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Mani Beckmann

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Beschreibung

Berlin, Anfang der Neunziger. Gerade mal bis zum Kommissar hat es Hartmut Hilkenbach gebracht; sein ehemaliger Kommilitone Egener immerhin zum Professor und zu einer hübschen kleinen Villa in Berlin-Dahlem. Und deshalb beneidet Hilkenbach ihn, als er ihn nach Jahren wiedersieht, obwohl Egener doch wahrlich in keiner beneidenswerten Lage ist. Er ist nämlich tot. Das Opfer eines Raubüberfalls? So scheint es auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick bemerkt der Kommissar einen Kettenbrief, dem er intuitiv Bedeutung beimisst. Und seinem Instinkt darf er vertrauen - meistens, aber eben nicht immer, was ihn in diesem Fall einiges mehr als nur den Schlaf kostet. "Eine spannende, gut gebaute Geschichte mit höchst überraschendem Ende. Der Autor führt eine flotte Feder, auf bildhafte Formulierungen bedacht. Mani Beckmann ist mit seinem ersten Kriminalroman ein imponierender Auftritt gelungen." - Neues Deutschland

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Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ähnliche


Mani Beckmann

Die Kette

Ein Berlin-Krimi

Ein toter Professor, ein Kettenbrief und ein knurriger Kommissar. Das Krimi-Debüt von Mani Beckmann.

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Fünfter Teil

Letzter Teil

Impressum

Vorbemerkung

Der Kriminalroman »Die Kette« erschien erstmals 1994 in der Reihe DIE-Krimis im Verlag Das Neue Berlin. Die vorliegende Ausgabe ist vollständig überarbeitet und entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.

-

Erster Teil

»Ich schätze Männer, die gut sind, aber nicht zu gut – denn die guten sterben früh, und ich hasse tote Männer.«

Mae West

-

1. Der Professor

Hilkenbach stand, hin und wieder zaghaft an seiner Zigarette ziehend, am Fenster und blickte hinaus auf den gepflegten Rasen. Eine lange, hagere Gestalt, ein dürrer Schatten vor einer riesigen, gläsernen Verandatür. Aus der Ferne betrachtet, erinnerte seine Figur an eine ausgedörrte Yucca-Palme. Aus der Nähe auch.

Sein Gesicht war eingefallen und grau. Und knittrig wie ein ungemachtes Bett. Seine spitze Nase beschattete einen schmalen Schnurrbart und ein farbloses, zusammengekniffenes Paar Lippen. Seine Augen waren katzenhaft, seltsam lidlos, mit winzigen Pupillen. Sie starrten fasziniert nach draußen und sahen einen Garten, der beinahe einem Park glich. Gewundene Wege, mit Kieselsteinen bestreut, ein künstlich angelegter Fischteich, hohe und wahrscheinlich sehr alte Bäume. Hilkenbach überlegte, ob es wohl Buchen seien. Buchen sollst du suchen. Eichen sollst du weichen. Wahrscheinlich waren es Eichen.

Mitten auf dem fast übertrieben grünen, frisch geschnittenen Rasen plätscherte ein Springbrunnen. Umringt von steinernen Amoretten.

Egener hatte es wirklich geschafft, dachte Hilkenbach. Eine herrliche Parkanlage, eine schnuckelige kleine Villa in Dahlem, Fischerhüttenstraße, direkt an der Krummen Lanke, beinahe mit Aussicht auf die nackt badenden Studenten der nahe gelegenen Universität, von denen es jetzt, im Februar, eher wenige gab.

Ja, Egener hatte es zu etwas gebracht. Alles recht hübsch und stilvoll. Und ungemein teuer. Und obwohl Egener kaum zwei Meter von ihm entfernt in einer inzwischen angetrockneten Blutlache auf einem großen, sehr wertvollen Perserteppich lag, beneidete Hilkenbach ihn.

»Morgen«, hörte der Kommissar plötzlich eine ihm nicht ganz unbekannte Stimme hinter sich sagen. Gleich würde ihn das Gesicht eines Teddybären angrinsen.

»Sieht nach Raubmord aus, was?«, fuhr die Stimme fort. »Ausgerechnet am Wochenende. Warum können die Leute sich nicht an den Werktagen die Köpfe einschlagen?«

Hilkenbach drehte sich um.

»Ach, Wigger, Sie sind’s«, murmelte er in Gedanken versunken und sah durch seinen Assistenten hindurch. Asche fiel von der Zigarette auf seine Schuhspitzen.

»Na ja, wer soll’s auch sonst sein, Chef?«, sagte Wigger mit seiner hohen, fast singenden Stimme. Er grinste munter hinter seiner Brille und betrachtete ungläubig die Asche auf Hilkenbachs Schuhen. »Sie sind wohl noch nicht ganz wach, wie?«

Er fuhr sich mit seinen erstaunlich schmalen, zierlichen Fingern über seinen rotblonden Struwwelkopf. Er wartete nicht wirklich auf eine Antwort, das Warten hatte er bei Hilkenbach vermutlich längst aufgegeben.

Der Kommissar schien seinen Assistenten auch gar nicht zu beachten, sein Blick schweifte durch das prunkvolle Arbeitszimmer: Eiche-Natur. Alles in diesem Raum war massiv und schwergewichtig; ein wuchtiger Schreibtisch stand schräg in der Ecke neben der Verandatür; an allen vier Wänden hohe, in die Vertäfelung eingelassene Regale; darin unzählige Bücher, viele davon antiquiert und, den Lederrücken nach zu urteilen, nicht gerade wertlos. Nicht die billigen Bücherclub- oder Lesering-Ausgaben, die Hilkenbach zu Hause in den Regalen hatte. Aber das meiste war eh keine Belletristik, sondern Fachliteratur.

Auf dem dunkel gebeizten Parkettfußboden orientalische Teppiche und hier und da ein kleines Messing- oder Holztischchen, mit Fachzeitschriften beladen. »Psychologie heute«, las der Kommissar. Das ganze Arbeitszimmer sollte offenbar ausdrücken, welch schwerwiegende Arbeit darin verrichtet wurde.

Direkt neben dem Schreibtisch, unweit der Tür zum Flur, stand ein kleines, dunkelbraunes Vertiko mit Vitrinenaufsatz. Das Glas der Vitrine war zerschlagen, die Schubladen des Zierschrankes aufgebrochen und durchwühlt.

Staunend und ein wenig widerwillig kreiste Hilkenbachs Blick durch das Zimmer, diesen hölzernen Sarkophag, und wurde immer wieder, wie von einem Magneten, von der Leiche Egeners angezogen.

Egener lag, die zerbrochene Lesebrille noch auf der Nase, halb mit dem Gesicht auf den Boden und präsentierte an seinem schwarz gelockten Hinterkopf eine hässliche, klaffende Wunde. Direkt daneben lag ein schwerer, silberner Kerzenständer. Beides, Kopf wie Kerzenständer, war in mittlerweile rostbraun angetrocknetem Blut getränkt.

Egener trug ein schlichtes, weißes Baumwollhemd und blaue Jeans. Freizeitkleidung für zu Hause. Zum Lesen oder Fernsehen. Ein Morgenmantel hätte besser gepasst. Mit Seidenschal. Hilkenbach war beinahe enttäuscht.

Egeners Füße steckten in uralten, ausgelatschten, fleckig-braunen Kordpantoffeln. Wohl das einzige in diesem Raum, vielleicht im ganzen Haus, das eine persönliche Note besaß. Wahrscheinlich hatte er diese Latschen schon als Student getragen.

Hilkenbach schaute wie gebannt auf Egeners weit aufgerissenes linkes Auge und den sprachlos offen stehenden Mund. Eine nicht mehr gestellte Frage schien auf den Lippen zu liegen.

Schon als der Kommissar in die Einfahrt zum Grundstück Egeners eingebogen war, hatte er ein mulmiges Gefühl gehabt. Der Name an der Tür war dann wie ein Schlag in die Magengrube gewesen. Als sie ihn aus dem warmen Bett geworfen hatten, hatten sie ihm lediglich die Adresse und ein ironisches »Viel Spaß« mit auf den Weg gegeben. In der Villa war Hilkenbach schnurstracks zur Leiche gelaufen, hatte nicht auf seine fleißigen Kollegen geachtet, auch nicht auf seinen Assistenten Wigger, der in der Küche einige Leute befragte. Hilkenbach hatte Gewißheit gebraucht. Und die hatte er jetzt.

»Ich hab ihn gekannt«, murmelte Hilkenbach undeutlich, er wandte seinen Blick ab und betrachtete die eingeschlagene Scheibe der Schiebetür und die Scherben zu seinen Füßen. »Ich hab Friedhelm Egener gekannt«, sagte er nun lauter und seinem Assistenten zugewandt. »Ist verdammt lange her, in den Siebzigern. Das war noch zu meiner Studienzeit.«

»Sagen Sie bloß, Sie sind ’n Studierter. Das hätt ich nun wirklich nicht gedacht.«

Hilkenbach sah seinen Kollegen misstrauisch an, in Wiggers rundem, stets rotbackigem Sommersprossengesicht war jedoch kein ironisches Grinsen zu entdecken. Noch schlimmer, dachte der Kommissar, ließ sich aber nichts anmerken.

»Ja, ich habe ein paar Semester studiert«, er redete nicht wirklich mit Wigger, sondern sinnierte abwesend. »Philosophie und Geschichte. Aber irgendwie war das nichts für mich.«

»Philosophie … interessant.« Wigger presste die Lippen aufeinander, kniff das rechte Auge zu und nickte vielsagend. »Na, der hier«, sagte er schließlich und wies mit einer Kopfbewegung auf den Toten, »scheint ja dabeigeblieben zu sein. Jedenfalls war er Professor an der Uni. Soziologe, glaube ich.«

Wigger spitzte die Lippen und kratzte sich hinter dem Ohr, ein untrügliches Zeichen dafür, dass gleich ein kluger Spruch folgen würde.

»Chef, seien Sie nur froh, dass Sie zur Polizei gegangen sind. Egener wird jedenfalls seine Pension nicht mehr in Empfang nehmen können.«

O Gott, dachte Hilkenbach, warum hatte man diesen Idioten nicht in Westfalen lassen können. Er kannte zwar nur wenige Münsterländer, aber die reichten ihm schon. Hilkenbach war seit langem klar, warum man nach diesem Menschenschlag lediglich eine Hunderasse benannt hatte.

Der Kommissar ging hinüber zum Schreibtisch und betrachtete das Chaos, das darauf herrschte. Er nahm ein Buch, das obenauf lag, in die Hand und las den Titel: »Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschiedes.« Warum mussten Sozialwissenschaftler ihren Abhandlungen immer solche Titel geben, die den Lesern jede Lust verboten, sie überhaupt zu lesen? Hilkenbach legte das Buch beiseite und kramte weiter. Aktenordner, weitere Fachbücher, wild und bunt mit Anmerkungen und Unterstreichungen versehen, nur wenige Briefe, zumeist mit Universitätsstempel oder an die Uni adressiert, lose Blätter und Papiere lagen verstreut umher. Außerdem Urlaubsfotos, Landschaften in Griechenland, so schien es. Keine Porträts, nur unpersönliche und menschenleere Postkartenansichten, sehr schön und sehr langweilig. Schönheit war immer langweilig, jedenfalls für Hilkenbach.

»War die Spurensicherung schon da?«, fragte er, obwohl offensichtlich war, dass seine Fährten lesenden Kollegen längst alles bepinselt und auf den Kopf gestellt hatten.

»Natürlich«, antwortete Wigger gereizt, »wir sind nämlich heute schon sehr früh aufgestanden. Sie sollten sich allmählich daran gewöhnt haben, dass die Drecksarbeit immer schon getan ist, wenn Sie auftauchen.«

»In meinem Alter ist man eben nicht mehr so schnell.«

»Sicher«, meinte der Assistent. »Ich versteh das. Die Haare fallen aus, die Prostata ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Und dann das Rheuma, das macht einem schon zu schaffen.«

»Na, dann schießen Sie mal los, Wigger«, sagte der Kommissar, während er in den Papieren Egeners herumkramte und sich hin und wieder mit dem Zeigefinger über seinen Haaransatz fuhr. Da oben war es tatsächlich ziemlich licht, viel zu kraulen gab’s jedenfalls nicht.

»Also«, begann Wigger und zündete sich eine Zigarette an, »Egener wurde heute morgen, so gegen sieben, von seiner Haushälterin gefunden … Die müsste eigentlich noch im Haus sein, wenn Sie sie noch mal sprechen wollen, eine gewisse Frau Mölk.«

Der Kommissar winkte ab.

»Auch besser so«, flachste Wigger, »ein schrecklich geschwätziges Weib. Nachdem ich sie verhört hatte, hat sie mich doch tatsächlich zu einem Stück Erdbeerkuchen mit Sahne eingeladen. Bei ihr zu Hause, versteht sich. Dabei ist die Frau mindestens sechzig Jahre alt … Ich stehe eigentlich auf jüngeres Fleisch.« Er lachte dröhnend und fuhr dann fort, dem Kommissar aus seinen Notizen vorzulesen.

Hilkenbach hörte gar nicht mehr zu, er hatte etwas entdeckt, was ihn sichtlich stutzig machte. Während Wigger seine Litanei aufsagte beziehungsweise seine Plauderei fortsetzte, betrachtete der Kommissar sehr genau ein Papier, kniff dabei die Augen zusammen und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Unterlippe.

»Wie die Mölk sagt, war Egener alleinstehend, seit ein paar Jahren Witwer, keine Kinder, keine Freundin, keine neue Frau Egener in Sicht. ›Ein herzensguter, grundsolider Mann‹, sagt sie. Ich schätze ja, dass das direkt mit dem ›alleinstehend‹ zu tun hat …«

Bei dem Papier handelte es sich um einen Kettenbrief, um einen scheinbar ganz gewöhnlichen Kettenbrief, wie ihn jeder wahrscheinlich schon einmal geschrieben oder erhalten hatte.

Der Brief begann: »Küsse jemanden, den Du liebst, wenn Du diesen Brief erhältst, und mache den Zauber mit. Dieses Papier wurde an Dich gesandt, damit Du Glück bekommst. Das Original befindet sich in New England. Es ist bereits elfmal um die Welt gegangen. Nun wurde das Glück an Dich geschickt. Du wirst innerhalb weniger Tage nach Erhalt dieses Briefes Glück haben. Vorausgesetzt, Du sendest ihn weiter. Dies ist kein Spaß! …«

Humbug, dachte Hilkenbach und musste etwas unangebracht grinsen. Egener schien den Brief nicht weitergesendet zu haben. Jedenfalls sah seine Leiche nicht gerade glücklich aus.

Wieder versenkte sich der Kommissar in das Papier, irgend etwas an diesem Brief irritierte ihn, er konnte nicht sagen, was es war.

»Soweit wir bislang wissen«, fuhr Wigger indes unbeirrt fort, »gab es keine Zeugen. Wie die Haushälterin weiter aussagt, fehlen einige wertvolle Gegenstände, vor allem Schmuck aus der Vitrine. Scheint sich da ziemlich genau auszukennen, die gute Frau, konnte uns sogar eine genaue Liste der Klunker geben. Wahrscheinlich hat sie hin und wieder mal probiert, ob sie ihr auch stehen …«

»Ja, ja, schon gut«, unterbrach der Kommissar seinen Assistenten abrupt, »ich kann das ja alles in Ihrem Bericht nachlesen.«

»Ich werde mich bemühen, ihn unterhaltsam und spannend zu schreiben.« Wigger bleckte die Zähne und setzte ein übertriebenes, provokantes Grinsen auf.

Hilkenbach ignorierte das völlig. Er grübelte.

»Haben Sie das hier gesehen?«, fragte er jetzt seinen Assistenten und hielt ihm das Papier vor die Nase.

»Ist ein Kettenbrief, nicht wahr?«, antwortete Wigger nach einiger Zeit, hatte aber keinen blassen Schimmer, was der Chef jetzt wieder vorhatte.

»Und? Ist Ihnen an diesem Brief nichts aufgefallen?«

Wigger nahm das Blatt und studierte es. Zu Beginn des Briefes, nach dem einleitenden Geschwätz von Glück und Schicksal, waren die Spielregeln erklärt. Das Prinzip der Kette und die Instruktionen für die Mitspieler wurden erläutert: »Dieser Brief könnte Dein Glück bedeuten. Auf ganz simple und völlig legale Art und Weise kannst Du durch ihn zu einer bedeutenden Menge Geld gelangen …« Es ging darum, Geld an den ersten Namen in einer Liste zu überweisen, diesen Namen dann durchzustreichen und seinen eigenen Namen an die letzte Stelle der Liste zu setzen. Der Brief sollte daraufhin fotokopiert und an fünf Freunde oder Bekannte geschickt werden. Ein üblicher Kettenbrief eben. Der Einsatz betrug 50 Mark.

Wigger konnte nichts Seltsames daran entdecken, er sah Hilkenbach hilflos an, dieser schaute streng zurück. Wigger las weiter.

Nach den Spielregeln folgten die bei solchen Briefen üblichen Verwünschungen und Drohungen, um die Angeschriebenen einzuschüchtern und ein Unterbrechen der Kette zu verhindern. Anschließend, wie um die Ernsthaftigkeit zu belegen, wurden Beispiele von Leuten genannt, die angeblich von Unglücksfällen heimgesucht worden waren, weil sie sich an dem Kettenbrief nicht beteiligt hatten. Als Wigger an dieser Stelle angekommen war, pfiff er leise und fragte: »Meinen Sie die Unglücksfälle?«

Weil Hilkenbach offensichtlich nicht verstand, las Wigger vor: »›Unterbrich auf keinen Fall diese Kette, es würde großes Unglück auf Dich herabbeschwören. Arno Hillar aus Hamburg erhielt diesen Brief, vergaß ihn und starb nur eine Woche später an einem Herzinfarkt. Dieter Kannenberg aus Duisburg unterbrach ebenfalls die Kette und verunglückte bei einem Autounfall tödlich …‹« Wigger sah den Kommissar fragend an und meinte: »In dem Stil geht das weiter, lauter Unfälle und sogar Morde. Ganz schön starker Tobak, nicht wahr?«

»Mag schon sein«, meinte Hilkenbach, »aber diese Kettenbriefe sind doch alle so geschrieben. Den Leuten soll Angst gemacht werden, damit sie den Brief nicht einfach in den Mülleimer werfen.«

»Hm …«, grunzte Wigger beleidigt, »Sie müssen es ja wissen!«

»Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?«, fragte sein Chef.

Wigger überlegte erneut einige Sekunden. »Ja, doch«, sagte er schließlich, »es fehlt die Namensliste, die Liste der Mitspieler. Wie soll man sich in eine Liste eintragen, wenn es die gar nicht gibt?«

Aber natürlich, dachte Hilkenbach, die Namensliste, das war’s! Das hatte ihn die ganze Zeit irritiert, das hatte ihn stutzig gemacht. Und er war nicht darauf gekommen. Da musste er sich von so einem dahergelaufenen Dorftrottel auf die Sprünge helfen lassen.

»Na, sehen Sie! Und das gibt Ihnen nicht zu denken?« Hilkenbach war sauer, er zog die Augenbrauen hoch.

»Nee, warum auch?«, antwortete Wigger knapp und schüttelte innerlich den Kopf über seinen Chef. »Für mich sieht das hier eher nach Raubmord und weniger nach illegalem Glücksspiel aus«, sagte er und deutete dabei auf die Leiche zu seinen Füßen.

»Hm …«, machte diesmal der Kommissar, »Sie müssen es ja wissen!«

»Ah, da ist ja endlich die Kutsche mit den Aasgeiern«, sagte Wigger plötzlich erleichtert. Er war froh, dass er das Thema wechseln konnte.

»Was für eine Kutsche?«

»Der Leichenwagen. Hat ja auch lang genug gedauert.«

Der Kommissar und sein Kollege verließen gemeinsam das Zimmer, sie begutachteten die restlichen Räume des Erdgeschosses. Alles war blank gescheuert und gewienert und, wenn auch auf andere Art, ebenso leblos wie das Arbeitszimmer.

Sie gingen hinauf in den ersten Stock und warfen einen Blick in das Schlafzimmer. Der Boden war weiß gefliest, die Möbel in einem einheitlichen, pastellfarbenen Hellblau gehalten. Als luxuriöses Hotelzimmer konnte der Kommissar sich diesen Raum sehr gut vorstellen, als Privatgemach kaum.

Das mindestens zwei Meter breite Bett war unberührt, auf der Bettdecke lag Egeners Pyjama, hübsch akkurat gefaltet. Mit Liebe von der Mölk, dachte Hilkenbach.

Auch im Keller, den sie anschließend begutachteten, war es nicht wohnlicher. In der kleinen Bar direkt neben der Treppe war es trotz bemühter Plüsch- und Rustikalromantik etwa so gemütlich wie auf dem Warschauer Flughafen, vielleicht nicht ganz so geräumig. Hilkenbach besah sich die Flaschen. Nur die feinsten Marken. Teurer Malzwhisky, russischer Wodka, guter kubanischer Rum. Kein Fusel, kein Verschnitt. Die Flaschen waren fast alle voll. Die Gläser in Reih und Glied. Neonbestrahlt.

Im Fitnessraum gleich nebenan gab es außer weißen Wänden, einem Trimmfahrrad und ein paar Hanteln nur ein Tischtennisbrett, an dem die eine Seite hochgeklappt war. Auf der heruntergelassenen Seite lag ein einzelner Schläger, etwas Staub hatte sich auf ihm abgesetzt. Der ganze Raum sprach es aus: Egener musste ein schrecklich einsamer Mensch gewesen sein.

Eigentlich verwunderlich. Er war ein gut aussehender Mann gewesen, ein Frauentyp. Erfolgreich in seinem Beruf, finanzielle Probleme hatte er allem Anschein nach nicht gehabt. Und als introvertierten, schüchternen Mann hatte Hilkenbach ihn auch nicht in Erinnerung. Ganz im Gegenteil. Egener war ein Schürzenjäger gewesen. Nur ungern gestand der Kommissar sich ein, dass er schon damals neidisch gewesen war. Egener, der Glückspilz. »Dieses Papier wurde an Dich gesandt, damit Du Glück bekommst.«

Die beiden Kriminalisten gingen wieder hinauf und zur Vordertür hinaus. Als Hilkenbach die für seinen Geschmack etwas zu protzige Treppe zur Auffahrt hinunterstieg, hielt er noch immer den Kettenbrief in seiner rechten Hand. Er grüßte mürrisch einige Kollegen, die in den Anlagen und Beeten nach weiteren Spuren suchten, und stieg in seinen Dienstwagen, auf den Beifahrersitz. Er ließ Wigger fahren.

Hilkenbachs Laune war eindeutig im Eimer, schon am Morgen hatte er geahnt, dass dieser Tag fürchterlich werden würde.

»Wie wär’s mit ’nem starken Kaffee, bevor wir uns ein wenig an der Uni umsehen?«, fragte er seinen erstaunt blickenden Kollegen. »Ich könnte einen vertragen.«

»Von mir aus, gerne. An der U-Bahn gibt’s einen Kiosk.«

»Wigger, Sie sind pervers! Nur ein paar Straßen weiter bekommt man den besten Espresso in ganz Dahlem, und Sie wollen zu einer Fritten-Bude. Kulturloser Banause!«

»Oho! Jetzt hab ich’s«, rief Wigger vergnügt. »Sie haben ’nen Kater! Dass ich das noch mal erleben darf!«

Hilkenbach versuchte, diese blöde Bemerkung zu überhören. Es fiel ihm nicht schwer. Übungssache.

Den Espresso beim Italiener an der U-Bahnstation Dahlem-Dorf konnte Hilkenbach nicht recht genießen. Zum einen, weil Wigger glaubte, ihm seine Erlebnisse der letzten Nacht erzählen zu müssen. Zum anderen, weil er wieder Egeners Gesicht vor sich sah, ein ehemals schönes, jetzt nur noch bleiches, überrascht wirkendes Gesicht mit einem verständnislosen Blick.

Wissenschaft war die Suche nach Erkenntnis, so hieß es wohl. Professor Egener hatte diese nicht mehr erhalten. Oder wenn, dann fürchterlich spät.

-

2. Der Freund

Hilkenbach sah müde und abgespannt aus, als er sich an diesem Samstagabend mit seinem Beinahe-Freund und Exkollegen Gerd Stahl zum wöchentlichen Billard-Spiel traf. Stahl war nicht unbedingt das, was man einen Busenfreund nannte, über Privates oder Intimes hätte Hilkenbach sich niemals mit ihm unterhalten, über Privatangelegenheiten sprach er eigentlich nie mit irgend jemandem. Aber Gerd Stahl war der einzige, mit dem er sich außerdienstlich auf ein Bier oder ein Billard- oder Schachspiel traf. Ein einziges Mal hatte der Kommissar seinen Assistenten Wigger auf ein Feierabend-Bier eingeladen, er hatte es anschließend schwer bereut. Der Abend war ein Fiasko gewesen.

-

Im Fall Egener gab es leider nichts Neues. Die Schnüffelei an der Uni hatte sich als zwecklos erwiesen. Am Wochenende traf man dort nur den altersschwachen Pförtner, der nicht nur akustisch verständnislos war, ein paar polnische oder jugoslawische Putzfrauen und die üblichen übereifrigen Betriebswirtschafts- und Jurastudenten, die ihr unscheinbares Aussehen durch das Tragen einer Krawattennadel und eines Aktenkoffers wettmachen wollten.

Im Institut für Soziologie schließlich hatten sie überhaupt niemanden mehr angetroffen. Hilkenbach hatte vor dem Schwarzen Brett gestanden und in Info-Broschüren geblättert: »Soziologie befasst sich mit allgemeinen sozio-ökonomischen Theorien, mit Theorien sozialen Wandels, mit Sozialisationstheorien, mit Kommunikationstheorien sowie mit Theorien sozialen Verhaltens überhaupt …«

»Theorien hatten Egener auch nicht geholfen«, hatte Hilkenbach laut gedacht.

»Aber eine Theorie würde uns helfen«, hatte Wigger gesagt.

Immerhin hatten sie herausgefunden, dass Egener eine Schwester in Berlin hatte. Anna Egener, ledig, wohnhaft in Schöneberg. Diese Schwester hatte die Haushälterin mit keinem Wort erwähnt.

Hilkenbach hatte sie telefonisch vom Tod ihres Bruders unterrichtet, mit Vorsicht und Anteilnahme. Doch Hilkenbachs »Mein Beileid, Frau Egener« war unnötig gewesen, sie schien nicht sonderlich berührt. Ihre Antwort war Schweigen gewesen und anschließend der schnippische Satz: »Da wollen Sie mich sicherlich sprechen. Aber nicht heute, heute geht’s nicht. Kommen Sie morgen, morgen ist Sonntag. Von mir aus morgen. Aber rufen Sie vorher an.«

-

Familien sind auch nicht mehr das, was sie mal waren, dachte Hilkenbach, als er nun in der Steglitzer Billardkneipe mit seinem Freund Stahl saß und sich wünschte, zu Hause vor dem Fernseher geblieben zu sein.

Er wirkte abwesend, seine schmalen Augen starrten ins Nichts, er versteckte sich hinter seinem Bier, das er mit beiden Händen fest umklammerte. Seine übergroßen Tränensäcke unter den Augen kamen durch die dunklen Ränder erst recht zur Geltung, sie wirkten, als wollten sie dieses knochige Gesicht aus den Fugen sprengen. Mit einem widerwilligen Grunzen begleitete Hilkenbach einen Schluck von dem schal schmeckenden Bier, es war schon abgestanden aus dem Hahn gekommen.

Stahl, ein ehemaliger Drogenfahnder, der schon seit einigen Jahren nicht mehr bei der Polizei war, weil er es mit Gesetzen und Dienstvorschriften nicht immer allzu ernst genommen hatte, stand breitbeinig am Billardtisch, hielt seinen dicken Bauch über dem grünen Tuch in der Schwebe und vollbrachte wahre Wunderdinge mit dem Queue, das in seinen Händen wie ein Zahnstocher aussah.

»Gesehen?«, fragte er stolz in Richtung Ecktisch, an dem Hilkenbach mehr kauerte als saß. Der Kommissar hatte natürlich überhaupt nichts mitbekommen, klopfte aber ganz automatisch anerkennend auf den Tisch. Diesmal war es Stahl, der ein Grunzen vernehmen ließ, es klang ein wenig beleidigt. Mit dem nächsten, unkonzentrierten Stoß versenkte er die weiße Kugel.

»Du bist dran.«

»Hm? … Ach so, ja.« Schwerfällig, als würde er Tonnen mit sich herumschleppen, erhob sich Hilkenbach und nahm das Queue, das Stahl ihm reichte. »Was hab ich, die Halben?«

»Offensichtlich!«

Das war es tatsächlich. Abgesehen von der schwarzen Kugel lagen nur noch Halbe auf dem Tisch, sieben Stück, um genau zu sein. Hilkenbach entschied sich für die grüngestreifte.

»Hinten rechts.«

Die weiße Kugel traf die gewählte viel zu stark, die grün gestreifte Kugel ging einige Zentimeter an der Tasche vorbei, traf aber die schwarze Kugel und beförderte sie in die Nachbartasche.

»Ich würde eher sagen: die schwarze, hinten links.« Stahl nahm seinem Freund das Queue aus der Hand und beförderte Hilkenbachs Kugeln nach und nach gekonnt in die Taschen.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Hilkenbach, »es scheint heute nicht mein Tag zu sein. Lass uns aufhören und noch eins von diesen kohlensäurefreien Bieren trinken.«

»Einverstanden«, meinte Stahl und bestellte noch zwei Gläser Engelhardt. »Wenn dir’s Bier im Arsche knarrt, dann war’s bestimmt von Engelhardt.«

»Au!« Hilkenbach zog eine schmerzverzerrte Miene, er fuhr sich mit Zeige- und Mittelfinger über seinen akkurat gestutzten, sehr britisch wirkenden Schnurrbart und meinte: »Der Spruch kommt aber auch nicht von dir.«

»Nee«, gab Stahl zu, »hab ich in ’nem Krimi gelesen.«

»Au!« Wieder ein Stöhnen bei Hilkenbach, diesmal heftiger.

»Was denn?« Er lachte. »Jetzt, wo ich nicht mehr live dabei bin, muss ich mich doch wenigstens aus zweiter Hand informieren. Ich seh mir auch immer Reality TV auf RTL an.«

Hilkenbach schüttelte ungeduldig den Kopf, es wirkte beinahe angeekelt. »Gerd, du enttäuscht mich. Hast du denn bei der BVG nicht genug Abwechslung?«

»Ach wo«, Stahl grinste, »sogar mein Rottweiler, Bodo heißt der, schläft dauernd ein.«

Nachdem er bei der Drogenfahndung vom Dienst suspendiert worden war, weil er die Verdienstmöglichkeiten des Drogengeschäfts entdeckt, sich dabei aber etwas ungeschickt angestellt hatte, war Stahl zum Wachschutz gewechselt. Die IHS, die Industrie- und Handelsschutz GmbH, hatte ihn natürlich mit Kusshand genommen, bei seiner imponierend schwergewichtigen Erscheinung hatte er gar keinen Wachhund nötig, um auf den Berliner U-Bahnhöfen für Ordnung zu sorgen.

»Kannst du dir das vorstellen? Ein scharfer, gefährlicher Rottweiler mit dem Namen Bodo? Zorro oder Rex oder Killer, das wären angemessene Namen.« Sein Lachen wirkte Furcht einflößend. War Wigger ein Teddybär, so war Stahl ein Grizzly. Alles an ihm war wuchtig und massiv, sein Gesicht ein Holzklotz, ebenso hart und ebenso runzlig, seine Nase ein knolliger Fleischberg, die Ohren gewaltig. Stahl hatte die Schenkel eines Eisschnellläufers, den Hintern eines Finanzbeamten, den Bauch eines Wochenendsäufers und die Arme eines Maurers. Eine Gestalt wie aus einem Fellini-Film, wäre er zehn Zentimeter kleiner gewesen, hätte man ihn auf Rhodos aufstellen können.

Der Wachschutzmann wollte gerade ein nettes Anekdötchen zum besten geben, eine niedliche Geschichte vom alltäglichen Vietnamesenjagen auf Ost-Berliner S-Bahnhöfen, als er bemerkte, dass sein Gegenüber ihm gar nicht zuhörte, sondern lustlos mit einer Salzstange in seinem Bier herumpanschte.

»Hey, Hartmut, bist du noch da?« Er wedelte mit der Hand vor Hilkenbachs Augen herum. »Erde ruft Wolke sieben, bitte kommen!«

»Entschuldige.« Die Salzstange war abgebrochen und schwamm nun im Bier, angewidert stellte Hilkenbach das Glas beiseite.

»Ist dir ’ne Laus über die Leber gekrochen?«

»Ich bearbeite gerade den Mord an einem alten Bekannten. Macht mir ein wenig zu schaffen. Tut mir leid.«

»Was tut dir leid? Dass es dein Bekannter war oder dass es dir zu schaffen macht?« Stahl zwinkerte ganz beiläufig der Kellnerin zu und bestellte per Handzeichen weitere zwei Biere.

»Ein ehemaliger Studienkollege von mir ist gestern Abend umgebracht worden. Ich weiß selbst nicht, warum mich das so mitnimmt, ich hatte ihn fast zwanzig Jahre nicht gesehen.« Hilkenbach stutzte. »Hab nicht mal gewusst, dass er noch in der Stadt lebte.«

»Ihr wart mal Freunde?«, fragte Stahl so mitfühlend es ihm möglich war.

»Ja und nein«, antwortete Hilkenbach zögernd, »wir hatten so eine Art Studentenclique damals. Ein eingeschworenes Quartett. Friedhelm Egener war einer davon.«

»Ist das der Ermordete?«

Hilkenbach nickte.

»Wir nannten uns ›die vier Musketiere‹«, sagte er nach einer Weile, »dabei war eine von uns eine Frau. Ein Mädchen.« Hilkenbach lächelte nachdenklich und wurde rot im Gesicht, nur ganz leicht.

Stahl merkte es, grinste und meinte: »Eine Frau, drei Verehrer, wie?«

Erneut nickte Hilkenbach. Allmählich wich die Farbe aus seinem Gesicht, und er sagte: »Manchmal hasse ich meinen Job!« Wieder machte er eine Pause, eine sehr lange. Seine Gedanken schweiften ab. »Irgendwie geht mir das alles gegen den Strich …«

»Alles?« Stahl wusste ganz genau, dass Hilkenbach etwas ganz Bestimmtes meinte, sein Unmut war keineswegs so allgemein, wie er vorgab. »Du willst mir doch hoffentlich jetzt nicht erzählen, dass du amtsmüde bist, dass du Meisterdetektiv keine Lust mehr hast, dass dein Job dir keinen Spaß mehr macht. Bist du etwa in der Midlife-Crisis?! Oder unglücklich verliebt?«

»Quatsch! Dieser Fall schmeckt mir nicht, diese Raubmord-Version will mir nicht gefallen. Ich hab das im Urin.«

Stahl sah den Kommissar auffordernd an. »Details, wenn ich bitten darf. Oder soll das ein Selbstgespräch werden?«

Die Kellnerin brachte das Bier und stellte die Gläser mit gezierter Handbewegung auf den klebrigen Tisch. Als sie sich dabei ein wenig bückte, gaffte Stahl ihr auf die stolz geschwellten Brüste.

Stahl grinste die Kellnerin dämlich an, sie grinste noch dämlicher zurück. Hilkenbach war dieses Kneipengebalze sichtlich peinlich, er wartete nur darauf, dass sein Freund ihr einen Klaps auf den Hintern geben würde. Er wäre dann aufgestanden und gegangen. Vielleicht.

»Also, Egener …« Hilkenbach räusperte sich und wartete bis Stahl sich ihm wieder zuwandte. Als der lüsterne Blick aus seinem Gesicht verschwunden war, fuhr der Kommissar fort: »Egener wurde heute morgen von seiner Haushälterin neben dem Schreibtisch gefunden, mit eingeschlagenem Hinterkopf. Er war angezogen und das Bett unberührt. Eine Glastür in dem Zimmer war von außen zertrümmert, eine Vitrine eingeschlagen, ein Schränkchen aufgebrochen, der Schreibtisch ein wenig durchwühlt. Schmuck von beträchtlichem Wert gestohlen, Egener war Sammler oder so was. Na, was machst du daraus?«

»Scheint einfach.« Stahl kratzte sich hinter seinem großen, fleischigen linken Ohr. »Einbruch am Abend, Einbrecher vom Hausherrn überrascht, Totschlag. Was spricht dagegen?«

»Wenig. Nur sagte die Haushälterin aus, am Morgen sei das ganze Haus hell erleuchtet gewesen. Gesetzt den Fall, das war es schon am Abend zuvor, so war das wohl kaum eine Einladung für einen Einbrecher.«

»Vielleicht hat der ja selbst die Lichter eingeschaltet.«

»Abgesehen davon, dass das natürlich nicht sonderlich vorsichtig wäre, wieso hat er dann nicht ein einziges der erleuchteten Zimmer betreten? Nicht eine einzige Schublade herausgezogen, nicht einen einzigen Schrank geöffnet? Außer dem Arbeitszimmer ist das ganze Haus jungfräulich und unberührt. Würdest du als Einbrecher, der gerade einem Kerl den Schädel eingeschlagen hat, ganz gemütlich durchs Haus wandern und dir die Zimmer ansehen?«

»Kaum.« Stahl kniff die Augen zusammen und zog einen Mundwinkel nach oben, er war verwirrt. Es sah ulkig aus. »Vielleicht hat Egener das Licht angeschaltet, als er etwas Verdächtiges im Haus hörte.«

»Natürlich.« Hilkenbach schaute seinen Freund spöttisch an. »Er hört unten im Arbeitszimmer Geräusche und macht erst einmal im Schlafzimmer, dann im oberen Flur, auf der Treppe, im unteren Flur, schließlich in der Küche und zuletzt im Arbeitszimmer das Licht an. Ich möchte den Einbrecher sehen, der dann noch da ist, um vom Hausherrn überrascht zu werden.«

»Was meinst du denn?«, fragte Stahl und begutachtete skeptisch sein Bier. Die Schaumkrone hatte sich in Windeseile verflüchtigt. Wenn überhaupt eine dagewesen war. Er prostete seinem Gegenüber zu und nahm einen mächtigen Schluck.

»Für Wigger ist der Fall klar.« Hilkenbach rührte sein Bier nicht an und musste unwillkürlich grinsen, ein wenig geringschätzig, ein wenig mitleidig.

»Wigger? Ist das dein Assistenten-Clown?«

»Genau der.« Das Grinsen war verschwunden, Hilkenbach steckte sich eine Zigarette an und spielte mit dem Feuerzeug herum. »Für Wigger steht fest, dass der Einbrecher sich von hinten durch den Garten angeschlichen, die Scheibe eingeschlagen und die Vitrine aufgebrochen hat und dann von Egener überrascht wurde. Trotz Flutlichtbeleuchtung. Wie hat Wigger sich ausgedrückt? … ›Er zieht dem Professor einen Scheitel, rafft zusammen, was er in die Hände bekommt, und macht die Flatter.‹« Hilkenbach betrachtete andächtig seine Zigarette, schwieg einige Sekunden und schüttelte dann energisch den Kopf. »Mir gefällt diese Version nicht.«

»Und welche würde dir gefallen?« Noch ein kräftiger Schluck, und Stahls Bierglas war leer.

»Keine Ahnung. Ich hab wirklich keinen Schimmer.« Hilkenbach schüttelte sich, als wollte er seine Gedanken verscheuchen.

Stahl konnte sich schon vorstellen, woran Hilkenbach jetzt dachte. Es waren ja immer die gleichen Gedanken, die gleichen Wünsche. Die ewigen Sehnsüchte, das Lechzen nach einem Jahrhundertfall. Stahl wusste nur zu gut, hatte schon oft über sich ergehen lassen müssen, dass der Kommissar sich zu Höherem berufen fühlte.

Hilkenbach hasste Routinearbeit, er sah sich als kriminalistischer Querdenker. Seit Jahren wartete er nun schon auf seinen Fall. Einen Fall, wie er von einem Krimischriftsteller nicht besser erdacht werden könnte. Er wollte es allen beweisen, nicht zuletzt sich selbst, dass er der Beste war. Ein Logiker, ein Kombinierer, mit messerscharfem Verstand und unbeirrbarem Willen, kurzum, ein Kommissar, wie er in Büchern stand. In jenen Büchern, die er doch angeblich so hasste.

Leider war Hilkenbachs Chef, Kriminalrat Brutzinger, mit dieser Art und Arbeitsweise alles andere als einverstanden. Stahl wusste das, er kannte den Kriminalrat flüchtig. Brutzinger wünschte sich Papiertiger, die Formulare ausfüllten und sich an Vorschriften hielten, und keine Spürhunde, die sich allein auf ihre Nase verließen. Vor allem hatte Brutzinger etwas gegen Untergebene, die ihn in aller Öffentlichkeit kritisierten und bloßstellten. Hilkenbach hatte dies mehrfach getan.

»Was sagt dein Häuptling zu dem Fall?«, fragte Stahl vorsichtig.

»Brutzinger?«, entgegnete der Kommissar. »Der interessiert mich nicht.«

»Das sollte er aber! Was meinst du, wer dafür verantwortlich ist, dass du seit Jahren nicht befördert worden bist? Du solltest diesen Glatzkopf ernst nehmen.« Stahl grinste und meinte: »Denk doch an deine Pension.«

Hilkenbach entgegnete nichts und drückte die Zigarette, an der er kaum gezogen hatte, aus.

»Wollen wir noch ein Bier trinken?« Stahls Frage klang nicht gerade wie eine Aufforderung. Er glotzte ungläubig auf Hilkenbachs volles Glas. »Oder sollen wir gehen?«

»Ich möchte gern nach Hause.« Hilkenbach war schon ein wenig betrunken, er vertrug keinen Alkohol, und der allwöchentliche Billardtermin war der einzige Abend der Woche, an dem er welchen zu sich nahm. »Bringst du mich mit dem Auto?«

»Klar.« Die beiden Männer standen auf, bezahlten und verließen das Lokal. Der eine groß und schmächtig, der andere größer und gewaltig und umfangreich. Pat und Patachon. Nein, David und Goliath.

Die Kellnerin hinterm Tresen schaute ihnen zweifelnd nach, sie zog ihre Nase kraus. Von Koketterie nichts mehr zu spüren. In der Hand hielt sie das Trinkgeld, 30 Pfennige.

Kopfschüttelnd warf sie die Groschen in ein Whiskyglas, auf dem zu lesen war: »Danke!«

Als sie sich wieder ihren Gästen zuwandte, war in ihrem Gesicht wieder der geschäftsmäßig blöde Blick, auf den Typen wie Stahl so standen. Wahrscheinlich hatte sie diesen Blick vorm Spiegel geübt, sie beherrschte ihn perfekt.

-

Eine halbe Stunde später war Hilkenbach in seiner 2-Zimmer-Wohnung in der Schlangenbader Straße. Hilkenbach wohnte (im wahrsten Sinne des Wortes) über der Autobahn. Ein seltsamer Gebäudekomplex war das, wie aus einem schlechten Sciene-Fiction-Film. Ein riesiger, unförmiger Kasten, der durch seine Terrassenbauweise an eine durch die Mangel gedrehte Pyramide erinnerte. Ein schlechter Architektenwitz. Ein Haus über der Autobahn errichtet; da wo andere Leute ihre Kohlen lagerten, fuhren bei Hilkenbach Autos mit Höchstgeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern auf der A 104.

Der Kommissar ging ins Wohnzimmer, es war wie immer nicht aufgeräumt. Für wen auch. In der Mitte des Raumes stand ein überdimensionaler ovaler Esstisch, auf den darauf ausgebreiteten Zeitungen der vergangenen Woche lagen abgenagte Äpfel und vertrocknete Pfirsichkerne, Taufliegen tänzelten darum herum. Die Drosophila, die kleine Essigfliege; Hilkenbach kannte sie noch aus dem Biologieunterricht. Das einzige, was er nach all den Jahren behalten hatte. Dass es Februar war, war den Fliegen egal, sie schienen in der Wohnung zu überwintern. Hilkenbach hatte keine Ahnung, weshalb. Im Backofen hätte er die Antwort gefunden.

Die Tasse mit dem Kaffee vom Morgen war noch fast voll, auf dem Frühstücksteller lag ein Salamibrot, nicht angerührt. Hilkenbach brachte das Geschirr in die Küche, um es in die Spülmaschine zu stecken. Keine Chance, sie war bis obenhin voll. Beim Öffnen der Maschine kam ihm ein schimmliger Geruch entgegen. Wie um den Gestank zu übertünchen, stellte er das Radio an. Er ging zurück ins Zimmer, zum Schreibtisch, und entleerte seine Jackentaschen. Immer steckte er irgendwelchen Krimskrams ein, beliebiges Zeug, das irgendwo herumlag. Diesmal waren es Stahls Benzinfeuerzeug, ein paar Knöpfe und Büroklammern und zwei Blatt Papier.

---ENDE DER LESEPROBE---