1,49 €
Berlin, Anfang der 2000er. Wie alljährlich im Februar plagt sich der Filmjournalist Albrecht Niemeyer mit der Berlinale. Er ist Berlins bösartigster Kritiker und stolz darauf, denn die Einschaltquoten geben ihm Recht. Privat jedoch läuft alles bei ihm schief, sein Freund Jupp - ein Gefährte aus alten Punk-Zeiten - hat sich bei ihm eingenistet und geht ihm auf die Nerven. Vor allem aber leidet Albrecht darunter, dass seine Frau Emily ihn verlassen hat. Als sei dies nicht schon Grund genug, schlecht gelaunt zu sein, wird Albrecht zu allem Überfluss eine Briefbombe ins Pressefach gelegt. Zwar bleibt er durch einen Zufall unverletzt, doch der Bombenleger kündigt per Telefon einen weiteren Anschlag an. Die ermittelnden Kriminalbeamten nehmen die Bedrohung nicht ernst, und so beschließt Albrecht, selbst den Detektiv zu spielen. Personen und Tatmotive gibt es genug, denn der Filmkritiker hat es sich beinahe mit jedem Filmschaffenden in Deutschland verscherzt. Doch dann geschieht ein völlig unerwarteter Mord, und die Spur führt plötzlich in eine ganz andere Richtung - in Albrechts Vergangenheit, als dieser mit der Punkband "Die Ordensbrüder" die Bühnen unsicher machte. "Beckmann lässt seine Geschichte Haken schlagen und serviert eine überraschende Auflösung. 'Filmriss' hat einen lakonischen Witz und ist gute Unterhaltung. Launig, sympathisch, gut." - Neue Westfälische "Filmriss' ist ein spannend satirischer Krimi, der zwischen der Berlinale von heute und der Punkmusik-Szene der 80er Jahre hin- und herpendelt. " - Deutschlandfunk
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2016
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Vierter Teil
Epilog
Impressum
–
Dieser Roman erschien erstmals 2003 als berlin.krimi im be.bra verlag, Berlin. Die vorliegende Ausgabe ist vollständig überarbeitet und entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
Die Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen und Personen sind nicht beabsichtigt, aber auch nicht auszuschließen. Dennoch ist es nur ein Roman.
Mein besonderer Dank gilt Trini Trimpop, Wieland Speck, Michael Winterbottom, Hermann & Brigade Fozzy und Ina.
M. B.
Weitere Informationen im Internet unter www.manibeckmann.de
–
1
Albrecht hatte schlechte Laune. Das war an sich nichts Besonderes oder Ungewöhnliches, denn er war eigentlich immer schlecht gelaunt. Er war gut darin. Schließlich wurde er dafür bezahlt, üble Laune zu haben. Albrecht war Filmjournalist und hatte sich seinen Ruf als Berlins bösartigster und meistgehasster Kritiker hart erarbeitet. Vor allem für einheimische Filmschaffende war er seit langem ein rotes Tuch; den „Totengräber des deutschen Films“ nannten sie ihn, was er jedoch als Kompliment verstand. Solange sein Sender, eine lokale Station mit dem einfallsreichen Namen „Berlin-Kanal“, ihm den Rücken freihielt und die Einschaltquoten ihm Recht gaben, kümmerten ihn die kleingeistigen Beschwerden deutscher Filmschaffender nicht. Seine Sendung „Tacheles“ hatte ihren Namen schließlich nicht ohne Grund. Albrecht sprach Klartext, und was konnte man mit dem deutschen Film schon anderes tun, als ihn verreißen?
Mit den unsäglichen Produkten teutonischer Filmkunst hatte seine momentane Missstimmung allerdings nichts zu tun, jedenfalls nicht unmittelbar. Er stand an einer türkischen Imbissbude in der Nähe des Potsdamer Platzes und schaute angeekelt auf den Pappteller in seiner Hand.
„Was soll das, bitte schön, sein?“, wandte er sich an die Türkin hinter dem Tresen, die ihre vor Kälte roten Finger an einem Glas Tee wärmte.
Die Frau antwortete mit einem verständnislosen Blick.
„Ich hatte einen Fleischspieß bestellt“, erklärte Albrecht, und sein Atem hing wie eine Fahne in der eisigen Februarluft.
„Ist Fleischspieß“, sagte die Frau. „Macht zwei Euro fünfzig.“
„Sehen Sie das?“ Er deutete mit dem behandschuhten Finger auf etwas Grünliches, das aus der rotbraunen Tunke hervorlugte. „Das ist Paprika.“
„Paprika“, bestätigte die Türkin und ließ das R rollen.
„Und das da …“ Er stocherte mit der Plastikgabel in dem frittierten Etwas herum, bis er ein bräunliches Stück aufgespießt hatte und der Frau vor die Nase halten konnte. „Das ist Leber.“
„Wenn Sie es sagen“, antwortete sie und nippte an dem Tee.
„Gute Frau“, er knallte den Teller angewidert auf den Tresen, „wenn das da Paprika und das da Leber ist, dann, meine Liebe“, er ließ seinen Finger bedeutsam über dem Essen kreisen, „dann ist das da kein Fleischspieß.“
„Ach“, sagte die Frau, „sondern?“
„Schaschlik!“
„Und?“
„Und?! … Ich höre wohl nicht richtig.“ Er presste empört die Lippen aufeinander, hob die Brauen, zeigte das missfällige Augenrollen, für das ihn sein schadenfrohes Publikum so liebte, und fauchte: „Ich weiß nicht, ob es sich bis zum Bosporus herumgesprochen hat, aber in Deutschland besteht der Fleischspieß aus Fleisch und Zwiebeln, sonst nichts. Keine Paprika und erst recht keine Leber! Und ein Spritzer Worcestersauce kann auch nicht schaden.“ Er sprach „Worcester“ wie ein Engländer aus: Wuhster.
„Worreschester ist aus“, sagte die Frau.
„Sie haben dort auf Ihrer Tafel Fleischspieß ausgepriesen“, rief er und deutete auf ein Schild, auf dem in geradebrechtem Deutsch neben Döner Kebap und Lahmacun auch diverse Köstlichkeiten einheimischer Imbisskultur feilgeboten wurden. „Sie verkaufen aber stattdessen Schaschlik. Das ist Etikettenschwindel, weil Sie nämlich Minderwertiges zu überteuerten Preisen verkaufen! So was ist in unserem Land verboten.“
Die Frau runzelte die Stirn, stellte ihren Tee beiseite und fragte: „Was wollen Sie eigentlich?“
„Ich will einen Fleischspieß“, knurrte Albrecht.
„Fleischspieß haben wir nicht“, antwortete sie, „wollen Sie Schaschlik?“
Albrecht starrte sie feindselig an und schwieg.
Die Türkin zuckte mit den Achseln, nahm den Pappteller und warf ihn kurzerhand samt Schaschlik in den Abfalleimer. Dann beugte sie sich über den Tresen und brüllte: „Und jetzt verpiss dich, du Arschloch!“
Das war’s! Dieser Tag war im Eimer, eindeutig und endgültig im Eimer. Er hatte es ja gewusst. Er hatte es bereits geahnt, als Jupps Schnarchen aus dem Nachbarzimmer ihn jählings aus dem Schlaf gerissen hatte. Verdammter Mist! Warum tat er sich das jedes Mal aufs Neue an? Rausschmeißen sollte er den Kerl. Hochkant. Ein für alle Mal. Und überhaupt: Berlinale! Internationale Filmfestspiele. Dass er nicht lachte! Es war doch immer das Gleiche. Ein einziges Elend.
Der Frühfilm war die obligatorische Katastrophe gewesen, jeder Film, der um neun Uhr morgens gezeigt wurde, konnte nur eine Zumutung sein. Schlechte Filme auf nüchternen Magen vertrug er einfach nicht, Frühstück vor dem ersten Film allerdings auch nicht. Und so hatte er mit knurrendem Gedärm im Kino gesessen und sich damit getröstet, nach überstandener Tortur einen leckeren Imbiss zu sich zu nehmen. In der Sushi-Bar, die er normalerweise besucht hätte, war allerdings ein solcher Andrang gewesen, dass er lieber das Weite gesucht hatte. Außerdem hatte er in der Schlange der Wartenden Martin Brandt entdeckt, den ebenso nervtötenden wie geschwätzigen Filmredakteur des „Berliner Abendblatts“, dem er an diesem Morgen auf keinen Fall über den Weg laufen wollte. Und so hatte ihn das missgünstige Schicksal ausgerechnet an diese türkische Imbissbude verschlagen. Es war bereits nach Mittag, seine Magenwände rieben wie Eisenfeilen aneinander und gaben Geräusche von sich, die an Eisbrecher im Polarmeer erinnerten. Er war kurz davor, einen ausländerfeindlichen Sermon vom Stapel zu lassen oder gar handgreiflich zu werden. Er hatte es ja von Anfang an gewusst!
„Was haben Sie gewusst?!“
Die Stimme der Türkin riss ihn aus seinen Gedanken, und erst jetzt bemerkte er, dass er mit ausgefahrenem Arm und gerecktem Zeigefinger vor der Imbissbude stand, wie eine Statue des Christoph Columbus, der auf das am Horizont auftauchende Amerika weist. Hinter Albrecht kicherten zwei Mädchen und tuschelten miteinander, ein junger Mann mit Baseballkappe und Rapper-Bärtchen betrachtete ihn aus den Augenwinkeln und schien zu überlegen, woher er das Gesicht kannte.
„Ach!“, machte Albrecht, winkte ärgerlich ab, schlug den Kragen seines Mantels hoch und schob sich die Schirmmütze in die Stirn. Er trug die Mütze wie einst Mao oder Thälmann, und nur der Druckknopf auf dem Schirm wies darauf hin, dass es sich eigentlich um das bei Pfeife rauchenden, englischen Rentnern so beliebte Modell handelte. Die Mütze hatte sogar Ohrenklappen, die er aber wohlweislich auf der Innenseite versteckt hatte.
Ohne auf den Verkehr zu achten, spurtete er über die Potsdamer Straße. Ein Taxifahrer ging in die Eisen, es quietschte, und der Mann stieß in seinem Wagen einen unhörbaren Fluch aus. Albrecht ging die Eichhornstraße entlang, ließ das Hotel „Grand Hyatt Berlin“, in dem das Pressezentrum samt Ticket-Counter und Saal für die Pressekonferenzen untergebracht war, links liegen und überquerte den berlinalebeflaggten Marlene-Dietrich-Platz. Insgeheim wünschte er, der ganze verdammte Potsdamer Platz würde sich in Luft auflösen. Nicht dass die Ansammlung unförmiger, farblich verirrter und geschmackloser Bauten die Gegend verschandelte, ärgerte ihn (was gab an dieser trostlosen Gegend schon zu verschandeln?), auch das Jammern der Kollegen über das zentrale Festivalkino, das eigentlich ein Musical-Theater war und dessen Sitze den empfindlichen Journalistenhintern zu unbequem waren, konnte er nicht nachvollziehen. Was ihn jedoch wirklich anwiderte, war die Tatsache, dass sich der Weg von seiner Wohnung zu den Berlinale-Kinos nach dem Umzug des Festivals an den Potsdamer Platz fast verdoppelt hatte. Früher hatte er zu Fuß von der Ansbacher Straße zum Zoo-Palast und den Ku’damm-Kinos laufen können, heute musste er sich mit dem eigenen Auto herumquälen oder ein Taxi nehmen. Natürlich hätte er auch mit der U-Bahn fahren können, die Verbindung vom Wittenbergplatz zum Mendelssohn-Bartholdy-Park war nicht die schlechteste, doch mit der BVG fuhr Albrecht grundsätzlich nicht mehr, seitdem er einmal beim versehentlichen Schwarzfahren erwischt worden war. Weder seine Beteuerung, die Monatskarte befinde sich in seinem anderen Mantel, noch sein Prominentenstatus hatten den Kontrolleur zu nachsichtigem Verhalten bewegen können. Vermutlich gab es ein Kopfgeld für jeden erlegten Schwarzfahrer. So etwas merkte sich Albrecht und nahm es persönlich, in dieser Hinsicht war er wie ein Elefant, und er ließ es gerne mal in seine Fernsehtiraden einfließen.
Er betrat das „Musical Theater Berlin“, das sich während der Festspiele „Berlinale-Palast“ nannte, und wich der Traube von Journalisten aus, die sich linker Hand vor dem Zugang zum Kinosaal drängelten, um sich einen günstigen Sitzplatz zu sichern. Albrecht tat sich diesen ärgerlichen Unsinn nicht mehr an, dieses Drängeln und Hetzen und aufgeregte Plätzefreihalten. Seit Jahren hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, sich auf einen der für die Jury-Mitglieder reservierten Plätze zu setzen. Es waren nie alle Juroren gleichzeitig anwesend, einige Sitze waren immer frei, und noch nie hatte jemand gewagt, ihn von seinem Platz zu verscheuchen. Das sollten sie nur versuchen!
Albrecht ging zu der mit rotem Teppich ausgelegten Treppe, die nach unten zu den Pressefächern führte. Bevor der nächste Wettbewerbsfilm startete, wollte er noch kurz sein Fach leeren und nachschauen, ob womöglich Einladungen für die täglich stattfindenden Partys und Empfänge vorlagen. Wenn er sich schon tagsüber ärgern lassen musste, so wollte er sich wenigstens nächtens dafür entschädigen.
„Ihren Ausweis bitte!“
Albrecht fuhr zusammen und starrte in das Gesicht eines blonden Mannes, der in seinem rot karierten Sakko und der viel zu weiten schwarzen Hose reichlich albern aussah. Wie ein Toilettenmann in einem zu teuren Hotel.
„Wie bitte?“, entfuhr es Albrecht.
„Oh, Entschuldigung, Herr Niemeyer“, sagte der Rotbejackte und machte eine verlegene Miene. „Ich habe Sie nicht gleich erkannt.“
Albrecht lächelte nachsichtig, stieg die Stufen hinab und übersah geflissentlich das Nicken und die grüßenden Handbewegungen der Kollegen, die ihm auf der Treppe entgegenkamen. Er betrat den seltsam geschnittenen, mit unförmigen Pappmascheefiguren und farbigen Stellwänden eingerichteten Raum, der nach oben, zum Treppenhaus hin, offen war und in dem es nach Druckerschwärze und feuchtem Papier roch. Eine Wand von Pressefächern mäanderte durch den Raum und endete an einem Informationsschalter, einer Art Durchreiche, die Albrecht an die ehemaligen Paketannahmestellen der Post erinnerte. Fahrig wirkende Journalisten hetzten herum und suchten nach kostenlosen Probeexemplaren von Tageszeitungen und Filmzeitschriften. Die armen Schweine ohne eigenes Fach fragten die bedauernd achselzuckenden Frauen am Schalter, ob es das Presseheft zu diesem oder jenem Film noch gebe oder ob inzwischen ein Fach frei geworden sei. An einem Tisch in der Mitte des Raumes, auf dem in riesigen Stapeln Flugzettel und fotokopierte Werbebroschüren auslagen, trennten die Kollegen die Spreu vom Weizen. Die Pressehefte, Fotos, Hochglanzmagazine und Einladungen landeten in den hässlichen Umhängetaschen, die alljährlich vom Hauptsponsor verteilt wurden, der Rest des Papierkrams in der überdimensionalen Mülltonne, die gleich neben dem Tisch stand und mehrmals am Tag geleert werden musste. Albrecht starrte verwundert auf die Tasche des Mannes, der neben ihm am Fach stand und hektisch in den Papieren kramte. „Berlinale ’99“, stand darauf, „Sponsored by Mercedes-Benz“.
Es war schon peinlich genug, die jeweils aktuellen Umhängetaschen mit sich herumzuschleppen (und Albrecht wäre lieber gestorben, als sich ein solches Monstrum um den Hals zu hängen), aber wie man so erbärmlich sein konnte, die Taschen der vergangenen Jahre aufzuheben und sogar weiterhin zu benutzen, das wollte Albrecht nicht in den Kopf. Vermutlich hielt sich der Kerl auch noch für besonders originell.
Während er sein Fach leerte und einen großen Stapel von Zetteln und Umschlägen herausfischte, sah Albrecht aus den Augenwinkeln heraus etwas sehr Beunruhigendes die Treppe herunterkommen. Eigentlich hatte er vorgehabt, wie alle anderen Schreiberlinge den täglichen Papierwust zu sortieren und eliminieren (die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, oder war es anders herum?), doch nun klemmte er sich den gesamten Stapel unter die Achsel und suchte nach einem zweiten Ausgang, einem Fluchtweg, dem grünen „Exit“-Schild, das ihn aus dieser Sackgasse herauswies. Er wollte bereits zu dem von zwei Styropor-Löwen bewachten Eingang des „Adagio“ stürzen, dem Café und Treffpunkt für die akkreditierten Gäste, doch es war bereits zu spät!
„Morgen, Albrecht“, sagte Martin Brandt, „ich hab dich vorhin schon beim Japaner gesehen, du hast mich wahrscheinlich nicht erkannt.“
Albrecht lächelte gezwungen und zuckte mit den Schultern. „Kann schon sein“, sagte er und wollte sich an Martin vorbei in Richtung Ausgang zwängen, aber genau in diesem Moment kam es zu einem Stau aus der Gegenrichtung. Eine Kamera-Crew des SFB blockierte die Treppe und machte Aufnahmen von dem heillosen Durcheinander, um zu dokumentieren, wie anstrengend und aufwühlend der Alltag der Festivaljournalisten war. Albrecht steckte inmitten eines Journalistenpulks fest und schaute direkt in die gleißenden Scheinwerfer, um nicht den Mann betrachten zu müssen, dem er seit Wochen aus dem Weg zu gehen trachtete.
„Willst du auch in den nächsten Film?“, fragte Martin Brandt.
Natürlich wollte Albrecht das, aber dennoch schüttelte er den Kopf. Der Stau hatte sich aufgelöst, das Licht war gelöscht, die Kamera verstaut, und Albrecht lief zur Treppe, ohne seinen hartnäckigen Kollegen und Beinahe-Freund abschütteln zu können.
„Hast du es gelesen?“, fragte Martin, als sie das Erdgeschoss erreicht hatten.
Albrecht nickte wahrheitsgemäß und ärgerte sich im selben Moment darüber. Er stapfte zum Ausgang und hoffte, Martin würde sich rechter Hand zu den auf Einlass Wartenden gesellen. Er wusste, dass er dies nicht tun würde. Albrecht hing am Haken.
„Und, wie findest du’s?“ Martin hatte ihn überholt und hielt ihm nun die Tür nach draußen auf. „Ist doch witzig, oder?“
Albrecht hatte sich vorgenommen, höflich zu sein, milde und nachsichtig, mit anderen Worten: er war fest entschlossen gewesen, Martin eine dreiste Lüge aufzutischen, aber dieses „Ist doch witzig, oder?“ war einfach zu viel.
„Kann ich nicht finden“, knurrte Albrecht.
„Im Ernst?“ Martin sah ihn entgeistert an.
„Seh ich aus, als würde ich scherzen?“
Nein, so sah er nicht aus. Nichts weniger als das. Er wirkte etwa so amüsiert wie an jenem Montag vor sechs Wochen, dem Silvesterabend, als Emily mit gepacktem Koffer vor ihm gestanden und ihn verlassen hatte. Nein, er scherzte nicht, ganz gewiss nicht. Er hatte schlechte Laune. Er war hungrig. Er war unausgeschlafen. Er hatte Lust, jemanden zu töten.
„Was gefällt dir daran nicht?“
Alles! Das ganze verdammte Drehbuch ist eine einzige Zumutung, ein schlechter Witz! Dies wäre die schlichte, aber ehrliche Antwort gewesen, doch Albrecht zwang sich, zu schweigen und dem Blick des anderen auszuweichen.
Martin Brandt war ein Musterbeispiel der Gattung des ebenso ambitionierten wie unzufriedenen Journalisten. Er gehörte zu der Schar der Verhinderten! Wie so viele der Kollegen hielt er sich eigentlich für etwas anderes. Albrecht kannte kaum einen Filmjournalisten, der nicht in Wahrheit Regisseur oder Drehbuchautor war, keinen Feuilletonisten, der nicht mindestens ein unfertiges Romanmanuskript oder eine Sammlung unveröffentlichter Gedichte in der Nachttischschublade hatte, keinen Musikkritiker, der nicht im Grunde genommen Gitarrist, Songwriter oder DJ war. Eine einzige Ansammlung verhinderter Künstler. Es war zum Kotzen! Albrecht fand diesen journalistischen Minderwertigkeitskomplex widerlich. Warum sollte er sich für etwas entschuldigen, das er mochte und von dem er etwas verstand? Er war Kritiker und damit basta! Und an der Zahl seiner Feinde konnte er erkennen, dass er nicht der Schlechtesten einer war. Die Kollegen jedoch schienen sich Tag für Tag vorzujammern, was sie alles nicht waren oder erreicht hatten. Als sei ihnen ihr jetziger Beruf peinlich.
Der wesentliche Unterschied zwischen Martin Brandt und dem Rest der Truppe bestand jedoch darin, dass Martin glaubte, Albrecht mit seinen jämmerlichen Autorenergüssen nerven zu dürfen. Sie kannten sich „aus alten Tagen“, wie Martin es gerne nannte, sie hatten in den Achtzigern gemeinsam studiert und die langweiligen Seminare am Lankwitzer Institut für Publizistik über sich ergehen lassen: „Einführung in die Medienökonomie“, „Deutsche Mediengeschichte: Ein Überblick“, „Grundbegriffe der Semiotik“. Damals hatte es einen gemeinsamen Gegner gegeben, eine hassenswerte Institution, gegen die sie sich verbündet und die sie besiegt hatten, indem sie sich nicht von sabotierenden Sekretärinnen und frustrierten, auf der Karriereleiter stecken gebliebenen Dozenten hatten unterkriegen lassen. Doch bereits kurz nach Abschluss des Studiums hatten sie sich eigentlich nichts mehr zu sagen gehabt. Obwohl beide denselben Beruf anstrebten, waren sie sich so fremd wie nur irgend denkbar. Albrecht wollte Karriere machen, er wollte sich nicht nur einen Namen verschaffen, sondern auch ein Gesicht bekommen, und nur das Fernsehen kam dafür in Frage. Martin hingegen war der altmodischen Ansicht, allein durch Inhalte überzeugen zu können. Er wollte etwas Wichtiges sagen, ohne jedoch als Person ins Rampenlicht treten zu müssen. Der anonyme Meister des Wortes. Was für ein Unsinn! Dennoch blieben sie in Kontakt, wider besseres Wissen und ohne jeden Lustgewinn. Martin begann als freier Journalist beim „Berliner Abendblatt“, wo er vermutlich heute noch unbedeutende Zeilen auf den hinteren Seiten füllen würde, wäre er nicht in einen spektakulären Kriminalfall verwickelt gewesen, der ihm einiges an Aufmerksamkeit und Medienpräsenz einbrachte. Auf irgendeiner Urlaubsinsel war er Zeuge oder Beteiligter eines Mordfalles gewesen, der Prozess vor dem Berliner Landgericht beherrschte wochenlang die Schlagzeilen der Gazetten, und als die Schuldigen verurteilt oder auf Nimmerwiedersehen ins Ausland verschwunden waren, hatte sich der kleine unscheinbare Journalist und gesichtslose Wortjonglierer zum Medienstar gemausert, der sich in der Folgezeit geschickt im Gespräch hielt, sogar in Fernsehtalkshows auftrat und fast zwangsläufig den nächsten frei werdenden Redakteursposten beim „Abendblatt“ übernahm. Dass es die Filmredaktion war, war reiner Zufall, und dass Martin alles andere als ein Filmfreak oder Cineast war, fiel nicht weiter ins Gewicht. Er war ein begnadeter Telefonierer und Händeschüttler, ein Meister des „Kontakt-Haltens“ und „Sich-in-Erinnerung-Bringens“. Er kannte Jan und Jedermann, duzte sich mit allen möglichen Kulturschaffenden und Entscheidungsträgern und wuchs wie Efeu an ihrem geduldigen Stamm empor. Dennoch war er unzufrieden, ein Verhinderter. Und Albrecht hatte nun darunter zu leiden.
„Wieso nicht?“
Albrecht hatte von Martins letztem Satz nicht ein Wort mitbekommen, und bevor er etwas Unsinniges antwortete, fragte er: „Was?“
„Wieso du nicht gelacht hast.“
„Weil es nicht komisch ist.“
„Da bist du aber der Erste, der das sagt.“
„Na, umso schöner für dich.“ Albrecht ergriff Martins Bemerkung wie ein Ertrinkender einen Rettungsring. „Wenn sich alle einig sind, dass du der nächste I. A. L. Diamond bist, warum regt dich meine Kritik so auf?“
„Wer ist I. A. L. Diamond?“
Albrecht verdrehte die Augen, schnaufte leise und beschäftigte sich so eindringlich mit dem Stapel Papier auf seinem Arm, als handele es sich um das handgeschriebene Originalmanuskript von „Ninotschka“. Tatsächlich jedoch war es der übliche Werbekram, nur ein einzige Party-Einladung, die Albrecht sofort in der Innentasche seines Mantels verstaute. Außerdem fiel ihm ein dickerer und wattierter Umschlag auf, der keinen Stempel oder Absender aufwies. Die Adresse war mit Maschine geschrieben und lautete: „Albrecht Niemeyer, Pressezentrum, Berlinale“. Es waren keine Briefmarken aufgeklebt, wahrscheinlich war das Päckchen persönlich abgegeben worden. Ein weiteres Manuskript, vermutete Albrecht und stöhnte voller böser Vorahnung. Nicht nur alte Studienkollegen, auch Wildfremde belästigten ihn hin und wieder mit ihren Machwerken und glaubten, weil Albrecht Filmkritiker sei, müsse er sich auch für den geistigen Durchfall unerkannter Talente interessieren. Er nahm den gesamten Stapel, ging zu einer Laterne und stopfte die Papiere kurzerhand in einen der dunkelgrauen Abfalleimer, auf dem die Berliner Stadtreinigung ihre vermeintlich lustigen Werbesprüchlein gepinselt hatte: „Kleines Aschloch“, war auf diesem Exemplar zu lesen.
„Raus hier! Oder wir rufen die Polizei.“
Albrecht und Martin fuhren herum. Sie standen vor McDonald’s und wurden Zeuge, wie zwei Angestellte einen bärtigen Obdachlosen an Händen und Füßen zur Tür herauszerrten und ihm zu verstehen gaben, er könne, wenn er schon nichts kaufe, nicht auch noch die Gäste belästigen.
„Wer belästigt hier wen?“, brabbelte der Obdachlose trunken. Der Mann schien keinen Hals zu haben, der Kopf stak ihm direkt zwischen den Schultern.
„Du stinkst, Meister“, sagte einer der beiden Angestellten und gab dem Mann einen Tritt in den Hintern.
Albrecht grinste und beschloss, den Laden zu betreten.
„Nein, sag doch mal“, beharrte Martin und beeilte sich, dem Freund ins Schnellrestaurant zu folgen. „Warum findest du es nicht komisch?“ Erst jetzt wunderte er sich, wo sie sich befanden, und fragte: „Seit wann isst du denn in einer Frittenschmiede?“
Frittenschmiede! Das war typisch Martin. Ständig verwechselte er Wortwitz mit Plattitüden. Sein Drehbuch wimmelte von solchen ulkigen Wortspielchen und peinlichen Stilblüten. Seine Protagonisten benutzten Ausdrücke wie „volle Kanne“ oder „ohne Ende“, und wenn jemand furzte, dann „stellte er einen Schirm in die Ecke“.
Albrecht reihte sich in eine der Schlangen vor den Kassen ein und maulte: „Ich habe Hunger. Und jetzt hör endlich auf zu nerven.“
„Aber der Titel ist doch gut, oder?“
„’Tot und Mordschlag’?“ Albrecht lachte. „Was soll denn daran, bitte schön, lustig sein? Der Titel ist genauso gewollt und an den Haaren herbeigezogen wie der Rest der Geschichte. Vielleicht solltest du keine Komödien schreiben, Martin. Versuch’s doch mal mit einem Dokumentarfilm.“
„Du glaubst wohl, ich hab keinen Humor, was?“
Ja, genau das glaube ich. Wenn es irgendeinen Menschen auf der Welt ohne den leisesten Sinn für Humor gibt, dann bist du es! Du bist so komisch wie ein Flugzeugabsturz. Der Untergang der Titanic war ein Brüller im Vergleich zu dir! Das hätte Albrecht antworten sollen, und vermutlich hätte es seine Laune beachtlich gesteigert, stattdessen sagte er: „Vielleicht solltest du die ganze Geschichte ein wenig ironischer anlegen.“
„Aber es ist doch ironisch gemeint“, antwortete Martin verständnislos.
„Eben!“
„Das versteh ich nicht.“
„Genau das ist das Problem.“
Und dann ging die Bombe hoch.
Es war ein Knall, sicherlich, aber nicht lauter als ein China-Böller, Marke Kanonenschlag. Und im nächsten Moment war draußen lautes Schreien zu hören. Der Obdachlose kam in den Laden gerannt, hielt seine rechte Hand mit der linken umklammert und reckte sie in die Höhe. Die Hand war schwarz verkohlt und blutig, die Finger sahen aus, als habe er sie in einen Schredder gehalten. Auch das Gesicht des Mannes war schwarz, der Bart angesengt. Der Obdachlose schrie wie am Spieß, aber es klang seltsamerweise nicht schmerzverzerrt, sondern lediglich entsetzt oder erschrocken. Die Leute wichen vor ihm wie vor einem Pestkranken zurück und verfolgten angeekelt das Schauspiel.
„Jetzt tu doch einer was“, rief der Angestellte, der dem Mann vorhin einen Tritt gegeben hatte.
„Ich ruf die Feuerwehr“, antwortete eine Frau hinter dem Tresen.
Plötzlich durchzuckte es Albrecht, und er starrte aus dem Fenster nach draußen. Aus dem grauen Abfalleimer stiegen qualmende Rauchfahnen hoch, Reste verbrannten Papiers ragten wie aus einem Vulkankrater hervor, einige verkohlte Fetzen schwebten wie Konfetti in der eisigen Luft.
„Kleines Aschloch“, stand auf dem Abfalleimer.
Wie von Sinnen lief Albrecht auf die Straße hinaus.
„He!“, rief ihm Martin hinterher. „Wo willst du denn hin?“
Aber er hörte es kaum noch.
–
2
Seit Emily ihn verlassen hatte, war die Wohnung in der Ansbacher Straße viel zu groß für ihn. Und viel zu leer. Zu Beginn des Jahres, drei Tage, nachdem sie samt Koffern aus seinem Leben verschwunden war, hatten drei hünenhafte und an den bloßen Oberarmen tätowierte Möbelpacker vor der Tür gestanden, mit einer langen Liste von Möbeln und Küchengeräten, die Emily gehörten, und hatten alles mitgenommen. Sie selbst war nicht anwesend gewesen, hatte lediglich einem der Männer einen Brief mitgegeben, in dem sie Albrecht bat, keinen Ärger zu machen und „zu kooperieren“.
„Seid ihr von ‚Synanon’?“, hatte Albrecht gefragt und ein verblassendes Frauenportrait auf dem mächtigen Bizeps seines Gegenübers betrachtet. Es hatte Ähnlichkeit mit dem Medusenhaupt.
Der Möbelpacker nickte und rieb sich die Pranken.
„Die Drogen sind im Spiegelschrank über dem Waschbecken“, zischte Albrecht und zog den Mantel an. „Aber macht anschließend den Dreck weg, wenn ihr euch einen Schuss setzt.“ Bevor der Mann sich auf ihn stürzen konnte, nahm Albrecht Reißaus und verschwand im Treppenhaus.
Als er am Abend zurückkehrte, war alles verschwunden, was Emily zu Recht oder Unrecht als ihr Eigentum deklariert hatte. Die Zimmer sahen aus wie teilamputiert, klaffende Lücken überall, und selbst wenn die Wunden heilten, die Narben würden sichtbar bleiben. Albrecht hatte bis heute kein einziges neues Möbelstück gekauft, kein Küchengerät ersetzt und nicht einmal die hellen Flecken an den Tapeten durch Filmplakate abgedeckt. Bis vor zwei Wochen hatte er noch geglaubt, sie werde zu ihm zurückkommen.
„Jupp? Bist du da?“
Keine Antwort. Ein Glück!
Albrecht betrat den Flur, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und atmete auf, obwohl es unverkennbar nach abgestandenem Zigarettenrauch roch. Die 4-Zimmer-Wohnung war zu groß für einen Einzelnen, das war unstrittig, aber dennoch hätte er einiges darum gegeben, sie im Moment mit niemandem teilen zu müssen. Vor allem nicht mit einem Chaoten wie Jupp. Natürlich hatte Albrecht ihm bei seiner Ankunft vor vier Tagen gesagt, er solle sich wie zu Hause fühlen, aber das hatte er nur so gesagt, er hatte es nicht wirklich gemeint. Niemand meinte es ernst, wenn er so etwas zu einem Besucher sagte. Es gehörte in dieselbe Kategorie wie „Mach dir nichts draus, das kann doch jedem mal passieren“ oder „Ich dich auch“. Man sagte es, weil es von einem erwartet wurde, aber nicht, weil es der Wahrheit entsprach.
Jupp allerdings war ein Meister darin, achtlos hingeworfene Höflichkeitsfloskeln für bare Münze zu nehmen. Zumindest wenn es ihm in den Kram passte. Und so hatte er sich prompt darangemacht, Albrechts Wohnung in ein Schlachtfeld zu verwandeln, nicht nur Emilys leer geräumtes Arbeitszimmer, das ihm als provisorisches Schlafzimmer diente. Überall in der Wohnung (allerdings selten in einem Aschenbecher) lagen Zigarettenkippen und Jointreste herum, obwohl Jupp nur zu gut wusste, dass Albrecht vor einigen Jahren das Rauchen aufgegeben hatte. Neben dem Klo stapelten sich alternative, meist amerikanische Musikzeitschriften und fotokopierte Independent-Fanzines (Jupp war vermutlich der einzige Mensch über Dreißig, der solchen Mist las), und das Wohnzimmer war übersät mit asiatischen Trash-Videos und uralten Punk-Scheiben (Vinyl, keine CDs!), die Jupp in dubiosen Second-Hand-Läden aufstöberte und wie esoterische Heiligtümer behandelte. Jedes Jahr im Februar, pünktlich zu den Filmfestspielen, seit nunmehr zehn Jahren, tauchte er in Berlin auf, nistete sich bei Albrecht ein und erinnerte ihn an „die guten, alten Zeiten“. In gewisser Weise war Jupp wie Martin Brandt, nur dass diese „alten Zeiten“ noch weiter zurücklagen als die Studienzeit mit Martin. Wenn Albrecht es recht bedachte, so hatte er ein menschliches Altlastenproblem. Ein Entsorgungsdefizit. Er wurde ehemalige Freunde nicht mehr los. Und Jupp war von allen Altlasten die schlimmste und hartnäckigste.
„Warum schmeißt du ihn nicht raus, wenn er dir so auf den Geist geht?“, hatte Emily im vergangenen Jahr gefragt und keck die Augenbrauen gehoben.
„Wir kennen uns so lange“, hatte Albrecht geantwortet.
„Als sei das ein Grund.“
„Glaub mir, es ist einer!“
„Männerfreundschaft, was?“, hatte sie gefrotzelt.
Seltsamerweise hatte Emily Jupp immer gemocht und sich auf seine Besuche sogar gefreut. Sie fand, er sei originell und ein echtes Unikum. Zugegeben, ein Fossil und manchmal ein wenig lächerlich, aber nicht uninteressant. Und nie langweilig.
„In Gegensatz zu mir?“, hatte Albrecht erwidert.
„Das hast du gesagt.“
Jupp gefiel sich in der Rolle des Unangepassten und Nonkonformisten. Er liebte es, unsinnige Theorien oder abstruse Behauptungen in den Raum zu stellen, die er anschließend mit Vehemenz verteidigte und als einzig existierende Wahrheit betrachtete. Hauptsache, er konnte „anders“ sein. Und natürlich besuchte er die Berlinale lediglich, um sich die Filme im „Internationalen Forum des jungen Films“ anzusehen, das offizielle Wettbewerbsprogramm und selbst die Filme im „Panorama“ waren für ihn „kommerzieller Hollywood-Dreck“. Auf Albrechts Entgegnung, ein Großteil dieser Filme stamme aus Europa und sei alles andere als kommerziell erfolgreich, konterte Jupp kategorisch: „Dann ist es eben Möchtegern-Hollywood-Dreck. Das ist beinahe noch schlimmer.“ Und so sah er von morgens bis tief in die Nacht asiatische Gangsterfilme, in denen kaum geredet und viel getötet wurde, afrikanische Polit-Parabeln, die nur Eingeweihten und Entwicklungshelfern verständlich waren, oder europäisches Autorenkino, bei dem die Kamera zu wackeln hatte, der Ton verrauscht war und das primäre Ziel des Filmemachers in der Verbreitung von Langeweile zu bestehen schien. Je trashiger, exotischer oder manierierter, desto besser.
Albrecht warf missmutig den Mantel an die Garderobe, pfefferte seine Schuhe in die Ecke und ging zum Sideboard. Die grüne Leuchtdiode des Anrufbeantworters blinkte. Er drückte auf den Knopf und Jupps näselnde, immer leicht belustigt klingende Stimme war zu hören: „Ich hab dir ’nen Zettel nebens Telefon gelegt. Geil, was? Bis nachher.“
Bei besagtem Zettel handelte es sich um den Ausdruck einer Internetseite, offensichtlich ein Online-Auktionsangebot oder etwas Ähnliches. „Rubrik: Deutscher Punkrock“, stand oben auf der Seite. Jupp hatte eine Zeile mit gelbem Marker angestrichen: „Die Ordensbrüder: Jürgen Bartsch war kinderlieb. Punk Anderson Records 1984. 4 Songs. Guter Zustand. Mit Textblatt und Aufkleber. Mindestgebot: 25 Euro.“
25 Euro?, wunderte sich Albrecht und musste wider Willen schmunzeln. Er hatte noch zehn Exemplare der Platte in einer Kiste im Keller liegen. Vielleicht würden ihm die Ordensbrüder eines Tages doch noch ein bisschen Geld einbringen. Wenn er sich recht erinnerte, hatte „Jürgen Bartsch“ damals nicht einmal die Studiokosten eingespielt. Der Verkauf war armselig gewesen, und GEMA-Einnahmen waren auch nicht geflossen, weil kein Radiosender sich getraut hatte, den Song zu spielen. Albrecht war immer gegen den Titel gewesen, aber Jupp hatte gemeint: „Je provokanter, desto besser.“ Er hatte auch das Cover und den Aufkleber entworfen, auf denen der Kopf des Kindermörders Bartsch mit Mönchstonsur und Heiligenschein zu sehen war.
Das Klingeln des Telefons riss Albrecht aus seinen Gedanken.
„Ja?“
„Herr Niemeyer?“, fragte eine Männerstimme.
„Ja, wer ist denn da?“
„Beim nächsten Mal bist du dran, du Arschloch!“
Es klackte in der Leitung. Albrecht war wie erstarrt und rührte sich nicht von der Stelle. Er hielt den Hörer immer noch in der Hand, hörte das Tuten und stierte auf den hellen Fleck an der Wand, wo einst ein gerahmtes Foto von Emily gehangen hatte. Es war eine Aufnahme aus einem Streichelzoo in Australien gewesen, Emily mit einem verschlagen grinsenden Koala auf dem Arm.
„Verdammt!“
Albrecht knallte den Hörer auf die Gabel und hatte im selben Moment alles wieder vor Augen. Den Penner mit den schwarz verkohlten Fingern und dem angesengten Bart, den rauchenden Abfalleimer mit der albernen Aufschrift, den wattierten und unfrankierten Umschlag mit der maschinengeschrieben Anschrift: „Albrecht Niemeyer, Pressezentrum, Berlinale“.
So seltsam es klang: Als er vor wenigen Minuten seine Wohnung betreten hatte, war er sich beinahe sicher gewesen, dass nichts von alledem wirklich mit ihm zu tun hatte. In den anderthalb Stunden seit der Explosion hatte er es geschafft, die ganze Sache zu verdrängen oder zumindest zu verschleiern. Als habe er einen Schalter in seinem Hirn umgelegt. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Und so war ihm der Vorfall wie ein Traum erschienen, ein Film, den er irgendwann in den letzten Tagen im Kino gesehen hatte. Eine Sinnestäuschung.
Der Anruf hatte ihn schlagartig eines Besseren belehrt. Die Explosion war keine Einbildung gewesen, kein Hirngespinst, und sie hatte ihm gegolten. Kein Zufall, keine Verkettung unglücklicher Umstände, kein Versehen. Er hatte es in dem Moment gewusst, als er den Rauch aus dem Abfalleimer hatte aufsteigen sehen. Wie fallende Dominosteine hatte der eine Gedanke den nächsten angestoßen, bis es „Klick“ gemacht und die einzig mögliche Schlussfolgerung in riesigen Lettern vor seinem inneren Auge gestanden hatte: Jemand wollte ihn umbringen. Doch reflexartig hatte er sich gegen diese Erkenntnis gewehrt. Wer sollte so etwas tun? Und warum? Das ergab alles keinen Sinn. Eben doch, schoss es ihm im gleichen Augenblick durchs Hirn. Aber erst jetzt war es ihm möglich, sich dies einzugestehen. Es war möglich, es war sogar wahrscheinlich, und vor allem: es war real!
Beim nächsten Mal bist du dran, du Arschloch!
Er überlegte, wen er in der letzten Zeit besonders hart in seiner Sendung rangenommen hatte, doch er kam zu keinem eindeutigen Schluss. Zu lang war die Liste derer, die er beleidigt, abgekanzelt oder angegriffen hatte. Beinahe jeder deutsche Regisseur, Schauspieler oder Produzent, der etwas auf sich hielt, tauchte darin auf und hätte einen Grund gehabt, verärgert oder verstimmt zu sein. Doch war es tatsächlich denkbar, dass sich ein von ihm Gescholtener auf so perfide Art rächen würde? Sicherlich gehörten Filmschaffende zu den eitelsten und egozentrischsten Personen, die sich denken ließen, sie waren selbstverliebt bis zur Lächerlichkeit, und die meisten von ihnen reagierten auf Kritik wie geschmähte Liebhaber auf einen Nebenbuhler. Aber Albrecht kannte keinen, dem er die kriminelle Energie für solch eine Tat zutraute. Und Anleitungen zur Herstellung von Briefbomben fanden sich bestimmt nicht in Drehbüchern. Obwohl man sich dessen in der heutigen Zeit auch nicht hundertprozentig sicher sein konnte.
Wieder starrte er auf den hellen Fleck an der Wand, und plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke. Der Vergleich mit dem Nebenbuhler hatte ihn darauf gebracht. Doch sofort schob er diese Überlegung beiseite. Felgenhauer hatte ihm Emily genommen, wieso sollte er ihm jetzt nach dem Leben trachten? Der Mistkerl hatte schließlich, was er wollte. Das blaue Auge, das Albrecht ihm vor zwei Wochen verpasst hatte, war inzwischen vermutlich in grünliches Gelb übergegangen. Und dennoch! Felgenhauer kam in Frage, auch wenn Albrecht seine Stimme nicht erkannt hatte. Immerhin war der Typ Arzt. Er arbeitete im Urban-Krankenhaus als chirurgischer Orthopäde oder orthopädischer Chirurg. Und die hatten bekanntlich ein Faible fürs Schrauben und Basteln. Von allen Ärzten, die er kannte, hatten Orthopäden und Chirurgen das mit Abstand „technischste“ Bild vom Menschen. Und sie waren fast allesamt Sadisten.
Das Klingeln an der Haustür ließ Albrecht einen spitzen Schrei ausstoßen.
Reiß dich zusammen!, schalt er sich in Gedanken, doch er konnte nicht verhindern, dass seine Hände zitterten. Das seltsame Kribbeln im Nacken, das ihn seit einigen Wochen belästigte, setzte wieder ein, doch diesmal kribbelte es hinunter bis in den kleinen Finger der linken Hand. Reine Nervensache!
Albrecht ging zur Tür und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage.
„Ja?“
„Herr Niemeyer?“, fragte eine Männerstimme.
„Ja, wer ist denn da?“ Der Dialog kam Albrecht beängstigend bekannt vor.
„Hauptkommissar Schalck und Kriminalhauptmeister Schürmann von der Kripo Berlin. Dritte Mordkommission.“
„Mordkommission?“, wunderte sich Albrecht und wusste nicht, ob er aufatmen oder alarmiert sein sollte.
„Delikte am Menschen, wenn Ihnen das lieber ist“, knurrte die Stimme. „Alles eine Familie. Wir würden Sie gern einen Moment sprechen.“
„Kommen Sie rauf! Zweiter Stock, links.“
Er betätigte den Summer, öffnete die Wohnungstür und hörte schwerfälliges Schlurfen im Treppenhaus. Als die beiden Männer im ersten Stock angelangt waren, sagte der eine: „Schickes Haus, was?“ Eine nicht unübliche Reaktion auf den breiten Aufgang, die marmornen Wände, die stuckbesetzten Decken und den Kronleuchter, der nur zur Zierde im Treppenhaus hing.
„Wär mir zu protzig“, erwiderte der andere mürrisch.
Wenige Sekunden später standen sie vor Albrecht und entsprachen so gar nicht der Vorstellung, die er sich bislang von Kriminalpolizisten im Außendienst gemacht hatte. Allerdings kannte Albrecht Kripo-Beamte bislang nur aus dem Fernsehen. Hauptkommissar Schalck war ein pummeliger Mittvierziger mit fettiger Glatze, prallem Bierbauch und einer Leidensmiene, als habe er ein tennisballgroßes Magengeschwür. Ein Griesgram mit tief liegenden, im speckigen Gesicht verschwindenden Augen. Und Kriminalhauptmeister Schürmann sah aus, als sei er Schalcks jüngerer Bruder, ebenso griesgrämig, fett und stiernackig, nur etwa fünfzehn Jahre jünger und mit strähnigem, seitengescheiteltem Haar. Beide wirkten auf Albrecht eher wie Finanzbeamte, aufgedunsen vom ewigen Sitzen, ungepflegt und unmodisch gekleidet, weil sie nie das Büro verließen und nicht mit Menschen in Berührung kamen, die nicht gleichfalls schweißgerändert, unfrisiert und finanzbeamtet waren.
„Sie wissen, weshalb wir hier sind?“, fragte Schalck und schob seinen massigen Körper an Albrecht vorbei durch den Türrahmen.
Keine Begrüßung, kein „Dürfen wir eintreten?“, kein Zeigen der Dienstmarke.
Albrecht nickte und wies aufs Wohnzimmer. „Kommen Sie herein!“
Er folgte den Männern, die sich ungeniert umschauten und sich vor allem für die hellen Flecken an den Wänden und die aus Emilys Regalen geräumten und auf dem Boden gestapelten Bücher zu interessieren schienen.
„Ziehen Sie aus oder ein?“, fragte Schürmann und setzte sich in Albrechts ledernen Fernsehsessel, nachdem er ein dort liegendes Album der englischen Band Discharge unter die Lupe genommen und angewidert beiseite gelegt hatte. Das Cover zeigte eine auf einen Säbel aufgespießte Friedenstaube. Jupps neueste Entdeckung.
„Weder noch“, antwortete Albrecht gereizt.
Schalck, der es vorzog stehen zu bleiben, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: „Herr Brandt war so freundlich, uns Ihre Adresse mitzuteilen. Aber es wäre hilfreicher gewesen, wenn Sie den Ort des Geschehens nicht so überstürzt, oder soll ich sagen fluchtartig, verlassen hätten.“
„Fluchtartig? Was wollen Sie denn damit sagen?“, empörte sich Albrecht und nahm dem sich im Sessel flegelnden Kriminalhauptmeister eine weitere Schallplatte aus der Hand, die Jupp auf dem Fußboden liegen gelassen hatte. Auf der Vorderseite war eine Reihe von Polizisten mit Helm und Schlagstock zu sehen, auf der Rückseite stand in großen Lettern: „Millions of Dead Cops“.
„Sie mögen keine Polizisten, was?“, fragte Schürmann.
Mochte Albrecht Polizisten? Er wusste es nicht. Sie waren ihm unheimlich und verursachten ihm eine Gänsehaut, er hatte nicht allzu gute Erinnerungen an sie und ging ihnen lieber aus dem Weg, aber er konnte nicht wirklich behaupten, dass er sie hasste oder verabscheute. Sie waren ein notwendiges Übel, aber es gab weit unehrenhaftere Berufe. BVG-Kontrolleur beispielsweise.
„Wollen Sie nicht endlich zur Sache kommen?“, raunzte Albrecht und wandte sich an den Hauptkommissar, der sich einmal um die eigene Achse drehte und mit finsterer Miene das übrig gebliebene Mobiliar aus Teakholz und die Pop-Art-Drucke an den Wänden bestaunte. „Sie kommen doch wegen der Bombe.“
„Bombe? Sie sagten Bombe?“ Schalck grinste unangebracht, aber nicht allzu amüsiert. „Wieso denn Bombe?“
„Kommen Sie mir nicht mit solchen Herbert-Reinecker-Dialogen“, knurrte Albrecht und hatte das plötzliche Bedürfnis, sich eine Zigarette anzustecken.
„Wer ist Herbert Reinecker?“
„Der Erfinder von ‚Derrick’“, antwortete Albrecht und zitierte: „Tot? Sie sagten tot? Er kann doch nicht tot sein. Wieso denn tot?“
„Wer ist tot?“, fragte Schürmann, ohne den Blick von einem weiteren Schmuckstück aus Jupps Sammlung abzuwenden. Wenn Albrecht es aus den Augenwinkeln heraus richtig erkannte, war es eine Single der Dead Kennedys: „Nazi Punks Fuck Off“.
Wieder zeigte Schalck sein wenig belustigt wirkendes Grinsen, schnaufte bedeutungsvoll und ließ sich schließlich durch Albrechts flehenden Blick erweichen. „Sie müssen zugeben, dass Ihr Verhalten ein wenig merkwürdig, um nicht zu sagen verdächtig aussieht“, sagte er und setzte sich nun doch aufs Sofa. „Zuerst stecken sie einen Packen Papier in einen Abfalleimer, nur wenige Sekunden später fliegt dieser in die Luft, ein Obdachloser wird dabei verletzt, und Sie türmen, als sei Ihnen der Teufel auf den Fersen.“
„Wer sagt das?“
„Ihr Freund, Herr Brandt.“
„Er ist nicht mein Freund.“
„Aber ein Augenzeuge.“
Albrecht setzte sich zu Schalck aufs Sofa und versank neben ihm in den Polstern, so dass er zu dem Kommissar hochschauen musste, obwohl er im Stehen nicht kleiner als Schalck gewesen war. Ein Sitzriese! Irgendwie erinnerte ihn die Situation an einen Louis-de-Funès-Film, dessen Titel ihm entfallen war.
„Ich bin nicht der Täter“, erklärte Albrecht, „sondern das Opfer. Jemand hat versucht, mich in die Luft zu sprengen.“ Er hielt einen Moment inne, weil er merkte, dass der Ausdruck vermutlich ein wenig zu pathetisch und dick aufgetragen war, und setzte schließlich hinzu: „Warum sollte ich wohl einen Abfalleimer in die Luft jagen wollen?“
„Vergessen Sie den Obdachlosen nicht!“, versetzte Schürmann.
„Merken Sie eigentlich gar nicht, wie absurd das ist?“, erwiderte Albrecht und überlegte, ob die beiden Beamten sich einen Scherz mit ihm erlaubten. Sie sahen allerdings nicht so aus.
„Und warum sollte irgendjemand Sie in die Luft sprengen wollen?“
„Ich bin nicht unbekannt in dieser Stadt, eine Persönlichkeit des öffentlichen Interesses, wie man so sagt“, antwortete Albrecht und schlug die Beine übereinander. Weil er in dieser Position neben dem Kommissar noch kleiner wirkte, setzte er sich wieder aufrecht hin. Er räusperte sich und fügte hinzu: „Und als Filmkritiker habe ich nicht nur Freunde im Geschäft. Man kann es eben nicht immer allen recht machen.“
„Richtig, Sie sind ja beim Fernsehen“, sagte Schürmann ohne den geringsten Anflug von Ironie. „Moderator, nicht wahr?“
„Journalist.“
„Man verdient ganz gut beim Fernsehen“, sagte Schalck, klopfte auf die Sofalehne und deutete auf den Lichtenstein an der gegenüberliegenden Wand.
„Das ist nur eine Reproduktion“, sagte Albrecht und ärgerte sich darüber, dass er sich völlig unnötigerweise zu rechtfertigen begann. Er hatte das Bild vor einigen Tagen aufgehängt, und das nur deshalb, weil Emily es gehasst hatte. Sie hielt Lichtenstein für etwa so originell wie van Goghs Sonnenblumen. Klo-Kalender-Kunst nannte sie es, und Albrecht konnte ihr nicht wirklich widersprechen.
„Wie man hört, soll es Ihrem Sender nicht so gut gehen.“
„So? Hört man das?“, fragte Albrecht. Seit Wochen und Monaten kursierten Gerüchte über eine nahende Insolvenz der „Berlin-Kanal GmbH“. Wie so viele kleine Sender hatte auch der Berlin-Kanal mit der Flaute in der Fernsehbranche zu kämpfen, aber bislang hatte er noch jede Krise überstanden.
„Die Einschaltquoten sind in Ordnung?“ Hauptkommissar Schalck schaute auf seine abgeknabberten Fingernägel, als habe seine Frage keinerlei Hintersinn, als sei sie ihm nur so nebenbei entschlüpft.
„Kann nicht klagen“, knurrte Albrecht. „Danke der Nachfrage.“ Er lächelte gequält und versuchte, sich zu beherrschen, doch das war wahrlich zu viel verlangt. „Was glauben Sie eigentlich, womit Sie es hier zu tun haben?“, platzte es aus ihm heraus. „Denken Sie allen Ernstes, ich fingiere ein Briefbomben-Attentat auf mich, um das Interesse an meiner Person und damit die Quote meiner Sendung zu steigern?“
„Wäre keine so dumme Idee“, sagte Schalck.
„Alles schon mal dagewesen“, fügte Schürmann bedeutungsvoll hinzu.
„Und warum bin ich dann weggerannt, anstatt mich vor der Polizei als Opfer eines Anschlags aufzuspielen und auf die Ankunft der Fotografen und Kameras zu warten?“ Zu spät merkte er, dass dies keine sehr geschickte und vertrauensfördernde Ausdrucksweise gewesen war, und so beeilte er sich hinzuzufügen: „Wenn es mir um die Erregung von Aufmerksamkeit gegangen wäre, hätte ich den Ort des Geschehens doch nicht verlassen.“
„Richtig“, sagte der Kommissar, „und damit wären wir wieder am Ausgangspunkt unseres Gesprächs angelangt: Warum sind Sie weggerannt?“
„Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht“, gestand Albrecht ein und machte eine verkniffene Miene. „Ich habe Panik bekommen. Es war kindisch, ich weiß, aber wenn ich nicht weiterweiß, dann renne ich davon. Eine dumme Angewohnheit.“
Der Hauptkommissar schaute Albrecht lange von der Seite an und wiegte bedächtig seinen fettig glänzenden Kürbiskopf. „Wissen Sie was?“, sagte er schließlich und stieß Albrecht verschwörerisch mit dem Ellbogen in die Seite. „Ich glaube Ihnen.“
Albrecht zuckte zusammen und war zugleich aufrichtig erstaunt.
„So“, grunzte Schalck und zog das O in die Länge, „und jetzt erzählen Sie mal, was eigentlich passiert ist! Und zwar der Reihe nach.“
Albrecht nickte und berichtete von dem unfrankierten und wattierten DIN-A-4-Umschlag, den er in seinem Pressefach gefunden und für das Manuskript eines schreibenden Dilettanten gehalten hatte. Er erzählte von dem Streit mit Martin Brandt und dass er den gesamten Stapel Papier aus seinem Fach in den Abfalleimer gestopft habe, weil er hungrig und genervt gewesen sei. Den Umschlag habe er nur aus Zufall nicht geöffnet, aber er sei sich sicher, dass sich darin die Bombe befunden habe. Vermutlich habe der Obdachlose in dem Abfalleimer gewühlt und dabei sei der Sprengsatz hochgegangen. Wenn er daran denke, wie die verkohlten Hände des Mannes ausgesehen hätten, würde ihm ganz mulmig.
„Ist Ihnen an dem Umschlag irgendetwas aufgefallen?“, fragte Schürmann und begutachtete neugierig etwas auf dem Sofatisch, das entfernt an einen Jointrest erinnerte. Zumindest hatte jemand einen Pappstreifen als Filter in seine Zigarette gedreht. Schürmann roch daran und runzelte die Stirn.
Albrecht suchte eilig nach einem Aschenbecher, wischte mit einer Handbewegung sämtliche Zigarettenstummel vom Tisch, zuckte entschuldigend mit den Schultern und sagte: „Es waren keine Briefmarken darauf, außerdem war die Anschrift mit Maschine geschrieben.“
„Hm“, machte der Kommissar.