Das tiefe Blau der Worte - Cath Crowley - E-Book
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Das tiefe Blau der Worte E-Book

Cath Crowley

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Beschreibung

Liebe zwischen den Zeilen! Rachel und Henry waren mal beste Freunde und verbrachten Tage und Nächte in der gemütlichen Buchhandlung von Henrys Familie. Bis Rachel aus der Stadt wegzog und Henry einen Liebesbrief hinterließ – während Henry mit Amy unterwegs war. Nun ist Rachel zurück und arbeitet wieder im Buchladen, zusammen mit Henry, den sie am liebsten nie wiedersehen würde. Und während sich im Laden Dramen ereignen und Liebespaare finden, geben sie einander wieder Halt in einer Welt, in der es zum Glück Bücher gibt. Und Worte. Und eine zweite Chance. Eine wunderschöne Geschichte über Freundschaft, Liebe und Bücher!

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Zitat auf Seite 8 aus: David Foster Wallace, Der bleiche König, übersetzt von Ulrich Blumenbach. Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln 2013. Mit freundlicher Genehmigung von Andrew Nurnberg Associates Limited, London.

  

Zitat auf den Seiten 120 und 282 aus: Charles Dickens, Große Erwartungen, übersetzt von Melanie Walz. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München 2011. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

  

  

Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2018

Originalcopyright © 2016 by Cath Crowley

Originalverlag: Pan Macmillan Australia Pty Ltd, Sydney

Originaltitel: Words in Deep Blue

Umschlagfotografie © Lilly Basic/MISS BOOKCOVER

Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor

Aus dem Englischen von Claudia Feldmann

Lektorat: Franziska Leuchtenberger

Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

Herstellung & Innenlayout: Björn Liebchen

ISBN: 978-3-646-92946-1

Für Michael Crowley und Michael Kitson, in Liebe

Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.

KAFKA

Der bleiche König

von David Foster Wallace

Markierung auf Seite 585

Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte.

Gesammelte Gedichte

von T. S. Eliot

Brief zwischen Seite 4 und 5

12. Dezember 2012

Lieber Henry,

ich lege diesen Brief zwischen die Seiten mit »J. Alfred Prufrocks Liebesgesang«, weil du das Gedicht liebst und weil ich dich liebe. Ich weiß, du bist mit Amy zusammen, aber scheiß drauf – sie liebt dich nicht, Henry. Sie liebt sich selbst, und zwar ziemlich. Ich liebe es, dass du liest. Ich liebe es, dass du gebrauchte Bücher liebst. Ich liebe so ziemlich alles an dir, und ich kenne dich jetzt zehn Jahre, das will also schon was heißen. Morgen fahre ich. Bitte ruf mich an, wenn du das hier liest, egal wie spät es ist.

Rachel

RACHEL

Um Mitternacht öffne ich die Augen, geweckt vom Rauschen des Meeres und vom Atmen meines Bruders. Es ist zehn Monate her, dass Cal ertrunken ist, aber die Träume fliehen immer noch davor.

In den Träumen bin ich ohne Angst, ein Teil des Meeres. Ich atme unter Wasser, die Augen offen, ohne Brennen vom Salz. Ich sehe Fische, einen Schwarm silberbäuchiger Monde, die unter mir flirren. Cal erscheint, bereit sie zu identifizieren, aber es sind keine Fische, die wir kennen. »Hering«, sagt er, und seine Worte kommen in Blasen heraus, die ich hören kann. Aber die Fische sind keine Heringe. Auch keine Brassen oder irgendeine von den anderen Arten, die wir vorschlagen. Sie sind pures Silber. »Eine unbekannte Art«, sagen wir und schauen zu, wie sie uns umschließen und wieder freigeben. Das Wasser hat die Textur von Trauer: Salz und Wärme und Erinnerung.

Cal ist in meinem Zimmer, als ich aufwache. Milchweiß in der Dunkelheit, tropfnass vom Meer. Unmöglich, aber so real, dass ich Salz und Apfelkaugummi riechen kann. So real, dass ich die Narbe an seinem linken Fuß sehe – ein längst verheilter Schnitt von einer Glasscherbe am Strand. Er redet über die Traumfische: pures Silber, unbekannt und fort.

Ich taste in der Luft nach dem Traum, berühre stattdessen jedoch die Ohren von Cals Labrador Woof. Seit der Beerdigung folgt er mir überallhin, eine lange schwarze Linie, die ich nicht abschütteln kann. Meist schläft er auf dem Fußende meines Betts oder im Türrahmen meines Zimmers, aber die letzten beiden Nächte hat er neben meinen gepackten Koffern geschlafen. Ich kann ihn nicht mitnehmen. »Du bist ein Meereshund.« Ich streiche ihm mit dem Finger über die Schnauze. »In der Stadt würdest du durchdrehen.«

Nach Träumen von Cal ist es vorbei mit dem Schlafen, deshalb klettere ich aus dem Fenster und gehe zum Strand. Der Mond ist drei viertel leer. Die Nacht ist so warm wie der Tag. Gran hat Ende letzter Woche gemäht und an meinen Füßen sammeln sich warme grüne Halme.

Zwischen unserem Haus und dem Wasser ist fast nichts. Nur die Straße, ein schmaler Streifen Gebüsch und dann Dünen. Die Nacht besteht nur aus Gewirr und Geruch. Salz und Baum; Rauch von einem Feuer weit hinten am Strand. Und auch aus Erinnerung. Sommerschwimmen und Nachtspaziergänge, die Suche nach Feigenschnecken und Schleimfischen und Seesternen.

Drüben beim Leuchtturm ist die Stelle, wo der Schnabelwal gestrandet ist: ein Riese von sechs Metern, die rechte Seite seines Kopfes auf dem Sand, das eine sichtbare Auge offen. Später standen eine Menge Leute drum herum – Wissenschaftler und Einheimische, die ihn studierten und bestaunten. Doch am Anfang waren da nur Mum und Cal und ich, in der Kühle des frühen Morgens. Ich war neun Jahre alt, und mit seinem langen Schnabel sah er für mich so aus, als wäre er halb Meereswesen, halb Vogel. Ich wollte so gerne das Wasser erforschen, aus dem er gekommen war, und die Dinge, die er vielleicht gesehen hatte. Cal und ich suchten den ganzen Tag in Mums Büchern und im Internet. Der Schnabelwal zählt zu den am wenigsten erforschten Meereswesen, schrieb ich in mein Tagebuch. Er lebt in solchen Tiefen, dass der Druck tödlich wäre.

Ich glaube nicht an Geister und frühere Leben und Zeitreisen und das ganze seltsame Zeug, mit dem sich Cal so gerne beschäftigt hat. Aber jedes Mal, wenn ich am Strand stehe, wünsche ich uns zurück – zu dem Tag mit dem Wal, zu dem Tag, als wir hierhergezogen sind, zu jedem beliebigen Tag, bevor er gestorben ist. Mit dem, was ich über die Zukunft weiß, wäre ich bereit. Ich würde ihn retten, wenn es so weit wäre.

Obwohl es schon so spät ist, sind bestimmt Leute von der Schule am Strand, deshalb gehe ich ein Stück weiter weg zu einer ruhigen Stelle. Ich setze mich in die Dünen, bedecke meine Beine bis zu den Hüften mit Sand und starre auf das Wasser. Es ist mit Mond übergossen, lauter silberne Flecken auf der Oberfläche.

Ich möchte reingehen und kann es nicht. Ich will am Strand sein und weit weg. Ich habe versucht zu schwimmen, ohne an den Tag zu denken, an dem Cal ertrunken ist, aber es geht nicht. Ich höre seine Worte. Ich höre seine Schritte im Sand. Ich sehe ihn eintauchen: ein langer, schmaler Bogen, der im Meer verschwindet.

Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin, als ich Mum über die Dünen kommen höre; ihre Füße rutschen auf dem Sand. Sie setzt sich neben mich und zündet sich eine Zigarette an, schirmt sie gegen die Nacht ab.

Nach Cals Tod hat sie wieder angefangen zu rauchen. Sie und Dad hatten sich nach der Beerdigung hinter der Kirche versteckt. Ich stellte mich schweigend zwischen sie, nahm ihre freien Hände und wünschte mir, Cal hätte den seltsamen Anblick unserer rauchenden Eltern sehen können. Dad arbeitet seit der Scheidung vor zehn Jahren bei Ärzte ohne Grenzen. Mum unterrichtet Naturwissenschaften an der Highschool hier in Sea Ridge. Beide haben unser Leben lang Zigaretten als »Sargnägel« bezeichnet.

Wir schauen aufs Wasser. Mum geht auch nicht mehr rein, aber wir treffen uns jeden Abend am Flutsaum. Sie war diejenige, die Cal und mir das Schwimmen beigebracht hat: wie man das Wasser umfasst, wie man es zurückschiebt und seinen Fluss kontrolliert. Es war Mum, die uns gesagt hat, wir sollten keine Angst haben. »Aber schwimmt nie alleine«, sagte sie und abgesehen von dem einen Mal haben wir das auch nie getan.

»Hast du alles gepackt?«, fragt sie und ich nicke.

Morgen verlasse ich Sea Ridge und fahre nach Gracetown, einem Vorort von Melbourne, wo meine Tante Rose lebt. Ich bin bei der Abschlussprüfung durchgerasselt, und da ich nicht vorhabe, es nächstes Jahr noch mal zu versuchen, und nicht weiß, was ich hier mit mir anfangen soll, hat Rose mir einen Job im Café des St. Albert’s Hospital besorgt, wo sie als Ärztin arbeitet.

Cal und ich sind in Gracetown aufgewachsen. Wir sind vor drei Jahren nach Sea Ridge gezogen, als ich fünfzehn war. Gran brauchte Hilfe, und wir wollten nicht, dass sie das Haus verkauft. Wir haben seit unserer Geburt sämtliche Sommer- und Winterferien bei ihr verbracht, deshalb war Sea Ridge wie ein zweites Zuhause für uns.

»Der Highschool-Abschluss ist nicht alles«, sagt Mum.

Vielleicht nicht, aber vor Cals Tod hatte ich mein Leben bis ins kleinste Detail durchgeplant. Ich hatte Supernoten und war glücklich. Ich wollte Ichtyologin werden und Fische wie den Schnabelwal erforschen. Ich wollte Joel, Reisen, Uni, Freiheit.

»Es kommt mir so vor, als hätte das Universum Cal betrogen und uns gleich mit«, sage ich.

Vor Cals Tod hätte Mum mir ruhig und sachlich erklärt, dass das Universum sämtliche existierende Materie und sämtlichen existierenden Raum umfasst, mit einem Durchmesser von zehn Milliarden Lichtjahren, Galaxien und Sonnensystemen, Sternen und Planeten. Und dass nichts davon in der Lage ist, jemanden zu betrügen.

Jetzt zündet sie sich eine neue Zigarette an. »Hat es auch«, sagt sie und bläst den Sternen Rauch ins Gesicht.

HENRY

Ich liege zusammen mit Amy in der Ratgeberecke von Howling Books. Wir sind allein. Es ist Donnerstagabend, zehn Uhr, und um ehrlich zu sein: Ich habe gerade einen ziemlich unpassenden Ständer. Das liegt nicht nur an mir, mein Körper entwickelt da manchmal ein seltsames Eigenleben.

Normalerweise ist das die Zeit und der Ort, wo Amy und ich uns küssen. Das ist die Zeit, wo unsere Herzen außer Atem geraten und sie neben mir liegt, warmhäutig und witzig, und mich wegen meiner zerzausten Haare aufzieht. Es ist die Zeit, wo wir über die Zukunft reden, die für mich noch vor einer Viertelstunde absolut gebucht und bezahlt war.

»Ich will Schluss machen«, sagt sie, und zuerst denke ich, es soll ein Witz sein. Vor nicht mal zwölf Stunden haben wir uns genau hier geküsst. Und noch eine ganze Menge anderer netter Sachen gemacht, denke ich, als sie mich anstupst.

»Henry? Sag was.«

»Was denn?«

»Keine Ahnung. Was du denkst.«

»Ich denke, dass das hier total unerwartet und ziemlich scheiße ist.« Ich setze mich mühsam auf. »Wir haben Flugtickets. Nicht erstattungsfähige und nicht umtauschbare Flugtickets für den 12. März.«

»Ich weiß, Henry.«

»Wir fliegen in zehn Wochen.«

»Jetzt reg dich nicht auf«, sagt sie, als wäre ich derjenige, der spinnt. Vielleicht spinne ich wirklich, aber ich habe immerhin meine gesamten Ersparnisse auf den Kopf gehauen, um ein Rund-um-die-Welt-Ticket mit sechs Zwischenstopps zu kaufen: Singapur, Berlin, Rom, London, Helsinki, New York. »Wir haben eine Versicherung abgeschlossen und uns Pässe besorgt. Wir haben Reiseführer und diese kleinen Kissen fürs Flugzeug gekauft.«

Sie kaut rechts auf ihrer Unterlippe herum und ich versuche mit aller Kraft und völlig erfolglos, nicht daran zu denken, sie zu küssen.

»Du hast gesagt, du liebst mich.«

»Das tue ich auch«, sagt sie, und dann fängt sie an, Liebe in all ihre kursivierten Feinheiten zu zerlegen. »Ich bin halt nur nicht in dich verliebt. Obwohl ich’s versucht habe. Ich hab mir wirklich Mühe gegeben.«

Das dürften wohl die deprimierendsten Worte in der Geschichte der Liebe sein. Ich hab mir wirklich Mühe gegeben, dich zu lieben.

Ich sollte sie bitten zu gehen. Ich sollte sie daran erinnern, dass wir, als wir die Tickets gebucht haben, eine Abmachung hatten, einen Pakt, eine feste Vereinbarung, dass sie nicht wieder mit mir Schluss machen würde. Ich sollte sagen: »Weißt du was? Ich will gar nicht mit dir fliegen. Ich will die Länder, in denen Dickens geschrieben hat, in denen Karen Russell und Junot Diáz und Balli Kaur Jaswal immer noch schreiben, nicht mit einem Mädchen bereisen, das sich wirklich Mühe gibt, mich zu lieben.«

Aber ich Idiot bin nun mal Optimist und ich will diese Länder mit ihr bereisen, also sage ich: »Falls du deine Meinung änderst, weißt du ja, wo ich wohne.« Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass wir schon seit der Neunten immer wieder mal zusammen waren; sie hat mich schon öfter sitzen lassen und ist wieder zurückgekommen, deshalb gibt mir die Vergangenheit Grund zur Hoffnung.

Wir liegen in der Ratgeberecke, einem Raum ganz hinten im Laden, ungefähr so groß wie ein Kleiderschrank. Der Platz reicht gerade für zwei nebeneinanderliegende Leute.

Sie kommt nur hier raus, indem sie über mich drüberklettert, und so vollführen wir unseren seltsamen Pas de deux, als sie aufsteht, eine Art sanften Entwirrungskampf. Einen Moment lang schwebt sie über mir, ihre Haare kitzeln meine Haut, und dann beugt sie sich herunter und küsst mich. Es ist ein langer Kuss, ein guter Kuss, und solange er dauert, wage ich die Hoffnung, dass er vielleicht so gut ist, dass sie ihre Meinung ändert.

Doch dann steht sie auf, zupft ihren Rock zurecht und winkt mir verhalten und traurig zu. »Mach’s gut, Henry«, sagt sie. Und dann geht sie und lässt mich da liegen, auf dem Fußboden der Ratgeberecke – ein toter Mann. Einer mit einem nicht erstattungsfähigen, nicht umtauschbaren Weltreiseticket.

Irgendwann krieche ich aus der Ratgeberecke hinaus und schleppe mich zum Literatursofa, der langen blauen Samtliege vor dem Regal mit den Klassikern. Ich schlafe kaum noch oben. Ich mag das staubige Rascheln der nächtlichen Buchhandlung.

Ich liege hier und denke an Amy. Ich gehe die letzte Woche durch, Stunde um Stunde, und versuche herauszufinden, was sich zwischen uns verändert hat. Aber ich bin noch derselbe, der ich vor sieben Tagen war. Ich bin derselbe wie in der letzten Woche und der davor. Ich bin derselbe, der ich an dem Morgen war, als wir uns kennengelernt haben.

Amy kam von einer Privatschule drüben auf der anderen Seite des Flusses. Sie zog auf unsere Seite der Stadt, nachdem die Buchhaltungsfirma von ihrem Dad Stellen gestrichen hatte und er sich einen neuen Job suchen musste. Sie zogen in eines der neuen Mietshäuser an der Green Street, nicht weit von unserer Schule.

In ihrem neuen Zimmer konnte Amy den Verkehr hören und die Toilettenspülung ihrer Nachbarn. In ihrem alten Zimmer konnte sie Vögel hören. Diese Sachen erfuhr ich, bevor wir zusammen waren, in kurzen Gesprächen auf dem Heimweg von Partys, im Englischunterricht, beim Nachsitzen, in der Bibliothek oder wenn sie am Sonntagnachmittag im Buchladen vorbeischaute.

Bei unserer ersten Begegnung erfuhr ich oberflächliche Dinge – sie hatte lange rote Haare, grüne Augen und helle Haut. Sie roch blumig. Sie trug Kniestrümpfe. Sie saß alleine an einem Tisch und wartete darauf, dass sich Leute zu ihr setzten. Was sie auch taten.

In unserer ersten gemeinsamen Englischstunde saß ich vor ihr und hörte, wie sie sich mit Aaliyah unterhielt. »Wer ist das?«, hörte ich sie fragen. »Henry«, antwortete Aaliyah. »Witzig. Schlau. Süß.«

Ich winkte nach hinten, ohne mich umzudrehen.

»Und ein Lauscher«, fügte Amy hinzu und trat leicht gegen die Lehne meines Stuhls.

Offiziell sind wir erst in der Zwölften zusammengekommen, aber zum ersten Mal geküsst haben wir uns in der Neunten. Das war, nachdem wir im Englischunterricht Ray Bradburys Kurzgeschichten durchgenommen hatten. Wir hatten »Die letzte Nacht der Welt« gelesen, und da kam unsere Stufe auf die Idee, dass wir auch alle eine Nacht so verbringen sollten, als wäre sie unsere letzte, und das tun, was wir täten, wenn die Apokalypse tatsächlich bevorstünde.

Als der Direktor hörte, was wir vorhatten, verbot er es uns; das mit der Apokalypse sei gefährlich. Also machten wir das Ganze heimlich.

In den Schränken tauchten Flugblätter auf, in denen das Ende für den 12. Dezember angekündigt wurde, den letzten Schultag. An dem Abend sollte bei Justin Kent zu Hause eine Party steigen. Überlegt euch, was ihr tun wollt stand auf den Zetteln. Das Ende ist nah.

Am Abend vor dem Ende blieb ich lange wach und versuchte Amy einen perfekten Brief zu schreiben, der sie überzeugen würde die letzte Nacht mit mir zu verbringen. Als ich zur Schule ging, steckte ich ihn ins äußerste Fach meiner Tasche. Obwohl ich ahnte, dass ich mich nicht trauen würde ihn ihr zu geben, hoffte ich, dass ich es vielleicht doch schaffte.

Ich hatte damals eine tolle beste Freundin namens Rachel, die ich jetzt nicht mehr habe, obwohl ich nicht so richtig weiß, warum, und mein Plan war, die letzte Nacht mit ihr zu verbringen, sofern nicht ein Wunder geschah und Amy in den Bereich des Möglichen rückte.

An dem Tag hörte im Unterricht keiner mehr zu. Überall gab es kleine Anzeichen, dass das Ende bevorstand. Zeichen, die die Lehrer nicht sahen, aber wir. In unserem Aufenthaltsraum hatte jemand alle Zettel am Pinnbrett verkehrt herum aufgehängt. In die Tür zum Jungenklo hatte jemand von innen DAS ENDE geritzt. Als ich meinen Schrank aufmachte, fand ich dort einen Zettel, auf dem Noch ein Tag stand, und da fiel mir auf, dass sich niemand Gedanken darüber gemacht hatte, wann die Welt denn nun genau untergehen würde. Um Mitternacht? Bei Sonnenaufgang?

Während ich noch darüber nachdachte, drehte ich mich um und sah, dass Amy neben mir stand. Der Brief war in meiner Tasche, aber ich traute mich nicht, ihn ihr zu geben. Stattdessen hielt ich den Zettel hoch – Noch ein Tag – und fragte sie, was sie mit der Zeit anfangen wollte, die ihr noch blieb.

Sie musterte mich eine Weile und dann sagte sie: »Ich dachte, du würdest mich vielleicht fragen, ob ich sie mit dir verbringen will.« Es waren mehrere Leute im Flur, die das mitbekamen, und niemand konnte mein Glück fassen, ich selbst am wenigsten.

Amy und ich beschlossen, dass das Ende bei Sonnenaufgang sein sollte, also laut Wetterkanal um 5.50 Uhr. Wir trafen uns um 17.50 Uhr an der Buchhandlung, genau zwölf Stunden vorher. Von dort aus gingen wir zum Abendessen zum Shanghai Dumplings. Gegen neun zogen wir weiter zu Justins Party, und als es uns zu laut wurde, gingen wir zum Benito Building und fuhren mit dem Aufzug ganz nach oben – an den höchsten Punkt von Gracetown.

Wir setzten uns auf meine Jacke und schauten auf die Lichter, und da erzählte mir Amy von der neuen Wohnung, wie klein die Zimmer waren und dass sie das Vogelgezwitscher vermisste. Erst Jahre später erzählte sie mir die Sache mit ihrem Dad, dass er seinen Job verloren hatte, und wie schrecklich es gewesen war, ihn weinen zu hören. An dem Abend deutete sie die Probleme ihrer Familie nur an. Ich bot ihr an, in den Laden zu kommen, wenn sie mal rausmüsste. Wenn sie sich in den Lesegarten setzte, würde sie vielleicht sogar Vögel hören. Und ich sagte ihr, dass das Geräusch umgeblätterter Seiten überraschend tröstlich war.

Da küsste sie mich, und obwohl wir erst Jahre später richtig zusammenkamen, fing in dem Moment etwas an. Manchmal, wenn sie am Ende einer Party allein war, küssten wir uns wieder. Die anderen Mädchen wussten, dass ich zu ihr gehörte, selbst wenn Amy zu der Zeit mit einem anderen Typen zusammen war.

Und dann, eines Abends in der Zwölften, wurde daraus etwas Festes. Amy kam zur Buchhandlung. Es war schon spät und der Laden war geschlossen. Ich saß am Tresen und lernte. Sie war damals mit einem Typen namens Ewan zusammen, der in ihrem alten Viertel zur Schule ging, aber an dem Nachmittag hatte er mit ihr Schluss gemacht. Sie brauchte jemanden, auf den sie sich verlassen konnte, für den Abschlussball. Und so stand sie um Mitternacht an der Ladentür, klopfte gegen die Scheibe und rief meinen Namen.

RACHEL

Mum geht ins Haus zurück, aber ich bleibe mit Woof am Strand. Ich hole den Brief heraus, den ich mit mir herumtrage, seit ich mich entschieden habe wieder in die Stadt zurückzugehen – den letzten Brief, den Henry mir geschickt hat. Ich habe ihn, zusammen mit all den anderen von ihm, in einer Schachtel hinten in meiner Sockenschublade aufbewahrt. Als ich nach Sea Ridge gezogen war, schrieb Henry mir ungefähr drei Monate lang jede Woche, bis er irgendwann begriff, dass wir nicht mehr befreundet waren.

»Ich denke nicht dran, ihm zurückzuschreiben, solange er mir nicht die Wahrheit erzählt«, sagte ich jedes Mal, wenn ein Brief kam, zu Cal, und jedes Mal starrte Cal mich an, ganz ernst hinter seiner Brille, und sagte so was wie: »Das ist Henry. Dein bester Freund. Der Henry, der uns damals geholfen hat das Baumhaus zu bauen. Der uns Bücher geschenkt hat. Der uns beiden in Englisch geholfen hat. Henry.«

»Du hast das mit dem Mistkerl vergessen«, erinnerte ich ihn dann. »Der Henry, der ein Mistkerl ist.«

Bis zum Anfang der Neunten war es nicht so schlimm, dass ich Henrys beste Freundin und außerdem in ihn verliebt war. Er hat sich immer wieder mal in andere Mädchen verguckt, aber nie irgendwas unternommen, und es hielt auch nie lange an, und ich war immer noch diejenige, mit der er zusammensaß und die er spätabends anrief.

Aber dann kam Amy. Sie hatte lange, rote Haare und diese unglaublich helle Haut ohne eine einzige Sommersprosse. Ich bin von oben bis unten übersät von all den Sommern am Strand. Und klug war Amy auch noch. Wir haben uns in dem Jahr beide um den Mathepreis beworben und sie hat gewonnen. Ich bekam den Biologiepreis. Und sie bekam Henry.

Sie hatte es mir vorher gesagt, am letzten Tag der Neunten, vor den Sommerferien. Wir hatten in Englisch den Autor Ray Bradbury durchgenommen. In einer von seinen Geschichten ging es um ein Paar in der letzten Nacht der Welt, und irgendwer war auf die Idee gekommen, wir sollten uns alle vorstellen, es wäre unsere letzte Nacht. Im Grunde war es nur ein Vorwand, um sich zusammenzutun; ein Freifahrtschein, um demjenigen, in den man verliebt war, zu sagen, dass man in ihn verliebt war. Ich hatte nicht vor, es Henry zu sagen, aber da es außerdem meine letzte Nacht vor dem Umzug war, hatte er gemeint, wir sollten sie zusammen verbringen.

»Du magst ihn«, sagte Amy an dem Morgen und sah mich im Spiegel des Waschraums an.

Henry und ich hatten uns ein paar Jahre davor auf dem Pausenhof der Grundschule kennengelernt. Er hatte Die Entdeckung des Hugo Cabret gelesen, ein wunderschönes Buch mit sanften Bleistiftmonden. An unser erstes Gespräch kann ich mich nicht erinnern, aber ich erinnere mich an die, die danach kamen: über Bücher, Planeten, Zeitreisen, Küsse, Geister, Träume. Ich wusste alles, was es über Henry zu wissen gab. Mögen traf es nicht mal im Ansatz.

»Er ist mein bester Freund«, sagte ich zu Amy.

»Tja, ich werde ihn fragen«, erwiderte sie.

Ich wusste, was sie meinte, und sagte ihr, dass er die Nacht mit mir verbringen würde.

Nachmittags teilte Henry mir mit, dass er ihr zugesagt hatte. Wir lagen hinter der Schule im hohen Gras und sahen den Insekten zu, wie sie auf den Sonnenstrahlen skateten. »Wenn es dir wirklich so viel ausmacht, kann ich hingehen und wieder absagen«, meinte er. Dann kniete er sich vor mich hin und machte Bittebitte.

Ich schloss die Augen und sagte, es sei schon okay.

»Was hätte ich denn sonst sagen sollen?«, fragte ich Lola abends. »Ich liebe dich schon ewig, und wenn es zwei Leute gibt, die definitiv die letzte Nacht der Welt zusammen verbringen sollten, dann sind wir es, Henry und Rachel?«

»Wieso nicht?«, entgegnete sie. Sie saß im Schneidersitz auf meinem Bett und aß Schokolade. »Im Ernst, warum sagst du ihm nicht einfach: Du, mein Freund, bist derjenige, den ich küssen will, und ich glaube, wir würden super zusammenpassen, und diese Amy hat die merkwürdige Angewohnheit, sich stundenlang im Spiegel des Waschraums zu bewundern?«

Ich machte mir nicht die Mühe zu antworten. Lola war Lola Hero, das Mädchen, das Songs schrieb und Bassgitarre spielte, das Mädchen, das alle möglichen Leute nannten, wenn man sie fragte, wer sie gerne sein würden. Wenn ihr ein Mädchen gefiel, fragte sie sie sofort, ob sie was mit ihr unternehmen wollte. Die Liebe, über die sie schrieb, war nicht die Sorte Liebe, die Leute wie ich erlebten.

Warum nicht? »Weil ich mich nicht gerne gnadenlos blamiere.«

Doch gegen elf, als wir uns durch eine Packung Eiscreme, zwei Tafeln Schokolade und eine Tüte Marshmallows gefuttert hatten, überkam mich ein Anfall von Wahnsinn. Ich beschloss in die Buchhandlung einzusteigen und einen Liebesbrief an Henry in der Briefbibliothek von Howling Books zu hinterlegen.

An dem Abend erschien mir meine Welt zu klein. Ich hatte Henry gegenüber noch nicht mal angedeutet, dass ich ihn mochte, aber jetzt, wo die Uhr tickte, war es plötzlich das Wichtigste, was ich noch tun musste, bevor sie ablief, und die Briefbibliothek war der perfekte Ort dafür.

Die Briefbibliothek ist eine Abteilung mit Büchern, die nicht zu verkaufen sind. Kunden können darin lesen, aber sie können sie nicht mit nach Hause nehmen. Sie können Lieblingswörter oder -sätze umkringeln und Kommentare an den Rand schreiben. Und sie können in den Büchern Briefe an andere hinterlegen, die auch zum Lesen dorthin kommen.

Henry liebt die Briefbibliothek. Und seine ganze Familie auch. Ich habe nicht so recht verstanden, wozu es gut sein soll, irgendwem einen Brief in ein Buch zu legen. Die Chancen, eine Antwort zu kriegen, sind doch viel größer, wenn du demjenigen eine Mail schickst. Henry meinte immer, wenn ich die Briefbibliothek nicht verstünde, könne er sie mir auch nicht erklären. Das sei etwas, das man instinktiv begreifen müsse.

Die Buchhandlung hatte keine Alarmanlage, und das Schloss vom Klofenster, das zur Charmer Street hinausging, war kaputt. Lola und ich kletterten hinein und lauschten einen Moment, um sicher zu sein, dass niemand im Laden war.

Es war dunkel, aber die Straßenlaterne spendete genug Licht, um sich zurechtzufinden. Ich hatte den Brief zu Hause geschrieben, bevor wir losgegangen waren, und meine Hände hatten dabei gezittert. Es war im Wesentlichen Ich liebe dich, mit einem Hauch von Scheiß drauf – laut Lola der perfekte Liebesbrief.

Ich überließ nichts dem Zufall und legte ihn nicht in ein Buch, das er nie las, sondern in T. S. Eliots Gesammelte Gedichte. Ich war sogar noch wagemutiger und legte ihn zwischen die Seiten mit seinem Lieblingsgedicht: »J. Alfred Prufrocks Liebesgesang«.

Dann beschloss ich, wenn ich das hier schon machte, dann richtig, und schlich leise hoch in Henrys Zimmer. Er war noch mit Amy unterwegs, aber das Buch, das er gerade las, lag auf dem Bett, die Seite, auf der er war, markiert durch eine umgeknickte Ecke. Ich legte einen Zettel hinein:

Schau heute Nacht noch in den T. S. Eliot – Rachel.

Lola und ich kletterten durch das Klofenster wieder hinaus und lachten, als wir draußen waren. Es war ein heißer Tag gewesen, aber jetzt waren die Straßen nass vom Regen. »Das ist das Ende«, dachte ich, aber ich meinte damit nicht das Ende der Welt, sondern das Ende von Henry und mir. Ich stellte mir den Moment vor, wenn er den Brief las und nichts mehr so war wie zuvor. Wir würden eine andere Rachel, ein anderer Henry sein. Ich sah ein Paar auf der anderen Straßenseite, das sich küsste, John und Clara aus der Schule, und spürte, wie der Regen auf meiner Haut zischte.

Wir winkten uns ein Taxi herbei und setzten erst Lola ab. Als ich schließlich zu Hause ankam, checkte ich alle paar Minuten mein Handy. Ich stellte mir Henrys Stimme vor und wie sie mit dem Wissen von mir darin wohl klingen würde. Irgendwann schlief ich ein.

Gegen drei weckte mich Lola und fragte, ob er sich gemeldet hatte. Hatte er nicht. Er hatte sich auch nicht gemeldet, als wir am nächsten Morgen um neun aufbrachen. Um zehn, als wir auf dem Weg nach Sea Ridge waren, schickte er mir eine SMS: Sorry, hab verschlafen!! Ruf dich nachher an.

Henry benutzt keine Ausrufezeichen, dachte ich, während ich darauf starrte. Er mag ihren Anblick nicht, es sei denn, sie bedecken eine ganze Seite, dann sehen sie aus wie Regen. Ganz besonders hasst er es, wenn jemand zwei hintereinander verwendet, und in dem Moment verstand ich, warum. Zwei zeigen, dass jemand sich zu sehr bemüht. Zwei sind verlogen.

Amy liebt Ausrufezeichen. Ich habe mal eine Kurzgeschichte von ihr gelesen, und sie hat sie jedes Mal benutzt, wenn jemand etwas sagte. Die SMS war von ihr. Ich stellte mir vor, wie sie meinen Brief über Henrys Schulter hinweg las und zu ihm sagte: »Tu so, als hättest du ihn nie bekommen. Sie zieht doch eh weg.«

Henry hat meinen Brief und das, was darin stand, nie erwähnt, kein einziges Mal. Seine Briefe waren voll von Amy. Ich habe bei jedem so getan, als hätte ich ihn nie bekommen.

Henry weiß das mit Cal nicht. Wenn er es gehört hätte, wäre er auf jeden Fall zur Beerdigung gekommen. Aber ich habe es ihm nicht gesagt und Mum auch nicht. Rose muss jedes Mal weinen, wenn sie darüber spricht, und sie weint nie in der Öffentlichkeit. Cal war nicht auf Facebook. Er hatte einen Account, aber es interessierte ihn nicht.

Tim Hooper, sein bester Freund aus Gracetown, war ein paar Monate vor Cals Tod nach Westaustralien gezogen, deshalb schickte ich ihm einen Brief, als es passierte. Ich brauchte ihm nicht zu sagen, dass er es nicht auf Facebook & Co. posten sollte, dass ich die Vorstellung nicht ertrug, wie irgendwelche Leute Kommentare darüber abließen. Tim wusste es einfach.

»Früher hat Henry oft gesagt, wir wären uns so nah, dass wir uns mittels Telepathie unterhalten könnten«, sage ich zu Woof und der Nacht um mich herum. Ich lese nur den Anfang des Briefes, dann falte ich ihn wieder zusammen, mache ein großes Loch in den Sand und vergrabe ihn darin.

Liebe Rachel,

da du nie schreibst, muss ich wohl annehmen, dass du mich vergessen hast. Ich erinnere dich noch mal an den Blutschwur, den wir in der Dritten abgelegt haben.

HENRY

Als ich Freitagmorgen aufwache, steht meine Schwester George neben dem Literatursofa, auf dem ich letzte Nacht eingeschlafen bin und auf dem ich die ganze nächste Woche weiterschlafen will.

Ich habe die Trennung nicht gut verkraftet, was nicht weiter überraschend ist, und ich habe auch nicht vor, sie in Zukunft gut zu verkraften. Mein Plan ist, auf dem Sofa liegen zu bleiben, mit kurzen Unterbrechungen, um aufs Klo zu gehen oder ein überbackenes Sandwich zu essen, bis Amy zu mir zurückkommt. Sie kommt immer zu mir zurück. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Gestern Abend habe ich mir alle Bücher rausgesucht, die ich wahrscheinlich brauchen werde, und so liegen sie in Stapeln um mich herum: ein paar von Patrick Ness, eins von Ernest Cline, außerdem Neil Gaiman, Flannery O’Connor, John Green, Nick Hornby, eins von Kelly Link und für Notfälle Douglas Adams.

»Steh. Auf«, sagt George und stupst mich sanft mit dem Knie an, was ihre Version einer Umarmung ist. Ich habe meine Schwester wirklich gern, aber wie der Rest der Welt verstehe ich sie nicht so ganz, und um ehrlich zu sein, habe ich ein bisschen Angst vor ihr.

Sie ist siebzehn und kommt dieses Jahr in die Zwölfte. Sie liebt das Lernen, aber sie hasst ihre Schule. In der Siebten hat sie ein Stipendium für eine Privatschule auf der anderen Seite des Flusses bekommen und Mum besteht darauf, dass sie da bleibt, obwohl sie lieber auf die Gracetown High gehen würde.

Sie zieht fast nur schwarze Sachen an, meistens T-Shirts mit Sprüchen wie Lest, ihr Arschlöcher vorne drauf. Manchmal denke ich, sie liest postapokalyptische Romane so gerne, weil ihr die Vorstellung, dass die Welt untergehen könnte, wirklich gefällt.

»Hast du vor irgendwann in nächster Zeit aufzustehen?«, fragt sie und ich verneine. Ich erkläre ihr meinen Plan, der im Wesentlichen daraus besteht, in horizontaler Lage darauf zu warten, dass das Leben wieder besser wird.

Sie hat eine fettgetränkte braune Papiertüte in der Hand und ich bin ziemlich sicher, dass darin ein Zimt-und-Zucker-Donut ist. »Zurzeit habe ich nichts, wofür es sich lohnt aufzustehen«, sage ich und greife danach.

»Niemand hat irgendwas, wofür es sich lohnt aufzustehen. Das Leben ist sinnlos, aber trotzdem stehen alle auf. So funktioniert nun mal die menschliche Spezies«, sagt sie und gibt mir noch einen Kaffee zu dem Donut.

»Es gefällt mir nicht, wie die menschliche Spezies funktioniert.«

»Niemandem gefällt, wie die menschliche Spezies funktioniert«, sagt sie.

Nachdem ich den letzten Bissen gegessen habe, strecke ich mich wieder auf dem Sofa aus und starre an die Decke. »Ich habe ein nicht erstattungsfähiges Weltreiseticket.«

»Dann schau dir die Welt an«, sagt George. In dem Moment kommt Dad rein.

»Steh auf, Henry«, sagt er. »Du gammelst. Sag ihm, dass er gammelt, George.«

»Du gammelst«, sagt George und schiebt mich zur Seite, damit sie sich neben mich setzen kann. Sie hebt meine Beine hoch und legt sie über ihre.

»Ich verstehe das nicht«, sagt Dad. »Ihr wart so fröhliche Kinder.«

»Ich war nie ein fröhliches Kind«, sagt George.

»Stimmt, aber Henry.«

»Jetzt bin ich’s nicht mehr. Genau genommen kann ich mir im Moment kaum vorstellen, wie mein Leben noch beschissener sein könnte«, sage ich, und George hält das Buch hoch, das sie gerade liest. Die Straße von Cormac McCarthy.

»Okay. Es könnte noch beschissener sein, wenn irgendwas Weltuntergangsmäßiges passiert und die Leute anfangen sich gegenseitig aufzuessen. Aber das ist eine völlig andere Beschissenheits-Ebene. Auf der normal-menschlichen Beschissenheits-Skala rangiert mein Leben derzeit ganz oben.«

»Es gibt noch andere Mädchen, Henry«, sagt Dad.

»Warum erzählen mir das alle? Ich will kein anderes Mädchen. Ich will dieses. Nicht irgendein anderes. Dieses.«

»Amy liebt dich nicht.«

George sagt es ganz sanft – als ob sie mir voller Mitgefühl eine Glasscherbe ins linke Auge rammt.

Doch, Amy liebt mich. Sie hat mich jedenfalls mal geliebt. Sie wollte eine nicht näher definierte Menge an Zeit mit mir verbringen und das ist ungefähr dasselbe wie für immer. »Wenn jemand für immer mit dir zusammen sein will, dann ist das Liebe.«

»Aber sie wollte nicht für immer mit dir zusammen sein«, sagt George.

»Jetzt. Jetzt will sie nicht mehr für immer mit mir zusammen sein. Aber vorher wollte sie es und für immer löst sich nicht einfach über Nacht in Luft auf.« Wenn doch, dann sollte es irgendein naturwissenschaftliches Gesetz dagegen geben.

»Jetzt dreht er durch«, sagt George.

»Geh duschen, Junge«, sagt Dad.

»Nenn mir einen guten Grund.«

»Du arbeitest heute«, sagt er und ich schleppe mich mit gebrochenem Herzen ins Bad.

Laut George ist es eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass unsere Familie zu blöd für die Liebe ist. Selbst unser Kater, Ray Bradbury, sagt sie, kriegt keine der Katzen in der Nachbarschaft rum.

Mum und Dad haben sechsmal versucht wieder zusammenzukommen, aber letztes Jahr haben sie dann die Scheidung eingereicht, und Mum ist aus dem Laden in eine kleine Wohnung in Renwood gezogen, ein paar Vororte weiter. Wenn George nicht in der Schule ist, sitzt sie die ganze Zeit im Schaufenster und schreibt in ihr Tagebuch. Dad ist ziemlich angeschlagen, seit Mum fort ist, und futtert jeden Abend eine ganze Tafel Pfefferminzschokolade, während er zum x-ten Mal Dickens liest.

Ich sehe das anders als George. Ich meine, nicht dass wir toll wären, was die Liebe angeht, aber ich glaube, die ganze Welt stellt sich dabei ziemlich blöd an, also sind wir, statistisch gesehen, Durchschnitt, und damit kann ich leben.

Amy liebt mich. Ja, sie verlässt mich ab und zu, aber sie kommt immer wieder zurück. Und man kommt ja nicht immer wieder zu jemandem zurück, den man nicht liebt.

Während ich in der Dusche stehe, versuche ich herauszufinden, was ich falsch gemacht habe. Es muss irgendeinen Moment gegeben haben, wo ich Mist gebaut habe, und wenn ich dahin zurückfinde, lässt sich der Moment vielleicht reparieren.

Warum?, simse ich Amy, als ich mich abgetrocknet habe. Es muss doch einen Grund geben. Kannst du mir den wenigstens sagen?

Ich drücke auf Senden und gehe runter in den Laden.

»Er sieht besser aus«, sagt Dad, als ich wieder unten bin.

George hebt den Kopf, sieht mich an und beschließt, dass es klüger ist, den Mund zu halten.

»Wie ging noch dieser wunderbare Satz aus Große Erwartungen?«, sagt Dad. »Das gebrochene Herz. Du denkst, du stirbst, aber du lebst einfach weiter, einen schrecklichen Tag nach dem anderen.«

»Überaus tröstlich, Dad«, sagt George.

»Die schrecklichen Tage werden irgendwann besser«, versichert er uns, aber es klingt nicht sehr überzeugend.

»Ich gehe auf Büchersuche«, verkündet er dann, was ungewöhnlich ist für einen Freitag. Ich frage ihn, ob ich mitkommen soll, aber er winkt ab und sagt, ich soll mich um den Laden kümmern. »Wir sehen uns zum Abendessen – um acht im Shanghai Dumplings.«

Seit meinem Schulabschluss im November habe ich jeden Tag im Laden gearbeitet. Wir verkaufen gebrauchte Bücher und das sind die richtigen Bücher für diese Seite der Stadt. Dad und ich kümmern uns um die Suche. Es wird schwieriger. Nicht, Bücher zu finden – Bücher sind überall und ich habe meine speziellen Orte, die Dad mir gezeigt hat –, sondern echte Schnäppchen. Heutzutage weiß jeder, was die Dinge wert sind, und du findest nicht einfach eine Erstausgabe von Casino Royale bei jemandem im Regal, ohne dass er weiß, was er da hat. Wenn du sie kaufen willst, dann musst du den Preis dafür bezahlen.

Ich lese immer wieder Artikel über das Ende von Secondhandbuchläden. Unabhängige Läden, die neue Bücher verkaufen, halten sich über Wasser, sind sogar wieder im Kommen. Aber Läden mit gebrauchten Büchern sind anscheinend bald Geschichte.

In letzter Zeit denke ich öfter darüber nach, weil Mum seit der Scheidung immer wieder davon spricht, den Laden zu verkaufen. Jedes Mal, wenn sie das Thema anschneidet, überzeugen mich ihre Argumente ein wenig mehr. Ich liebe den Laden, aber sicher nicht so sehr wie Dad. Ihm ist es egal, ob wir damit Geld verdienen. Er ist sogar bereit zusätzlich woanders zu arbeiten, damit wir ihn behalten können.

Er und Mum haben den Laden vor zwanzig Jahren gekauft, da war es noch ein Blumengeschäft. Der Preis war günstig, weil es schnell verkauft werden sollte. Der Besitzer war aus irgendeinem Grund abgehauen. Als Mum und Dad den Laden besichtigten, standen noch überall Eimer herum und alles roch nach verwelkten Blumen und gammeligem Wasser. Die Scheine waren aus der Kasse verschwunden, aber die Münzen waren noch in den Fächern.

Mum und Dad haben den hölzernen Tresen rechts vom Eingang, die alte grüne Registrierkasse und die rote Lampe behalten, die der Blumenmann dagelassen hat, aber sonst haben sie fast alles an dem langen, schmalen Raum verändert. An der Vorderseite haben sie ein großes Schaufenster eingesetzt und Dad und sein Bruder Jim haben die Dielen abgeschliffen. Sie haben auf der ganzen Länge Regale eingebaut, die vom Boden bis zur Decke reichen, und lange Holzleitern, damit die Leute an die Bücher ganz oben herankommen. Dazu die Vitrinen, in denen wir die Erstausgaben aufbewahren, und die halbhohen Regale, die im hinteren Teil des Ladens frei im Raum stehen. Und natürlich die Regale, in denen unsere Briefbibliothek untergebracht ist.

In der Mitte des Ladens, gegenüber vom Tresen, steht der Aktionstisch und daneben das Literatursofa. Hinten links ist die Treppe, die nach oben in unsere Wohnung führt, rechts ist die Nische mit der Ratgeberabteilung und geradeaus geht es durch die Glastür zum Lesegarten. Jim hat ihn überdacht, damit die Leute bei jedem Wetter draußen sitzen können, aber er hat das Efeu und den Jasmin gelassen, die an den Blausteinmauern hochwachsen. Im Garten stehen Tische mit Scrabble-Brettern und Stühle und Sofas.

In der Mauer auf der rechten Seite ist eine verschlossene Tür, die zu Frank’s Bakery führt. Wir haben Frank vorgeschlagen sie zu öffnen, damit die Leute sich bei ihm einen Kaffee holen und ihn bei uns im Garten trinken können, aber er hat kein Interesse. Seit ich ihn kenne – sprich: seit meiner Geburt –, hat er nie irgendwas in seinem Laden verändert. Da sind immer noch dieselben schwarz-weißen Fliesen und derselbe verglaste Tresen mit den Lederhockern davor. Er backt dieselben Kuchen, er weigert sich Soja-Latte anzubieten, und er spielt von morgens bis abends Frank Sinatra.

Als er mir an diesem Morgen meinen Kaffee gibt, findet er, ich sehe schrecklich aus. »Hab ich schon gehört«, sage ich, schütte Zucker hinein und rühre um. »Amy hat mich verlassen. Ich habe ein gebrochenes Herz.«

»Du weißt gar nicht, was ein gebrochenes Herz ist«, sagt Frank und schenkt mir ein Blaubeerteilchen, an der Unterseite angebrannt, genau wie ich es mag.

Ich gehe mit meinem Kaffee und dem Teilchen zurück in den Laden und mache mich daran, die Bücher durchzugehen, die ausgepreist werden müssen.

Ich blättere jedes einzelne durch, denn was ich an gebrauchten Büchern mag, sind die Spuren, die man darin findet: Kaffeeringe, angestrichene Wörter, Kommentare am Rand. Im Lauf der Jahre haben George und ich schon alles Mögliche in den Büchern gefunden: Briefe, Einkaufszettel, Busfahrkarten, Träume. Außerdem kleine Spinnen, platt gedrückte Zigaretten und Tabakkrümel. Und einmal sogar ein Kondom (verpackt und unbenutzt, aber seit zehn Jahren abgelaufen – eine Geschichte für sich). Einmal habe ich eine Ausgabe der Encyclopedia ofWorld Flora aus dem Jahr 1958 gefunden, in der jemand mit Blättern die Seiten mit seinen Lieblingspflanzen markiert hatte. Die Blätter hatten sich fast völlig aufgelöst, als ich das Buch aufschlug. Nur die Skelette waren noch übrig.

Gebrauchte Bücher sind voller Geheimnisse, deshalb mag ich sie so.

Als ich das denke, kommt Frederick herein. Er ist selbst eine Art Geheimnis. Er ist seit dem Tag der Eröffnung Stammkunde bei uns. Laut Mum und Dad war er unser erster offizieller Kunde. Damals war er in den Fünfzigern und jetzt muss er ungefähr siebzig sein. Er ist ein eleganter Mann und er liebt graue Anzüge, dunkelblaue Krawatten und Derek Walcott.

Seit es den Laden gibt, sucht Frederick nach einer speziellen Ausgabe der Gedichte von Walcott. Er könnte eine neue Ausgabe bestellen, aber er will eine gebrauchte. Und zwar eine ganz bestimmte. Er sucht nach dem Buch, das ihm einst gehört hat. Und das zu finden dürfte nahezu unmöglich sein.

Trotzdem sollte er meiner Meinung nach nicht aufhören zu suchen. Wie kann ich denn wissen, ob er es nicht doch findet? Die Chancen stehen ziemlich schlecht, aber manchmal geschieht das Unmögliche. Vielleicht finde ich es sogar für ihn. Vielleicht ist es gar nicht so weit von hier entfernt. Gebrauchte Bücher reisen oft ganz schön herum. Aber was wegreist, kann auch wieder zurückkommen.

Frederick will mir nicht verraten, was in dem Walcott drin ist, den er sucht. Er ist sehr zurückhaltend und höflich, immer mit einer frischen Blume im Knopfloch und mit den traurigsten Augen, die ich je gesehen habe.

Ich gebe ihm die drei Ausgaben, die ich im vergangenen Monat gefunden habe. Die ersten beiden legt er gleich beiseite, aber bei der dritten zögert er. Die Art, wie er sie in der Hand hält, weckt in mir die vage Hoffnung, dass ich vielleicht die richtige gefunden habe. Er schlägt sie auf, blättert darin und bemüht sich dann, nicht enttäuscht auszusehen.

Er nimmt seine Brieftasche heraus, aber ich sage ihm – wie jedes Mal –, dass er die Bücher nicht kaufen muss, wenn ich nicht die richtige Ausgabe gefunden habe. »Die verkaufen sich auch so und ich halte einfach weiter Ausschau.«

Doch er besteht – wie jedes Mal – darauf, und ich stelle mir vor, wie jemand nach Fredericks Tod durch sein Haus geht, dort Hunderte von Ausgaben desselben Gedichtbands von Walcott vorfindet und sich fragt, was das zu bedeuten hat.

Frederick ist nicht der einzige Stammkunde. Da ist Al, der eine Menge Science-Fiction liest und auch so aussieht. Er schreibt seit Jahren an einem Roman über einen Typen, der in ein virtuelles Utopia entführt wird. Wir versuchen alle ihm schonend beizubringen, dass es den Roman schon gibt. Und James, der alles kauft, was mit den Römern zu tun hat. Und Aaron, der mindestens alle zwei Monate spätabends betrunken an unsere Ladentür hämmert, weil er aufs Klo muss, und Inez, die offenbar den Geruch alter Bücher liebt, und Jett, die gebundene Bücher stiehlt, um sie an einen anderen Secondhandbuchladen zu verkaufen.

Dann gibt es noch Frieda, die hier seit zehn Jahren regelmäßig mit Frederick Scrabble spielt. Sie ist ungefähr so alt wie er und trägt strenge, elegante Kleider, und man weiß einfach, dass sie eine von diesen Englischlehrerinnen ist, die fünfzig Jahre lang unterrichtet haben und Shakespeare in- und auswendig kennen. Sie hat den Lesekreis gegründet, der sich einmal im Monat bei Howling Books trifft.

Es kommen jedes Mal dieselben Leute. Ich stelle die Stühle hin, öffne den Lehrerinnen und Bibliothekarinnen die Tür, verteile eine Menge Wein und Käse und trete dann einen Schritt zurück. Ich beteilige mich so gut wie nie an der Diskussion, aber wenn sie mich interessiert, was fast immer der Fall ist, lese ich hinterher das Buch. Letzten Monat haben sie über Summer Skin von Kirsty Eagar gesprochen. George hat es nach dem Treffen gelesen, weil sie über die Sexszenen gesprochen haben, und vielleicht habe ich es zum Teil auch deshalb gelesen. Aber vor allem wegen der Art, wie Frieda über die Hauptfigur Jess Gordon gesprochen hat. Sie hat mich ein bisschen an die beste Freundin erinnert, die ich mal hatte, Rachel Sweetie. Mir hat das Buch gefallen, und George auch, deshalb haben wir eine Ausgabe davon in die Briefbibliothek gestellt.