Die Schauspielerin. Oder war es seine Nichte?“
Phil wandte sich abrupt ab, zuckte erneut mit den Schultern und nahm einen Schluck aus der Flasche, obwohl er sich gerade erst ein Glas eingeschenkt hatte. „Wen kümmern schon die Töchter?“, zischte er schließlich.
„Maria ist deine Tochter?“, rutschte es Paul beinahe gegen seinen Willen heraus. „Ist das ihr Name?“
„Was willst du von ihr?“, blaffte Phil ihn an und packte ihn am Kragen. „Woher kennst du sie?“
„Ich kenne sie doch gar nicht“, antwortete Paul und wich zurück. „Wir haben vor wenigen Minuten auf ihren Geburtstag angestoßen. Erinnerst du dich nicht? Du wolltest unbedingt, dass ich mit dir auf deine Tochter trinke!“ Ihm wurde es allmählich zu dumm und auch zu mulmig. Er stand auf, stellte sein Glas ab, drückte die Zigarre im Aschenbecher aus und ging schwankend zur Tür. „Danke für den Drink“, sagte er und musste sich am Rahmen festhalten, da ihm schwindlig wurde. „Ich habe keine Lust, mich ohne jeden Grund anmachen zu lassen.“
„Sorry!“, rief Phil ihm nach. „Es war nicht so gemeint. Tut mir leid. I’m really sorry! Komm schon, Junge, sei mir nicht böse, ich wollte dich nicht anbrüllen.“ Er stand auf und ging zu einer Kommode, die direkt neben der Tür zum Badezimmer stand. Er kramte in einer Lade herum, zog ein Foto heraus und kam damit zur Tür. „Das ist meine Maria“, sagte er, deutete auf das Bild und lächelte zärtlich. „Das war sie. Vor zwölf Jahren.“
Auf dem Foto war ein vielleicht achtjähriges pausbackiges Mädchen zu erkennen, das verlegen in die Kamera lächelte. Sie hatte lange schwarze Haare und dunkle Augen, ihre Nase war sehr flach und schmal, eine Stupsnase, und ihr Kinn besaß die unverkennbare Tendenz, sich zu verdoppeln.
„Vor zwölf Jahren?“, fragte Paul, und ein Kloß zwängte sich durch seine Kehle. „Ist sie etwa gestorben?“
„Nein, nicht doch!“, rief Phil, wandte sich um und setzte die Whiskyflasche an den Hals. „Ich hab leider kein neueres Foto“, fuhr er schließlich fort und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. „Hab sie seit Jahren nicht gesehen.“
„Maria?“, wunderte sich Paul. „Das ist kein amerikanischer Name.“
„Ihre Mutter ist Deutsche.“
„Aus Berlin.“
„Woher weißt du das?“, fragte Phil überrascht und ließ sich aufs Bett fallen.
„Weil das der einzige Grund ist, warum du mich überhaupt auf einen Drink eingeladen hast“, erwiderte Paul und setzte sich zu ihm. „Weil ich dir erzählt habe, dass ich Berliner bin. Ich bin nicht blind, Phil, ich habe deinen Blick vorhin genau gesehen.“
Phil zwang sich zu einem Lächeln, reichte ihm das Glas, das er auf der Kommode abgestellt hatte, und sagte: „Gratuliere! Gut kombiniert. Ja, ich war mal ein Berliner, aber als ich die Stadt verlassen habe, gab es die Mauer noch, und Zehlendorf gehörte zum amerikanischen Sektor. Fast wie zu Hause. There’s no place like home!“ Wieder lachte er abfällig und schüttelte den Kopf.
„Hast du dort gewohnt?“, fragte Paul. „In Zehlendorf?“
Phil zuckte lediglich mit den Schultern und zog eine Grimasse.
„Und nachdem du nach Amerika zurückgegangen bist, hast du deine Tochter nicht mehr gesehen?“
„Das wäre eine ziemliche Verdrehung von Ursache und Wirkung“, antwortete Phil und ließ Paul ein weiteres Mal mit ihm anstoßen. „Ich bin hierher zurückgekehrt, weil ich drüben nichts mehr zu suchen hatte. Ich hab’s vermasselt, und jetzt zahle ich die Zeche dafür.“
„Man lässt dich deine Tochter nicht sehen?“
„Ich bin eine Persona non grata, mein Junge, ein widerliches Monster“, murmelte er und sah sein Gegenüber mit irrem Blick an. „Nicht im wörtlichen Sinn, aber hier drin!“ Er tippte sich an den Kopf. „Hier drinnen sieht’s finster aus. Marias Mutter meint, ich sei eine Gefahr für die Menschheit. Deshalb darf ich sie nicht sehen und erst recht nicht mit ihr sprechen. Wer weiß, vielleicht will ich es auch gar nicht. Ich würde mich ohnehin nicht trauen. Jahrelang hatte ich nicht den Mumm, aber diesmal hab ich ihr wenigstens eine Geburtstagskarte geschickt.“ Er seufzte tief und runzelte die Stirn, doch sofort setzte er sein Lächeln wieder auf und widmete sich mit Inbrunst seiner Zigarre. „Ich hoffe, sie hat die Karte auch bekommen. Ich hab sie in ein unauffälliges Kuvert gesteckt.“
„Mit amerikanischer Briefmarke und Poststempel von Los Angeles?“, wunderte sich Paul. „Was soll denn daran unauffällig sein.“
Phil starrte ihn an, als hätte er daran bislang überhaupt nicht gedacht. Er schaute wie ein kleiner Junge drein, dem sein Vater die bittere Wahrheit über das Christkind gebeichtet hat. Er lächelte stupide und schwieg.
„Du vermisst sie sehr, nicht wahr?“
„Als ich noch mit ihnen zusammengelebt habe“, antwortete Phil und schloss dabei die Augen, „da hat sie mich nicht sonderlich interessiert. Ich war viel zu sehr mit mir und meinen Büchern beschäftigt. Ein guter Vater war ich bestimmt nicht.“ Er lachte, klopfte sich auf die Schenkel und rief: „Ich war sicherlich kein so guter Schriftsteller wie Hemingway, aber als Mann ein mindestens ebenso großes Miststück!“
„Und Marias Mutter?“
„Johanna?“ Er grunzte abfällig und nahm einen Schluck Whisky. Er schien sich nicht entscheiden zu können, ob er nun aus dem Glas oder aus der Flasche trinken wollte, und nippte abwechselnd an beiden. Er räusperte sich, wischte sich den Mund ab und sagte: „Ich hab sie mal sehr geliebt! Weiß der Teufel, warum! Sie war ’n verdammter Snob!“ Wieder lachte er, hob sein Glas, leerte es in einem Zug und setzte hinzu: „Damals galt es in ihren Kreisen als schick, sich ’nen Künstler zu halten. Wie ’n Haustier! Philip the pet! Und mir hat’s gefallen, den Bohemien zu spielen. I really lived in clover. Ich hab im Klee gelebt, wie wir Amerikaner sagen. Aber ich werde wohl kaum im Klee sterben.“ Er lächelte bitter und fragte: „Wie heißt das auf deutsch?“
„Wie die Made im Speck“, sagte Paul.
„O ja, das hatte ich ganz vergessen!“, rief er erfreut und lachte herzhaft, als hätte Paul ihm eine amüsante Anekdote erzählt. „Die Made im Speck!“
Paul schaute ihn verdutzt an, wartete vergeblich auf irgendeine Erklärung und fragte schließlich: „Wart ihr verheiratet?“
Wieder lächelte Phil bitter und nickte.
„Warum lässt Johanna dich deine Tochter nicht sehen?“, wiederholte Paul seine Frage von vorhin. „Was ist vor zwölf Jahren geschehen?“
Phil zuckte mit den Schultern, deutete auf den Whisky und sagte: „Ich bin nicht erst seit heute ein Säufer. Sieh mich doch an! Was glaubst du, wie lange man braucht, um so abgewrackt auszusehen? Das war ein hartes Stück Arbeit.“ Er lachte gallig auf und schüttelte den Kopf, als hätte er einen guten Witz erzählt. „Es ist schon nicht einfach, einen normalen Schriftsteller zu ertragen. Aber einen eitlen, egozentrischen, alkoholabhängigen Schriftsteller in seinem Haus zu dulden, das ist wahrlich zuviel verlangt.“
„Ist das der einzige Grund?“
„Was fragst ’n so dämlich?“, zischte Phil. „Natürlich ist das nicht der einzige Grund! Goddammit!“ Er deutete auf die Schreibmaschine, zog das eingelegte Blatt Papier heraus, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. „Seit Jahren versuche ich, mir den Scheiß aus meinem verdammten Schädel zu schreiben, aber es kommt nichts als wertloser, selbstmitleidiger oder affektierter Mist heraus. Loads of crap! Wenn ich soweit bin, wirst du’s schon erfahren, aber bis dahin lass mich in Ruhe mit deinen Fragen!“ Er sah Paul beinahe flehend in die Augen und setzte lächelnd hinzu: „Trink, rauch und halt endlich deinen Mund!“
Paul wollte gerade seiner Bitte Folge leisten, als er von draußen Dorothees Stimme hörte: „Paul? Wo steckst du denn? Paul!“
„Ich muss gehen“, sagte er und stand auf. „Meine Freundin sucht nach mir.“
„Wenn du mal wieder Lust auf ’nen Schluck hast oder in Ruhe eine Zigarre rauchen willst“, erwiderte Phil und fuhr sich über den Bart, „dann schau ruhig bei mir rein. Du weißt ja, wo du mich findest. See ya, buddy!“
Paul nickte, hob grüßend die Hand und ging hinaus. Erst an der frischen Luft merkte er, wie betrunken er war.
„Wo steckst du denn?“, wurde er von Dorothee auf dem Hof begrüßt. Sie hatte ihren Mantel angezogen und einen Regenschirm aufgespannt. „Ich hab Hunger“, sagte sie und klimperte mit den Autoschlüsseln. „Lass uns was essen gehen!“ Sie schaute kurz ins Zimmer Nummer eins, zuckte angewidert zusammen und fragte: „Wer ist denn der eklige Kerl?“
„Ein Monster“, antwortete Paul und bekam einen Schluckauf.
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4
Es war beinahe Mitternacht, als sie zum Motel zurückkehrten. Der Himmel hatte aufgeklart, der Halbmond lugte hinter den Wolken hervor, der Wind hatte sich gelegt. Selbst das Unwetter zwischen Dorothee und ihm hatte sich in Luft aufgelöst, allerdings wusste Paul nicht, ob er darüber glücklich sein sollte. Schweigend stiegen sie aus dem Wagen. Er blieb auf der Veranda, um noch eine Zigarette zu rauchen, und sie eilte ins Zimmer, um ihre Koffer zu packen. Die Tür fiel ins Schloss, und Paul war allein mit seinen Gedanken. Wieso hatte er nur eingewilligt? Verdammter Feigling!
Sie hatten in einer fürchterlich überteuerten italienischen Pizzeria am Venice Beach gesessen und betreten auf die Tischdecke gestarrt.
„Du bist ja betrunken!“, hatte sie ihn plötzlich angeherrscht. „Du hast eine Fahne, Paul!“
„Natürlich bin ich betrunken“, hatte er erwidert und gegrinst. „Schließlich habe ich auf nüchternen Magen ein ganzes Wasserglas voll Whisky gekippt. Da wärst du auch betrunken!“
Ein gelackter Kellner schlich grinsend um sie herum und versuchte ihnen vorzuführen, was Amerikaner unter Service verstanden. Während er ihnen die Speisekarten reichte, redete er über das Wetter, fragte sie, woher sie kamen, und behauptete, Berlin sei wirklich eine Reise wert. Pauls Frage, ob er schon einmal dagewesen sei, musste er leider verneinen. Aber er habe schon viel davon gehört. Von der Mauer und so. „Ich bin ein Berliner“, zitierte er John F. Kennedy, und dann machte er sich auf zum Nachbartisch.
„Hier bleibe ich keinen Tag länger!“, sagte Dorothee mit gepresster Stimme. Sie hatte plötzlich Tränen in den Augen und nahm Pauls Hand. „Bitte, Paul, lass uns verschwinden!“
„Wir sind doch gerade erst in Los Angeles angekommen“, antwortete er überrascht und kämpfte mit seinem Schluckauf, der in zyklischer Regelmäßigkeit wiederzukehren schien. „Willst du denn die ganze Zeit nur durch die Gegend fahren?“
„Ich rede nicht von dieser Stadt, sondern von dem ganzen verdammten Land“, erwiderte sie, ließ seine Hand los und zupfte an der Stoffserviette. „Unsere Reise ist eine einzige Farce, das weißt du genauso gut wie ich. Wir machen alles kaputt, und wenn wir nicht schleunigst nach Hause fahren, dann ist nichts mehr zu retten!“
Er starrte sie an und verstand kein Wort. „Wovon redest du?“, fragte er und versuchte, sich auf Dorothee, das Gespräch, auf die ganze Situation zu konzentrieren, aber es wollte ihm nicht gelingen.
„Wovon ich rede?“, fuhr sie ihn an und brach erneut in Tränen aus. „Von uns rede ich! Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, ist alles zu Ende. Wir reden nicht mehr miteinander, wir schnauzen uns nur noch an oder ignorieren uns. Das ist doch kein Zustand. Lass uns nach Hause fliegen, bitte, so schnell wie möglich. Am besten gleich morgen. Wir werden schon irgendeinen Flieger bekommen. Ich will, dass dieser Alptraum aufhört.“
„Nach Hause?“, murmelte er verwirrt und glaubte, sich verhört zu haben. Vom Nachbartisch drang die Stimme des Kellners zu ihnen herüber: „Paris? A lovely town. You must be very proud to live there.“
„Ich will nicht, dass unsere Beziehung so den Bach runtergeht“, fuhr Dorothee fort. „Das lass ich nicht zu!“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und setzte schnaufend hinzu: „Oder willst du das? Willst du mich loswerden?“
Paul konnte beim besten Willen nicht sagen, was er wollte oder nicht wollte. Ja, vielleicht war es ihm nur recht, dass sie mit ihrem Urlaub einen solchen Schiffbruch erlitten. Womöglich suchte er lediglich nach einem passenden Vorwand, das Weite zu suchen. Aber sicher war er sich nicht. Er wusste gar nichts mehr und konnte nicht mehr klar denken.
Alles drehte sich.
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“He, Paul! Ich rede mit dir!“
„Wie?“, antwortete er. „Was?“
„Ich sagte: Ich rede mit dir! Wo bist du nur immer mit deinen Gedanken?“ Dorothee stand hinter ihm auf der Veranda und legte ihre Hand auf seine Schulter. „Was ist nun? Kommst du ins Zimmer oder willst du noch lange draußen sitzen?“
„Gib mir noch ein paar Minuten“, antwortete er und drehte sich zu ihr um. „Ich komme gleich. Hast du schon gepackt?“
„Komm bloß nicht auf die Idee, dass ich dir den Koffer packe“, antwortete sie und lachte herzlich. „So weit kommt’s noch, mein Liebster!“ Und mit einem weiteren Lachen verschwand sie wieder im Zimmer. Dorothee hatte ihre gute Laune wiedergefunden. Je näher der vorgezogene Abflug rückte, desto gehobener wurde ihre Stimmung.
Warum zum Teufel hatte er nur eingewilligt?! Und wieso war es so einfach gewesen, den Flug von San Francisco nach Berlin umzubuchen? Wenige Tage vor Weihnachten, aber die Fluggesellschaft hatte nicht einmal einen Aufpreis verlangt. Lediglich eine lächerliche Bearbeitungsgebühr. Verflucht! Ihre Maschine von L. A. nach San Francisco startete um sieben Uhr am kommenden Morgen, und den Mietwagen konnten sie einfach am Flugplatz abgeben. Verdammte Kundenfreundlichkeit der Amerikaner!
Auf dem Hof war es mittlerweile ganz ruhig, vereinzelt standen Autos vor den Motelzimmern, und nur wenige Fenster waren erleuchtet.
Dann hörte Paul das Geräusch, ein leises metallischen Klacken, das über den Hof schallte. Er schaute hinüber zu Zimmer Nummer eins. Die Tür war verschlossen, die Vorhänge waren zugezogen, aber es brannte Licht. Phil schrieb auf der Maschine, und wie dem rasanten Anschlag zu entnehmen war, ging ihm das Schreiben gut von der Hand. Einen kurzen Moment lang zögerte Paul, doch dann stand er auf und ging hinüber. Er wollte sich wenigstens von ihm verabschieden.
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5
Die Tür war nur angelehnt. Paul klopfte, doch ihm antwortete lediglich das Klappern der Schreibmaschine. Er trat ein und sah Phil am Kopfende auf dem Bett sitzen. Er hatte den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Maschine auf den Oberschenkeln stehen und hämmerte auf die Tasten ein, als hinge sein Leben davon ab. Ein zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen.
„Sorry to disturb you“, sagte Paul und räusperte sich. „I knocked on the door, but you didn’t hear.“
Phil hob den Kopf, blickte ihn zunächst irritiert an, als wüsste er gar nicht, wo er sich befand und wer der nächtliche Besucher war, doch dann lachte er und sagte: „Komm rein, Paul! Sit down!“
„Ich wollte mich nur verabschieden“, antwortete Paul, zog eine Flappe und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. „Morgen früh fliegen wir zurück nach Berlin. Unser Urlaub ist zu Ende.“
„Du siehst nicht so aus, als wärst du von dem Gedanken sonderlich angetan“, sagte Phil, und seine Stimme klang gar nicht mehr betrunken. „Willst du zurück, oder musst du zurück?“
„Weder noch!“
„Dann lass es!“, sagte Phil und sah den anderen mit ernstem Ausdruck an, als hätten seine Worte einen geheimen Hintersinn. „Unternimm nie etwas ohne Grund, buddy! Wenn du nicht weißt, wieso du etwas tust, dann tu lieber gar nichts, sonst gibt’s ’ne Katastrophe.“ Mit einemmal jedoch lächelte er wieder und setzte hinzu: „Außerdem fänd’ ich es sehr schade, wenn meine Muse mich verließe.“
„Deine Muse?“
Er grinste lausbübisch und deutete auf einen Stapel beschriebenen Papiers, der neben ihm lag. „THE CRASH“ stand auf der obersten Seite. Paul legte das Titelblatt beiseite und las die ersten Zeilen auf dem darunter liegenden Bogen: „Los Angeles was hell. Their vacation a total catastrophe. And of course it was all Paul’s fault.“
„Nicht so neugierig“, sagte Phil und nahm ihm das Papier aus der Hand. „Sobald das Buch fertig ist, wirst du ein Exemplar bekommen, schließlich ist die Story auch auf deinen Mist gewachsen.“
„Wieso denn das?“
„Du hast mir, ohne es zu wissen, sehr geholfen.“ Wieder lachte er, ließ Paul zwei Whiskygläser füllen und stieß mit ihm an. Er deutete auf seine Schreibmaschine und sagte: „Dies ist die Geschichte eines deutschen Touristen, der in einer billigen Absteige in Los Angeles einen heruntergekommenen Säufer trifft, der sich mysteriös gibt und irgendein Geheimnis mit sich herumschleppt. Unser Held macht sich auf, dieses Geheimnis zu lüften, und stößt auf einen lange zurückliegenden …“
„Crash?“, entfuhr es Paul.
„Yes, Sir!“
„Was für eine Art crash?“, fragte Paul und nippte an seinem Drink. „Ein Absturz oder ein Unfall? Oder ein Börsencrash?“
Phil setzte ein schelmisches Grinsen auf und schwieg.
„Willst du mir nicht verraten, wie es weitergeht?“
„Ich hoffe, du wirst es in einigen Monaten nachlesen können.“
„Ich war noch nie der Held eines Romans“, sagte Paul, zückte einen Kugelschreiber und schrieb seine Adresse auf die Titelseite des Manuskripts. „Wenn es fertig ist, hätte ich gern ein handsigniertes Exemplar.“
„Selbstverständlich“, antwortete Phil und hämmerte wieder auf die Tasten ein. „Du wirst von mir hören.“
Paul stand auf und wollte das Zimmer verlassen, doch Phil hielt ihn zurück.
„Nein, bleib ruhig und trink deinen Whisky aus“, sagte er und hielt dem anderen das Zigarrenkästchen hin. „Rauch eine Havanna, wenn du magst. Deine Anwesenheit scheint mich zu inspirieren. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich in der Zwischenzeit weiterschreibe.“
Paul setzte sich wieder.
Während die Maschine klapperte und Phil dann und wann leise mit sich redete, saß Paul wie eine Krankenschwester neben seinem Bett und starrte zur Decke. Er hatte die Beine aufs Fensterbrett gelegt, schlürfte seinen Whisky und nuckelte an der Zigarre. Sein letzter Urlaubstag! Und der erste Augenblick während dieser verdammten Reise, den er richtig genoss.
Unternimm nie etwas ohne einen Grund!
Gerade als er sich einen guten Grund für seine morgige Unternehmung zurechtlegen wollte, öffnete sich die Tür zur Veranda. Paul erwartete, im nächsten Augenblick Dorothees angeekelten und vorwurfsvollen Gesichtsausdruck zu sehen, doch statt ihrer trat eine ganz in Schwarz gekleidete Frau ins Zimmer. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug und einen schwarzen Hut, ihr Gesicht hatte sie hinter einem dunklen Schleier versteckt, sodass man kaum mehr als ihr spitzes Kinn zu sehen bekam, ihre Hände steckten in schwarzen Samthandschuhen. Vor dem Bauch hielt sie eine Handtasche aus schwarzem Leder, in der sie nun hastig herumkramte. Sie blickte auf, schaute zum Bett, dann zu Paul und fuhr im gleichen Moment zusammen.
„Oh, Entschuldigung!“, murmelte sie und senkte den Kopf. Sie schloss in Windeseile die Handtasche, klemmte sie unter den Arm, drehte sich um und hastete zur Tür hinaus. Als wäre sie nie dagewesen.
„Was war das?“, fragte Phil, der von dem merkwürdigen Auftritt nichts mitbekommen zu haben schien. Er unterbrach sein Tippen und hob den Kopf. „War da nicht jemand?“
„Eine Frau“, antwortete Paul und suchte nach den passenden Worten. „Sie sah aus, als wäre sie direkt von einer Beerdigung gekommen. Mit Schleier und allem.“
„Was wollte sie?“
„Nichts. Sie hat sich wohl in der Tür geirrt.“
„Eine Nutte?“
„Bestimmt nicht“, sagte Paul und schüttelte den Kopf.
Phil zuckte mit den Schultern, machte eine Grimasse, als wollte er sagen: Kann man nichts machen! und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Paul stand auf, ging zur Tür und lugte hinaus in den Hof. Von der Frau in Schwarz war weit und breit nichts zu sehen, das ganze Gelände war verwaist, selbst das mexikanische Aufräumkommando schien Feierabend zu haben. Außer Phils Zimmer war nur die Nummer fünf erleuchtet. Paul konnte Dorothees Silhouette über die Vorhänge huschen sehen.
„Ich glaube, es wird Zeit für mich“, sagte er, leerte das Whiskyglas und reichte Phil die Hand. „Auf in die Höhle des Löwen!“
Phil lächelte traurig, nickte, gab ihm die Hand und sagte kein Wort.
„Soll ich vielleicht irgendeine Botschaft überbringen?“, fragte Paul.
„Eine Botschaft?“, wunderte sich Phil. „Wie meinst du das?“
„In Berlin“, antwortete Paul. „Ich könnte deiner Tochter etwas ausrichten, wenn du mir sagst, wo ich sie finde und was ich ihr sagen soll.“
„Nein, nicht nötig!“, sagte Phil erschrocken und ließ Pauls Hand los.
Der nickte, trat hinaus und sagte: „Wenn du es dir anders überlegst, dann schieb mir einen Brief unter der Tür durch. Wir sind bis fünf Uhr hier. Oder schreib mir nach Berlin. Meine Adresse hast du ja.“
„Du willst also wirklich abreisen?“
„Kann schon sein“, sagte Paul, und diese Worte hätten aus Phils Mund stammen können. „Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler.“
„Du weißt es doch längst“, antwortete Phil, stellte die Maschine beiseite, kam ihm nach und lachte. „Du traust dich nur nicht, es dir einzugestehen.“ Er stand im Türrahmen, kratzte sich den dicken Bauch und setzte hinzu: „See you tomorrow!“
„See you“, murmelte Paul, ertappte sich bei einem Lächeln und hatte prompt ein schlechtes Gewissen. Arme Dorothee! Er durfte gar nicht daran denken, wie sie reagieren würde.
Während Paul wie ein Sünder gesenkten Hauptes über den Hof schlich, suchte er in Gedanken nach den richtigen Worten. Als gäbe es dafür tatsächlich die „richtigen Worte“. Was konnte er schon sagen? Dass es ein Fehler gewesen war? Dass er sich geirrt hatte, als er ihr vor nicht einmal zwei Stunden gesagt hatte, er würde ihre Beziehung nicht beenden wollen? Dass sie nicht zueinander passten? Dass es ihm leid tat?
„Entschuldigung!“, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Das hatte die Frau in Schwarz gesagt. Nicht „Sorry!“ oder „Excuse me!“, sondern „Entschuldigung!“ Dabei hatten weder Phil noch er auch nur ein Wort gesprochen. Als hätte sie gewusst, dass sie deutsch sprachen oder verstanden.
Er überlegte, ob er Phil dieses Detail mitteilen sollte, doch dann hörte er das eifrige Klappern der Schreibmaschine und entschied sich dagegen. Keine Ausflüchte mehr! Erst musste er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und sagen, was er zu sagen hatte.
Im Hof stieß er beinahe mit einer Frau zusammen, die gerade aus einem der Zimmer gekommen war, sich im Gehen die Haare richtete und ebenso wie er zusammenfuhr, als sie unvermittelt voreinander standen.
„Good lord!“, rief die Frau und fasste sich an die Brust. „Watch your step, man! You scared the shit outa me!“ Sie trug ein knallrotes und hautenges Latexoutfit, das ihre voluminösen Brüste und ihren Hintern betonte, und ihre Beine steckten bis zu den Knien in hochhackigen, weißen Lederstiefeln. Ihre schwarz gefärbten Haare waren mit einigen künstlichen Haarteilen versehen und sie allesamt zu einem geradezu babylonischen Turm auf ihrem Kopf hochgesteckt. Ihre wie aufgeblasen wirkenden Lippen waren vom gleichen sündigen Rot wie ihr Latexkostüm, und quer über ihre rechte Wange verlief eine breite, nur unzureichend vom Rouge bedeckte Narbe.
„Sorry“, murmelte Paul, während er gleichzeitig fasziniert auf die Narbe starrte, die vom rechten Ohr bis zum Nasenflügel reichte.
„Fuck off!“, zischte die Frau und marschierte zur Rezeption.
Zögernd wandte er sich um, betrat die Veranda, öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, schaute hinein und bekam beinahe einen Schock. Dorothee lag im T-Shirt auf dem Bett, sie hatte ihr Haar hochgesteckt, räkelte sich in den Kissen, lächelte und wisperte: „Wo warst du denn so lange? Ich hab dich vermisst.“
„Ich war drüben bei Phil“, antwortete er, fuhr sich nervös mit der Hand über den Mund und stammelte: „Ich habe … mit ihm geredet.“
„Phil?“, erwiderte sie, setzte sich auf und sah ihn verständnislos an. „Was denn für ein Phil?“
„Der Kerl von drüben.“
„Der Penner?“, fragte sie. „Was ist denn mit dem?“
„Nichts.“
„Und warum redest du dann dauernd von ihm?“
„Ich rede doch gar nicht von Phil, verdammt noch mal“, entfuhr es ihm, „sondern von uns!“ Er versuchte, ihrem forschenden Blick standzuhalten, schaute dann aber doch zu Boden und zwang sich zu den Worten: „Dorothee, ich … muss mit dir … reden. Es ist wegen …“
Bevor er den Satz beenden konnte, sprang sie auf, wurde kreidebleich, starrte ihn wutentbrannt an und rief: „Sag, dass das nicht wahr ist!“
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6
Er hatte mit allem Möglichen gerechnet: mit einem Wutausbruch, mit fliegenden Gegenständen, mit Prügel, mit hysterischem Gekreische oder hasserfülltem Schweigen. Doch Dorothee fiel einfach um. Kreislaufkollaps!
Kaum hatte er umständlich stotternd und sich ein ums andere Mal verhaspelnd herausgebracht, was er sich zuvor in Gedanken zurechtgelegt hatte, schon ging sie wie ein Stein zu Boden. Ihr sackten einfach die Beine weg. An der Heftigkeit, mit der ihr Kopf auf die Fliesen knallte, konnte er erkennen, dass sie keineswegs schauspielerte. Als sie nun vor ihm auf dem Fußboden lag, war sie so weiß wie ein Blatt Papier. Nur ihre Lippen waren bläulich angelaufen.
Paul legte sie aufs Bett, schob mehrere Kissen unter ihre Füße und befeuchtete ihr Gesicht mit Wasser. Sie atmete ruhig, aber ihr Puls flatterte und war kaum zu spüren. Schließlich kam sie wieder zu sich, öffnete langsam ihre Augen, sah ihn lange verständnislos an, griff sich dann an ihren Hinterkopf und schrie vor Schmerz auf.
„Was ist passiert?“, fragte sie. „Wo bin ich?“ Doch dann kam die Erinnerung, und sie schloss die Augen. Tränen traten unter den Lidern hervor, und schließlich schluchzte sie so sehr, dass es sie schüttelte. Sie lag in Embryohaltung auf dem Bett, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und zuckte wie unter Stromschlägen. Paul wollte sie in den Arm nehmen oder doch zumindest ihre Hand halten, aber sie stieß ihn weg und rief: „Lass mich! Wag es ja nicht, mich anzurühren!“ Mit diesen Worten kroch sie vom Bett und verschwand im Badezimmer. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und das Rauschen des Wasserhahns war zu hören.
Ihre Reaktion hatte ihn völlig verstört. Niemals hätte er damit gerechnet, dass ihr soviel an ihm und an ihrer Beziehung liegen könnte. Vielleicht weil ihm nie sehr viel daran gelegen hatte. In dem Jahr, das sie nun zusammen waren, hatte er stets darauf geachtet, dass sie sich nie zu nahe gekommen waren. Emotional jedenfalls. Er hatte eine Mauer um sich herum aufgebaut und peinlich darauf geachtet, dass Dorothee sie nicht durchbrach. Gänzlich von sich und seinem Standpunkt eingenommen, war er davon ausgegangen, dass diese Distanz auch in Dorothees Sinn war. Erst jetzt begriff er, wie wenig er von ihr wusste. Wie fremd sie ihm war.
Und das eigentlich Schlimme: Nachdem er ihr endlich gesagt hatte, wozu er in der ganzen Zeit zuvor nicht den Mut aufgebracht hatte, ging es ihm sofort besser, ja, er fühlte sich erleichtert. Er glaubte nicht, das Falsche gesagt oder getan zu haben, er hatte es nur viel zu spät getan. Was womöglich aufs gleiche hinauslief.
–
Dorothee war mittlerweile seit einer Viertelstunde im Badezimmer, und außer dem Rauschen des Wasserhahns drang kein Laut aus dem Raum. Was machte sie nur so lange da drin? Warum gab sie keinen Mucks von sich? Wenn sie bloß keine Dummheiten anstellte! Zum Glück rasierte er sich elektrisch, schoss es ihm durch den Kopf. Aber vielleicht hatte sie Schlaftabletten in ihrer Kulturtasche! Ach was, Dorothee hatte noch nie Probleme mit dem Einschlafen gehabt.
Er ging zur Tür und horchte. Nichts! er drückte die Klinke herunter, aber die Tür war verriegelt. „Dorothee!“, rief er. „Alles in Ordnung? Sag doch was!“ Keine Antwort, nur das Rauschen des Wassers. „Hörst du mich?“
Weil sie sich immer noch nicht meldete, rüttelte er an der Tür und hämmerte gegen das Holz. Panik stieg in ihm auf. Womöglich war sie erneut in Ohnmacht gefallen. „Bitte! Mach sofort die Tür auf!“, schrie er und warf sich dagegen. Erfolglos. Gerade als er sich ein weiteres Mal gegen die Tür werfen wollte und bereits Anlauf genommen hatte, öffnete sie sich, und Dorothee erschien im Rahmen.
„Wenn du glaubst, dass ich mich deinetwegen umbringe“, sagte sie und lachte bitter auf, „dann hast du dich aber gründlich geschnitten! Ich mag vielleicht dumm genug gewesen sein, dir zu vertrauen, aber so dämlich, mir für dich die Pulsadern aufzuschneiden, bin ich nun auch wieder nicht.“
Sie war immer noch bleich wie ein Betttuch, ihre Lippen zitterten und verrieten, welche Anstrengung es sie kostete, sich nicht mit dem erstbesten Gegenstand auf ihn zu stürzen und auf ihn einzudreschen. Sie hatte ihren Bademantel übergeworfen und wischte sich nun mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Das Weiße in ihren Augen war blutunterlaufen, und auch die Nase war gerötet. Ihre Haare waren klitschnass, und sie hielt einen feuchten Waschlappen gegen ihren Hinterkopf. Die Beule musste fürchterlich wehtun.
„So einfach wirst du mich nicht los, Paul!“ Dorothee setzte sich aufs Bett, schob sich ein Kissen in den Rücken, hielt mit der einen Hand den Waschlappen, hatte den anderen Arm um die Knie geschlungen und ließ Paul keinen Moment aus den Augen, während er wie ein Raubtier im Käfig im Zimmer auf und ab lief. „Glaubst du wirklich, du könntest mich so einfach wegwerfen wie einen gebrauchten Teebeutel? Pah! Ab in den Müllkorb, Deckel zu und bloß nicht mehr dran denken!“
„Warum machst du es uns so schwer?“, stotterte er und senkte den Blick. Ein dummer und unpassender Satz, er hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt. Er räusperte sich und sagte: „Ich meine nur …“
„Du meinst: Warum ich es dir so schwer mache?“, unterbrach sie ihn. „Tu doch nicht so, als würde es dich interessieren, wie es mir geht. Hauptsache, dir passt es in den Kram! Sobald etwas zu kompliziert wird, ziehst du den Schwanz ein und rennst davon! Bloß keine Konflikte, nicht wahr? Warum sollte ich es dir wohl leicht machen? Kannst du mir das sagen? Erst lässt du mich wie einen wurmstichigen Apfel fallen, und dann soll ausgerechnet ich auch noch Mitleid mit dir haben, weil du jetzt ein schlechtes Gewissen hast?“
„Ich weiß, ich bin ein Arschloch“, sagte er und merkte zugleich, wie verlogen und selbstgefällig es klang.
„Soll ich dir für diese weise Einsicht etwa Applaus spenden?“, rief sie und deutete mit einer theatralischen Geste auf ihn. „Seht her, Paul Weber, wie er sich erniedrigt und martert! Und sich dabei unglaublich toll vorkommt! Du machst es dir zu einfach, mein Lieber, und da spiele ich nicht mit.“ Sie machte eine Pause, hüstelte nervös und setzte schließlich hinzu: „Und glaub mir, ich bin eine gute Spielverderberin!“
„Du willst also hierbleiben?“
„Jetzt solltest du deinen Gesichtsausdruck sehen!“, rief sie böse. „Du guckst wie ein beleidigtes Gör, das seinen Willen nicht bekommt! Gerade noch dachtest du, du hättest alles hübsch berechnet, die Aufgabe gelöst und das Ergebnis sauber eingetragen. Doch plötzlich stürzt dein niedliches kleines Kartenhaus ein!“ Sie lachte ein bitteres und unechtes Lachen und zupfte nervös am Saum ihres Bademantels. „Ich bin keiner von deinen Computern, an denen du so gerne herumtüftelst und die tun, wofür du sie programmiert hast. Dafür bin ich mir zu schade!“
„Aber was willst du?“, rief er und zündete sich eine Zigarette an. Er wusste, dass Dorothee den Gestank nicht ausstehen konnte, aber er brauchte dringend eine Portion Nikotin.
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