Das Testament des Damien First - Hubert Thurnhofer - E-Book

Das Testament des Damien First E-Book

Hubert Thurnhofer

4,8

Beschreibung

Wer ist Damien First? Diese Frage beschäftigt die Leser des Kunst-Krimis „Das Testament des Damien First“. Ein ominöser Kurator schockiert mit einem scheinbar harmlosen Konzept die Besucher der Ausstellung „7 KünstlerInnen“. Die Ausstellung besteht aus sieben überdimensionierten Glasampullen mit einem Durchmesser von einem halben Meter und einer Höhe von fast zwei Metern. Darin schwimmen erwachsene Menschen – 7 seit kurzem oder langem abgängige KünstlerInnen - nackt wie Gott sie geschaffen und ein Konservator sie für die Ewigkeit präpariert hat. Ein gräulicher Serienmord? Eine Wahnsinnstat? Ein Kunstwerk? Wer verfügt über die Organisation, so etwas zu planen und auszuführen? Was haben die Galeristen Larissa und Hugo Königshofer mit dem Fall zu tun? Kommissar Werner Ohnesorg ermittelt! Ein KUNSTKRIMI mit hohem Tempo und beißender Ironie.

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Seitenzahl: 193

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1 – Die Einladung

Kapitel 2 – Die Vernissage

Kapitel 3 – Das Galeristenpaar

Kapitel 4 – Die Redakteurin

Kapitel 5 – Das Laboratorium

Kapitel 6 – Die Factory

Kapitel 7 – Die Hinterbliebenen

Kapitel 8 – Der Erlöser

Kapitel 9 – Die Dissertation

Kapitel 10 – Die Befunde

Kapitel 11 – Die Nachrichtendienste

Kapitel 12 – Die Nachtwache

Kapitel 13 – Das Testament

Prolog

Zeitgenössische Kunst ist eher gut als schlecht.

Das impliziert, dass sie eher böse ist als gut.

Kapitel 1 – Die Einladung

Zu guter Letzt findet er unter seinem Poststapel noch eine Einladungskarte zur Ausstellungseröffnung mit dem mäßig originellen Titel „7 Künstlerinnen“. Der Kommissar hat zwar Verständnis – eigentlich mehr Mitleid als Verständnis – mit den Kunstschaffenden, aber ER ist nun wirklich die falsche Adresse für solche Veranstaltungen. Hätte man André Heller seine künstlerische Hommage an den Fußball zur Eröffnung der EM in Wien nicht gestrichen – oder war das zur WM in Berlin gewesen? – egal jedenfalls das hätte er sich sicher angeschaut, zumindest im Fernsehen. Aber die meisten Künstler sind ja arme Schlucker, und so schauen auch ihre Werke aus. Von seiner Nichte, es muss jetzt bald ein Jahr sein, dass sie verschollen ist, hatte er auch immer wieder freundliche Einladungen zu Happenings aller Art bekommen. Als Entschuldigung dafür, dass er leider nicht kommen könne, war seine Arbeit hervorragend geeignet. „Happening à la c-ART“ übertitelte sie alle ihre überlangen Konzeptpapiere und versah sie mit Untertiteln wie „Die Autobahn als Inszenierung zügelloser Freiheit“ oder „Christi Himmelfahrtskommando“ oder „Von Trinidad bis Trinität“ oder „Die Ausstellung der Einstellung“ oder „Einladung zur Ausladung“. Daran erinnert sich Kommissar Werner Ohnesorg, der einige davon in seiner unsystematischen Unterlagensammlung zum Fall seiner Nichte Maria Wonderland abgelegt hat. Ein Fall, der eigentlich gar kein Fall ist, zumindest keiner, der in seine Zuständigkeit fällt, denn ein Leichnam ist nie gefunden worden. Wahrscheinlich lebt Maria heute in einem Kibbuz in Israel, vielleicht in einem Ashram in Indien oder in einem pakistanischen Lager der Taliban, nein, das sicher nicht, für Gewalt war sie nie zu haben, auch wenn ihre polemischen Schriften immer voll revolutionärer Rhetorik waren. Revolutionsrhetorik ja, aber Revolution mit Gewalt und Totschlag nein, entschieden nein! So sinniert Ohnesorg über Mary, wie sie im Familienkreis gerufen wurde, während er an einem Strohhalm saugt, der in einem Kakaopackerl steckt. Er trinkt seinen Kakao aus, wirft das leere Packerl in den Mistkübel – und die Einladungskarte hinterher.

Zur gleichen Zeit – die Postzustellung in österreichischen Amts- und Regierungsstuben läuft offenbar nach einem geheimen Masterplan synchron ab – bringt die Parlamentsmitarbeiterin ihrem Chef die Post ins Büro.

Dem Exkanzler, der als Kunstkanzler auch die Agenden der Kultur in seinem Portfolio hatte, fällt eine Einladungskarte auf den Boden, während er nach dem Poststapel greift. „Was Wichtiges dabei?“, fragt der Ex, dessen Name in die Gebärdensprache mit dem Zeichen für „Schüsserl“ übersetzt wird, obwohl er in Wirklichkeit Wilhelm Weidling heißt.

„Das Übliche“, erwidert seine Assistentin beim Hinausgehen, was Willi Weidling nicht mehr registriert, aber ohnehin längst weiß.

Seit er in die zweite Reihe abgeschoben worden ist, gelangt nichts Brisantes mehr zu ihm. Eine Laudatio da, ein Vortrag dort, aber nichts wirklich Wichtiges, sondern bestenfalls das Übliche. Und üblich ist heute sogar schon, dass Bezirksparteisekretäre anfragen, ob ER als Kultursprecher der Partei in Kikerichspatschen die Ausstellung des in Kikerichspatschen vielgerühmten Künstlers Hofrat Direktor Sowieso eröffnen könne oder ob ER in Patschneukirchen die Ausstellung der Gemahlin des Gemeindearztes, der ja in Patschneukirchen seit nunmehr 25 Jahren auch als Gesundheitsreferent für die Partei außerordentliche … und so weiter und so fort und ohne Ende …

Die Schmalseite der Karte, schwarzer Hintergrund, blutrote Schrift, nestelt Willi Weidling behutsam mit seinem rechten Fuß an den Rand des dicken Webteppichs, der direkt unter seiner Schreibtischkante endet. Mit einem kurzen, gezielten Tritt auf die Kartenkante, die nur ein klein wenig über den Teppichrand hinausragt, wirbelt er das Ding in die Höhe. Ein gekonntes Ferserl!, freut sich der Exkanzler und schnappt mit seiner Rechten genau auf Höhe der Tischkante lässig nach der Karte. Vom Königshofer, sagt ihm ein kurzer Blick auf das Logo „der Kunstraum“. Dabei verzieht er keine Miene, obwohl er innerlich stöhnt, da ihm allein bei dem Gedanken an Königshofer das G’impfte aufgeht. Der Königshofer bombardierte ihn mit Einladungen, als er noch Kunstkanzler war, lud ihn aber nie ein, um eine Ausstellung zu eröffnen. Später erhielt er spitze E-Mails, mal mit dem Hinweis, die vom Kunstkanzler beauftragte Kunstmarktstudie des WIFO sei keinen Cent wert, mal mit der Unterstellung, die Kunstpolitik der Regierung sei ignorant, mal mit dem Vorwurf, die steuerliche Absetzbarkeit von Kunst scheitere am Desinteresse des Kanzlers. Zuletzt kam es gar zu einer Klage gegen das Kunstministerium wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Objektivierungsgesetz bei der Besetzung des Rektors der Akademie der Bildenden Künste. Als Klägerin trat eine gewisse Maria Wonderland auf, aber dahinter stand natürlich wieder Königshofer. Wonderland träumt vom Wunderland am Schillerplatz, und Königshofer sieht sich als Königsmacher, der mit einem Bataillon von Juristen aufmarschiert, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Lächerlich! Mit dem amtlichen Objektivierungsverfahren haben wir noch immer unsere objektiven Interessen durchgesetzt. Der Exkanzler erinnert sich nun als einfacher Abgeordneter an bessere Zeiten und wirft einen letzten Blick auf die Karte: „7 KünstlerInnen“. Dem Königshofer fällt auch nichts mehr ein, konstatiert er und wirft die Karte, genau wie längst alle anderen Einladungskarten, in den Papierkorb.

Emilie Wonderland kommt spätabends aus dem Schrebergarten in ihre Wohnung. Das Postfach lässt sich fast nicht öffnen, weil die Post von zwei Wochen festgequetscht wie ein Ziegel im Fach klemmt. Seit dem Verschwinden von Mary lebt sie im Schrebergartenhäuschen, hat die Wohnung vermietet, nicht offiziell, es ist ja immerhin eine Gemeindewohnung, aber der Sohn einer Freundin studiert jetzt in Wien, und so hat sich das günstig ergeben. Da sie jetzt nicht mehr oft in die Stadt fahren muss, weil sie gesundheitsbedingt in Frühpension entlassen wurde, und nicht mehr in die Stadt fahren will, weil in ihrer Wohnung immer wieder die Erinnerung an den letzten Abschied von Mary aufbricht wie die Magengeschwüre, die sie seit vielen Monaten plagen, kommt sie nur noch hin und wieder her, um nach dem Rechten zu sehen. Vorzimmer, Küche, Wohnzimmer, alles so, wie sie es vor gut zwei Wochen zurückgelassen hat. Eigentlich ein Wunder, angesichts der Tatsache, dass in der einst sichersten Großstadt der Welt täglich dreißig Wohnungen von Einbrecherbanden ausgeräumt werden. Ein kurzer Blick ins Kinderzimmer. Kinderzimmer, tja, das wird’s wohl ewig bleiben. Mehr als zehn Sekunden hält sie den Anblick nicht aus. Ihr eigenes Schlafzimmer betritt sie nicht, das fungiert jetzt als Studentenbude, Zutritt tabu! Sie lässt sich auf das Sofa fallen und den Poststapel auf das Sofatischchen, legt die Füße hoch, setzt sich nach einer Verschnaufpause aber nochmals auf und schaut mechanisch die Post durch. Werbung, Postwurfsendungen – wer braucht den ganzen Mist, gibt’s wirklich Leute, die das lesen? Emilie nimmt jede Postwurfsendung nur in die Hand, um sie umzudrehen und in den Papierkorb zu befördern. Es könnte sich ja irgendein wichtiger Brief dazwischengeschoben haben. Irgendein wichtiger Brief? Sie denkt dabei nur an einen Brief, den Brief ihrer Tochter Mary, auf den sie seit einem Jahr wartet, in der Hoffnung, Mary sei nichts zugestoßen, sie sei bloß verreist, um ein neues Projekt zu realisieren, und werde schreiben, sobald ihr Projekt finalisiert sei und sie ihre Rückkehr ankündigen könne. Denn Mary schreibt nie ohne Grund, nicht ohne konkreten Inhalt, nur um mitzuteilen: „Mir geht es gut, das Wetter ist schön, bla, bla, bla …“ Nie hätte sie gesagt, ihr würde es gutgehen, allzu sehr hatte sie zu kämpfen, auch wenn ihre Projekte gelangen und sie Finanzierungen aufstellen konnte für die Realisierung ihrer Konzepte, es blieb doch stets eine Gratwanderung, näher am Abgrund als auf festem Untergrund. Wenn sie sich meldet, wird sie mich darüber informieren, was Sache ist, wo sie ist, wann sie kommt. So ist Emilie es von Mary gewohnt. Postwurfsendungen, SPAR, BILLA, SPAR, bauMax, Bezirkszeitung, Zielpunkt, IKEA-Katalog, Bezirksjournal, ZGONC … Emilie nimmt den ganzen Stapel, um ihn über das Tischchen in den Papierkorb zu befördern. Da rutscht eine Karte heraus, schwarzer Untergrund, blutrote Schrift: „7 KünstlerInnen“. Sie legt das ganze Paket nochmals auf dem Tischchen ab und dreht die Karte um. Wie mit Adleraugen erfasst sie in den kleingedruckten Ausführungen einen einzigen Namen: Maria Wonderland. Ein Stich geht ihr durch Herz und Magen. Natürlich weiß sie, dass Marys Galerist Hugo Königshofer noch Arbeiten von ihr im Depot hat. Königshofer hat Emilie nach dem Verschwinden von Mary auch mehrfach besucht und ihr so weit wie möglich geholfen. Aber wer könnte denn einer Mutter in so einer Situation wirklich helfen? Auch Königshofer hat keine Erklärung für das plötzliche Verschwinden und keine Ahnung, wo sie sein könnte. Aber offenbar weiß er mehr, als er mir bis zuletzt verraten hat, denkt Emilie, die nicht glauben kann, was hier Rot auf Schwarz geschrieben steht: „Alle ausgestellten Künstler sind persönlich anwesend.“

Computer eingeschaltet, zurück ins Foyer zum Kaffeeautomaten, der, sind die Bohnen frisch gemahlen, überraschend guten Kaffee fabriziert, zurück zum Schreibtisch, wo das Betriebssystem endlich hochgefahren ist, Mailbox geöffnet und auf IN geklickt. So, jetzt in aller Ruhe eine Tasse Caffè Latte schlürfen, dazu ein Schokokeks, die Zeitungen überfliegen, nicht die eigene, die er schon gestern Abend zwei Stunden nach Redaktionsschluss als PDF durchgesehen hat, sondern die der Mitbewerber, und nebenbei warten, bis 150 oder sogar 250 E-Mails heruntergeladen sind. Das meiste natürlich Spam, aber als Redakteur kann man sich über unerwünschte Einladungen nicht aufregen, es könnte ja unter den 250 E-Mails doch eine dabei sein, in der eine wichtige Mitteilung steckt. Egal, mittlerweile hat sich Franz Weichhart eine Technik angeeignet, mit der er in Sekundenbruchteilen entscheiden kann, ob eine Nachricht relevant oder irrelevant ist. Delete. Delete, Delete, Delete, Delete … Dem Tempo zum Löschen der E-Mails setzt nur die Mechanik der Computertastatur, insbesondere der Löschtaste, ihre natürlichen Grenzen. Sieben E-Mails pro Sekunde, ohne eine relevante im virtuellen Papierkorb zu versenken, das hat Kollegin Kathi Stich einmal gestoppt. Plus/minus 35 Sekunden für 250 Mails. So viel Zeit muss sein! Der routinierte Journalist spielt gern den Stoiker, solange es nicht wirklich heiß hergeht. Irgendwo zwischen der fünfzigsten und siebzigsten E-Mail bleibt Weichhart diesmal länger als eine Zehntelsekunde hängen. Subject: „Damien First exklusiv in Wien!“

Ha, denkt Weichhart, der nicht zufällig nach 15 Jahren als Freelancer die Nachfolge des legendären Fritz Freier als Kulturressortleiter der Tagespresse angetreten hatte, sondern allein deshalb, weil ER der Einzige war und ist, der von der neuen Musik über die Gegenwartsliteratur bis zur zeitgenössischen Kunst das komplette Spektrum der österreichischen und internationalen Kultur abdeckt. Scherz lass nach! Jetzt sind die PR-Heinis nicht einmal mehr imstande, Namen richtig zu schreiben, denkt Weichhart, fährt aber dann doch mit dem Mauscursor auf die Betreffzeile, um mit Doppelklick die E-Mail zu öffnen. Klaro, das hätte er sich gleich denken können. Eine Einladung von Königshofer. Eines muss man dem überehrgeizigen Galeristen ja lassen: Er lässt keinen PR-Schmäh aus, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Vor ein, zwei Jahren hatte er es mit ‚Hrdlicka‘ versucht. „Hrdlicka exklusiv im Kunstraum“ lautete sein Lockruf. Weiß doch wirklich jedes Kind, dass Hrdlicka bei Karl Gigler exklusiv unter Vertrag steht! Und tatsächlich war die Ausstellung im Kunstraum keine Präsentation von Alfred Hrdlicka, dem letzten Herkules der österreichischen Bildhauerkunst, sondern eine mittelmäßige Schau von Grafiken und Entwürfen des weithin unbekannten Architekten Heinrich R. Hrdlicka. Das einzige Bauwerk von Hrdlicka war der Wiener Südbahnhof, und der ist mittlerweile ohne jeglichen Protest oder Widerstand der Kulturschickeria abgerissen worden, um dem neuen Zentralbahnhof Platz zu machen. Heinrich R. Hrdlicka ist irgendwie sogar verwandt mit DEM Hrdlicka, aber dafür interessiert sich nun wirklich kein Mensch in Österreich, vielleicht die Seitenblicke, aber sicher nicht die Leser der Tagespresse.

Was führt der Königshofer nun mit Damien Hirst im Schilde? Leitfigur der Young British Artists, Gründer der Kunstmesse Freeze und zuletzt die sensationelle Auktion bei Sotheby’s. Weichhart liest den letzten Absatz der Pressemitteilung: „Als Kurator zeigt Damien First erstmals ‚7 KünstlerInnen‘ in einer noch nie dagewesenen Art und Weise, die ihre einzigartige Stellung in der Kunstgeschichte untermauert. Unter den Künstlern finden sich Maria Wonderland, Alfred Castor …“ Also kein Tippfehler, ist der Routinier nun überzeugt, da hat sich die mäßig erfolgreiche Konzeptualistin Wonderland wieder einmal auf wunderliche Weise verwandelt, ein neues Pseudonym, netter Versuch, immerhin witzig, na ja, bemüht witzig. Und tschüss! Delete. Delete, Delete, Delete …

„Sehr geehrte Frau Stich! Nach Ihren Interviews, die Sie mit mir vor knapp einem Jahr nach dem spurlosen Verschwinden von Maria Wonderland geführt haben, kann ich Ihnen nun vielleicht helfen, die Spur wieder aufzunehmen. Der Kunstraum wird bei der nächsten Vernissage sieben Künstler ausstellen, die auch alle persönlich anwesend sein werden, unter ihnen Maria Wonderland. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Maria Ihnen die gewünschten Auskünfte geben wird, und weiß auch nicht, ob sie überhaupt bereit sein wird, zu sprechen, aber ich kann Ihnen garantieren, dass Maria persönlich anwesend sein wird. Jedenfalls freuen wir uns auf Ihr Kommen! Mit besten Grüßen“, liest Kathrin Stich die soeben eingelaufene E-Mail des Galeristen Hugo Königshofer. Also war ihr unerklärliches Verschwinden auch nur ein Happening, ein wohlkalkulierter PR-Schmäh, denkt die Reporterin, die immerhin den Millionenbetrüger Mike Elster an der Costa del Sol aufgespürt hatte. Damit hat sie sich in der ganzen Branche einen Namen gemacht und jetzt so ein Reinfall! Darüber wird sich das Kulturressort lustig machen, von den anderen Medien gar nicht zu reden!

Meinetwegen! Die Reporterin fackelt nicht lange und schreibt ihrem Kollegen Weichhart: „Lieber Franzi! Das Phantom des Kunstraums ist wieder da. Ich habe vor einem Jahr über das Verschwinden von M. W. recherchiert. Ohne Erfolg;-) Wie sich jetzt rausstellt, war’s offenbar nur ein künstlerisches Häppyning, oder wie Ihr das so nennt. Jedenfalls kein Thema mehr für mein Ressort. Falls dich meine damaligen Recherchen interessieren, schick ich dir meine Aufzeichnungen als PDF. Kate.“ Und Forward. Und Tschüss!

Kapitel 2 – Die Vernissage

„Es tut mir leid! Ich kann nichts machen. Bitte haben Sie etwas Geduld, ich bin sicher, er wird bald kommen“, entschuldigt sich die Galeristin bei den wartenden Gästen vor dem verschlossenen Eingang zur Galerie „der Kunstraum“. Es ist zehn vor sieben Uhr, und Hugo Königshofer steckt möglicherweise im Stau irgendwo zwischen Baden und Wien. Seine Frau Larissa – sie trägt wie immer zeitlos mondäne Kleidung, die ihre schlanke Linie betont, heute ganz in Schwarz – bemüht sich mit wachsender Nervosität, Hugo auf dem Handy zu erreichen. Vergeblich. „Bitte warten Sie ein paar Minuten, ich versuche, vom Centermanager einen Schlüssel zu bekommen“, versucht die ansonsten immer coole Galeristin, ihre Nervosität zu verbergen. Vor dem Kunstraum, der sich im Obergeschoss des noblen Einkaufszentrums neben der Oper befindet, haben sich mittlerweile fünfzig bis sechzig Vernissagegäste eingefunden. Unter ihnen die Society-Lady Fiona Pacifico Griffini-Grasser und ihre Busenfreundin Ofina Atlantico Grassini-Griffel. Manche, viele, fast alle kennen einander und stellen Vermutungen an, was mit Königshofer passiert sein könnte. Auffällig, einige orakeln „verdächtig“, dass ein schwerer, schwarzer Vorhang die breite, sonst offene und einladende Glasfront der Galerie verdeckt. Kein noch so kleiner Spalt gibt einen Blick frei in das Innere der Galerie.

Punkt sieben Uhr hört man ein kurzes Rütteln an der Glastür und sieht unter dem Vorhang eine Hand, die den Schlüssel in das Schlüsselloch schiebt, zweimal dreht, dann die Tür nach innen zieht und dabei den Vorhang an der Tür vorbeischiebt. Wie Deus ex Machina löst sich Königshofer aus den Vorhängen und bleibt vor der Tür im Foyer des Einkaufszentrums stehen. Mit den Worten „Servus, guten Abend, grüß Gott, servus, freut mich, servus …“ schüttelt der Galerist jenen Gästen die Hand, die zufällig dem Eingang am nächsten stehen, und erhebt dann die Stimme: „Entschuldigen Sie die Wartezeit, bitte einzeln eintreten, nicht drängeln, lasst euch Zeit!“

Der Reihe nach verschwinden die Gäste hinter dem Vorhang.

Königshofer ist diesmal von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, obwohl er sonst eher graubraune Töne und gelbe oder beige Krawatten bevorzugt, sogar eine dicke schwarze Brille hat er auf, obwohl man ihn sonst nur mit Randlosbrillen sieht. Er achtet darauf, dass jeder Gast ein paar Sekunden Zeit bekommt, bevor der nächste durch den Vorhang in den Kunstraum eintaucht.

„Entschuldigen Sie, die U-Bahn ist 30 Minuten gestanden, offenbar schon wieder ein Selbstmord auf der Linie U4.“ Eine Dame, deren Alter schwer einzuschätzen ist, läuft zwanzig Minuten später atemlos die Stiege zur Galerie herauf und streckt Königshofer die Hand entgegen.

„Kein Problem, freut mich, dass Sie da sind, wir haben noch nicht richtig angefangen“, beruhigt sie der Galerist, „wir warten noch auf …“

„Wo ist Mary?“, unterbricht ihn die Mutter der Künstlerin Maria Wonderland und ärgert sich, dass sie nicht schon zwei Stunden früher losgefahren ist, um vor der Ausstellung wenigstens ein paar Minuten in Ruhe mit Mary …

„Kommen Sie, trinken Sie zunächst ein Gläschen!“, vermeidet der Galerist eine direkte Antwort und schiebt Emilie Wonderland durch den Vorhang in die Galerie.

Die 200 Quadratmeter große Galerie, sonst ein hell erleuchteter, hoher, weißer Kubus, ist komplett schwarz gestrichen, und nur sieben Grablichter, die vor riesigen Glasobjekten stehen, spenden mit ihren kleinen Funzeln gerade so viel Licht, dass die Besucher nicht aneinanderstoßen oder gar über die zerbrechlichen Kunstwerke stolpern.

Königshofer nimmt Frau Wonderland am Arm und zieht sie am Publikum vorbei bis zum Buffet, schenkt ihr ein Gläschen Prosecco ein, nimmt ein zweites Glas, das er leer lässt, greift sich ein Messer, das neben der Schüssel mit den Brotaufstrichen liegt, und bringt damit sein Glas zum Klingen. Die hellen Klänge übertönen das dumpfe Gebrabbel, das den Galerieraum füllt, und erzielen schnell die gewünschte Wirkung: Stille.

„Liebe Freunde und Gäste der Galerie“, hebt Königshofer an und füllt allein mit seinem Bassbariton, ohne künstliche Unterstützung von Mikro und Verstärker, den großen Raum. „Stille, ja sogar Grabesstille ist heute durchaus angebracht.“

Beim Stichwort „Grabesstille“ schaltet eine unsichtbare Hand das Licht ein. Plötzlich steht jedes der sieben Glasobjekte von einem eng fokussierenden Strahler beleuchtet, gut sichtbar im Raum, so als würde von innen heraus das Licht erstrahlen.

Gleichzeitig setzt das Murmeln des Vernissagepublikums wieder ein, genau 95 Besucher hat Königshofer bis zum Eintreffen von Emilie Wonderland gezählt, ein „Buh“, ein „Wa“, ein „Na, des gibt’s ned!“ übertönen den mittleren Schallpegel, und irgendwo hinten ist ein krächzendes, fast hysterisches Kichern zu vernehmen. Die sieben Glasobjekte erweisen sich als überdimensionierte Glasampullen mit einem Durchmesser von einem halben Meter und einer Höhe von fast zwei Metern. Der Wiener kennt solche Gläser aus dem pathologisch-anatomischen Museum, im Volksmund „Narrenturm“. Allerdings sind im Narrenturm meist nur einzelne Organe in Gläsern unterschiedlicher Größe als Feuchtpräparate für die Ewigkeit aufbewahrt, Lungen, Nieren, Herzen und Hirne, konserviert in Formalin. Auch Embryonen und rachitische, früh verstorbene Kinder finden sich bis heute in der Kuriositätenkammer des Narrenturms.

Aber hier, im Kunstraum, schwimmen sieben ausgewachsene Menschen, vier Männer und drei Frauen, in sieben Glaszylindern.

Nackt, wie Gott sie geschaffen und ein Konservator sie für die Ewigkeit präpariert hat. Ein Konservator? Wohl eher ein Perverser, zumindest ein Wahnsinniger!

Königshofer wartet die ersten Reaktionen ab und bringt dann mit drei kurzen, messerscharfen Schlägen an sein Sektglas das Publikum wieder zum Schweigen. „Zunächst muss ich den Kurator Damien First, der aufgrund seiner internationalen Verpflichtungen leider nicht selbst zur Eröffnung kommen konnte, entschuldigen. Damien First hat sein Konzept folgendermaßen auf den Punkt gebracht. Ich zitiere: Erstmals in der Kunstgeschichte findet hier im Kunstraum eine Ausstellung statt, in der die ausstellenden Künstler mit den ausgestellten Künstlern identisch sind. Ich darf Ihnen die sieben Künstler der Ausstellung vorstellen: Alfred Castor, Igor Leonski, Tony Kuss, Ernest Stradal, Wonda McQueen, Marina Besrodnych und …“

Das Klirren mehrerer Sektgläser unterbricht die Rede des Galeristen. Eine ältere Dame lässt ihr Glas zu Boden fallen. Sie knickt auf einem Bein ein, fällt pirouettenartig nach hinten, reißt dabei die Gläser der Gäste, die direkt hinter ihr stehen, mit zu Boden und nur jene, die sich unmittelbar neben ihr befinden, können hören, wie sie fast lautlos einen Namen haucht: „Mary!“

Die der Dame am nächsten Stehenden blicken nun auf ein kreidebleiches Gesicht, bedeckt von hellen, grauen Haarsträhnen. Ein schlanker Mann drängelt sich durch die Menge, kniet neben der Frau nieder, fühlt ihren Puls an der Halsschlagader und greift sofort zum Handy, um den Notruf zu wählen. „Machen Sie Platz, machen Sie ein Fenster auf, sie braucht frische Luft!“, versucht er, die Menge auseinanderzutreiben. Rund um die Dame bildet sich ein kleiner Kreis, der wie ein Schutzwall die drängenden Schaulustigen in sicherem Abstand hält.

Indessen wird das allgemeine Gebrabbel der Menge lauter und lauter. Der Lärmpegel wird bald unerträglich, denn einzelne Stimmen möchten sich allgemeines Gehör verschaffen: „Die Emilie Wonderland!“

„Die Mutter von der Mary!“

„Wos is?“

„Schau her!“

„Wo denn?“

„Wo ist die Mary?“

„Wie kommt der Tony da her?“

„Da Freeedii!“

„Schau, der Tony!“

„Wonda McQueen, die war doch erst …!“

„Ernest! Hat wer den Ernest gesehen?“

„Wen?“

„Den Stradal!“

„Dooo!“

„Das gibt’s ja nicht!“

„Leonski, der Leonski!“

„Garantiert, schau auf das Messingschild! Weiter unten!“

„Marina!“

„Die Wonda, die mit Mary in Dings ausgestellt hat!“

„Wann?“

„Des gibt’s need!“

„Wahnsinn!“

„Marina, ja, Marina Besrodnych, na bitte!“

„Blödsinn!“

„Lies selbst! Maria Wonderland, schauts euch das an!“

„Irrsinn! Ein Wahnsinniger!“

„Der muss ja …“

„Kuss!“

„Bist blöd?“

„Na, der Tony Kuss!“

„Wo?“

„Wie kommt der Alfred Castor?“

„Wie kommt wer?“

„Echt stark, der Kuss!“

„Wer? Nein!“

„Schau selber!“

„Machts mehr Licht!“

„Polizei!!“

„Polizeiiii!!“ Der zum zweiten Mal aufheulende, schrille Schrei von Ofina Atlantico Grassini-Griffel, der als leicht hysterisch bekannten Busenfreundin der prominentesten Society-Lady Wiens, durchdringt die Menschenmenge und bringt diese zum Verstummen.

Nur wenige Minuten später schieben zwei Rettungsmänner mit einer Tragbahre den Vorhang beim Eingang beiseite, hinter ihnen der Notarzt. Wie auf Kommando treten die Leute zurück und geben den Weg frei zu jener Frau, die den Tumult ausgelöst hat. Offenbar hat der schrille Schrei sogar Emilie Wonderland aus ihrer Ohnmacht geweckt. Sie schaut auf, sieht über sich und rundherum starre, verwunderte, verstörte Blicke und hört den Notarzt mit den obligaten Fragen:

„Können Sie mich hören? Was ist passiert?“

„Es is nix“, haucht sie mehr, als dass sie es ausspricht.

„Wie bitte?“

„Es … ist … nichts“, betont sie nun jedes Wort. „Die Mary. Wo ist die Mary? … Helfen Sie mir auf!“

„Bleiben Sie liegen, bis wir …“

„Nein, ich will aufstehen!“, sagt sie plötzlich sehr bestimmt, so dass ihr der Notarzt und der Mann, der ihr Erste Hilfe geleistet hat, ohne Widerspruch unter die Arme greifen und auf die Beine helfen. Emilie Wonderland macht nur zwei Schritte bis zu dem Glaszylinder, vor dem sie zusammengebrochen ist, schaut ungläubig, aber bestimmt auf die Person, die nackt vor ihr scheinbar schwerelos in Formaldehyd schwebt: Den Kopf leicht nach vorn geneigt, die Augen offen, was den Anblick fast unerträglich macht, die rechte Hand auf der linken Schulter, die linke Hand hinter den Kopf gelegt, schwimmt sie in diesem monströsen Glasobjekt. Es ist tatsächlich die Person, die sie erkannt hatte, bevor sie in Ohnmacht gefallen war: „Die Mary. Ja, das ist sie. Die Mary! Wer war das …? Das muss … Kann ich telefonieren, hat wer ein Handy?“

Bereitwillig reicht ihr der Notarzt sein Handy.