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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebt Kristjan, ein tiefsinniger, wohlhabender und wohltätiger Mann, ein eher zurückgezogenes Leben. Forschungsreisen in ferne Länder sind seine große Leidenschaft, auf der Suche nach den Rätseln des Lebens und der Frage, ob es einen Gott gibt, und wie dieser sich wohl finden lassen könnte. Eines Tages berichtet er seinem Freund, dass er erneut aufbrechen werde und dieses mal nach Afrika reisen wolle, um dort ein bislang unerforschtes und sagenumwobenes Gebirge zu erkunden. Als er nach einem Jahr wieder wohlbehalten in seine Heimat zurückkehrt, hat sich sein Wesen grundlegend gewandelt.
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Seitenzahl: 75
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das Tal der Glücklichen
Leopold Engel
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Von jeher hat der nur zum kleineren Teile bekannte Erdteil Afrika die Wißbegierde der Forscher angestachelt. In seinem Innern, das er hartnäckig durch allerhand äußere Hindernisse einer fragwürdigen Zivilisation verschließt, gab es viele noch unbekannte Wunder, deren erste Mitteilungen wie Märchen klangen, bis deren Bestand durch wiederholte Berichte bestätigt wurde. So ist zum Beispiel die Existenz der Zwergvölker lange bezweifelt worden und hat sich schließlich doch bewahrheitet.
Forscher, getrieben von Ruhmsucht, Ehrgeiz und Habgier nach leicht erringbaren Naturschätzen, werden von Gesellschaften ausgerüstet, unter den hochtrabenden Phrasen, Kultur zu verbreiten, die christliche Religion die erlösungsbedürftigen Heiden zu lehren; sie werden Pioniere der Wissenschaft, des Menschentums genannt, und dringen oft mit großer Kühnheit, die das Goldfieber und die Herrschsucht zum Elternpaare hat, in fremde unbekannte Gegenden ein.
Soviel auch dem dunkeln Erdteil bereits abgerungen wurde, noch verschließt er starr und finster sein Inneres den kecken Eindringlingen. Im Inneren gebieten gewaltige, unübersteigbare Gebirgsmassen ein unerbittliches Halt; noch keines Europäers Fuß hat die gewaltigen, schneeigen Gebirgsketten des Inneren überschritten, die der Eingeborene scheu meidet, weil starke Geister dort hausen sollen, die ein Eindringen unmöglich machen und mit sicherem Tode den bedrohen, der ihren Frieden stört.
Auch nach Europa sind Sagen mancher Art von diesen Gebirgen gelangt und haben manchen Forscher gereizt, diese Gegenden des schwarzen Erdteiles zu besuchen. Nie jedoch findet sich ein Eingeborener bereit, sich als Führer herzugeben, sobald es heißt, jene beschneiten, wolkenumgebenen, geheimnisvollen Höhlen seien das Ziel; ja sie würden sich mit aller Gewalt einem solchen Unterfangen widersetzen, aus Furcht vor der Rache der schützenden, mächtigen Geister.
Es scheint fast, als wenn gerade nach dem Herzen Afrikas sich die Märchenwelt vor der neugierigen Zivilisation geflüchtet habe und sich dort verschanzt vor der nüchternen, grämlichen, poesielosen Alltäglichkeit, welche ihre bunten schillernden Schmetterlinge mit schmutzigen Händen fangen und sie dann ihres herrlichen Flügelstaubes berauben möchte, der sie zum neckischen Spiele im goldenen Sonnenstrahle befähigt.
Ich besaß einen Freund von vortrefflichen Charaktereigenschaften, er war reich, unabhängig, sehr wohltätig, galt aber im allgemeinen für einen Sonderling. Das öffentliche und gesellschaftliche Leben hatte wenig Reiz für ihn, er vermied es, mit den Menschen viel in Berührung zu kommen, und stattete zum Beispiel Besucher nur soweit ab, als es die unbedingte Höflichkeit erforderte.
Sein größtes Vergnügen waren Reisen, denen er sich denn auch ausgiebig hingab, so daß er stets Dreiviertel des Jahres in fremden Ländern zubrachte. Er war einer jener seltenen Kenner, die mit Genuß zu reisen verstehen, die sehr planvoll und orientiert ihre Fahrt beginnen, nicht ins Blaue, nur um sagen zu können, ich war dort, in die Welt hineinsteuern, sondern erst theoretisch zu Hause die beabsichtigte Fahrt studieren, um sodann praktisch durch nichts außer Fassung gebracht werden zu können. Das Reisen hatte für ihn den Zweck, seine Kenntnisse zu erweitern, und da er gewöhnt war, mit den Augen des Geistes alle Dinge zu betrachten, so sammelte er nicht nur einen reichen Erfahrungsschatz, sondern durchkostete innere Genüsse, von denen die meisten Reisenden keine Ahnung haben.
Er hatte es in dieser Art fast fünfzehn Jahre getrieben, als er mich eines Tages mit der Nachricht überraschte, er rüste sich, in das Innere Afrikas einzudringen. Wirklich reiste er auch dahin ab und kehrte nach Verlauf eines Jahres sonnenverbrannt, aber wohlbehalten zurück.
Es war eine große Veränderung mit ihm vorgegangen, der sonst menschenscheue, schweigsame Mann suchte jetzt mehr Gesellschaft als früher auf und suchte einen Kreis von Männern um sich zu versammeln, welche zu den Koryphäen der Wissenschaften zählten. Er gab Gesellschaftsabende, an denen mit besonderer Vorliebe die religiösen und sozialen Fragen von ihm vorgebracht wurden, und suchte die Meinung seiner Gäste darüber zu erforschen. Es gab da manche sehr interessante Disputation, denn, wie schon gesagt, jene Gäste bestanden aus den angesehensten, geistreichsten Männern, die die Wissenschaft in sich verkörperten und deren Urteil als das leitende, maßgebende der Zeit angesehen werden konnte.
Bei meinem Freunde entdeckte ich eine früher nicht vorhanden gewesene Neigung zum Opponieren und eine zwar sehr geistreiche, aber dennoch oft etwas mystische Weltanschauung, die das Kopfschütteln seiner Umgebung oft hervorrief. Es lag ein Zug von Schwärmerei in seiner Rede, die auffallend wurde und bei einigen seiner nächsten Freunde Besorgnis hervorrief. Sein früherer wohltätiger Sinn artete in Verschwendung aus, man hörte, wie er arme Leute in einer Weise unterstützte, die seinen eigenen Ruin herbeiführen mußte, so daß seine Verwandten den Gedanken faßten, ihn unter Kuratel stellen zu lassen. Ein derartiger Versuch schlug aber fehl, da er nur Verwandte entfernten Grades besaß, die dadurch, daß er sein Vermögen verschwendete, in keiner Weise geschmälert werden konnten. Der einzige Geschädigte war nur er allein, nächste Blutsverwandte besaß er nicht mehr. Diese selben Verwandten, zu deren Treiben er stets gutmütig lachte, wurden eines Tages durch eine Einladung überrascht, die zu einem großen Gesellschaftsabend in sein Haus aufforderte. Begierig folgten sie derselben.
In den großen Räumen seines eigenen Hauses fand sich eine zahlreiche Gesellschaft ein, bestehend aus jenen Männern der Wissenschaft, die schon öfter seine Gastfreiheit genossen hatten und stets gerne seinen Einladungen folgten. Die feindlichen, geldbesorgten Verwandten wurden von meinem Freunde mit einer Liebenswürdigkeit empfangen, die irgendwelche peinliche Situation gar nicht aufkommen ließ; er tat, als wäre nie etwas vorgefallen. Ein glänzendes Mahl stand bereit, und sehr bald war eine lebhafte, geistreiche Unterhaltung im Gange, deren Mittelpunkt, wie gewöhnlich, mein Freund bildete.
Es wurde von den Erfolgen der Wissenschaft gesprochen, und ein Professor der Physik sang eine begeisterte Lobhymne auf die Errungenschaften des Menschengeistes. "Der Mensch", so sagte er, "ist in Wahrheit der Beherrscher der Natur. Alle Kräfte sind uns untertan, wir haben die Entfernung und die Zeit durch Dampf und Elektrizität überwunden, wir fliegen über den Erdboden mit Windeseile, schreiben und sprechen von einer Stadt zur andern trotz weitester Entfernung, und nicht lange wird es mehr dauern, so tun wir es den Vögel gleich und schwingen uns in die Lüfte, den reinen Aether zu atmen; die Flugmaschine ist kein Wahn mehr, sie nähert sich mit Sicherheit der Verwirklichung. Darum lebe der Menschengeist, er hat es herrlich weit gebracht, er hat die Natur überwunden und ist ihrer Herr geworden."
Von allen Seiten erhob sich freudige Zustimmung zu diesen Worten des Redners, und fröhliches Gläserklirren bekräftigte die Wahrheit dieses Ausspruches.
Mit seiner ruhigen, klaren Stimme sprach mein Freund nun folgendes: "Sie haben ganz recht, Herr Professor, den Scharfsinn des Menschen so zu preisen, der viel Wunderbares hervorgebracht hat; ich habe Beweise davon, wie nützlich diese Erfindungen sind.
Vor einigen Tagen zum Beispiel besuchte ich eine arme, kranke Witwe. Ich fand sie in größter Aufregung und Angst. Von ihrem einzigen Sohne, den sie nur mit Widerstreben hatte zur See gehen lassen, waren bereits längere Zeit keinerlei Nachrichten mehr eingegangen und jetzt las sie unter den Schiffsnachrichten, daß das Schiff, auf welchem sie ihren Sohn wußte, an der Küste von Brasilien gescheitert sei, ein Teil der Mannschaft wäre jedoch gerettet worden und befände sich in Rio, dem Reiseziel des gescheiterten Schiffes. Lebt nun ihr Sohn? Befindet er sich unter den Geretteten? Diese qualvollen Fragen bestürmten das zagende Mutterherz. Ich eilte zum Telegraphenbüro, gab eine Depesche an das deutsche Konsulat in Rio auf und konnte nach wenigen Stunden schon die Qual der Zagenden verscheuchen, denn ihr Sohn lebte und hatte sich selbst auf dem Konsulat gemeldet. Dieses Wunder bewirkte der Telegraph, es kostete nur zirka 50 Mark, das bißchen Hin- und Hertelegraphieren. Die Witwe konnte selbstredend eine solche Summe nicht erschwingen, lebt sie doch von einer solchen mehr als einen Monat. Aber schön ist diese Erfindung doch, welche die Entfernung überwinden macht, wenn sie auch nur für die geringere Menge der Zahlungsfähigen besteht. Ebenso bequem ist das städtische Telephon. Die ganze Einrichtung kostet jährlich 90 Mark, eine Bagatelle für den, der's hat; wer es nicht hat, nun der kann persönlich hin- und herrennen; er mag lernen, mehr Geld zu verdienen, damit ihm die Segnungen der Wissenschaft zugängig werden.
Sie sehen mich erstaunt an und fragen sich, was ich eigentlich mit meinen Worten beabsichtige?
Nun, ich als Mensch frage mich oft:
Was nützt das höchste Raffinement des Menschengeistes, mit dem er der Natur die Geheimnisse ablauscht, wenn deren Nutznießung nur stets dem Geldmenschen zu Gebote steht? Ist die Errungenschaft der Wissenschaft nicht Gemeingut? Hat nicht jeder sein Recht auf das, was wir Kultur nennen? Wie kommt die Menschheit dazu, sich zu spalten in solche, welche nur genießen, und solche, welche für die Genießenden arbeiten, für letzteres Tun aber obendrein nun von jedem Genuß ausgeschlossen werden?