Moral 4.0 - Hubert Thurnhofer - E-Book

Moral 4.0 E-Book

Hubert Thurnhofer

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Beschreibung

Nach Internet 4.0 und Industrie 4.0 ist die Zeit reif für Moral 4.0. Aufgrund der wachsenden Orientierungslosigkeit der vergangenen Jahre ist es notwendig geworden, die zentralen Begriffe von Moral und Ethik neu zu diskutieren und zu deklinieren. Nicht aus Sicht von moralischen Postulaten der Vergangenheit, sondern aus Sicht des 21. Jahrhunderts. Exkurse zu Hegel bis Sloterdijk zeigen, dass der Autor keine Scheu vor Konfrontationen mit den Größen der Geistesgeschichte hat. Seine Gespräche gleichsam am Kaffeetisch machen ihn als Mensch erfahrbar, aber auch als Philosoph angreifbar. Und das ist gut so.

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Seitenzahl: 274

Veröffentlichungsjahr: 2017

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INHALT

PROLOG

TEIL 1: MORAL 4.0

Eine Spurensuche nach den Tugenden unserer Zeit

Jeder Mensch hat das Recht recht zu haben.

Nicht jeder Mensch hat die Chance Recht zu bekommen.

Es gibt kein Recht auf Gerechtigkeit.

Philosophie und Zeitgeist.

Die Spurensuche kann beginnen.

Welche Werte hast du?

Vermutlich gar keine!

Die Grenzen der Verhaltensforschung.

Wissenschaft kann moralische Grundprobleme nicht lösen.

Leitkultur und wir.

Wer sind wir? Und wer wollen wir sein?

NDD Neuer Deutscher Dekalog.

Ein Innenminister auf den Spuren von Moses.

Exkurs zu Ferguson.

Darf eine Zivilisation einer anderen überlegen sein?

Legalitätsprinzip versus Moralitätsprinzip.

Und: die Killerapplikation Populismus.

Die Bedrohungsszenarien unserer Zeit.

Islamismus – What else?

Die Krisen der Demokratien.

Wie sich Demokratien selbst abschaffen

.

Gott, Geld und Grundeinkommen.

Und: die Legende von den anvertrauten Talenten gender-gerecht erzählt.

Der vollkommene Mensch.

Big Data und Artificial Intelligence.

Das Alphabet von Moral und Ethik.

Aufruf zur moralischen Alphabetisierung Europas.

TEIL 2: ETHIK 1.0

Eine Anleitung zur Befreiung der Urteilskraft

Es gibt viele Moralen aber nur eine Ethik.

Nicht alle Tugenden sind miteinander vereinbar.

Alle Grundwerte müssen miteinander vereinbar sein.

Der Sündenfall.

Warum Eva das Richtige getan hat.

Exkurs zu Nietzsche

Exkurs zu Sloterdijk

Über die Existenz des Nicht-Seienden.

Wesen, Substanz, Natur, Sein und Seiendes.

Nur der Tod ist endgültig.

Das Ende der Letztbegründung.

Hegel für Dummies

Ordnung der Werte.

Über Kategorien und Ordnungsbegriffe.

Referenz an Aristoteles

Wir räumen auf!

Können wir uns auf ein Billy-Regal verlassen?

Gebote und Businesspläne.

Short Stories für Unternehmer.

EPILOG

„In der Tradition der Aufklärung, deren Grundsätze vom aktuellen politischen Diskurs weitgehend verschüttet wurden, will das Buch anhand einer Wertetabelle, die Moral und Ethik bzw. Tugenden und Grundwerte unterscheidet, die Urteilskraft jedes Menschen fördern. Damit steht Hubert Thurnhofer als Philosoph in der Tradition von Immanuel Kant, der die Aufklärung als Ausweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen betrachtet.“

Henri Edelbauer

Prolog

Ist es moralisch legitim, dass ein Mann, der seine Frau angeblich mit zwei Freundinnen betrogen hat, ein Buch über Moral schreibt? Hat ein Mann, der seine beiden Freundinnen enttäuscht hat, weil er der Versuchung nicht widerstehen konnte seiner dritten Freundin die Treue zu schwören, die Berechtigung ein Buch über Moral zu schreiben? Ich glaube, nein ich bin überzeugt, dass es dem Common Sense entspricht, wenn ich behaupte: So ein Mensch hat kein Recht über Moral zu sprechen oder gar zu schreiben.

Aber er hat die Verpflichtung es zu tun!

Vorausgesetzt er ist imstande autonom zu denken und zu urteilen und vorausgesetzt er kann Glaube und Meinung, Überzeugung und Wissen, Moral und Ethik unterscheiden. Es soll auch kein Nachteil sein, wenn der Autor so eines Werkes ein paar Bücher, die seit Immanuel Kant zu dem Thema geschrieben worden sind, gelesen hat. Aber die wichtigste Voraussetzung, um so ein Buch zu schreiben, ist die Kenntnis des Zeitgeistes, der sich in der totalen Orientierungslosigkeit und Willkür manifestiert, denn die Verwendung moralischer Maßstäbe ist außer Mode geraten.

Aufgrund der grassierenden Orientierungslosigkeit ist es notwendig geworden, die zentralen Begriffe von Moral und Ethik neu zu diskutieren und zu „deklinieren“. Nicht aus Sicht von moralischen Postulaten (Forderungen) der Vergangenheit, sondern aus Sicht des 21. Jahrhunderts. Ich betrachte mich in diesem Sinne als Zeitgeist und Querdenker, weniger als Philosoph der alten Schule. Denn Begriffe von gestern werden nicht dadurch wiederbelebt, indem man apodiktisch ihre (ewige) Gültigkeit einfordert, sondern – wenn überhaupt - indem man versucht ihre Wertigkeit mit den Maßstäben von heute zu messen.

Anmerkung zu den Gender-Identitäten: Wenn ich „der“ Mensch schreibe, so meine ich grundsätzlich alle Wesen der Gattung Mensch, männlich und weiblich, jung und jung geblieben, behindert und solche, die sich nicht für behindert halten – ohne Unterschied auf Herkunft und Einstellung. Das Gleiche gilt für alle anderen Begriffe, die grammatikalisch einem Geschlecht zugeordnet sind wie Wissenschafter, Umweltschützer, Verbrecher, Unternehmer, Emanze oder Kind. Nur wenn ich explizit von einem Mann oder einem Steinbock spreche, meine ich ein männliches Wesen, und wenn ich von einer Frau oder einer Steinböckin spreche, dann meine ich ein weibliches Wesen.

Anmerkung zu den Hervorhebungen: Alle Begriffe, die fett gesetzt sind, möchte ich als Moralbegriffe charakterisieren. Im direkten Sinn des Wortes (wie gut und böse), oder in dem Sinne, dass sie für das Verständnis unserer Moral zu Beginn des 21. Jahrhunderts (der Moral 4.0) von Bedeutung sind. (Das trifft auch auf den Begriff „fett“ zu, allerdings in einem anderen Kontext – wie du dir denken kannst!) Kursiv sind alle Stellen gekennzeichnet, in denen ich mit dir, lieber Leser, in direkten Dialog trete. Also, wir sind per du! Ich wünsche dir vielSpaßbeim Lesen (du darfst aber nicht glauben, dass ich deshalb ein Anhänger derSpaßgesellschaftbin!)

Moral 4.0

Eine Spurensuche nach den Tugenden unserer Zeit

Jeder Mensch hat das Recht recht zu haben.

Nicht jeder Mensch hat die Chance Recht zu bekommen.

Es gibt kein Recht auf Gerechtigkeit.

Philosophie und Zeitgeist

Die Spurensuche kann beginnen

Von der „Nikomachischen Ethik“ über die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und „Jenseits von Gut und Böse“ bis zum „Prinzip Verantwortung“ habe ich ein paar Bücher gelesen, die wichtig für das Verständnis von Moral und Ethik sind. Doch weder bei Aristoteles, noch bei Kant, Nietzsche und Jonas, um bei den genannten Klassikern der Moral-Philosophie zu bleiben, finden sich zureichende Antworten auf die Orientierungslosigkeit unserer Zeit und für die Zukunft Europas.

Als Philosoph beanspruche ich nicht, in dieser Reihe genannt zu werden - aber freuen tät's mich schon :-) Womöglich sehen es manche Menschen – insbesondere Philosophieprofessoren – als Anmaßung, dass ich mir, nein ihnen, so ein Werk zumute. Ich sag es gleich vorweg: es ist keine Anmaßung, es ist auch keine Zumutung. Es ist Überheblichkeit.

Jede Abhandlung über Moral, die Wege zu einer besseren Welt aufzeigen will, landet zwangsweise bei der Erkenntnis, dass die Menschen nicht vollkommen sind, ebenso wenig wie die gesellschaftlichen Systeme, in denen sie leben. So wird in logischer Konsequenz postuliert, dass die eine Voraussetzung (der Mensch) oder die andere Voraussetzung (das System) sich ändern müsse, um zu einer besseren Welt zu gelangen. Doch die Menschen sind wie sie sind, und die Welt ist wie sie ist, eine Rückbesinnung auf angeblich ewige Werte, daher zum Scheitern verurteilt! Im Sinne von Erich Fried:

Was es ist

Es ist Unsinn sagt die Vernunft

Es ist was es ist sagt die Liebe

Es ist Unglück sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz sagt die Angst

Es ist aussichtslos sagt die Einsicht

Es ist was es ist sagt die Liebe

Es ist lächerlich sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich sagt die Erfahrung

Es ist was es ist sagt die Liebe1

Nach Analyse der Moral 4.0 muss die Ethik 1.0 nach einer Möglichkeit suchen, aus dem Ist-Zustand heraus einen Ausweg aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit der Menschen zu finden. Das bedeutet nicht, die Orientierungslosigkeit zur Grundlage einer Orientierungshilfe zu machen. Es bedeutet aber, eine Tatsache in den Focus zu nehmen, die im 20. Jahrhundert virulent geworden ist und sich im 21. Jahrhundert weiter beschleunigen wird: das Tempo der Veränderungen. Dass sich die Welt in einem noch nie da gewesenen Tempo verändert, nehmen wir im Bereich der Technik als selbstverständlich hin, weil die Mehrheit der Menschen die meisten technischen Neuerungen nützlich und angenehm findet.

So fällt es uns leicht mit den rasanten technischen Neuerungen zu leben. Dass sich aber auch die gesellschaftlichen Verhältnisse in unglaublich kurzen Zyklen ändern, wollen wir nicht wahrhaben, weil Veränderung in dem Bereich meistens als Bedrohung empfunden werden. Egal ob es sich um eine organisatorische Veränderung am Arbeitsplatz handelt oder um Veränderungen der politischen Parteien, der Verfassung einzelner Länder oder sogar des gesamten politischen Systems. Auch das Tempo dieser Veränderung wird weiter zunehmen, das müssen wir endlich zur Kenntnis nehmen. Daraus folgt die erste Erkenntnis der Moral 4.0: Die einzige Konstante des 21. Jahrhunderts ist die Veränderung!

Welche moralischen Schlüsse wir daraus ziehen müssen, sollen die Moral 4.0 und Ethik 1.0 für die Gesellschaft ebenso beantworten wie für Individuen. Mangels genauer Kenntnis der Sitten und Kulturen Asiens, Afrikas und Amerikas kann sich diese Ausgabe nur darauf beschränken, eine Orientierungshilfe für Europa des 21. Jahrhunderts zu sein. Im Sinne von Erich Fried: Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.2

Der Zeitgeist – nicht das was Hegel darunter versteht, sondern in dem Sinne, wie der Begriff im täglichen Sprachgebrauch, also im Common Sense, verwendet wird – dieser Zeitgeist reflektiert sich seit etwa zwei Jahrhunderten in den Medien. In den Massenmedien als Abklatsch, in den Politmagazinen hin und wieder mit Esprit, in Fachmedien als Ausdruck mehr oder weniger hoher Kompetenz. Nur Philosophen können daraus die Fragen ableiten, ob der Zeitgeist ein absolutes Wesen sei, oder, da er ja immer in direkter Relation zu einer bestimmten Zeit steht, demnach naturgemäß relativ. Genauso gewichtig, aber für jede praktische Moral überflüssig, ist die Frage, ob die Verfassung des Zeitgeistes auf sein Wesen an sich verweist und ewig ist, oder ob die jeweilige Verfassung des Zeitgeistes eben nur seiner Zeit entspringen kann und demnach immer nur vorübergehend.

Als „Vierte Säule“ der Demokratie wurden die Medien bislang bezeichnet, quasi geschützte Werkstätten mit Sonderrechten und Sonderfreiheiten. Insbesondere der investigative Journalismus konnte dadurch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts viel zur Entwicklung der Demokratie durch Aufdeckung intransparenter Machenschaften in Politik und Wirtschaft beitragen. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts verlieren die traditionellen Medien jedoch schrittweise ihren Einfluss und damit auch ihre Bedeutung als Vierte Säule. Auch wenn Journalisten nie ein besseres Image hatten als Politiker, so waren Medien bislang doch mehr oder weniger zuverlässige Informationsquellen.

Die Kampfbegriffe „Fakenews“ und „Lügenpresse“, mit denen heute Leitmedien angeprangert werden, zeugen a) von einem Gesinnungswandel, b) von einer Trendwende, c) von einer Kultur-Revolution. Du kannst dich frei entscheiden! Überlege bei der Gelegenheit auch gleich, was dir zu d) e) und f) einfällt.

Der Begriff Lügenpresse, Neudeutsch: Fake News, unterstellt, dass Medien im Schlepptau politischer Interessen gezielt Falschmeldungen lancieren. Der vielbeschworene kritische Journalismus, der im Schnell-schnell der täglichen Ereignisse nichts versäumen will, wurde längst zum willfährigen Gehilfen professioneller Propaganda-Abteilungen. Niemand geringerer als Peter Scholl-Latour, der sein Leben lang von und über die Krisenschauplätze dieser Welt berichtet hat, bestätigt diese Position: „Es gehört zum Wesen der westlichen Medien, daß sie – meist mit unverzeihlicher Verspätung, dann aber mit maßlosem Engagement und betrüblicher Ignoranz – die großen Themen und Krisen der Gegenwart aufgreifen, aufbauschen, mit pamphletärem Eifer anprangern und – sobald ein neues sensationelles Thema auftaucht, aus dem Gesichtsfeld verlieren.“3

Ein geradezu absurdes Theater inszenierten die US-Geheimdienste zuletzt mit der Unterstellung, Russland habe auf den US-Wahlkampf Einfluss genommen. So berichtet das Boulevardblatt „Heute“ am 30.12.2016 über die Ausweisung von 35 russischen Diplomaten aus den USA: „US-Geheimdienste vermuten, dass russische Hacker mit Billigung des Kreml in das Computersystem der Partei von Hillary Clinton eingedrungen sind und interne Mails an die Öffentlichkeit gebracht haben. Das hat Clinton massiv geschadet.“ Aufgrund einer reinen Vermutung macht man heutzutage Politik!

Dass der CIA unfähig ist die Spionage oder Gegenspionage der Russen abzuwehren, darüber hat niemand berichtet. Das hat den Medien offenbar noch niemand gesteckt. Nicht nur „Heute“, auch Leitmedien stellen keine Fragen zu diesem Vorfall, wie z.B:

Welche Beweise gibt es für Hacker-Angriffe aus Russland?

Falls es Beweise dafür gibt, welche Beweise gibt es für die Billigung oder gar Beauftragung durch Putin?

Falls es Beweise für Hackerangriffe im Auftrag von Putin gibt, welche Beweise gibt es, dass die Inhalte von russischer Seite veröffentlicht wurden?

Falls es Beweise für die Hackerangriffe im Auftrag von Putin und deren Veröffentlichung durch Russland gibt, welche Beweise gibt es, dass diese läppischen Infos einen Einfluss auf die Wähler in den USA ausüben konnten?

Man kann davon ausgehen, dass nicht nur die Art, wie in den Massenmedien berichtet wird, sondern auch was berichtet wird, stark von Lobbyisten und Geheimdiensten beeinflusst wird. Scholl-Latour: „Die modernen Geheimdienste verfügen nun einmal über kaum vorstellbare Fähigkeiten der Observation und der Manipulation. … Bei der Allmacht der Täuschung, aber auch bei der schier unbegrenzten Fähigkeit der Aufdeckung von Fakten kommt es immer wieder zu kollektiven Irreführungen, aber auch zu fatalen Fehlanalysen und zu ideologischer Verblendung.“4

Natürlich kommt nicht jede Nachricht aus den Propaganda-Abteilungen. Der Großteil der produzierten Meldungen folgt drei einfachen, genau genommen sehr primitiven Grundregeln, die aber immer noch gelten: 1. Aktualität, 2. Sensation, 3. Prominenz. Der Besitzer eines Wiener Einkaufszentrums spielt seit Jahrzehnten auf dieser Klaviatur und es funktioniert wie geschmiert. Dabei kann man davon ausgehen, dass der Ex-Baumeister kein Medium schmiert. Die an Genialität grenzende Senilität des nervenaufreibenden Selbstdarstellers und die an Senilität grenzende Systemlogik der Medien verstärken einander. Das ist die Dialektik der österreichischen Variante der Lügenpresse: die Lugnerpresse.

Sensation und Prominenz brauchen keinen Inhalt, brauchen keine Aufforderung an die Chefredakteure und untergeordneten Redakteure zu berichten. Sensation und Prominenz sind die zuverlässigsten Faktoren, dass ein Thema zum Selbstläufer wird. So einfach funktioniert die Lugnerpresse. Und die Lügenpresse ebenso. Ein ewig sich selbst reproduzierendes System, das nicht vom kleinsten bis zu größten Medium gesteuert wird, sondern das einer simplen Eigendynamik folgt. Der vielbeschworene kritische Journalismus ist die eigentliche Lüge dieses Mediensystems. Die Lüge beginnt nicht beim Inhalt (wie über Fakten berichtet wird) sondern bei der Auswahl der Inhalte (die immer ein Ausscheiden anderer Inhalte impliziert).

Ein anderer Aspekt der Lügenpresse ist die simulierte Aktualität. Wann immer ein Attentat in Europa passiert, schieben alle europäischen TV-Stationen Sondersendungen ein – je näher der Ort der Explosion, umso umfangreicher die Berichte. Stundenlang wird dann von Reportern vor Ort breit getreten, dass es noch keine konkreten, exakten oder evaluierbaren Informationen gebe. Zwangsweise steigern sich die Reporter vor Ort und noch mehr diejenigen in den Studios in ihre Spekulationen. Offenbar ist es nicht möglich, der Welt in fünf Minuten mitzuteilen, dass eine Explosion passiert ist und ein bestimmtes Gebiet zur Gefahrenzone geworden ist. Kurzmeldungen im Stundentakt wären noch verständlich. „Mit maßlosem Engagement und betrüblicher Ignoranz“ (Scholl-Latour) beweisen die Medien jedoch bei jedem Zwischenfall, dass sie nicht mehr im Stande sind über Fakten zu berichten, indem sie auf konkrete Untersuchungsergebnisse 12 oder 24 Stunden warten.

Als Zeitgeist bin ich intensiver Nutzer der Medien, nicht nur als Leser, sondern auch als Schreiberling, sowohl in etablierten Medien als auch in Internetforen. Seit zwanzig Jahren nutze ich das Internet täglich, um der moralischen Verfassung des Zeitgeistes auf die Spur zu kommen. Als Blogger bin ich seit rund zwei Jahren auf fischundfleisch.com (fuf) tätig. fuf ist mehr als ein regionales facebook für den deutschen Sprachraum. Auf dieser Plattform wird wesentlich intensiver diskutiert als auf facebook. fuf ist somit eine ernst zu nehmende Alternative zu den etablierten Medien, lässt kontroversielle Artikel zu, sofern sie dem Presserecht entsprechen, und ist somit ein Portal, das Meinungsfreiheit nicht nur fordert, sondern ermöglicht.

Mit folgendem Blog habe ich Ende März 2017 versucht die fuf-Community als Vorbereitung auf dieses Buch aus der Reserve zu locken.

Welche Werte hast du?

Vermutlich gar keine!

Was sind schon Werte? Wertanlagen, das verstehen viele, aber Grundwerte? Eine Sache für Sonntagsprediger in der Kirche, in der Politik oder am Arbeitsplatz. Im Zuge der Flüchtlingsdiskussion hat die Frage nach Werten wieder an Bedeutung gewonnen. Plötzlich waren wir mit fremden Werten konfrontiert, und der Ruf nach unseren Werten wurde immer lauter. Davor waren unsere Werte kaum Thema.

Die wenigsten leben die Werte, die sie derzeit so beschwören. Der Glaube an Gott, ans Christentum, die Bedeutung der Rechte der Frauen – wen interessiert all das wirklich? Ich habe erst vor kurzem auf die Worte von Deutschlands Ministerin Ursula von der Leyen aufmerksam gemacht, die in einer Talkshow sagte: „Wir müssen unsere Grundwerte schützen." Sie meinte, es gehe um Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Redefreiheit. Konkret forderte sie, man müsse türkische Politiker auch in Deutschland öffentlich zu Wort kommen lassen, denn nur, wenn wir Meinungsfreiheit ohne Einschränkungen zulassen, können wir unsere Werte glaubhaft verteidigen.

Die deutsche Verteidigungsministerin stellte sich damit gegen Parteichef Christian Linder (FDP), der, so wie manche Landespolitiker, Auftritte türkischer AKP-Politiker in Deutschland verbieten wollte. Linders Hauptargument: Erdogan bereite eine Diktatur vor und breche sogar die Gesetze der Türkei, die Wahlkampf außerhalb des Landes verbieten. Zynische Frage am Rande: warum soll sich eine Diktatur um Gesetze kümmern?

War das schon alles? Wie schaut´s aus mit Friede-Freude-Eierkuchen, Glück, Reichtum, Gesundheit, Gleichheit-Freiheit-Brüderlichkeit? Und noch ein Klassiker: „Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“5

Was sind deine Grundwerte? Wer ist bereit sich zu outen? Ich selbst bin, seit ich mich erinnern kann, vom Wert der Freiheit gefesselt. Doch was ist Freiheit?

Soweit mein Beitrag, auf den viele Blogger reagiert haben – wobei sich die meisten hinter einem Pseudonym verstecken. Ich bin der Meinung, jeder, der eine Meinung hat, soll dazu mit seinem richtigen Namen stehen und hab das bei anderer Gelegenheit diskutiert. Dabei wurde ich eines Besseren belehrt: einerseits geht es oft um heikle Themen, die mit Echtnamen nicht jeder offen ansprechen würde. Anderseits werden manche Blogger bedroht oder befürchten negative Auswirkungen auf ihrem Arbeitsplatz, wenn sie kritische Meinungen publizieren. So weit, so ungut.

Nun aber zu den Kommentaren:

bianka.thon

Wir haben keine Werte?

Ach wirklich.

Wenn ich frühmorgens zur Tür rauskomme und meine (mir missliebige) Nachbarin sehe, sage ich also: Man! Sehen Sie heute wieder Sch... aus! Nein. Wenn mein Kind mich fragt, was hat die Frau da? Sage ich dann: Das ist ein Krüppel und kostet uns nur Geld! Nein. Wenn ich einen Obdachlosen sehe, versetze ich ihm dann einen Tritt? Stecke ich ihn in Brand? Nein. Wir sind - im Kern - eine zivilisierte Nation. Und zwar alle. Mit einem Haufen verlogener Politiker, die von unserem Geld leben. Dennoch bleiben wir ruhig. Weil wir Werte haben.

Sonst ständen hier ganz andere Kommentare.

zeit im blick

Tradition, Kultur, sind Grundwerte. Empathie ist mir auch sehr wichtig.

- thurnhofer.cc

Was bedeutet Tradition? Das haben wir immer schon so gemacht, Bewahrung ewiger Werte, Brauchtum? Welche Tradition meinst du?

Rucksacklady

Ich finde deinen Artikel toll und meine 3 wichtigsten Werte sind Freiheit, Toleranz, Vielfalt

Karen Kuttner Jandl

Gleichheit - dazu braucht es die dazu gehörige Justiz - träumen darf man doch, oder?

Petra vom Frankenwald

Ehrlichkeit, Offenheit, Bodenständigkeit, Freundlichkeit, Gerechtigkeit, Zufriedenheit und eine tiefe Dankbarkeit und Wertschätzung für das was mir gegeben ist.

Monika Sylvester-Resch

In unserem Garten gibt es an einigen Stellen Bäume deren Äste einen am Durchgehen hindern, außer man verneigt sich in Demut vor ihnen.....Demut und Respekt vor der Schöpfung ist in diesen Zeiten gefragt, eine Grundvoraussetzung für unser Überleben auf diesem Planeten....

Manuela Eibensteiner

Mut ....

pirandello

Natürlich gibt es Werte und natürlich hat unser Kulturraum Werte. Mein Selbst-Wert. Mein(e) Wert-Schätzung. Mein Familien-Wert. Mein Wert einer freien Kommunikation. Wertvoll durch eine Freiheit von Konfession und Konvention. Der Wert der Erkenntnis. Niemand kann mich heutzutage irgendwo und irgendwie in die Enge treiben, wenn ich es nicht will. Ich bin immer am Quell der Erkenntnis - wenn ich das will. Lebens-Wert Das zu wissen ist die Spitze der Erkenntnis.

Ein ganz großer Wert ist, wertfrei zu sein. Liebens-Wert und das auch schamlos anzustreben. Den Gegen-Wert nur auf den Wert-Gegenstand anwenden.

PS: Islam ist übrigens nichts wert.

- thurnhofer.cc

"Ein ganz großer Wert ist, wert-frei zu sein." Und: "Islam ist übrigens nichts wert." Seh ich da einen Widerspruch, oder hab ich was falsch verstanden?

- - pirandello

@thurnhofer.cc, ohne Widerspruch geht es bei mir nicht.

Vieles in dieser Existenz ist widersprüchlich und auf die reine Vernunft setze ich nicht.

- - - Matt Elger

@pirandello Dies passt. Vernunft und Werte passen nicht immer zusammen. Tritt man energisch für Freiheit ein, dann ist dies nicht immer gern gesehen, man macht sich Feinde. Kenne ich. Dann geht man mit dem Kopf durch die Wand, versucht es zumindest. Kenne ich auch und dies hat wahrlich nichts mit Vernunft zu tun.

- - - - Benni

Für gläubige Moslems ist der Islam viel Wert. Hat also einen Wert. Wenn nicht für Sie, dann kann das sein. Alles in Allem ist Ihr Satz falsch. Immer eine Frage der Sichtweise.

- - - - - pirandello

@benni , ich kann sehr gut leben mit einem falschen Satz. Soll nichts Schlimmeres passieren. Die Werte gläubiger Muselmanen interessieren mich schlicht und einfach nicht. Hier ging es auch um die Frage nach persönlichen Werten, das hab ich aus dem Blog-Titel entnommen, oder hätte ich mich da auch geirrt?

kerosina apfelkern

wer vom "wert der freiheit" "gefesselt" ist, ist eben "gefesselt".

@Bachatero: du musst nicht immer alles sexuell interpretieren,

- Bachatero

@kerosina-apfelkern: Muss nicht, aber Obertroll Sigmund und compadres haben das getan und Wissenschaft draus gemacht. Ich bin ja Troll und reagiere nur. Die Reaktion zeigt einfach immer meine Wahrnehmung des jeweiligen Objekts, hier halt flachsexuell. Sorry, will ja nie nix Böses.

Und vor allem, wie auch kero, was trägt er zur "Freiheit" bei? Soll er doch endlich mal was zur Freiheit sagen, der gute @thurnhofer.cc , wir wollen ja gerne elaborieren.

- - - thurnhofer.cc

@Bachatero Kurzer Input zur Freiheit, die ich meine: je besser ein Musiker sein Instrument beherrscht, umso freier kann er Werke interpretieren, die er spielt.

sisterect

Werte? Freiheit ist ja irgendwie egoistisch. denn zuerst will ich selbst frei sein. Ich unterhielt mich heute mit einer Kollegin, die ungefähr in meinem Alter ist. Ich denke, uns verbindet mehr: Ehrlichkeit, Anstand, Redlichkeit … jaja, alles sehr altmodisch. aber ... Freiheit kommt erst dann, wenn wir diese Dinge haben. Ansonsten dürften wir darüber nachdenken, wie wertvoll alles Übrige ist.

- thurnhofer.cc

thurnhofer.cc

Mir fehlt ein Grundwert in dieser Diskussion, über den heute offenbar gar niemand mehr redet: Solidarität.

- pirandello

Solidarität wurde zu sehr missbraucht als Begriff, deshalb ist er aus den Köpfen und Herzen der Menschen verschwunden.

- - hellmut-1

@pirandello: Dazu kommt noch was Anderes: Wenn man beim Heranwachsenden bereits das Wort "Kameradschaft" nicht pflegt, sondern oftmals ins Negative rückt, dann kann man auch nicht erwarten, dass sich die Weiterentwicklung der Kameradschaft, die Solidarität, überhaupt bildet.

Es beginnt ja bereits in den Schulen. Früher waren wir eine verschworene Klassengemeinschaft, - heute kämpft jeder gegen jeden, meist mit Ellbogen.

- - - Matt Elger

@hellmut-1: Dies sehe ich genauso. Wen man Patriotismus als "rechtspopulistisch" in die rechte Ecke schiebt und in den Schulen, wie hier in NRW aggressiv linke Propaganda betreibt, dann können auch die Jugendlichen mit Begriffen wie Solidarität kaum mehr etwas anfangen.

Auch ist Aspekt dabei sehr maßgebend. Wenn in den Familien oft nur noch ein Kind ist, ist es schwer solche Aspekte zu vermitteln. Sie lernen es im Kleinen in der Familie nicht.

huflattich

Noja, davor waren Werte kein Thema, nein das stimmt nicht ganz. es liegt zwar schon etwas zurück, da inzwischen der Konsumwahn (auch Meinungskonsum betreffend) so ziemlich jedes vernünftige Denken überlagert hat, kann sich kaum mehr einer daran erinnern, sind ja schon über 30 Jahre. Es waren Alternative und Grüne, die das kollektive Bewusstsein kurzfristig in Bewegung brachten. Leider gab es bei den Grünen in der Zwischenzeit so massive Veränderungen und fast eine 180° Drehung, was die politischen Inhalte betrifft. Heute versuchen die Grünen Meinungsfreiheit zu unterminieren, Bauprojekte zu forcieren, Riesenkonzernen zu dienen, denen eine direkte Demokratie zuwider scheint. … Alles in allem, es geht um die Selbstentwertung durch die Aufgabe der Autarkie, was Denken und Handeln anbelangt, so sind wir wieder zu Schafen geworden.

- thurnhofer.cc

Was nun wären grüne Grundwerte die zubetoniert wurden? Und wie können wir sie reaktivieren?

- - huflattich

direkte Demokratie, Naturschutz, Denkmalschutz, Friedenspolitik... heute nix mehr davon, die Werte liegen nun woanders, abgesehen von Ideen der linksalternativen Listen.

philip.blake

Ein Wert ist, wenn ich auf der Straße einen Christen treffe, ihm nicht mit der Hand ins Gesicht zu schlagen. Akzeptanz, Toleranz, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, für etwas kämpfen und zusammenstehen. Naturverbundenheit und Umweltschutz (nicht alles in die Gegend werfen), Bewusstsein was man anderen antut. Ein Recht auf eigene Kultur. Und ein Recht auf eine Existenz. … Die Sprache ist ein Gedächtnis von Werten, die in einer Kultur über Jahrhunderte gesammelt wurden. Und eine Linke kann dies nicht in 10 Jahren für obsolet und veraltet erklären, oder gar behaupten, dass es keine Werte gäbe. Wo doch gerade die Linke gerne ihre Taten an die Werte ihrer Ideologie koppeln und diese dann ganz weit hinaus in die Welt posaunen.

- thurnhofer.cc

"Die Sprache ist ein Gedächtnis von Werten" - " Und eine Linke kann dies nicht in 10 Jahren für obsolet und veraltet erklären" - Bedeutet das, dass von der Linken die entscheidende Bedrohung der angeführten Werte Akzeptanz, Toleranz, Ehrlichkeit usw ausgeht?

- - pirandello @thurnhofer.cc , mit Sicherheit. Die heutige Linke steht für Nihilismus und Sophisterei.

Anna Vienna

Man ist immer frei, wenn man bereit ist die Konsequenzen seines Handelns auf sich zu nehmen.

- thurnhofer.cc

Ich finde, dieses Statement hat mehr Aufmerksamkeit verdient. Ich möchte die Aussage deshalb zuspitzen: Wer nicht handelt (sondern nur passiv zuschaut) kann nicht frei sein!

- - pirandello @thurnhofer.cc: ich fand dieses Statement von @AnnaVienna auch fundamental richtig!

Deine Zuspitzung ist richtig. Wir müssen immer dort handeln, wo unser Impuls so stark wird, handeln zu müssen. Tut man es nicht, dann spürt man das an wachsender Unfreiheit.

Als Handelnder setzt du dich auch immer einem Risiko aus, dieses Risiko heißt Freiheit.

- - - Petra vom Frankenwald

Liebe Anna, frei sein, heißt für mich abwägen und wählen zu können wofür oder wogegen oder auch gegen ein dafür und/oder auch anders herum ich mich entscheide. So ist es auch meine Freiheit in voller Eigen-Verantwortung für/gegen etwas sein zu dürfen. Eigentlich ist nach meinem Empfinden vor allem Verantwortung mit aller daraus resultierenden Konsequenz (Erfahrung) tragen zu dürfen im Grunde die Freiheit des Einzelnen, die sich auf nahezu alles übertragen lässt.

So auch bei den Werten Ehrlichkeit, Achtsamkeit, Respekt und Treue. Bei allem Sein und Tun und Handeln ein Selbst-Ver-Antwort-lich gelebtes Für-Wert-Wort.

Almann

Mir ist in unserer Gesellschaft wichtig, dass: ich die Gestaltungshoheit über mein persönliches Leben habe; für alle Menschen gesorgt wird (wenn sie krank sind, Arbeit, guter Lebensstandard); die Umwelt mit Respekt behandelt wird.

kerosina apfelkern

Freiheit ist, Zugang zum Meer zu haben, ohne Kurtaxe bezahlen zu müssen an die selbst erklärten Eigentümer der Meere und Strände. Freiheit ist, barfuß durchs Gras zu laufen und nicht in einem Käfig zu hocken. Wir alle genießen in dieser Zeit an diesem Ort eine Form der Freiheit und Bequemlichkeit, die keineswegs gottgegeben oder selbstverständlich ist. Wer sich selbst in Religionskatasterämter steckt, wird Freiheit wohl anders definieren.6

Passend zu meinem Sommer-Domizil in Rovanjska schließe ich mit diesem Statement von kerosina apfelkern. Dazu mein Schlusswort: Wir fällen laufend Werturteile, die aber ohne Konsens über Grundwerte wertlos sind.

Die Grenzen der Verhaltensforschung

Wissenschaft kann moralische Grundprobleme nicht lösen

„Keine Moralform ist höher entwickelt als andere. Die unterschiedlichen, historisch gewachsenen Arten von Moral sind einfach nur verschieden und geraten häufig miteinander in Konflikt,“ so der Anthropologe Michael Tomasello im profil-Interview. Diese Aussage ist wohl dem (ethischen) Postulat der Wissenschaften verpflichtet, als Forscher keine Wertungen vorzunehmen. Doch die (moralische) Grundfrage „Was soll ich tun?“ bleibt damit unbeantwortet.

Es ist auch nicht Aufgabe des Wissenschafters, diese Frage zu stellen, geschweige denn zu beantworten, würde Tomasello wohl erwidern. Der Verhaltensforscher sucht naturgemäß die Wurzeln der Moral in der Naturgeschichte und im menschlichen Verhalten. Als Moralphilosoph kann ich bestätigen, dass es viele Moralen gibt. Gleichzeitig muss man aber auch verstehen: es gibt nur eine Ethik! Und diese Differenzierung sollte auch ein Naturwissenschafter berücksichtigen, (sonst bleibt seine Forschung ein Sammelsurium von Sozial- und Gedankenexperimenten).

Tatsächlich gibt es unzählige Moralen, so viele wie Völker, Stämme, Familien und andere soziale Gruppierungen. Schon die sprachphilosophische Analyse des Begriffs „Moral“ erklärt das sehr einfach. Der Spruch „das ist bei uns so Sitte“ legt nahe, dass es sich bei vielen Verhaltensweisen um eine moralische Übereinkunft handelt, die von einer Gruppe (von „uns“) anerkannt ist und daher nicht weiter hinterfragt werden muss. Was nicht hinterfragt werden muss, ist – insbesondere in religiös fundierten Moralen – tabu, das impliziert: es darf nicht hinterfragt werden. „Sitte“ ist nicht nur ein Synonym von „Moral“, sondern auch ein anderer Begriff für „Tradition“ und „Gewohnheit“. Daraus ergibt sich, dass jede Moral die Gesamtheit jener Verhaltensweisen innerhalb einer Gruppe ist, die auf Gewohnheiten, Traditionen und Religionen basieren. Verhaltensweisen, die ungefragt angenommen, von jedem Gruppenmitglied befürwortet und bei Nichteinhaltung mehr oder weniger stark sanktioniert werden.

Da heute niemand nur noch in einer Gruppe allein lebt (außer vielleicht Mitglieder eines Mafiaclans oder einer regional und/oder religiös abgeschotteten Clique), sondern in mehreren gleichzeitig, hat sich die Verbindlichkeit moralischer Grundsätze in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger aufgelöst. Dies ist einer der Gründe für die Orientierungslosigkeit unserer Zeit. Wenn nun die Wissenschaft die Gleichwertigkeit aller Moralen postuliert, laufen wir Gefahr, dass die Frage nach allgemein gültigen Werten als „wissenschaftlich unzulässig“ abgekanzelt wird. Oder sie wird gleich mit der Faschismuskeule nieder geknüppelt, da ja in dieser Frage schon die Möglichkeit der Überlegenheit einer Moral vor der anderen keimt.

Tomasello bringt ein Beispiel: Die Regierungen vieler Schwellenländer gelten als korrupt weil sie wichtige Ämter bevorzugt an Verwandte vergeben. Der Familie zu helfen ist in diesen Sippen aber oberste moralische Pflicht. „Wir halten das für ungerecht, diese Politiker aber für völlig korrekt“, so der Anthropologe, der daraus folgert: „Auch soziale Normen helfen übrigens nur bedingt dabei moralische Entscheidungen zu treffen.“

An der Stelle muss man zu dem Schluss kommen, Tomasello weiß nicht wovon er spricht, wenn er den Begriff „Moral“ verwendet. Einerseits geht er von der Gleichwertigkeit aller Moralen aus, anderseits erlaubt er sich den Schluss, dass offenbar moralisch begründetes Handeln nicht moralisch sei wenn es zwar „korrekt“ aber „ungerecht“ ist. Hier noch ein Beispiel, das die wissenschaftlich neutrale Argumentation von Tomasello erschüttern könnte: Bis heute ist die Genitalverstümmelung bei Mädchen in vielen afrikanischen Ländern eine – moralisch begründete – Praxis. Die naturwissenschaftliche Beobachterrolle erlaubt es nicht, dieses Fehlverhalten, dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu verurteilen.

Aus diesem Dilemma kommen wir nur heraus, wenn wir die Frage stellen, ob es allgemein verbindliche Grundwerte gibt, die über allen Moralen stehen. Und hier kommt die Ethik ins Spiel. Auch Moralphilosophen tun sich schwer, den Unterschied zwischen Ethik und Moral zu erklären. Typisch dafür ist die diffuse Formulierung von Julian Baggini: „Meiner Auffassung nach behandelt Moral die Handlungsweisen, die uns erlaubt oder nicht erlaubt sind, und zwar in erster Linie solche, die andere Menschen betreffen. Ethik ist ein etwas weiter gefasster Begriff, der alles einschließt, was damit zu tun hat, ob das Leben gut oder schlecht verläuft.“7

Nicht nur, dass Baggini keinen Unterschied zwischen „Handlungsweisen“ und Handlungen macht, so ist seine Definition von Ethik nichts anderes als ein erweiterter Moral-Begriff. Dass Ethik „alles einschließt, was damit zu tun hat, ob das Leben gut oder schlecht verläuft“ ist eine mehr als schwammige Formulierung. Auf viele Moralen folgen damit viele Ethiken, die Verwirrung hat kein Ende sondern einen neuen Anfang. Die allgemeine Sprachverwirrung ist ein weiterer Grund für die grassierende Orientierungslosigkeit unserer Zeit. Und diese macht auch vor wissenschaftlichen Arbeiten nicht Halt. Hier möchte ich auf das Diktum zurückkommen, „Es gibt viele Moralen, aber nur eine Ethik“, das ganz einfach zu erklären ist.

Die Grundfrage jeder Moral lautet: „Was soll ich tun (oder unterlassen)?“

Die Grundfrage der Ethik lautet: „Warum soll man etwas tun (oder unterlassen?)“

Damit ist auch für jeden Nicht-Philosophen evident, dass die Ethik „über“ jeder Moral steht – nicht weil sie etwas „besseres“ ist, sondern weil sie (andere) Fragen stellt, die sich auf einer Metaebene befinden. Vergleichbar mit Physik, die die Frage stellt, welche Naturgesetze gelten und wie sie wirken, während die Metaphysik die Frage stellt, warum es Naturgesetze gibt, ob es sie überhaupt gibt oder ob der Zufall die Welt regiert. Völlig überflüssige Fragen – für die Wissenschaft. Doch hat der Mensch deshalb kein Recht, diese Fragen weiterhin zu stellen? (Dies ist eine ethische Frage!)

Jeder Mensch handelt moralisch, wann immer er sich die Frage stellt, was er tun soll. Es ist möglich, ein Leben lang moralisch zu handeln, ohne sich jemals die ethische Frage zu stellen: „Warum mache ich eigentlich das, was ich mache?“ Aus der ethischen Grundfrage (warum soll ich etwas tun?) lassen sich weitere Fragen logisch herleiten:

Gibt es Grundwerte, die in jeder Moral gelten?

Gibt es Grundwerte, die in jeder Moral gelten sollen?

Lässt sich eine Wertehierarchie erstellen und begründen?



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