Das Sterben in Wychwood - Agatha Christie - E-Book

Das Sterben in Wychwood E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

 "Noch ein Beweis für Agatha Christies unerschöpfliches Genie!"  The Guardian   "Es ist sehr leicht zu morden", versichert eine Reisebekanntschaft dem Londoner Polizisten Luke Fitzwilliam. Der hört sich etwas ungläubig ihre Geschichte von gleich vier angeblichen Morden im beschaulichen Wychwood an. Die Dame meint zu wissen, wer dahintersteckt. Sie ist auf dem Weg zu Scotland Yard, um von ihrem Verdacht zu berichten. Wenig später ist sie tot. Und der gar nicht mehr so skeptische Fitzwilliam beschließt, den seltsamen Geschehnissen auf den Grund zu gehen. 

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Seitenzahl: 304

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Agatha Christie

Das Sterben in Wychwood

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini

Atlantik

1 Eine Reisebekanntschaft

England!

England nach so vielen Jahren!

Wie würde es ihm gefallen?

Diese Frage stellte sich Luke Fitzwilliam, während er über den Landungssteg zum Kai hinunterstieg. Sie hielt sich während der ganzen Wartezeit im Zollschuppen im Hintergrund seiner Gedanken. Sie drängte sich plötzlich in den Vordergrund, als er endlich im Fähr-Zug saß.

England auf Urlaub war eine Sache. Jede Menge Geld zum Verjubeln (jedenfalls anfangs!), Besuche bei alten Freunden, Treffen mit anderen zeitweiligen Heimkehrern gleich ihm – das unbekümmerte Gefühl: »Es ist ohnehin nicht für lange. Da kann ich genauso gut meinen Spaß haben! Bald geht’s ja wieder zurück.«

Doch diesmal war von Zurück keine Rede mehr. Vorbei die stickig heißen Nächte, vorbei die grelle Sonne und tropisch betörende, üppige Vegetation, vorbei die einsamen Abende mit zerlesenen alten Exemplaren der Times als einziger Lektüre.

Hier war er, ehrenhaft entlassen, mit einem Ruhesold und einem bescheidenen eigenen Vermögen, ein Gentleman ohne Verpflichtungen, der nach England zurückgekehrt war. Was würde er mit sich anfangen?

England! England an einem Tag im Juni, mit einem grauen Himmel und einem beißend scharfen Wind. Nicht gerade ein herzlicher Empfang, was die Heimat ihm da bot! Und die Menschen erst! Himmel, die Menschen! Scharenweise Gesichter, so grau wie der Himmel – bange, besorgte Gesichter. Und auch die Häuser, die überall wie Pilze aus dem Boden schossen. Hässliche kleine Häuser! Widerliche kleine Häuser! Die ganze Landschaft voll von prätentiös herausgeputzten Schuhkartons!

Luke Fitzwilliam riss die Augen von der Landschaft los, die vor dem Fenster des Eisenbahnwaggons vorüberzog, und nahm sich die Zeitungen vor, die er erst eben gekauft hatte: die Times, das Daily Clarion und den Punch.

Er fing mit dem Clarion an. Die aktuelle Ausgabe befasste sich ausschließlich mit Epsom.

Ein Jammer, dachte Luke, dass wir nicht schon gestern eingelaufen sind. Ich habe kein Derby mehr miterlebt, seit ich neunzehn war.

Er hatte beim Sweepstake-Rennen auf ein Pferd gesetzt, und jetzt sah er nach, welche Chancen ihm der Korrespondent des Clarion einräumte. Wie er feststellen musste, wurde es mit einem einzigen Satz abgetan.

»Von den anderen haben Jujube II., Mark’s Mile, Santony und Jerry Boy kaum eine Chance, sich zu platzieren. Ein vielversprechender Außenseiter ist …«

Doch Luke war der vielversprechende Außenseiter egal. Er studierte schon die Wettquoten. Für Jujube II. wurden bescheidene 40 zu 1 angeboten.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Viertel vor vier. Was soll’s, dachte er, ist ohnehin schon gelaufen. Und er wünschte, er hätte auf Clarigold gesetzt, den zweiten Favoriten.

Dann schlug er die Times auf und widmete sich ernsteren Themen.

Nicht allzu lange allerdings, denn ein grimmig aussehender Colonel in der Ecke gegenüber erzürnte sich derart über das, was er seinerseits gerade gelesen hatte, dass er sich gedrängt fühlte, seinen Mitreisenden an seiner Empörung teilhaben zu lassen. Es verging eine geschlagene halbe Stunde, ehe der gute Mann müde wurde zu erläutern, was er von »diesen verfluchten kommunistischen Aufwieglern« hielt.

Doch endlich ging dem Colonel die Puste aus, und binnen kurzem war der Gute mit offenem Mund eingeschlafen. Bald darauf verlangsamte der Zug seine Fahrt und blieb schließlich stehen. Luke sah zum Fenster hinaus. Sie befanden sich in einem großen, wie ausgestorben wirkenden Bahnhof mit zahlreichen Perrons. Ein Stück weiter den Bahnsteig entlang prangte an einem Zeitungskiosk ein Plakat: DERBY-ERGEBNIS. Luke öffnete die Tür, sprang hinaus und rannte zum Kiosk. Einen Augenblick später starrte er schon mit einem breiten Grinsen auf ein paar verschmierte Zeilen des Extrablatts.

Derby-Ergebnis

JUJUBE II.

MAZEPPA

CLARIGOLD

Luke grinste hochzufrieden. Hundert Pfund zum Verjubeln! Guter alter Jujube II., dem kein Buchmacher etwas zugetraut hatte …

Er faltete die Zeitung zusammen und drehte sich um, noch immer ein Grinsen im Gesicht – und starrte ins Leere. In seiner Aufregung über den Sieg Jujubes II. hatte er nicht mitbekommen, dass der Zug klammheimlich wieder losgefahren war.

»Wann zum Teufel ist der Zug denn abgefahren?«, herrschte er einen trübe dreinschauenden Gepäckträger an.

Dieser entgegnete:

»Was denn für’n Zug? Seit dem 15-Uhr-14 hat kein Zug mehr gehalten.«

»Gerade eben hatte einer gehalten. Ich bin da ausgestiegen. Der Fähr-Express.«

Der Gepäckträger entgegnete dienstlich:

»Der Fähr-Express hält bis London nirgendwo.«

»Hat er aber«, versicherte ihm Luke. »Ich bin ja gerade ausgestiegen.«

»Der hält bis London nirgendwo«, wiederholte der Gepäckträger, zu keinerlei Kompromissen bereit.

»Wenn ich’s Ihnen doch sage: Er hat an genau diesem Bahnsteig gehalten, und ich bin ausgestiegen!«

Mit Fakten konfrontiert, änderte der Mann seinen Standpunkt.

»Das hätten Sie nicht tun dürfen«, sagte er vorwurfsvoll. »Er hält hier nicht.«

»Hat er aber!«

»Das war wegen dem Signal, deswegen. Stoppsignal. Das war nicht das, was man ›halten‹ nennt.«

»Derlei Unterscheidungen sind mir zu hoch«, sagte Luke. »Was mich interessiert, ist: Was mache ich jetzt?«

Der Gepäckträger, sichtlich ein langsamer Denker, wiederholte vorwurfsvoll: »Sie hätten nicht aussteigen dürfen.«

»Ich bekenne mich schuldig«, sagte Luke. »Die Untat ist getan, unwiderruflich – nichts, was geschah, wird jemals ungeschehen, woran nichts zu ändern ist, dagegen hilft kein Jammern. Sprach der Rabe: ›Nimmermehr‹ – und so weiter und so fort. Worauf ich hinauswill, ist: Was würden Sie, ein des Dienstplans der Eisenbahngesellschaft Kundiger, mir als weiteres Vorgehen anraten?«

»Sie wollen wissen, was Sie jetzt am besten tun sollten?«

»Das«, sagte Luke, »war der Inhalt meiner Frage. Es gibt doch wohl, wie ich vermute, auch Züge, die wirklich und offiziell hier halten?«

»Klar doch«, sagte der Gepäckträger. »Am besten, Sie nehmen den 16-Uhr-25.«

»Wenn der 16-Uhr-25 nach London fährt«, sagte Luke, »dann ist der 16-Uhr-25 mein Zug!«

Diesbezüglich beruhigt, begann Luke, den Bahnsteig auf und ab zu schlendern. Ein großes Schild informierte ihn, dass er sich in Fenny Clayton Junction befand, dem Abzweig nach Wychwood-under-Ashe, und genau in dem Moment fuhr ein einzelner Waggon, der von einer antiquierten kleinen Lok rückwärtsgeschoben wurde, langsam schnaufend ein und blieb auf einem bescheidenen Nebengleis stehen. Sechs oder sieben Personen stiegen aus und kamen über eine Fußgängerbrücke auf Lukes Bahnsteig. Der trübsinnige Gepäckträger wurde prompt aktiv und fing an, einen großen, mit Kisten und Körben vollgestapelten Handwagen planlos durch die Gegend zu schieben, während ein weiterer Träger, seinem Beispiel folgend, mit Milchkannen zu scheppern begann. Fenny Clayton erwachte zum Leben.

Endlich fuhr, mit maßlos selbstgefälliger Miene, der Londoner Zug ein. Die Waggons der dritten Klasse waren überfüllt, und erster Klasse gab es überhaupt nur drei Abteile, und in jedem davon saß bereits jemand. Luke nahm die Coupés nacheinander in Augenschein. Das erste, ein Raucherabteil, beherbergte einen Herrn militärischen Aussehens, der eine Zigarre rauchte. Luke fand, dass sein Bedarf an angloindischen Colonels für heute gedeckt war. Er schritt zum nächsten Coupé, in dem eine müde aussehende, anständig gekleidete junge Frau, möglicherweise eine Gouvernante, samt einem sichtlich tatendurstigen, etwa dreijährigen kleinen Jungen saß. Luke zog hastig weiter. Die nächste Abteiltür stand offen und gab den Blick auf einen einzelnen Passagier frei, eine ältere Dame. Sie erinnerte Luke entfernt an eine seiner Tanten, seine Tante Mildred, die ihm als Zehnjährigem tapfer gestattet hatte, sich eine Ringelnatter zu halten. Für eine Tante war Tante Mildred ohne Frage eine ganz patente Person gewesen. Luke betrat das Abteil und setzte sich hin.

Nach rund fünfminütiger emsiger Aktivität aufseiten von Milchwagen, Gepäckkarren und sonstigen Sensationen setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Luke schlug seine Zeitung auf und wandte sich solchen Meldungen zu, die einen Mann interessieren mochten, der bereits seine Morgenzeitung konsumiert hatte.

Er machte sich keine Hoffnungen, lange lesen zu können. Als ein Mann mit vielen Tanten war er sich ziemlich sicher, dass die reizende alte Dame ihm gegenüber nicht beabsichtigte, die Fahrt nach London schweigend zurückzulegen.

Er hatte sich nicht getäuscht – ein Fenster musste geschlossen, ein heruntergefallener Schirm aufgehoben werden, und schon war die alte Dame dabei, ihm zu erklären, was für ein guter Zug das sei.

»Nur eine Stunde und zehn Minuten. Das ist sehr gut, wissen Sie, ganz ausgezeichnet. Viel besser als der Morgenzug. Der braucht eine Stunde und vierzig Minuten.«

Sie fuhr fort:

»Natürlich nimmt praktisch jeder den Morgenzug. Ich meine, an verbilligten Tagen wäre es ja auch albern, den Nachmittagszug zu nehmen. Ich wollte ja eigentlich auch den Morgenzug nehmen, aber Wonky Pooh war verschwunden – das ist mein Kater, ein Perser, eine richtige Schönheit, nur dass er neuerdings Schmerzen im einen Ohr hat –, und natürlich konnte ich nicht aus dem Haus, solange er sich nicht wieder eingefunden hatte!«

Luke murmelte:

»Natürlich nicht«, und starrte demonstrativ gleich wieder in seine Zeitung. Aber es half nichts. Der Redeschwall riss nicht ab.

»Also habe ich das Beste daraus gemacht und stattdessen den Nachmittagszug genommen, und natürlich ist es andererseits eine Wohltat, weil er nicht so überfüllt ist – nicht, dass das eine Rolle spielte, wenn man erster Klasse reist. Natürlich tue ich das normalerweise nicht. Ich meine, ich müsste es eigentlich als die pure Verschwendung ansehen, bei den Steuern und den immer knapperen Dividenden, während die Dienstboten und überhaupt alles immer teurer wird – aber Sie müssen verstehen, ich war richtig ärgerlich, weil ich in einer äußerst wichtigen Angelegenheit nach London musste, und ich wollte mir ganz genau zurechtlegen, was ich sagen würde – im Kopf, Sie verstehen, ganz leise« – Luke verkniff sich ein Lächeln –, »und wenn Leute, die man kennt, ebenfalls im Zug sitzen, nun ja, man will ja nicht unfreundlich erscheinen, also dachte ich mir, das eine Mal wäre die Ausgabe völlig vertretbar – obwohl ich wirklich der Meinung bin, dass heutzutage viel zu viel vergeudet wird, und niemand spart oder denkt an die Zukunft. Es ist wirklich ein Jammer, dass es keine Sonderangebote mehr gibt – die haben immer ziemlich viel ausgemacht.

Natürlich«, fuhr sie nach einem flüchtigen Blick auf Lukes sonnengebräuntes Gesicht hastig fort, »weiß ich, dass Soldaten im Urlaub keine andere Wahl haben, als erster Klasse zu fahren. Ich meine, von Offizieren wird das einfach erwartet …«

Luke wurde vom forschenden Blick zweier eifriger Augen erfasst und gab jeden Widerstand auf. Früher oder später, wusste er, wäre es ja doch so gekommen.

»Ich bin kein Soldat«, sagte er.

»Oh, Verzeihung, ich wollte nicht – ich dachte nur – weil Sie doch so braun sind – vielleicht aus dem Osten, dachte ich – auf Heimaturlaub?«

»Ich bin tatsächlich frisch aus Südostasien zurück«, sagte Luke. »Aber nicht auf Urlaub.« Und dann kam er weiteren Erkundigungen durch die knappe Mitteilung zuvor: »Ich bin Polizeibeamter.«

»Bei der Polizei? Also das ist jetzt wirklich hochinteressant! Eine liebe Freundin von mir – also deren Junge ist gerade zur Palestine Police gegangen.«

»Mayang, Straits Settlements«, sagte Luke, die Sache abermals abkürzend.

»Ach herrje – sehr interessant. Das ist ja wirklich ein Zufall – ich meine, dass Sie sich ausgerechnet in dieses Abteil gesetzt haben. Denn wissen Sie, diese Sache, wegen der ich in die Stadt fahre – also, um genau zu sein, will ich zu Scotland Yard!«

»Tatsächlich?«, sagte Luke.

Er dachte: Hat sie bald ausgequasselt, oder geht das bis London so weiter? Aber das störte ihn eigentlich nicht allzu sehr, denn er hatte seine Tante Mildred sehr gern gehabt, und er erinnerte sich, wie sie ihm einmal genau im richtigen Augenblick einen Fünfer zugesteckt hatte. Außerdem hatten alte Damen wie Tante Mildred und diese hier etwas sehr Heimeliges und Englisches an sich. Jemand wie sie war in Mayang einfach nicht zu haben. Sie gehörten in dieselbe Kategorie wie Plumpudding zu Weihnachten und Dorf-Kricket und Kamine mit knisternden Holzscheiten. Die Sorte Dinge eben, die man sehr zu schätzen wusste, wenn man sie nicht hatte und sich am anderen Ende der Welt befand. (Das waren natürlich auch genau die Dinge, die einem besonders auf die Nerven gingen, wenn sie reichlich zur Verfügung standen, aber wie wir uns erinnern, hatte Luke erst drei, vier Stunden zuvor wieder englischen Boden betreten.)

Vergnügt fuhr die alte Dame fort:

»Ja, ich wollte eigentlich schon heute Vormittag hin, aber dann kam mir, wie gesagt, diese schreckliche Aufregung wegen Wonky Pooh dazwischen! Aber Sie glauben doch auch nicht, dass es zu spät sein wird, nicht? Ich meine, Scotland Yard hat doch wohl keine festen Öffnungszeiten.«

»Ich glaube nicht, dass sie um vier den Laden dichtmachen oder sonst etwas in der Art«, sagte Luke.

»Nein, natürlich nicht, das ginge ja auch nicht an, oder? Ich meine, jemand könnte auch mitten in der Nacht ein schweres Verbrechen zu melden haben, nicht wahr?«

»Ganz genau«, sagte Luke.

Die alte Dame verstummte vorübergehend. Sie machte ein besorgtes Gesicht.

»Ich meine, dass es immer besser ist, gleich an die Quelle zu gehen«, sagte sie endlich. »John Reed ist ja ein ganz reizender Bursche – das ist unser Constable in Wychwood, ein sehr höflicher, angenehmer Mensch –, aber ich glaube nicht, dass er der geeignete Mann wäre, sich um etwas wirklich Wichtiges zu kümmern. Er weiß, wie man mit Leuten umgehen muss, die zu viel getrunken haben oder die zu schnell gefahren sind oder ohne Licht – oder mit Leuten, die ihren Hund nicht angemeldet haben, und vielleicht sogar mit einem Einbruch. Aber ich glaube nicht – ich bin mir sicher, dass er nicht der Richtige wäre, um sich mit einem Mord zu befassen!«

Luke hob die Augenbrauen.

»Mord?«

Die alte Dame nickte energisch.

»Ja, Mord. Sie sind überrascht, das sehe ich Ihnen an. Das war ich anfangs auch … Ich konnte es wirklich nicht glauben. Ich dachte, dass ich mir bestimmt alles nur einbildete.«

»Sind Sie sicher, dass es nicht wirklich so war?«, fragte Luke taktvoll.

»Oh, absolut!« Sie nickte entschieden. »Beim ersten Mal hätte es ja noch sein können, aber nicht beim zweiten oder dritten oder vierten Mal. Spätestens dann weiß man es.«

Luke sagte:

»Meinen Sie damit, es hat – äh – mehrere Morde gegeben?«

Die leise, sanfte Stimme erwiderte:

»Eine ganze Menge sogar, fürchte ich.«

Sie fuhr fort:

»Deswegen dachte ich ja, dass es das Beste wäre, direkt zu Scotland Yard zu gehen und dort die Sache anzuzeigen. Meinen Sie nicht auch, dass das die beste Vorgehensweise ist?«

Luke sah sie nachdenklich an und sagte dann:

»Doch, ja, ich glaube, Sie haben vollkommen recht.«

Insgeheim dachte er:

Sie werden schon wissen, wie sie zu nehmen ist. Wahrscheinlich schneien wöchentlich ein halbes Dutzend alte Damen bei ihnen herein und erzählen ihnen von den zahllosen Morden, die in ihren netten, friedlichen Dörfchen so begangen werden! Gut möglich, dass es ein spezielles Dezernat für die Abfertigung solcher Omis gibt.

Und ihm schwebte das Bild eines väterlichen Superintendents oder eines schmucken jungen Inspektors vor Augen, der taktvoll murmelte:

»Danke vielmals, Ma’am, wir sind Ihnen wirklich sehr verbunden. Jetzt können Sie getrost wieder nach Hause fahren und alles weitere uns überlassen und brauchen sich wegen der Angelegenheit keine Gedanken mehr zu machen.«

Bei der Vorstellung musste er ein bisschen lächeln. Er dachte:

Wie sie wohl auf derlei Hirngespinste kommen? Reaktion auf ein sterbenslangweiliges Dasein vermutlich – eine uneingestandene Sehnsucht nach Dramatik. Manche alten Damen, hört man, haben die fixe Idee, alle würden ihr Essen vergiften.

Die zarte, leise Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

»Wissen Sie, ich erinnere mich, einmal gelesen zu haben – ich glaube, es ging um den Fall Abercrombie –, natürlich hatte er schon eine ganze Menge Menschen vergiftet, bevor jemand auch nur Verdacht schöpfte –, was wollte ich gerade sagen? Ach ja, jemand erklärte also, es gebe da so einen Blick – einen besonderen Blick, mit dem er jemand Beliebiges ansah –, und kurz darauf würde die betreffende Person krank werden. Als ich das las, habe ich das natürlich nicht so richtig geglaubt, aber es ist wahr!«

»Was ist wahr?«

»Der Blick eines Menschen …«

Luke starrte sie an. Sie zitterte leicht, und ihre reizenden Apfelbäckchen hatten etwas von ihrer Farbe eingebüßt.

»Zum ersten Mal habe ich das bei Amy Gibbs beobachtet – und prompt ist sie gestorben. Und dann war es Carter. Und Tommy Pierce. Jetzt aber, gestern, war es Dr. Humbleby – und er ist doch so ein guter Mensch, ein wirklich guter Mensch! Carter hat natürlich getrunken, und Tommy Pierce war ein schrecklich ungezogener kleiner Junge und tyrannisierte immer die noch kleineren Jungs, verdrehte ihnen den Arm und zwickte sie. Um die hat es mir nicht sonderlich leidgetan, aber bei Dr. Humbleby ist es eine andere Sache. Ermuss gerettet werden! Und das Schlimme ist, wenn ich zu ihm hinginge und ihm die ganze Sache erzählte, würde er mir nicht glauben! Er würde nur lachen! Und John Reed würde mir ebenso wenig Glauben schenken. Aber bei Scotland Yard wird es anders sein. Denn dort sind sie natürlich an Verbrechen gewöhnt!«

Sie warf einen Blick aus dem Fenster.

»Ach herrje, wir sind ja gleich da!« Sie geriet in leichte Aufregung, klappte ihre Handtasche auf und zu und griff nach ihrem Regenschirm.

»Danke, danke vielmals.« Dies an Luke gewandt, als er den Schirm zum zweiten Mal aufhob. »Es ist so eine Erleichterung gewesen, mit Ihnen reden zu können – äußerst liebenswürdig von Ihnen –, ich bin ja so froh, dass Sie meine Entscheidung für richtig halten.«

Luke entgegnete freundlich:

»Ich bin sicher, bei Scotland Yard wird man Ihnen bestimmt weiterhelfen können.«

»Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.« Sie kramte in ihrer Handtasche. »Meine Karte – ach herrje, ich habe nur eine dabei, die brauche ich aber noch – für Scotland Yard.«

»Natürlich, natürlich.«

»Aber mein Name ist Pinkerton.«

»Ein überaus passender Name, Miss Pinkerton«, sagte Luke mit einem Lächeln und fügte dann, als er ihre leicht verwirrte Miene sah, hastig hinzu: »Mein Name ist Luke Fitzwilliam.«

Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, fragte er:

»Darf ich Ihnen ein Taxi besorgen?«

»Oh, nein, danke.« Miss Pinkerton schien von dem Vorschlag geradezu schockiert. »Ich werde die U-Bahn nehmen. Die bringt mich zum Trafalgar Square, und dann gehe ich Whitehall hinunter.«

»Na dann, viel Glück«, sagte Luke.

Miss Pinkerton schüttelte ihm herzlich die Hand.

»Wirklich liebenswürdig«, murmelte sie noch einmal. »Wissen Sie, im allerersten Moment hatte ich gedacht, Sie würden mir nicht glauben.«

Luke hatte den Anstand zu erröten.

»Na ja«, sagte er. »So viele Morde! Ziemlich schwierig, gleich mehrere Morde zu begehen und nicht erwischt zu werden …«

Miss Pinkerton schüttelte den Kopf. Sie sagte ernsthaft:

»Oh nein, mein lieber Junge, da irren Sie gewaltig! Es ist ganz leicht zu töten – solange einen niemand verdächtigt. Und die fragliche Person, müssen Sie wissen, ist wirklich die Letzte, die jemand verdächtigen würde!«

»Nun, wie auch immer, alles Gute«, sagte Luke.

Miss Pinkerton verschwand im Gedränge. Er selbst machte sich auf die Suche nach seinem Gepäck und dachte dabei:

Ein ganz kleines bisschen plemplem? Nein, ich glaube eigentlich nicht. Eine lebhafte Phantasie, das ist alles. Ich hoffe, sie bringen sie schonend auf den Boden der Tatsachen zurück. Ein reizendes altes Mädchen!

2 Todesanzeige

I

Jimmy Lorrimer war einer von Lukes ältesten Freunden. Selbstverständlich hatte Luke bei Jimmy Quartier genommen, sobald er in London eingetroffen war. Es war Jimmy, mit dem er am Abend seiner Ankunft loszog auf der Suche nach Vergnügungen. Es war Jimmys Kaffee, den er am Morgen danach mit brummendem Schädel trank, und es war Jimmys Stimme, auf die er nicht reagierte, während er eine kleine, unbedeutende Meldung in der Morgenzeitung zum zweiten Mal durchlas.

»Tut mir leid, Jimmy«, sagte er, plötzlich wieder zu sich kommend.

»Was hatte dich so gefesselt – die politische Lage?«

Luke grinste.

»Keine Bange. Nein, es ist ziemlich seltsam – eine alte Jungfer, mit der ich gestern im Zug saß, ist überfahren worden.«

»Hat sich wahrscheinlich auf eine Fußgängerampel verlassen«, sagte Jimmy. »Woher weißt du, dass es gerade sie ist?«

»Ich kann mich natürlich auch irren. Aber es ist derselbe Name – Pinkerton –, ein Auto hat sie umgefahren, wie sie gerade Whitehall überquerte. Das Auto ist nicht stehen geblieben.«

»Üble Sache«, sagte Jimmy.

»Ja, die Ärmste. Es tut mir leid. Sie erinnerte mich an meine Tante Mildred.«

»Wer immer am Lenkrad saß, kann sich auf was gefasst machen. Kann sich glücklich schätzen, wenn er mit fahrlässiger Tötung davonkommt. Ich kann dir sagen – ich trau mich heutzutage kaum noch ans Lenkrad!«

»Was fährst du denn momentan?«

»Einen Ford V8. Junge, ich kann dir sagen …!«

Das Gespräch wurde sehr technisch.

Plötzlich unterbrach Jimmy es mit der Frage:

»Was zum Teufel summst du da eigentlich die ganze Zeit?«

Luke sang gerade leise:

»Tandara-di, tandara-dam,

Die Hummel, sie nahm sich den Brummer zum Mann!«

Er entschuldigte sich.

»Ein albernes Liedchen aus Kindertagen. Keine Ahnung, warum es mir gerade jetzt wieder eingefallen ist.«

II

Es war mehr als eine Woche vergangen, als Luke, der gedankenverloren die Titelseite der Times überflog, einen plötzlichen Ausruf der Verwunderung ausstieß.

»Hol mich doch der Teufel!«

Jimmy Lorrimer schaute auf.

»Was gibt’s?«

Luke antwortete nicht. Sein Blick war an einem Namen hängengeblieben.

Jimmy wiederholte seine Frage.

Luke hob den Kopf und sah seinen Freund an. Sein Gesichtsausdruck war so eigenartig, dass Jimmy regelrecht erschrak.

»Was ist los, Luke? Du machst ja ein Gesicht, als hättest du gerade ein Gespenst gesehen!«

Ein, zwei Minuten lang gab Luke keine Antwort. Er legte die Zeitung aus der Hand, schlenderte ans Fenster und kehrte dann wieder zurück. Jimmy beobachtete ihn mit zunehmender Verblüffung.

Luke ließ sich in einen Sessel fallen und beugte sich vor.

»Jimmy, alter Knabe, erinnerst du dich, dass ich eine alte Dame erwähnte, mit der ich im Zug nach London gesessen hatte – gleich am Tag meiner Ankunft?«

»Die, von der du meintest, sie hätte dich an deine Tante Mildred erinnert? Und dann überfahren wurde?«

»Die meine ich. Hör zu, Jimmy. Das alte Mädchen tischte mir eine lange Geschichte auf, sie sei auf dem Weg zu Scotland Yard, um einen ganzen Schwung Morde anzuzeigen. In ihrem Dorf ginge ein Meuchelmörder um – darauf lief das Ganze hinaus –, und er schien ganz schön schnell zuzuschlagen.«

»Du hattest mir nicht erzählt, dass sie plemplem war«, sagte Jimmy.

»Ich hatte sie auch nicht dafür gehalten.«

»Ach, komm schon, alter Knabe, Mord en gros …«

Ungeduldig entgegnete Luke:

»Ich habe sie nicht für übergeschnappt gehalten. Ich dachte, dass sie einfach ihrer Phantasie die Zügel schießen ließ, wie das alte Damen mitunter zu tun pflegen.«

»Na gut, schön, so könnte es gewesen sein. Ich meine allerdings, dass sie wahrscheinlich auch ein bisschen weich in der Birne war.«

»Vergiss jetzt mal kurz, was du meinst, Jimmy. Momentan bin ich derjenige, der dir was erzählt, einverstanden?«

»Oh, sicher – sicher, red nur weiter.«

»Sie ging ziemlich ins Detail, erwähnte die Namen von ein, zwei Opfern, und dann erklärte sie, was sie wirklich erschüttert habe, sei die Tatsache, dass sie wusste, wer das nächste Opfer sein würde.«

»Ja?«, sagte Jimmy in anspornendem Ton.

»Manchmal bleibt einem ein Name aus ganz blödsinnigen Gründen im Gedächtnis. Dieser bestimmte Name ist bei mir deswegen hängengeblieben, weil ich ihn mit einem albernen Liedchen in Verbindung gebracht hatte, das man mir als Kind oft vorsang: Tandara-di, tandara-dam, die Hummel, sie nahm sich den Brummer zum Mann.«

»Regelrecht tiefsinnig, keine Frage, aber worauf willst du hinaus?«

»Hinaus, mein hochgeschätzter Hohlkopf, will ich darauf, dass der Name des Mannes Humbleby war – Dr. Humbleby. Meine alte Dame erklärte, Dr. Humbleby würde der Nächste sein, und sie war darüber tief bekümmert, weil er ›so ein guter Mensch‹ sei. Der Name blieb mir wegen oben erwähnten Liedchens im Gedächtnis.«

»Und?«, sagte Jimmy.

»Und jetzt schau dir das mal an.«

Luke reichte ihm die Zeitung, wobei er den Finger auf eine bestimmte Stelle in den Todesanzeigen hielt.

HUMBLEBY. – Am 13. Juni verstarb unerwartet auf seinem Wohnsitz Sandgate, Wychwood-under-Ashe, Dr. med. JOHN EDWARD HUMBLEBY, geliebter Gatte der JESSIE ROSE HUMBLEBY. Bestattung am Freitag. Von Blumenspenden bitten wir abzusehen.

»Siehst du, Jimmy? Derselbe Name, derselbe Ort, und er ist Arzt. Was sagst du dazu?«

Jimmy antwortete nicht sofort. Seine Stimme war ernst, als er endlich, nicht sonderlich überzeugt, sagte:

»Ich würde meinen, das ist einfach ein verdammt komischer Zufall.«

»Wirklich, Jimmy? Wirklich? Ist das alles, was dir dazu einfällt?«

Luke begann wieder, auf und ab zu marschieren.

»Was könnte es denn sonst sein?«, fragte Jimmy.

Luke drehte sich abrupt um.

»Angenommen, jedes einzelne Wort, das dieses liebe alte Schaf mir vorgeblökt hat, war wahr? Angenommen, diese hanebüchene Geschichte war schlicht und einfach die reine, lautere Wahrheit?«

»Ach, jetzt komm schon, alter Knabe! Das wäre schon ein ziemlicher Klops! Solche Dinge passieren nicht.«

»Und was war mit dem Fall Abercrombie? Soll der Bursche nicht eine ganz schöne Menge Leute um die Ecke gebracht haben?«

»Mehr, als offiziell bekannt wurde«, sagte Jimmy. »Der Cousin eines Freundes von mir war der damals zuständige Coroner. Durch ihn habe ich einiges erfahren. Drangekriegt hat man Abercrombie dafür, dass er den örtlichen Tierarzt mit Arsen gefüttert hatte, dann hat man seine Frau exhumiert, und sie war randvoll von dem Zeug, und es ist ziemlich sicher, dass sein Schwager auf dieselbe Weise das Zeitliche segnete – und das waren keineswegs alle, bei weitem nicht. Besagter Freund meinte, die inoffizielle Ansicht laute, dass Abercrombie seinerzeit wenigstens fünfzehn Menschen um die Ecke brachte. Fünfzehn!«

»Ganz genau. Solche Dinge passieren also doch.«

»Ja, aber sie passieren nicht häufig.«

»Woher willst du das wissen? Sie könnten ohne weiteres erheblich häufiger passieren, als du annimmst.«

»Da spricht der Polizei-Sahib! Kannst du nicht endlich vergessen, dass du Polizist bist – wenigstens jetzt, wo du gar keiner mehr bist?«

»Einmal Polizist, immer Polizist, schätze ich«, sagte Luke. »Jetzt stell dir mal vor, Jimmy, bevor Abercrombie so leichtsinnig wurde, die Polizei geradezu mit der Nase auf seine Morde zu stoßen, hätte irgendeine reizende, geschwätzige alte Jungfer einfach so erraten, was er da trieb, und wäre losgetrabt und hätte der zuständigen Behörde die ganze Sache gemeldet. Glaubst du, man hätte ihr zugehört?«

Jimmy grinste.

»Nicht im Traum!«

»Ganz genau. Sie hätten gesagt, dass sie nicht ganz dicht sei im Oberstübchen. Genau wie du gesagt hast! Oder sie hätten gesagt: ›Zu viel Phantasie; zu wenig Beschäftigung.‹ Wie ich gesagt habe! Und beide, Jimmy, hätten wir falschgelegen!«

Lorrimer dachte kurz nach und sagte dann:

»Wie ist die Sachlage genau – so, wie sie sich dir darstellt?«

Bedächtig antwortete Luke:

»Die Sache sieht so aus: Ich habe eine Geschichte gehört – eine unwahrscheinliche, aber nicht unmögliche Geschichte. Ein gesichertes Ereignis – der Tod Dr. Humblebys – untermauert diese Geschichte. Und es gibt noch eine zweite bedeutsame Tatsache: Miss Pinkerton wollte ihre unwahrscheinliche Geschichte Scotland Yard unterbreiten. Doch sie kam nicht mehr dazu. Sie wurde von einem Auto überfahren, das anschließend verschwunden ist.«

Jimmy wandte ein:

»Dass sie es nicht zu Scotland Yard geschafft hat, weißt du gar nicht, Sie könnte ebenso gut nach ihrem Gespräch mit der Polizei überfahren worden sein.«

»Könnte sie, ja – aber das glaube ich nicht.«

»Das ist reine Mutmaßung. Letzten Endes läuft es doch nur darauf hinaus: Du glaubst an diese – an dieses Melodram!«

Luke schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, so ist es nicht. Ich sage lediglich, dass ein Anfangsverdacht besteht.«

»Mit anderen Worten, du wirst zu Scotland Yard gehen.«

»Nein, so weit sind wir noch nicht – nicht annähernd so weit. Wie du selbst sagst, könnte der Tod dieses Humbleby purer Zufall gewesen sein.«

»Was hast du dann vor, wenn ich fragen darf?«

»Ich habe vor, in dieses Dorf zu fahren und mir die Sache aus der Nähe anzusehen.«

»Das ist also deine Idee?«

»Bist du etwa nicht auch der Meinung, dass das die einzig vernünftige Vorgehensweise ist?«

Jimmy starrte ihn an. Dann sagte er:

»Ist es dir wirklich ernst damit, Luke?«

»Vollkommen.«

»Und was, wenn sich die ganze Sache als Windei entpuppt?«

»Das wäre das Beste, was passieren könnte, nicht?«

»Zugegeben, ja …« Jimmy runzelte die Stirn. »Aber du glaubst es nicht, stimmt’s?«

»Ich versuche, für alle Möglichkeiten offen zu bleiben, mein Freund.«

Jimmy schwieg eine Zeitlang. Schließlich sagte er:

»Hast du einen Plan? Ich meine, du wirst schon irgendeinen Grund dafür brauchen, dort plötzlich aufzutauchen.«

»Ja, das werde ich wohl.«

»Das ›wohl‹ kannst du dir schenken. Hast du auch nur eine Ahnung, wie es in einem englischen Provinznest zugeht? Jeder Fremde fällt da auf wie ein bunter Hund!«

»Ich werde eine falsche Identität brauchen«, sagte Luke mit einem plötzlichen Grinsen. »Was schlägst du vor? Künstler? Kaum – ich kann nicht zeichnen, noch viel weniger malen.«

»Du könntest ja als moderner Künstler auftreten«, schlug Jimmy vor. »Dann fiele das gar nicht auf.«

Aber Luke ließ sich nicht ablenken.

»Schriftsteller vielleicht? Quartieren sich Schriftsteller in Dorfgasthöfen ein, um zu schreiben? Zumindest spräche wohl nichts ausdrücklich dagegen. Oder vielleicht Angler? Aber dann müsste ich erst eruieren, ob es einen passenden Fluss in der Nähe gibt. Oder ein Rekonvaleszenter, dem Landluft verschrieben wurde? Aber danach sehe ich nicht aus, außerdem geht heutzutage doch jeder eher in ein Sanatorium. Ich könnte ja auf der Suche nach einem Häuschen im Grünen sein. Aber das ist auch nicht besonders gut … Ach, zum Teufel, Jimmy, es muss doch irgendeinen plausiblen Grund dafür geben, warum ein kerngesunder Fremder ein englisches Dorf heimsuchen könnte!«

Jimmy sagte:

»Moment mal – gib mir noch mal die Zeitung.«

Er warf einen kurzen Blick hinein und verkündete dann in triumphierendem Ton:

»Hatte ich doch richtig in Erinnerung! Luke, alter Knabe – kurz und gut, ich habe die Lösung. Das wird kinderpuppenleicht!«

Luke drehte sich nach ihm um.

»Was?«

Jimmy fuhr mit bescheidenem Stolz fort:

»Das war mir doch gleich so bekannt vorgekommen! Wychwood-under-Ashe. Natürlich! Genau der Ort!«

»Hast du, rein zufällig, einen Freund, der den dortigen Coroner kennt?«

»Diesmal nicht. Aber viel besser, mein Junge. Wie du weißt, hat mich Mutter Natur mit einer Fülle von Tanten, Onkeln und zugehörigen Verwandten gesegnet – sintemal mein alter Herr einer dreizehnköpfigen Familie entstammte. Jetzt hör dir das an: Ich habe eine Cousine in Wychwood-under-Ashe!«

»Jimmy, du bist schlicht unbezahlbar.«

»Gar nicht übel, was?«, sagte Jimmy bescheiden.

»Erzähl mir von ihr.«

»Sie heißt Bridget Conway. Die letzten zwei Jahre hat sie als Sekretärin für Lord Whitfield gearbeitet.«

»Den Besitzer dieser Schmuddel-Wochenblättchen?«

»Genau den. Der passend dazu ein ziemlich widerliches Männlein ist! Aufgeblasen! Er ist aus Wychwood-under-Ashe gebürtig, und als der typische Antisnob, der ständig mit seiner bescheidenen Herkunft hausieren geht und sich damit brüstet, es ganz allein nach oben geschafft zu haben, ist er in sein Heimatdorf zurückgekehrt, hat das einzige Herrenhaus in der Gegend gekauft – das, beiläufig gesagt, früher Bridgets Familie gehörte –, und ist jetzt dabei, das Ganze zu einem ›Modellgut‹ zu machen.«

»Und deine Cousine ist also seine Sekretärin.«

»War sie«, sagte Jimmy finster. »Jetzt ist sie eine Stufe aufgerückt: Sie ist mit ihm verlobt!«

»Oh«, sagte Luke ziemlich ernüchtert.

»Er ist natürlich ein kapitaler Fang«, sagte Jimmy. »Schwimmt in Geld. Bridget hatte mit irgendeinem Burschen eine Niete gezogen – hat ihr die Romantik ein für alle Mal ausgetrieben. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein richtiges Happy End gibt: Sie wird ihn ziemlich an der Kandare halten, und er wird ihr aus der Hand fressen.«

»Und wie komme ich da ins Spiel?«

Jimmy antwortete, ohne zu zögern:

»Du quartierst dich dort ein – am besten als weiterer Cousin. Bridget hat so viele davon, dass es auf einen mehr oder weniger nicht ankommen wird. Ich spreche das haarklein mit ihr ab. Sie und ich hatten schon immer ein gutes Verhältnis. Und was den konkreten Grund deines Besuchs anbelangt – Hexerei, mein Junge!«

»Hexerei?«

»Folklore, Aberglaube – all so Zeug. Wychwood-under-Ashe hat diesbezüglich einen ziemlichen Ruf. Einer der letzten Orte, an denen ein Hexensabbat abgehalten wurde – noch im letzten Jahrhundert hat man dort Hexen verbrannt –, alle möglichen Sagen und Überlieferungen. Du arbeitest an einem Buch, verstehst du? Eine vergleichende Studie über die Sitten und Gebräuche der Mayang-Stämme einer- und alte englische Volksbräuche andererseits – Parallelen, Unterschiede und so weiter. Du weißt schon. Du spazierst mit einem Notizbuch durch die Gegend und befragst die ältesten Eingeborenen über Ortsbräuche und Traditionen. Die sind an derlei schon gewöhnt da unten, und wenn du in Ashe Manor wohnst, ist das die beste Empfehlung für dich.«

»Und was ist mit Lord Whitfield?«

»Der wird schon keine Schwierigkeiten machen. Er ist völlig ungebildet und hoffnungslos leichtgläubig – nimmt sogar das, was in seinen eigenen Käseblättern steht, für bare Münze. Aber Bridget wird ihn sowieso präparieren. Bridget ist ein patentes Mädchen. Für sie stehe ich ein.«

Luke tat einen tiefen Seufzer.

»Jimmy, alter Gauner, wie es aussieht, wird das ein Kinderspiel. Du bist unbezahlbar. Wenn du das wirklich mit deiner Cousine einfädeln kannst …«

»Das ist absolut kein Problem. Überlass das nur mir.«

»Ich bin dir ewig dankbar.«

Jimmy entgegnete:

»Ich hätte nur eine Bitte: Wenn du tatsächlich einen meuchlerischen Mörder zur Strecke bringst, lass mich beim Fangschuss dabei sein!«

Dann, unvermittelt:

»Was gibt’s?«

Luke antwortete nachdenklich:

»Mir fiel nur gerade etwas ein, was meine alte Dame im Zug gesagt hat. Ich hatte eingewendet, dass es doch wohl ein ziemliches Kunststück sein dürfte, mehrere Morde zu begehen und ungestraft davonzukommen, und sie antwortete, dass ich mich täuschte – dass es sehr einfach sei zu töten …« Er schwieg kurz und sagte dann langsam: »Ob das wirklich wahr ist, Jimmy? Ich frage mich, ob es wirklich …«

»Was?«

»Ob es wirklich leicht ist zu töten …«

3 Hexe ohne Besen

I

Die Sonne schien, als Luke die Kuppe des Hügels erreichte, an den sich das Dörfchen Wychwood-under-Ashe schmiegte. Er hatte sich einen gebrauchten Standard Swallow gekauft, und oben angelangt, hielt er kurz und schaltete den Motor aus.

Es war sommerlich warm. Unter sich sah er das Dorf, seltsam unberührt von den Errungenschaften der modernen Zeit. Es lag harmlos und friedlich im Sonnenlicht da – nicht viel mehr als eine lange Straße, die sich am Fuß der steilen Wand des Ashe Ridge dahinschlängelte.

Es wirkte vollkommen abgelegen, gleichsam jungfräulich. Luke dachte: Ich sehe wahrscheinlich Gespenster. Die ganze Sache ist absurd.

War er wirklich in der ernsten Absicht hergekommen, einen Mörder zur Strecke zu bringen – schlicht aufgrund des Gefasels einer geschwätzigen alten Dame und einer zufällig entdeckten Todesanzeige?

Er schüttelte den Kopf.

»Solche Dinge passieren nicht«, murmelte er. »Oder vielleicht doch? Luke, mein Junge, jetzt liegt es an dir herauszufinden, ob du der leichtgläubigste Esel der Welt bist oder ob deine Polizistennase dich auf eine heiße Spur geführt hat.«

Er ließ den Motor an, legte den Gang ein und fuhr bedächtig die kurvenreiche Straße hinunter, die schließlich in die Dorfstraße mündete.

Wychwood besteht, wie schon gesagt, zum größten Teil aus seiner Hauptstraße. Es gab Läden, kleine georgianische Häuser, dezent und aristokratisch, mit geweißten Vortreppen und blank polierten Türklopfern, es gab malerische Cottages mit blühenden Vorgärten. Es gab einen Gasthof, den Bells and Motley, der leicht von der Straße zurückgesetzt stand. Es gab eine Dorfwiese und einen Ententeich und, über beide wachend, ein Achtung gebietendes georgianisches Haus, das Luke zunächst für sein Ziel hielt, Ashe Manor. Doch als er näher kam, sah er, dass eine bemalte Tafel es als »Museum und Bibliothek« auswies. Ein Stück weiter fiel ein Anachronismus ins Auge: ein großes weißes, modernes Gebäude, abweisend und ohne jeden Bezug zur fröhlichen Kunterbuntheit des übrigen Dorfes. Es war, wie Luke eruierte, der örtliche »Boys’ Club«.

Hier hielt er und fragte nach dem Weg zu Ashe Manor.

Er erfuhr, dass das Herrenhaus eine knappe halbe Meile weiter die Straße hinunter liege – er könne das Tor, rechter Hand, nicht verfehlen.

Luke setzte seinen Weg fort. Das Tor war tatsächlich nicht zu übersehen – es war neu, aus kunstvoll verschnörkeltem Schmiedeeisen gefertigt. Er bog ein, machte zwischen den Bäumen ein Schimmern von rotem Backstein aus und fand sich, nach einer Biegung der Auffahrt, unvermittelt einer wuchtigen, türmchenbewehrten abstrusen Scheußlichkeit gegenüber.

Während er den architektonischen Albtraum auf sich wirken ließ, verschwand die Sonne. Mit einem Mal wurde ihm die bedrohliche Gegenwart des Ashe Ridge bewusst. Ein scharfer Windstoß fuhr in das Laub der Bäume, und genau in diesem Moment bog ein Mädchen um die Ecke des burgartigen Baus.

Die Bö ließ ihr schwarzes Haar aufflattern, und Luke fühlte sich an ein Gemälde erinnert, das er einmal gesehen hatte – Nevisons »Hexe«. Das lange, blasse, zarte Gesicht, das zu den Sternen emporzüngelnde Haar. Er konnte förmlich sehen, wie dieses Mädchen auf einem Besen zum Mond hinaufflog …

Es kam geradewegs auf ihn zu.

»Sie müssen Luke Fitzwilliam sein. Ich bin Bridget Conway.«

Er ergriff die ausgestreckte Hand. Jetzt konnte er sie so sehen, wie sie war – nicht mehr wie eine plötzliche Ausgeburt der Phantasie. Hochgewachsen und schlank, ein schmales, zartes Gesicht mit leicht hervorstehenden Wangenknochen, ironische schwarze Augenbrauen, schwarze Augen und schwarzes Haar. Sie war wie eine zarte Radierung, dachte er – anrührend und schön.

Während seiner Überfahrt nach England hatte ihm ein Bild vor Augen gestanden – das Bild eines englischen Mädchens mit rosigen und sonnengebräunten Wangen, das den Hals eines Pferdes klopfte, sich bückte, um Unkraut aus einer Blumenrabatte zu rupfen, vor einem Kamin saß und die Hände in die Hitze der brennenden Scheite hielt. Es war eine herzerwärmende, anmutige Vision gewesen …

Jetzt gerade hätte er nicht sagen können, ob Bridget Conway ihm gefiel oder nicht – doch er wusste, dass jenes insgeheim gehegte Bild in diesem Augenblick verschwamm und zerfiel, plötzlich sinnlos und albern erschien …

Er sagte:

»Sehr erfreut! Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich Sie einfach so überfalle. Jimmy meinte, dass es Ihnen nichts ausmachen würde.«