Das tödliche Christmas Game - Alexandra Benedict - E-Book

Das tödliche Christmas Game E-Book

Alexandra Benedict

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Beschreibung

Leise rieselt das Blut Zwölf Schlüssel, zwölf Rätsel und zwölf Tage, sie zu lösen: Ein fürchterlicher Schneesturm schneidet Lily und ihre Familie über die Weihnachtstage von der Außenwelt ab. In dem einsamen Herrenhaus sollten sie ein letztes Mal das traditionelle Christmas Game spielen. Der Gewinn in diesem Jahr: das Haus selbst. Doch dann wird einer von ihnen ermordet. Und plötzlich spielen sie nicht mehr nur um das Erbe, sondern um ihr Leben. Es ist Heiligabend. Widerwillig macht sich Lily auf den Weg zum abgelegenen Familiensitz in Yorkshire. Sie hatte sich geschworen, niemals dorthin zurückzukehren. Denn in diesem Haus starb unter ungeklärten Umständen ihre Mutter. Doch nun ist auch ihre geliebte Tante tot. Ihr letzter Wunsch: Die ganze Familie soll noch ein letztes Mal das traditionelle Christmas Game spielen. Zu gewinnen gibt es nicht nur die Besitzurkunde des Herrenhauses. Auch das Geheimnis um den Tod von Lilys Mutter soll endlich gelüftet werden. Schnell wird allerdings klar, dass alle ihre eigenen Gründe haben, gewinnen zu wollen – und nicht alle spielen fair. Wird Lily sich am Ende durchsetzen – oder selbst zur Spielfigur in einem mörderischen Plan? Der neue Weihnachtskrimi der britischen Bestellerautorin von Mord im Christmas Express – liebevoll gestaltet mit Rätseln zum Mitmachen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 444

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dies ist der Umschlag des Buches »Das tödliche Christmas Game« von Alexandra Benedict, Elisabeth Schmalen

Alexandra Benedict

Das tödliche Christmas Game

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Elisabeth Schmalen

Tropen

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.

Tropen

www.tropen.de

J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH

Rotebühlstraße 77, 70178 Stuttgart

Fragen zur Produktsicherheit: [email protected]

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Christmas Murder Game« im Verlag Bonnier Zaffre, ein Imprint von Bonnier Books UK Limited, London

© 2021 by Alexandra Benedict

The moral rights of the Author have been asserted.

Für die deutsche Ausgabe

© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i. S. v. § 44b UrhG vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung des Originalentwurfs; Jacket design by Nick Stearn, Jacket photographs © Shutterstock.com for Bonnier Books UK Limited

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-50267-1

E-Book ISBN 978-3-608-12473-6

Für Guy und Verity – mein Zuhause

Mein Geheimnis? Nein, das erzähl’ ich nicht

Eines Tages vielleicht, wer weiß?

Doch heute nicht; noch ist’s aus Schnee, Wind, Eis

Und seist du noch so drauf erpicht

Du willst es hören? Mag sein:

Nur ist es mein Geheimnis – meins allein.

Aus: »Winter: Mein Geheimnis« von Christina Rossetti

Das Spiel im Christmas Game

Spiel 1: Die zwölf Weihnachtsanagramme

Jeder Weihnachtsfeiertag in diesem Buch gibt ein neues Rätsel auf. Passend dazu habe ich in den jeweiligen Kapiteln die Geschenke aus dem Weihnachtslied »The Twelve Days of Christmas« versteckt – in Form von Anagrammen.

Erster Weihnachtstag – »A partridge in a pear tree«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »ein Rebhuhn im Birnbaum«.

Zweiter Weihnachtstag – »Two turtle doves«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »zwei Turteltauben«.

Dritter Weihnachtstag – »Three French hens«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »drei französische Hennen«.

Vierter Weihnachtstag – »Four colly birds«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »vier Amseln«.

Fünfter Weihnachtstag – »Five gold rings«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »fünf goldene Ringe«.

Sechster Weihnachtstag – »Six geese a-laying«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »sechs legende Gänse«.

Siebter Weihnachtstag – »Seven swans a-swimming«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »sieben schwimmende Schwäne«.

Achter Weihnachtstag – »Eight maids a-milking«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »acht melkende Mägde«.

Neunter Weihnachtstag – »Nine ladies dancing«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »neun tanzende Damen«.

Zehnter Weihnachtstag – »Ten lords a-leaping«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »zehn hüpfende Lords«.

Elfter Weihnachtstag – »Eleven pipers piping«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »elf Dudelsackspieler«.

Zwölfter Weihnachtstag – »Twelve drummers drumming«: Hier verbirgt sich ein Anagramm von »zwölf Trommler«.

Jedes Anagramm besteht aus einer Abfolge ganzer Wörter. Ein Beispiel: Ein mögliches Anagramm für »Twelve Days of Christmas« wäre »mystischer Wald oft Evas«, was dann etwa so im Text eingebaut sein könnte: »Vor ihnen lag ein mystischer Wald – oft Evas Rückzugsort, wenn sie allein sein wollte.«

Einige Anagramme lassen sich leichter in das Korsett des Textes quetschen als andere. Halten Sie also Ausschau nach Formulierungen, die aus der Reihe fallen.

Spiel 2: Die versteckte Bibliothek

Im Text verstreut finden sich die Titel meiner zwölf Lieblingskrimis, die zur Weihnachtszeit auf einem Landgut spielen. Schaffen Sie es, alle aufzuspüren?

Viel Erfolg!

24. Dezember

Heiligabend

Kapitel 1

Es schneit. Natürlich. Alles andere wäre auch zu einfach gewesen.

Lily hat sich die Bettdecke um die Schultern geschlungen und drückt die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe. Es ist vier Uhr morgens, und sie kann nicht schlafen. Das Licht der Straßenlaternen malt goldene Kreise auf die Catford High Street. Vom Himmel tanzen Schneeflocken herab. Zwei Männer torkeln Arm in Arm über die Straße und grölen: »Fröhliche Weihnachten!« Damit vertreiben sie einen Fuchs, dessen Augen im spärlichen Licht aufblitzen.

Früher hat Lily an Heiligabend immer vor Aufregung wach im Bett gelegen. Mittlerweile glaubt sie nicht mehr an den Weihnachtsmann. Sie glaubt an gar nichts mehr, seit ihre Mutter gestorben ist. Und heute muss sie ausgerechnet dorthin zurückkehren, wo es damals passiert ist.

Sie zieht sich einen Kapuzenpulli über und steht auf. Mühsam bahnt sie sich einen Weg an den kostümbehangenen Kleiderstangen vorbei ins winzige Wohnzimmer. So jedenfalls hatte ihr Vormieter es bezeichnet. Bei Lily kann jedoch von »wohnen« keine Rede sein. Das hier ist ihre Werkstatt, vollgestopft mit gestärktem Baumwollstoff und Samt, mit Garn, Borten und Bändern, mit Schachteln voller Perlen, Fischbein und Stahldraht. Am Fenster steht Lilys Nähmaschine, auf dem Boden sind die Einzelteile eines Schnittmusters ausgebreitet. Im Dunkeln wirken sie wie der Umriss einer Leiche an einem Tatort.

Ein richtiges Zuhause ist das nicht, aber immerhin besser als eine WG. Lily braucht solide Wände zwischen sich und anderen Menschen. Und die Enge der Wohnung ist ein guter Grund, um niemanden mit nach Hause zu bringen, selbst an einsamen Tagen. Das redet sich Lily zumindest ein.

Sie nutzt die wenigen freien Stellen des Teppichs, um Schritt für Schritt zu ihrer Küche zu gelangen, ohne dabei die aufgetürmten Materialien umzuwerfen. Falls man eine Zimmerecke mit Campingkocher, Toaster und Mikrowelle überhaupt als Küche bezeichnen kann. Lily setzt den Kessel auf, hängt einen Teebeutel in ihre einzige Tasse und zieht ihren Koffer unter einer Kiste Tüll hervor. Was packt man ein, wenn man die Weihnachtstage in einem verhassten Herrenhaus verbringt? Die üblichen Klamotten sind dafür nicht das Richtige. Zum Glück ist Lily Schneiderin.

Als sie ihr Waschzeug zusammengesucht und sämtliche Kleider und Korsetts im Koffer verstaut hat, lässt Lily sich im Sessel nieder und trinkt ihren Tee. Erst jetzt gestattet sie sich, die Gedanken an die bevorstehende Fahrt zuzulassen. An die Verwandten, die sie wohl oder übel treffen wird. Und an Endgame House selbst.

Prompt fängt ihr Herz an zu rasen wie eine Nähmaschine auf Hochtouren. Sie greift zu ihrer aktuellen Auftragsarbeit und beginnt zu sticken. Mit jeder Nadelbewegung, jedem Plattstich wird sie ruhiger. Ihr Herzschlag verlangsamt sich wieder auf Normaltempo. Vielleicht sollte sie sich einfach bis nach Weihnachten hier in ihrer Wohnung verkriechen. Keinen Schritt vor die Tür setzen, sich mit einer Schachtel Pralinen ins Bett legen und den Feiertagen die Decke über den Kopf ziehen. Das würde ihr eine lange Autofahrt ersparen und – noch wichtiger – den Schmerz dort belassen, wo sie ihn vor langer Zeit eingesperrt hat: hinter dicken Wänden und verschlossenen Türen tief in ihrem Inneren.

Aber wenn sie hierbleibt, enttäuscht sie Tante Liliana. Schon wieder.

Lily holt den Brief aus ihrer Handtasche und streicht über den Umschlag. Fährt die geschwungene Schrift ihrer Tante nach. Das Briefpapier ist so weich wie Tante Lilianas stets zartrosa gepuderte Haut. Es haftet sogar noch ein Hauch ihres Parfüms daran – Truth von Calvin Klein.

Liebste Lily,

ich hoffe, dass du diesen Brief niemals lesen musst, denn wenn du ihn in den Händen hältst, bin ich tot. Ich habe meiner Anwältin, deiner alten Freundin Isabelle Stirling, aufgetragen, ihn dir zuzustellen, sollte ich vor Beginn des Christmas Games sterben – ich befürchte, es könnte so kommen. Ich hoffe zwar sehr, dass ich damit falsch liege, aber ich glaube es nicht.

Das hier ist also meine Rückversicherung. Ich weiß, dass du nicht nach Endgame House kommen und dich albernen Zerstreuungen hingeben willst, und ich weiß auch, dass du keinerlei Interesse daran hast, das Anwesen zu erben, auch wenn ich mir von Herzen wünsche, dass du es bekommst. Aber ich habe noch einen weiteren Grund, dich um die Teilnahme am Christmas Game zu bitten. Es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst – und ich werde sie im Verlauf des Spiels enthüllen.

Falls das noch immer nicht ausreicht, will ich dir vorab schon etwas verraten: Deine Mutter wurde umgebracht. So, da steht es. Ich habe es zu Papier gebracht. Ich bin mir sicher, dass du jetzt etliche Fragen hast, und die Antworten werden kommen – in den Rätseln. Anfang und Ende all dessen, was unsere Familie so viele Jahre lang gequält hat. Der kälteste aller Cold Cases. Jedes Rätsel bis auf eines enthält eine Botschaft an dich. Beherzige sie – die Worte toter Frauen lassen sich nicht ignorieren, kleinreden oder überspielen.

Ich hatte nie den Mumm, laut auszusprechen, was Mariana Rose – deiner Mum, meiner wunderbaren, klugen großen Schwester – widerfahren ist, weil auch ich etwas Unrechtes getan habe. Vielleicht bist du mutiger als ich. Vielleicht findest du die Kraft, deine Stimme zum Klingen zu bringen. Ich hoffe es. Ich weiß, dass du nicht gern über deine Mutter sprichst, aber sie hat dich sehr geliebt. Sie hat dich nicht im Stich gelassen, niemals hätte sie das getan. Es tut mir so leid, dass ich es damals nicht beweisen konnte.

Bitte fahr dieses Jahr an Weihnachten nach Endgame House und spiel mit. Du wirst dort gut umsorgt werden. Ich habe eine Haushälterin engagiert, aber ansonsten kommen außer dir nur noch deine Cousins und Cousinen und ihre Partner und Partnerinnen, so sie denn welche haben. Es wird sicherlich keine fröhliche Zusammenkunft, aber es ist von entscheidender Bedeutung, dass du dabei bist. Das ist mein letzter Wunsch. Gemein, oder? Die Verstorbene, die ihren Liebling um einen letzten Gefallen bittet. Dich so zu nennen, ist genauso gemein. Sag Sara und Gray nichts davon. Wäre ich nicht tot, würde ich mich schämen.

Deine Mutter und ich haben dir viel beigebracht, genau wie deine Großmutter. Suche in deinen Erinnerungen nach Hinweisen, die dir beim Lösen der Rätsel und bei der Aufklärung von Marianas Tod helfen könnten. Ich fürchte, dafür musst du dich wirklich an alles erinnern. Und ich fürchte mich tatsächlich, ich habe große Angst – um mich, aber auch um dich. Vertraue KEINEM deiner Verwandten, um ihret- und um deinetwegen. Wissen kann tödlich sein. Das gilt auch für das Geheimnis, von dem ich vermute, dass du es in dir trägst – hüte es! Ich will dich befreien, Lily. Ich will, dass du aus deinen selbstgebauten Mauern entkommst. Es ist an der Zeit, deine Kritzeleien in die echte Welt zu übertragen. Leg das Korsett ab. Zwischen den kleinen Hinweisen verbergen sich große, also pass gut au f. Dur chkämm die Rätsel, wie du es früher schon getan hast. Du hast ein Talent dafür – hör auf, dich zu verstecken.

Dich zu adoptieren war das Beste, was ich je getan habe. Ich hoffe, dieses Christmas Game ist das Zweitbeste.

Deine dich liebende Tante und Adoptivmutter

Liliana Armitage-Feathers

Lily fühlt sich, als hätte jemand die Nähte ihres Herzens aufgetrennt. Sie muss losfahren, und zwar bald. Wenn selbst in London Schnee fällt, kann sie sich ausrechnen, was für ein Chaos in Yorkshire auf sie warten wird.

Kapitel 2

Und wirklich – als Lily die Yorkshire Dales erreicht, herrscht dort bereits dichtes Schneegestöber, allerdings keines der idyllischen Art: Statt federleichter Flocken treiben schwere, weiße Klumpen gegen ihre Windschutzscheibe. Obwohl Lilys Scheibenwischer auf doppelter Geschwindigkeit laufen, hat sie das Gefühl, in einen wirbelnden Strudel hineinzufahren. Sie kann nicht sehen, was vor ihr liegt – und das betrifft nicht nur den Schneesturm.

Es ist erst halb drei, doch das Tageslicht schwindet bereits. Die engen, zugewucherten Straßen von Yorkshire tun ihr Übriges. Und dann sind da noch die Bäume, die hoch über Lily die Köpfe zusammenstecken und tuscheln, als würden sie etwas im Schilde führen.

Als Lily mit zwölf Jahren zum letzten Mal auf dieser Straße unterwegs war, fuhr das Auto in die andere Richtung. Damals dachte sie, dass sie sich für immer von Endgame House verabschiedet hatte. Hätte sie an Gespenster geglaubt, wäre es vielleicht anders gekommen, dann wäre sie womöglich bis in alle Zeit durch das Haus gestreift, um den Geist ihrer Mutter zu suchen. Aber Lily glaubt nicht an überirdische Erscheinungen.

Als sie um eine Kurve biegt, springt plötzlich ein Reh aus dem Gebüsch. Lily tritt die Bremse voll durch. Sie versucht, nicht von der Straße abzukommen. Die Zeit wird zäh wie Sirup. Am Autofenster rauschen Sträucher und Büsche vorbei. Irgendetwas kreischt, aber Lily könnte nicht sagen, was – sie selbst, die Reifen oder das Reh. Vielleicht wäre es einfacher, das Lenkrad loszulassen, die Augen zu schließen und das Ende hinzunehmen.

Nein.

Sie umklammert das Steuer mit beiden Händen und schafft es, den Wagen von den einladenden Armen eines Baumes wegzulenken. Sie trägt jetzt Verantwortung, und das bedeutet auch, dass sie nach Endgame House zurückkehren muss.

Als der Wagen endlich quietschend zum Stehen kommt, ist das Reh verschwunden. Bitte sei nicht tot, fleht Lily stumm. Sie steigt mit klopfendem Herzen aus und wirft einen Blick unter das Auto. Nichts. Auch an den Reifen sind keinerlei Spuren zu entdecken. Erleichtert atmet sie aus. Im nächsten Augenblick hört sie ein leises Schnauben aus dem Gebüsch. Das Reh steht unter den Bäumen am Straßenrand, und neben ihm – mit angelegten Ohren – ein Rehkitz.

Das größere Tier starrt Lily an, und sie erwidert den Blick. Schneeflocken sammeln sich auf ihren Köpfen. Dann blinzelt das Reh und stolziert davon. Das Kitz folgt ihm. Die Atemwolken der beiden sehen aus wie kleine Gespenster. Lily schaut ihnen hinterher, bis sie in der schützenden Sicherheit der Bäume verschwunden sind.

Als sie wieder einsteigt, fällt ihr Blick auf die Schneeflocken auf ihren Ärmeln. Im Dämmerlicht sehen sie aus wie winzige silberne Zahnrädchen. Sie verwandeln den schwarzen Stoff ihres Mantels in eine Art Steampunk-Kettenhemd. Vor Lilys innerem Auge entsteht das Bild eines Korsettkleids mit aufgesetzten metallischen Schneeflocken – wäre das etwas für ihre erste eigene Kollektion? Sie sieht sich inmitten einer Schar Models in Lily-Armitage-Designs auf einem Laufsteg stehen.

Hastig schiebt sie den Gedanken wieder beiseite. Sie hat gelernt, jegliche Ambitionen zu unterdrücken, beruflich und auch sonst. Stattdessen wird sie sich an die Nachbildungen historischer Kleider halten, mit denen sie sich einen Namen gemacht hat. Nur nicht auffallen. Nur nicht den Mund aufmachen. Immer im Schatten bleiben, vor allen Blicken verborgen.

Beim Weiterfahren hustet und röchelt der Motor, als sei ihm etwas im Hals stecken geblieben. Lily tätschelt das Lenkrad. »Wir schaffen das.« Hoffentlich bewirken diese Worte beim Auto mehr als bei ihr selbst. »Es ist nicht mehr weit.« Das dürfte sogar stimmen. Die Abstände zwischen den Dörfern – in denen es bis auf die obligatorischen Pubs nicht viel zu sehen gibt – werden größer. Warum stehen Herrenhäuser eigentlich immer im völligen Niemandsland? Wahrscheinlich, weil den dazugehörigen Lords früher die ganze Gegend gehörte und sie sich vom Pöbel fernhalten wollten, überlegt Lily. Sie stellt sich vor, wie die einstigen Besitzer von Endgame House oben auf dem Hügel vor der Eingangstür standen und den Blick über das Land und die Pächter zu ihren Füßen schweifen ließen – Arbeitsbienen, die auf Distanz gehalten wurden, damit die Königin sich nicht an ihrem Summen störte.

Lily bevorzugt London – oder auch jede andere Stadt, in der sie bisher gelebt hat. Dort ist es niemals still, es ist immer irgendetwas zu hören, und sei es nur das Martinshorn, das genauso regelmäßig ertönt wie die Glocken der Kapelle von Endgame House. Außerdem ist man nie allein, zumindest nicht so wie hier. In der Stadt kann Lily die bewusste Entscheidung treffen, sich tagelang mit einem Schnittmuster einzuschließen. Hier bestimmt der Schnee über ihr Kommen und Gehen. Früher hat sie den Winter in Endgame House geliebt. Sie ist durch das Labyrinth gelaufen, das in seinem weißen Kleid noch verwirrender war als sonst, und hat das lautlose Treiben der Flocken genossen. Jetzt schnürt ihr der Gedanke, mit ihren Verwandten zusammen dort eingesperrt zu sein, die Kehle zu.

Genau deshalb hat Lily die erste Einladung von Tante Liliana abgelehnt. Sie hat keinerlei Interesse an einem allerletzten Christmas Game, dessen Sieger das Anwesen bekommen soll.

Doch dann war Liliana vor einem Monat völlig unerwartet gestorben, und zwei Tage später traf ihr Brief bei Lily ein. Er veränderte alles. Plötzlich kamen in Lily Gefühle hoch, die sie eigentlich tief genug in sich begraben geglaubt hatte. Wie wenn man eine vertrocknete und vergessene Apfelsine aus dem Vorjahr in einem Weihnachtsstrumpf wiederfindet. Die Rückkehr an den Ort, an dem alles begonnen hatte, würde es nur noch schlimmer machen.

Selbst das Navi will sie nicht zum Haus leiten. Da es hier kaum Empfang gibt, hängt es sich immer wieder auf und weigert sich, die Anzeige zu aktualisieren. So kommt es, dass Lily das weinrote Schild mit der Aufschrift ENDGAME HOUSE HOTEL erst bemerkt, als sie schon daran vorbeifährt. Ihr Herzschlag beschleunigt sich. Sie wird das Haus heute zum ersten Mal als Hotel sehen. Als sie noch dort wohnte, hatte Onkel Edward es als Tagungszentrum betrieben, zusammen mit Tante Liliana und Lilys Mutter. Er hatte immer davon geträumt, das Herrenhaus in ein Luxushotel umzuwandeln, aber kurz nachdem er sich diesen Wunsch erfüllt hatte, starb er. Was kann man daraus lernen? Es ist besser, keine Träume zu haben – und man sollte sie erst recht nicht in die Tat umsetzen.

Es dauert fünf Minuten, bis Lily eine Wendemöglichkeit findet, und in der Zwischenzeit fragt sie sich pausenlos, ob sie nicht doch lieber zurück nach London fahren sollte. Wenn, dann jetzt – sie hat das Tor erreicht, hinter dem sich die Zufahrt zu Endgame House erstreckt. Als es sich öffnet, gleitet das bronzene Familienwappen in der Mitte auseinander. Du musst nicht bis zum Ende bleiben, versichert Lily sich auf dem Weg hindurch. Du kannst jederzeit wegfahren. Im Rückspiegel sieht sie, wie sich das Tor hinter ihr schließt.

Der Motor ächzt, und die Reifen drücken sich tief in den Schnee, als der Wagen sich die Anhöhe hinaufkämpft. Lily hat völlig vergessen, wie steil der Hang ist, aber sie ist ihn schließlich auch noch nie in einem fünfzehn Jahre alten Mini hochgefahren, dessen Federung jedes einzelne dieser Jahre anzumerken ist.

Der Wald rund um das Anwesen rückt immer näher, als wolle er durch das Autofenster zu ihr hereinkriechen. Unter diesen Bäumen hat Lily früher mit ihren Cousins Tom und Ronnie gespielt. Doch die Bilder, wie sie fröhlich gemeinsam in dem Bach plantschen, lösen sich in Luft auf, sobald die steile Zufahrt abflacht und in einen Kiesweg übergeht. Der Wald bleibt zurück, als traue er sich nicht näher an das Haus heran.

Lily fährt auf den runden Vorplatz. Das Knirschen des Schotters unter den Reifen weckt neue Erinnerungen in ihr – an eine Fahrt im Auto ihrer Mutter, auf dem Dach eine riesige Weihnachtstanne, an die Ankunft ihrer Cousins und Cousinen, die einen vergnügten Sommer verhieß, an den stummen Rettungswagen, der den Leichnam ihrer Mutter mitnahm.

Als Lily bremst, stößt der Mini einen erleichterten Seufzer aus. Sie selbst hingegen hält die Luft an, zieht die Schultern hoch und ballt die Hände zu Fäusten. Auch wenn sie es noch nicht schafft, den Blick auf das Haus zu richten, spürt sie dessen Anwesenheit bereits überdeutlich. Endgame House lauert am Rand ihres Sichtfelds, so wie im Grunde jeden Tag, seit sie es vor all den Jahren verlassen hat.

Lily muss ihre gesamten Kräfte zusammennehmen, um nicht direkt wieder umzudrehen. Stattdessen nimmt sie den Brief ihrer Tante aus der Tasche und liest ihn erneut.

Dann schließt sie die Augen und denkt an das letzte Treffen mit Liliana zurück. Sie hatten sich ein paar Wochen vor ihrem Tod in den Orchard Tea Rooms verabredet, in fußläufiger Entfernung zu Lilianas Haus, in dem sie seit ihrem Auszug aus Endgame House nach dem Tod von Lilys Mutter lebte. Damals hatte sie eine Stelle am Clare College, ihrer alten Universität, angenommen, Lily adoptiert und war mit ihr und ihren leiblichen Kindern Sara und Gray nach Grantchester gezogen. Bei ihrer letzten Begegnung hatten Lily und ihre Tante bei einem Mittagessen Lilianas Ruhestand feiern wollen. Das dachte Lily zumindest.

Liliana hatte ihren Scone mit so viel Butter, Marmelade, Sahne und Früchten beladen, dass er einem süßen XXL-Burger glich und auseinanderfiel, bevor sie davon abbeißen konnte. Das hatte sie so sehr zum Lachen gebracht, dass sie etwas Cider auf ihrem Tweedrock verschüttete. Sie wischte die Flüssigkeit einfach herunter und sagte: »Genau deshalb solltest du deine Korsetts aus Tweed anfertigen, Lily – dann hast du mit Flecken kein Problem.«

»Historische Kleider aus Tweed sind eher selten, Tante Lil.«

»Wann hörst du bloß damit auf, Lily?«, fragte ihre Tante. »Die Arbeit anderer nachzuahmen hat keinen künstlerischen Wert. Es ist ja nicht so, als würdest du die Vorlagen neu interpretieren. Glaubst du nicht, dass du endlich einmal etwas aus deinem Leben machen solltest?«

»Ich mag mein Leben so, wie es ist.« Lily presste die Lippen aufeinander.

»Das glaube ich dir nicht. Niemand mag Stillstand.« Dann seufzte Tante Liliana und griff nach Lilys Hand. Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst, und sie flüsterte: »Du kommst doch an Weihnachten, oder?«

»Ich kann nicht«, antwortete Lily. »Das weißt du ganz genau.«

Liliana schaute sie eindringlich an. »Wenn schon nicht für mich, dann tu es wenigstens für deine Mutter.«

Jetzt versuchte sie es also mit emotionaler Erpressung. Lily spürte Wut in sich aufsteigen. Ruckartig zog sie ihre Hand weg. Am liebsten hätte sie ihre Tante angebrüllt, doch stattdessen umklammerte sie die Tischkante, den Blick starr auf das Platzdeckchen vor ihr gerichtet. »Das ist nicht fair, Liliana«, sagte sie leise. »Es ist nur ein Spiel.«

»Es geht hier nicht ums Vergnügen, Lily, sondern um Leben und Tod.«

»Ich dachte, es geht darum, wer das Haus erbt.«

»Auf den ersten Blick schon. Aber das ist nicht alles.«

»Dann erzähl es mir.« Lily beugt sich vor. »Weihe mich in deine Geheimnisse ein, nur dieses eine Mal.«

Tante Lilianas Lachen klang eisig. »Das sagt die Richtige – die Schneekönigin höchstpersönlich. Du hast deine verschlossenen Türen, Lily, und ich habe meine. Ich werde meine öffnen, aber auf meine Weise. An Weihnachten.« Tante Liliana ließ den Blick durch den Teesalon schweifen. Als die Tür aufschwang, brachte der Herbstwind die Girlanden an den Holzbalken zum Flattern. »Bald kommt der Winter. Es wird Zeit, dass wir uns der Wahrheit stellen. Zeit, dass du aus deinem Verlies ausbrichst und den Weg nach Hause findest.«

»Ich habe nichts, dem ich mich stellen müsste«, sagte Lily ruhig. »Und ich habe kein Zuhause.«

»Jeder hat ein Zuhause. Es muss kein konkreter Ort sein – für manche ist es ein bestimmter Mensch. Oder eine Katze.« Tante Liliana strich sich über das Bein, als säße ihr Kater Winston (»nach Winston Smith, nicht Churchill«) auf ihrem Schoß. »Manchmal findet man dieses Zuhause erst sehr spät.« Sie schaute aus dem Fenster, und ein schmerzerfüllter Ausdruck flackerte über ihr Gesicht. Dann wandte sie sich wieder Lily zu. Ihre Augen waren dunkelblau mit grünen Sprenkeln, genau wie Lilys. Doch Lilianas Pupillen waren zudem von einem bernsteinfarbenen Kranz umrandet, der jetzt aufzuglühen schien. Wie immer, wenn sie kurz davorstand, etwas besonders Grausames und/oder Scharfsinniges zu sagen. »Wenn du kein Zuhause hast, warum malst du dann das Labyrinth auf die Tischdecke?«

Lily schaute auf ihren rechten Zeigefinger. In einer endlosen Schleife beschrieb er den Weg durch den berühmten Irrgarten von Endgame House.

»Du hängst in diesem Labyrinth fest, seit du deine Mutter tot in dessen Zentrum gefunden hast. Wenn du je wieder herausfinden willst, musst du noch einmal hineingehen.«

Wieder stieg die Wut in Lily hoch. Sie schloss die Augen und drängte sie zurück. Sie würde die Wut in sich aufbewahren, um sie sich später zunutze zu machen. Fürs Erste begnügte sie sich damit, zwei Zehn-Pfund-Scheine aus dem Portemonnaie zu nehmen, sie wie Herbstblätter auf den Tisch segeln zu lassen und zu gehen.

In den Tagen darauf hatte Liliana wieder und wieder versucht, Lily zu erreichen, aber sie hatte sämtliche Anrufe und Nachrichten ignoriert. Sie wusste einfach nicht, was sie ihr sagen sollte. Also sagte sie gar nichts. Schwieg.

Bis es zu spät war.

Nachdem sie den Brief das erste Mal gelesen hatte, ließ sie ihn in den Schoß sinken und saß bestimmt eine Stunde lang reglos da. Ihr Herz war bleischwer, und sie flüsterte immer wieder: »Es tut mir leid, es tut mir so leid.«

Jetzt faltet sie ihn zusammen und schiebt ihn sorgfältig zurück in den Umschlag, in der Hoffnung, damit auch die Erinnerung wegzupacken. Sie atmet tief durch und tätschelt das Lenkrad – das Auto hat seine Aufgabe erfüllt. Jetzt ist sie an der Reihe.

Sie verlässt die sichere Umgebung ihres kleinen Gefährts und läuft über den Kies in Richtung Haus. Um den Anblick noch ein wenig hinauszuzögern, hält sie den Kopf gesenkt und verfolgt stattdessen den Kampf zwischen Schnee und Stein auf dem Boden – die erste Riege Flocken fällt und schmilzt, doch die zweite Phalanx schafft es, sich festzusetzen, gefolgt von der nächsten. Reihe für Reihe stellen sich die Schneesoldaten auf die weißen Schultern ihrer Vorgänger, bis sie alles erobert haben.

An der Sonnenuhr in der Mitte der Auffahrt bleibt Lily kurz stehen und wischt die Inschrift auf der rissigen Oberfläche frei: ES IST NIE GENUG ZEIT. Sehr aufmunternd. Vor allem mitten im Winter, wenn der Tag schon vorbei ist, bevor er überhaupt richtig angefangen hat. Hier an dieser Stelle hat Lilys Mum ihr beigebracht, die Uhr zu lesen. Lily fährt mit den Fingern über die erhabenen Ziffern, genau wie ihre Mutter es vor vielen Jahren getan hat.

Die Sonne steht tief, und der lange Schatten verrät Lily, dass es kurz nach drei ist. Im Brief stand, dass die Gäste zum Tee erwartet werden, also um halb vier. Hier oben, im dramatischen Norden, im wilden Yorkshire, ist mit »Tee« normalerweise das Abendessen gemeint. Nur in einem noblen Haus wie Endgame wird das anders gehandhabt.

Lily kann es nicht länger aufschieben. Irgendwann muss sie das Haus schließlich ansehen. Sie atmet tief durch und hebt den Blick.

Endgame House wirkt noch düsterer, als sie es in Erinnerung hatte. Ein riesiges, graues Herrenhaus aus dem 17. Jahrhundert, erbaut aus Marmor und Sandstein, der früher in der Dämmerung zu glühen schien, wie ihr als Kind so oft erzählt wurde. Heute wirkt es, als würde das Gebäude sämtliches Licht der Umgebung verschlucken und nie wieder freigeben – ähnlich wie seine Geheimnisse. Die Vorhänge der zahlreichen Fenster sind zugezogen. Lily gibt sich einen Ruck. Auf in den Kampf.

Kapitel 3

Hinter einem der Fenster bewegt sich ein Vorhang. Kurz ist der Schatten eines Kopfes zu sehen, verschwindet aber gleich wieder hinter dem Samt.

Lily zieht sich die Pudelmütze tief über die Ohren. Sie hat vergessen, wie aufdringlich der Wind in Yorkshire ist: Er kriecht in Ärmel und Kragen, in die verborgensten Winkel hinein. Aber Lily lässt ihn nicht an sich heran. Sie hüllt sich fest in ihren Mantel und geht zur Eingangstür. Das Schwarz ist glänzender, als sie es in Erinnerung hat. Als sie das Holz berührt, stellt sie fest, dass die Farbe leicht klebrig ist. Irgendwer hat das Haus herausgeputzt. Als ob das helfen würde. Seine Sünden lassen sich nicht mit etwas Farbe, ein bisschen Politur und einem Hauch Lufterfrischer übertünchen.

Lily stößt den Türklopfer dreimal gegen das Holz. Sie ist zu früh, aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Das Pochen hallt über den Vorplatz. Einen Augenblick lang erwartet sie, Tante Lilianas Schritte zu hören, bevor es ihr schmerzlich wieder bewusst wird: Liliana ist tot.

Stattdessen ertönen andere Schritte. Man könnte meinen, dass eine derart riesige, furchteinflößende Tür mit einem grauenvollen Quietschen aufschwingt und den Blick auf einen unheimlichen, hochbetagten Butler freigibt. Doch nein – als sich die Tür öffnet, fällt warmes Licht auf die Stufen, und heraus tritt eine Frau mit langem, rotem Haar und einem strahlenden Lächeln. Lily kann nicht anders, als es zu erwidern. Je länger sie die Frau betrachtet, desto bekannter kommt sie ihr vor.

Die Frau stürmt auf Lily zu und drückt sie an sich. »Lily!« Auch ihre Stimme klingt vertraut und warm wie heißer Glühwein mit Schuss, und der Yorkshire-Einschlag verursacht akutes Heimweh bei Lily. Und das, obwohl sie doch gar kein Zuhause hat, nach dem sie sich sehnen könnte.

Die Frau fasst Lily an den Schultern, tritt einen Schritt zurück und mustert sie von oben bis unten. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Du ähnelst ihnen beiden«, stellt sie mit rauer Stimme fest.

Da erkennt Lily endlich, wen sie vor sich hat. Ihr Inneres zieht sich zusammen wie zerknülltes Geschenkpapier. »Isabelle!«

Die beiden betrachten einander. Isabelle hat sich ziemlich verändert. Sie ist jetzt größer als Lily, und ihre schlanken Glieder, ihr rotes Haar und ihre aufrechte Haltung erinnern Lily an die herbstlichen Blutbuchen am Eingang des Endgame-Waldes. Sie ist atemberaubend schön.

Das letzte Mal, dass sie zusammen auf diesen Stufen standen, muss mindestens einundzwanzig Jahre her sein. Damals war es andersherum – Lily begrüßte Isabelle an der Tür, um mit ihr im Haus zu spielen. Isabelles Mutter Martha war die Anwältin der Armitages und eine Freundin von Liliana gewesen, und Isabelle hatte sie häufig nach Endgame House begleitet. Lily kannte Isabelle, seit sie denken konnte. Sie gingen in den gleichen Kindergarten und anschließend in die gleiche, etwa fünfzehn Kilometer weit entfernte Dorfschule. In den Ferien setzte Martha Isabelle in Endgame ab, bevor sie nach Richmond zur Arbeit fuhr, und die beiden Mädchen verbrachten ganze Tage zusammen. Ihre Lieblingsspiele waren Mord im Dunkeln, Blinzelmörder, Cluedo … alles, was irgendwie mit Mord und Totschlag zu tun hatte. Bis auf ein Spiel: Küssen. Dabei ging es nur um das Leben. Lily war elf, als sie das Spielen einstellte, auch das auf dem Klavier ihrer Mutter und auf ihrer Flöte. Außerdem gab sie ihr Lieblingshobby, das Singen, auf. Mit dem Tod ihrer Mutter war jedes Spiel sinnlos geworden. Der Tod war ihr zu nahegekommen, und Lily wollte nicht mehr ans Leben erinnert werden.

»Kommst du jetzt rein oder nicht?«, fragt Isabelle – genau das hat Lily immer zu ihr gesagt. »Trink einen Tee mit mir, bevor der Rest hier aufschlägt.«

»Nur, wenn es auch Kuchen gibt.«

»Mehr Sorten, als du zählen kannst.« Isabelles Augen funkeln, aber Lily nimmt auch Traurigkeit in ihnen wahr. Isabelle vermisst Liliana vermutlich ebenfalls.

Auf dem Weg ins Haus bemerkt Lily, wie Isabelle die Schultern hochzieht und wieder fallen lässt, als wolle sie sich bewusst entspannen. Warum macht sie das? Halt dich da raus, weist Lily sich selbst zurecht. Genau deshalb bleibt sie lieber auf Distanz. Andere Menschen sind zu kompliziert. Haben zu viele Schichten, die man durchdringen muss. Liliana hat Lily gegenüber einmal gesagt, dass Menschen wie Gedichte seien – es gebe eine oberflächliche Ebene, aber eben auch die Binnenreime, scheinbaren Widersprüche, Nuancen, Muster und Wahrheiten, die sich erst zeigen, wenn man genau hinschaut. Doch Liliana war Lyrikprofessorin und mochte Menschen. Auf Lily trifft weder das eine noch das andere zu.

»Deinen Mantel kannst du mir geben«, sagt Isabelle jetzt.

Lily zieht ihn aus und reicht ihn Isabelle. Ohne das Kleidungsstück fühlt sie sich verletzlich, wie eine geschälte Mandarine.

»Was für ein wunderschönes Kleid!« Isabelles Blick gleitet über den Stoff und dann zurück zu Lilys Gesicht. »Wo hast du es her?«

Lily spürt, wie ihr die Röte ins Gesicht steigt. »Ich habe es selbst genäht.«

»Es stellt einen Weihnachtsstern dar, oder?«

Isabelle betrachtet die rote Korsage mit den gelben Miederhaken und den dunkelgrünen Krinolinerock. In ihrem Blick liegt so viel Bewunderung, dass Lily sich wünscht, sie hätte sich an der letzten Tankstelle doch nicht umgezogen. Die Kleider sollten ihr eigentlich als eine Art Rüstung dienen. Jetzt fühlt sie sich erst recht entblößt.

»Liliana hat gar nicht erzählt, dass du unter die Designerinnen gegangen bist. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass du Korsetts von Elisabeth der Ersten kopierst. Aber das hier ist bestimmt viel befriedigender, oder? Es bringt dein wahres Ich zum Vorschein.«

»Das mit den Korsetts mache ich immer noch. Es gefällt mir, etwas nachzubilden und zu neuem Leben zu erwecken.« Außerdem kann man dabei nicht so leicht versagen.

»Kann ich verstehen.« Isabelle deutet in Richtung Eingangshalle. »Nach dir.«

Die Holzverkleidung der Halle ist dunkler, als Lily sie in Erinnerung hatte, und die prachtvolle Treppe hat ihren Glanz verloren. Vielleicht weil das Geländer nicht mehr von ganzen Generationen herunterrutschender Kinder poliert wird. Anders als erwartet wirkt das Haus aber nicht kleiner als früher. Vielmehr kommt es Lily größer und auch abweisender vor. Über der Treppe, die in die oberen Stockwerke führt, hängt der staubige Kronleuchter. Von den Wänden starren die Porträts verschiedener Armitages herab. Das älteste ist von 1944 – auf dem stark vergrößerten, unscharfen Foto steht Lilys Großvater, Captain Henry »Harry« Armitage, auf der Terrasse des Herrenhauses, das während des Zweiten Weltkriegs als Erholungsklinik für traumatisierte Offiziere diente. Auf dem nächsten Bild ist zu sehen, wie er einem unglücklich wirkenden Lord Cappell die Hand schüttelt, als dieser ihm das Anwesen im Jahr 1955 verkaufte. Daneben hängen ein Hochzeitsfoto von Grandad Harry und Grandma Violet vor der Kapelle von Endgame und eine Aufnahme von Lilys Mutter, wie sie hochschwanger unter einer Weide sitzt, eine Hand schützend auf ihren Bauch gelegt.

Das größte Bild ist ein richtiges Gemälde. Lily erinnert sich noch gut daran, wie sie dafür Modell gestanden haben, nur wenige Monate, bevor mit einem Mal alles anders war. Onkel Robert und Grandad Harry waren damals schon verstorben, aber ansonsten sind alle da: Lily, elf Jahre alt, schlaksig und pickelig, sitzt zwischen Tom und Ronnie auf der untersten Stufe der Treppe. Eine Stufe darüber hat eine grimmig dreinschauende Sara einen Arm fest um Gray geschlungen, als wolle sie ihn um jeden Preis bei sich halten. Neben ihr starrt Rachel am Maler vorbei ins Leere und träumt wohl schon davon, wegzuziehen. Hinter den Kindern liegt Onkel Edward quer über zwei Stufen, in inniger Umarmung mit Tante Veronica. Noch eine Stufe darüber sitzen Mum und Tante Liliana, Hand in Hand, und von ganz oben strahlt die zierliche Grandma Violet herab. Mit ihrem goldenen Velours-Pullover und den ausgestreckten Armen sieht sie aus wie der Stern auf der Spitze eines Weihnachtsbaums.

Lily kann die aufsteigenden Gefühle nur zurückdrängen, indem sie rasch wegschaut. Also richtet sie den Blick auf den geschmückten Baum neben der Treppe, der bis zur Empore im ersten Stock aufragt. Unbeleuchtet sieht er aus wie ein riesenhafter Eindringling, der im Schatten lauert.

»Ich hätte ihn schon längst einschalten sollen.« Isabelle geht in die Hocke und steckt das Netzteil ein. Hunderte orangegelbe Lichter blitzen zwischen den Zweigen hervor, wie die Augen zahlloser Tiere, die das Geschehen mit lidlosem Blick verfolgen. »Was die Dekoration angeht, hat Liliana mir genaue Anweisungen gegeben.« Vorsichtig löst Isabelle einen Anhänger von einem Zweig und legt ihn Lily in die Hand.

Es ist eine Turteltaube aus hellgrauem, blauem und gelbem Filz, die so mit Margeritenstichen bestickt ist, dass sie wie gefiedert aussieht. Lily hat diesen Anhänger gemeinsam mit ihrer Mum angefertigt – eines der Geschenke aus dem Lied »The Twelve Days of Christmas«.

»Die anderen sind auch alle da.« Isabelles Stimme erinnert an das sanfte Gurren einer Taube. »Zwischen Lilianas typischem Glitzerzeug.« Sie zeigt auf die funkelnden Kugeln an den Tannenzweigen.

Lily läuft um den Baum herum und sucht die anderen selbstgebastelten Anhänger. Ihre Mutter und sie waren ein perfekt eingespieltes Team gewesen: Lily hatte die Vorlagen auf den Filz übertragen, ihre Mum die Teile ausgeschnitten und bestickt. Dann hatte Lily den Stoff mit Pailletten und Perlen verziert, und zum Abschluss wurden die beiden Seiten der einzelnen Figuren – Rebhuhn, Birne, Trommler und so weiter – zusammengenäht. So hatten sich die beiden in dem Jahr, in dem Lilys Mutter starb, die Zeit bis Heiligabend vertrieben. Übriggeblieben sind nur ein paar Vögel und Figuren aus Filz.

Lily reicht Isabelle die Turteltaube zurück. Sie ist noch nicht bereit, die Erinnerungen hereinzulassen, die wie Vögel mit dem Schnabel an ihr Fenster klopfen.

»Es muss ganz schön hart für dich sein, nach so langer Zeit zurückzukommen«, sagt Isabelle mitfühlend.

»Es gab schon leichtere Tage.«

»Es wird noch schwieriger werden. Aber ich bin mir sicher, dass du das durchstehst.« Isabelle hängt die Taube wieder neben ihre Artgenossin und dreht sich zu Lily um. Ihr eindringlicher Blick ist schwer zu deuten. Sie stehen so eng nebeneinander, dass Lily spürt, was für eine Hitze Isabelle ausstrahlt.

Obwohl heute der kälteste Tag des Jahres ist, bricht ihr der Schweiß aus. Sie wendet sich in Richtung Küche. »Wie war das jetzt mit dem Tee?«, fragt sie.

***

In der Küche erwarteten sie ein Gemisch aus Weihnachtsdüften und Erinnerungen. Plötzlich sieht Lily ihre Mutter vor sich, wie sie hier Teig für Mince Pies zubereitet. Lily wirft einen Blick durch die offene Tür in die Vorratskammer, wo neben Gläsern mit roter und gelber Marmelade auch die süße Pastetenfüllung für Mince Pies steht. Sie kann nicht sagen, was Realität ist und was Erinnerung. Das ist das Problem, wenn man an den Ort zurückkehrt, an dem man aufgewachsen ist. In diesem Haus wird sie immer zwölf Jahre alt sein.

Isabelles Blick trifft Lilys Winterhaut wie die wärmenden Strahlen der Sommersonne. »Weißt du noch, wie wir uns hier zusammen reingequetscht haben, während Tom bis hundert gezählt hat?«, fragt sie.

»Er ist immer erstaunlich schnell bei hundert angekommen«, antwortet Lily. »Und er hat uns immer gefunden, egal, wo wir uns versteckt haben. Aber die Zeit vergeht eben langsamer –«

»Wenn man jung ist«, vervollständigt Isabelle einen von Tante Lilianas Lieblingssprüchen.

»In deinem Alter«, hatte Liliana gern zu Lily gesagt, »erschafft man ständig neue Erinnerungen. Deshalb fühlt es sich so an, als würde die Zeit für dich langsamer verstreichen als für mich. Genieß es.« Und das hatte Lily auch getan, bis ihre Mum starb. Ab da wünschte sie sich nur noch, dass die Zeit vorbeiraste. Ohne ihre Mutter gab es für sie nichts mehr zu genießen. Deshalb ist sie nie nach Endgame House zurückgekehrt.

Isabelle füllt den Kessel am Wasserhahn über der Spüle. »Da du die Erste bist, bleibt uns vor dem offiziellen Teil noch ein bisschen Zeit, um uns gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen.«

»Der offizielle Teil?«

»Die Verlesung der Regeln, das juristische Blabla … serviert mit Scones, Kuchen und Sandwiches. Und Champagner natürlich.«

»Nichts anderes habe ich von Tante Lil erwartet.«

Isabelle stellt den Kessel auf die Herdplatte und setzt sich Lily gegenüber. Als sie lächelt, erscheinen feine Lachfalten in ihren Augenwinkeln. »Wo fangen wir an?«

»In ihrem Brief hat Liliana geschrieben, dass meine Mutter erm–« Lilys Stimme bricht. Sie bringt das Wort nicht über die Lippen, kann es nicht einmal denken.

Isabelle pfeift durch die Zähne. »Ich dachte, wir steigen mit ein bisschen Smalltalk ein – Liebesleben, Beruf, solche Sachen eben, aber gut. Du hast auch früher nie um den heißen Brei herumgeredet.« Sie greift nach Lilys Hand. »Deine Tante hat geglaubt, dass Mariana umgebracht wurde. Ermordet.«

Da ist das Wort. Es prallt von den Arbeitsflächen ab und wird vom glänzenden Messerblock zurückgeworfen. Lily zieht ihre Hand weg und legt sie auf die Brust, als könnte sie so ihr Herz und ihren rebellierenden Magen beruhigen. »Also hat sie sich nicht …« Auch diesen Satz bringt sie nicht über die Lippen.

»Das Leben genommen? Deiner Tante zufolge nicht, nein.«

In diesem Augenblick stößt der Kessel ein durchdringendes Pfeifen aus. Der heiße Dampf lässt den Tüllenverschluss klappern.

Lily steht auf und bedeutet Isabelle, sitzenzubleiben. »Ich mache das schon.« Auf der Suche nach Tassen öffnet sie mehrere Küchenschränke. »Dann habe ich wenigstens etwas zu tun.«

»Rechts von der Spüle, im zweiten Schrank«, sagt Isabelle. »Die Teedose steht auf der Arbeitsfläche.«

Lily stellt zwei große Becher bereit und klappt die Dose auf. Sofort steigt ihr das vertraute Aroma des Yorkshire-Tees in die Nase, eine Mischung aus Tanninen und Heide. Sie fragt sich, ob es wohl stimmt, dass sie früher so frei heraus war. Diese Zeit kommt ihr gerade genauso weit weg vor wie ihre kleine Wohnung in London. »Wäre es okay, wenn wir nicht weiter darüber reden? Über meine Mum, meine ich. Ich weiß, dass ich gerade selbst damit angefangen habe, aber …« Obwohl sie Isabelles Blick ausweicht, kann sie ihr Mitleid spüren, klebrig wie Sirup.

»Wie du möchtest«, sagt Isabelle.

In Lilys Augen brennen ungeweinte Tränen, als würde sie auf den Gedanken an Mord genauso allergisch reagieren wie auf Katzen. Nur dass die Allergie sie nicht davon abhält, Katzen auf den Schoß zu nehmen und das Gesicht in ihrem Fell zu vergraben. So nah würde sie dem Thema Mord lieber nicht kommen.

Lily hängt zwei Teebeutel in die Becher, gießt kochendes Wasser darüber und schaut aus dem Fenster in den ummauerten Küchengarten. Dort steht immer noch die gleiche Bank wie früher, aber jetzt ranken sich Kletterrosen voller Hagebutten um sie herum. Zwei Stechpalmensträucher scheinen Wache zu stehen, und die Mistelzweige tanzen mit dem Efeu Tango. »Hier erinnert mich alles an unser Versteckenspielen früher. Auf dieser Bank saß ich immer und habe gezählt, bevor ich euch gesucht habe.«

»Du warst die Einzige, die wirklich bis hundert gezählt hat«, sagt Isabelle. Lily muss ihr Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass sie lächelt.

»So sind die Regeln.«

»Hältst du dich denn immer an die Regeln?«

Lily antwortet nicht sofort. Sie drückt die Teebeutel mit einem Löffel aus. »Meistens. Außer sie sind ungerecht.«

Isabelle geht zum großen Kühlschrank in der Ecke, um Milch herauszuholen. »Ich sage das jetzt nicht als Anwältin, aber du solltest dir darüber im Klaren sein, dass sich beim Christmas Game nicht alle so fair und aufrichtig verhalten werden wie du.«

»Gut, dass ich nicht wegen des Spiels hier bin.«

Auf Isabelles Gesicht erscheint ein breites Grinsen. Ihre Augen funkeln, und sie hebt den Becher. »Darauf sollten wir trinken.«

Sie stoßen die leicht angeschlagenen Becher gegeneinander. Lily hebt ihren an die Lippen. Der Tee riecht seltsam – irgendwie nach Meer, als wären seine Blätter mit einem Fischernetz gesammelt worden.

Sie stellt die Tasse wieder ab. »Liliana hat gesagt, dass sie die Informationen zu Mums Tod in den Rätseln versteckt hat.«

»Hätte sie doch einfach klipp und klar gesagt, was sie wusste.« Isabelle seufzt.

»Für sie war immer alles ein Spiel. Sogar der Tod.«

»Du findest es bestimmt heraus. Du warst immer schon gut in diesen Spielen.«

»Stimmt doch gar nicht!«

»Du vergisst, dass ich dabei war. Du hast die Rätsel fast jedes Mal als Erste gelöst, aber irgendwann einfach nichts mehr gesagt, weil die anderen es nicht ertragen konnten, dass du besser warst.«

Vor Lilys innerem Auge taucht eine Erinnerung auf – sie hat das letzte Rätsel gelöst und die Kiste voller Geschenke gefunden, doch plötzlich stürmen ihre Cousins und Cousinen herein und stoßen sie zur Seite. Sara hat ihr damals den Hauptgewinn weggenommen, eine PlayStation 2, mit der Begründung, Lily könne sie nicht so gut gebrauchen wie sie. Und Lily ließ es zu. Von da an tat sie lieber so, als wüsste sie die Antworten nicht. Ihr war nur nicht klar gewesen, dass es jemandem aufgefallen war. Bei der Vorstellung wird ihr schwindelig. Sie setzt sich wieder an den Tisch und atmet tief durch.

»Alles in Ordnung?« Isabelle legt ihr eine Hand auf den Arm. Es fühlt sich gut und vertraut an. Und seltsam intim.

»Einen Augenblick.« Lily schließt die Augen. »Es ist alles ein bisschen viel. Vor allem nach der langen Fahrt.«

»Ich hätte dich nicht gleich so in Beschlag nehmen sollen. Aber wenn die anderen kommen, muss ich in den offiziellen Anwältinnen-Modus schalten. Und sobald ich die Spielregeln verlesen habe, gehe ich. So lauten Lilianas Anweisungen.«

»Also bist du auch so eine, die sich an Regeln hält.«

»Was soll ich sagen – wir haben eben viel gemeinsam. Hatten wir immer schon.« Einen Moment lang treffen sich ihre Blicke. Isabelle beugt sich vor, ohne die Hand von Lilys Arm zu nehmen. Ihr Gesichtsausdruck ist plötzlich ernst, und ihre Stimme klingt tiefer, wie gedimmt. »Ich muss dir etwas sagen. Bevor die anderen da sind.«

»Was denn?«, fragt Lily.

In dem Augenblick ertönt der Klopfer an der Eingangstür.

Isabelle seufzt. Sie zieht ihre Hand zurück, schlüpft in ihr Jackett und bindet sich die Haare zu einem Pferdeschwanz. Als sie den Blick wieder auf Lily richtet, sind ihre Augen hart wie Salzteig. Selbst ihre Gesichtsform scheint sich verändert zu haben, die Wangenknochen treten jetzt schärfer hervor. Lily erinnert sich: So hat Isabelle immer schon ausgesehen, wenn sie sich in ein Spiel gestürzt hat. Lily war da ganz anders – ihre Taktik bestand meist darin, die Verliererin zu mimen. Das Problem ist nur: Wenn man eine Rolle lange genug spielt, glaubt man sie irgendwann selbst.

»Wenn Sie bitte mit mir kommen würden, Miss Armitage.« Isabelles Stimme ist jetzt scharf wie Glas, keine Spur mehr von der wohltuenden Glühwein-Wärme.

Diese Verwandlung erfüllt Lily mit Unbehagen. »Du hast das mit dem Anwältinnen-Modus wirklich ernst gemeint.«

»Ich habe eine bestimmte Rolle zu erfüllen«, erklärt Isabelle. »Genau wie du.« Sie läutet die Glocke neben der Küchentür. Auf den Steinstufen der Hintertreppe erklingen eilige Schritte.

In der Tür der Vorratskammer erscheint eine Frau mit einem Bündel gelber Staublappen in der Hand. Sie riecht nach Holzpolitur, Bienenwachs und Opium – dem Parfüm von Yves Saint Laurent.

»Das ist Mrs Castle«, stellt Isabelle sie vor. »Die Haushälterin. Sie hat schon auf euch aufgepasst, als ihr klein wart. Jetzt wird sie während des Christmas Games ein Auge auf euch haben – und vor allem auf das Haus.«

»Schön, Sie zu sehen, Mrs Castle.« Lily hat keinerlei Erinnerungen an diese Frau, aber andererseits ist ihre Gesichtsblindheit, was diese Zeit angeht, besonders ausgeprägt.

»Miss Lily.« Mrs Castle nickt ihr steif zu. Sie scheint nicht gerade erfreut über das Wiedersehen. Genau genommen macht sie nicht den Eindruck, als würde sie sich je über irgendetwas freuen. Sie ist dünn wie eine Zuckerstange, aber ohne die Süße. Die Haut um ihren Mund und ihre Augen ist völlig faltenfrei, obwohl sie aussieht, als hätte sie schon ein langes Leben hinter sich. Ein langes Leben ohne Lächeln.

Es klopft erneut, dieses Mal mit mehr Nachdruck.

»Würden Sie den Gästen bitte die Tür öffnen und sie in den Salon führen, Mrs Castle?«

Mrs Castle nickt und begibt sich in die Eingangshalle. Lily versucht, Isabelle ein verschwörerisches Grinsen zu entlocken, aber ohne Erfolg. Von der eben noch vorhandenen Nähe zwischen ihnen ist nichts mehr zu spüren. Der Boden unter Lilys Füßen scheint zu schwanken. Es klopft erneut. Lily hofft inständig, dass es nicht Sara und Gray sind. Sie hat die beiden gemieden, seit sie mit achtzehn aus Lilianas Haus ausgezogen ist, um an der Design-Hochschule in London zu studieren. Lily verspürt einen Anflug von Gewissensbissen – Gray hatte es nicht verdient, dass sie ihn einfach aus ihrem Leben gestrichen hatte. Aber Sara schon, und sie wich ihrem Bruder nie von der Seite.

Lily bleibt auf dem Teppich in der Mitte der Eingangshalle stehen. Die Wände von Endgame House scheinen immer näherzurücken.

Der Klopfer ertönt ein weiteres Mal. Jetzt ist auch eine Stimme zu hören. »Jemand zu Hause?«

Mrs Castle marschiert zur Tür und öffnet sie.

Auf der Schwelle stehen Sara und Gray. Grays Blick wandert an Mrs Castle und Isabelle vorbei zu Lily. Als er bemerkt, dass sie ihn anschaut, wendet er sich ab.

»Guten Tag«, sagt Isabelle. »Und willkommen zurück in Endgame House.«

Kapitel 4

Sara marschiert direkt ins Haus und drückt Mrs Castle ihren Mantel in die Hand, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Haushälterin nimmt auch Gray seine Jacke, seinen Hut und seinen Schal ab und stapft mit einem missbilligenden Schnalzen davon. Es klingt wie das Ticken einer verärgerten Uhr.

In der Mitte der Halle bleibt Sara stehen und schaut sich um. Ihr Blick verweilt auf den Porträts der früheren Besitzer von Endgame House. Wahrscheinlich überschlägt sie, was diese Bilder bei einer Versteigerung einbringen würden, sollte sie das Christmas Game gewinnen. Gray schlurft ihr mit gesenktem Kopf hinterher. Vielleicht spielt er sein Lieblingsspiel von früher und zählt die Fliesen des schwarz-weißen Schachbrettbodens.

Als Sara Lily sieht, verzieht sie ihr Gesicht zu einem Lächeln. »Lily!«, ruft sie und läuft auf sie zu. Lily kann sich nicht erinnern, dass sie sich je umarmt hätten. Das hätte sich mit Sicherheit in ihr Gedächtnis eingebrannt – Sara drückt zu, als wolle sie die Reste aus einer Zahnpastatube herausquetschen. Vielleicht hat sie sich verändert und ist mit den Jahren weicher geworden?

Sie tritt einen Schritt zurück und mustert Lily von oben bis unten. »Gut siehst du aus. Die zusätzlichen Kilos stehen dir.«

Irrtum. Sara ist ganz die Alte. Wenn Lily später vor lauter Sodbrennen durch das fettige Essen und die unverdauten Erinnerungen wach im Bett liegt, wird ihr garantiert eine schlagfertige Antwort in den Sinn kommen. Doch jetzt fällt ihr nichts anderes ein als: »Du siehst toll aus, Sara.«

Was sogar stimmt. Sara trägt ein perfekt sitzendes Outfit von Stella McCartney, und auch ihre Haut scheint regelmäßig mit teuren Produkten verwöhnt zu werden.

Sara zuckt mit den Schultern. Sie ist Komplimente gewöhnt. Ihr Blick gleitet über Lily hinweg wie über die letzten Ladenhüter im Schlussverkauf. Dann geht sie zum Weihnachtsbaum und befühlt eine glänzende Kugel. »Die habe ich bei Liberty gesehen. Der Baumschmuck muss ein Vermögen gekostet haben. Wurde das aus dem Nachlass bezahlt?«

Isabelles Kiefer mahlt, als müsse sie ihre spontane Reaktion gewaltsam zurückhalten. »Das Haus ist so dekoriert, wie es deine Mutter in der letzten Ergänzung zu ihrem Testament verfügt hat«, sagt sie schließlich. »Außerdem hat sie genaue Angaben dazu gemacht, welche Gerichte und Getränke in den kommenden zwölf Tagen serviert werden sollen.«

Lilys Inneres scheint sich in einen abwärts rasenden Speisenaufzug zu verwandeln. »Zwölf Tage? So lange sollen wir hierbleiben?« Sie schaut zur Tür. Wie leicht es wäre, einfach wieder hinauszuspazieren.

»Du kannst gern direkt gehen.« Sara legt den Kopf schief. Um ihre Mundwinkel zuckt ein Lächeln. »Oder, Gray?«

Gray sieht auf. Sein seltsam leerer Blick wandert von Sara zu Lily. Der Familienlegende nach befand Lilys Onkel Robert direkt nach der Geburt seines Sohnes: »Seine Augen haben das gleiche Grau wie die Fische, wenn man an einem bewölkten Tag in Whitby angeln geht. Nennen wir ihn Grey.« Liliana, Grays Mutter, bestand auf die Schreibweise mit a. Was für Namensgeber – Fischhaut und ein amerikanischer Serienmörder.

»Sie kann tun und lassen, was sie will.« Gray schaut wieder auf den glänzenden Boden.

»Ganz genau.« Isabelles Blick ist direkt auf Lily gerichtet. Es liegt eine Herausforderung darin.

»Ich bleibe«, sagt Lily.

Isabelle klatscht in die Hände. »Dann wäre das ja geklärt. Würdet ihr bitte im Salon Platz nehmen, bis die anderen da sind?«

***

Der Salon ist in eine festliche Teestube verwandelt worden. An drei runden Tischen mit schneeweißen Spitzendeckchen ist für acht Personen eingedeckt. Auf dem breiten Kaminsims prangt ein Gesteck aus gedrehten Weidenzweigen, Moos und brennenden Bienenwachskerzen. Darunter flackert ein munteres Feuer. Jeder Platz ist mit Endgame-Porzellan, einer Stoffserviette und einem Schneebeerenzweig gedeckt.

»Macht es euch bequem.« Isabelle wartet, bis sich Sara, Gray und Lily an einem der Tische niedergelassen haben. Lily hätte sich am liebsten an einen der Nebentische gesetzt und Plätze für Tom und Ronnie freigehalten, aber das wäre unhöflich gewesen. »Wir fangen um vier Uhr an«, fährt Isabelle fort. »Unabhängig davon, ob dann alle da sind.«

»Wird man vom Christmas Game ausgeschlossen, wenn man zu spät kommt?«, fragt Sara.

»Man muss spätestens um Viertel vor vier draußen auf der Treppe stehen und geklopft haben«, erklärt Isabelle. »Wer danach kommt, wird nicht mehr ins Haus gelassen und darf auch nicht mitspielen.«

»Dann hoffen wir mal, dass der Schnee sie aufhält.« Sara schaut sich um, als erwarte sie Zustimmung, aber vergeblich. »Was? Ich bin eben ehrlich. Anscheinend als Einzige hier.«

Beim Betrachten der Tischdecke fällt Lily ein feines Muster ins Auge. Sie schaut genauer hin. Diesen Umriss würde sie überall erkennen – die gestickten Linien bilden das Endgame-Labyrinth. Wie oft ist sie früher durch die Hintertür über den Rasen gestürmt und hat ihre Mutter durch den Irrgarten gejagt. Wenn sie selbst an der Reihe war, quetschte sie sich in eine verborgene Nische in der Mitte und wartete, bis ihre Mutter sie fand. Was ihr auch jedes Mal gelang, bis zu dem Tag, an dem Lily ihre Mutter fand – tot.

Lily schluckt die aufsteigende Übelkeit hinunter. Als sie wieder aufschaut, sieht sie, dass Isabelle den Salon verlassen hat und Mrs Castle auf den Tisch zusteuert. Sie balanciert ein Silbertablett auf den Händen und stellt eine mit Stechpalmenmuster verzierte Teekanne und ein passendes Milchkännchen vor den drei Gästen ab. Lily erhascht einen kurzen Blick auf die Unterseite des Kännchens, auf die etwas gedruckt zu sein scheint.

»Dann spiele ich mal unsere Mutter, ja?« Sara greift nach der Teekanne. »Oder sollte ich das dir überlassen, Lily? Immerhin bist du nach ihr benannt worden. Und du warst ihr Liebling.«

Lily schweigt. Zu widersprechen wäre gelogen. Wie gerne würde sie wiederholen, was Liliana ihr über ihre Gefühle gegenüber ihrer biologischen Tochter geschrieben hat. Die Wahrheit liegt ihr auf der Zunge. Doch sie schluckt sie herunter.

»Oder ist die Rolle der Mutter zu viel für dich?«, fährt Sara fort. »Immerhin wäre deine eigene ohne dich noch am L–« Gray legt seiner Schwester warnend eine Hand auf den Arm. Sie schüttelt sie ab, spricht aber trotzdem nicht weiter. Doch Lily weiß, was sie sagen wollte. Sie hört es nicht zum ersten Mal. Ohne Lily wäre ihre Mutter noch am Leben. So sahen es alle Familienmitglieder bis auf Liliana – Mariana war glücklich, bis sie Lily bekam. Ab da war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, bis sie sich irgendwann entschied, endgültig zu verschwinden. Die Mutterschaft hatte sie zerstört.

Doch wenn Lilys Tante recht hat, trägt jemand anderes die Schuld am Tod ihrer Mutter. Dann würde Lily die Nähte ihres Lebens auftrennen und noch mal ganz von vorn beginnen müssen.

Als Lily aufschaut, stellt sie fest, dass alle Blicke auf sie gerichtet sind.

Die Stille hält an, bis im Kamin ein Scheit Holz umfällt. Tee wird eingeschenkt, Milch hinzugegeben. Dann ertönt der Türklopfer.

»Hoffentlich endlich gute Gesellschaft.« Sara lehnt sich zurück, um freie Sicht in die Eingangshalle zu haben.

Die Haustür wird geöffnet. »Lass uns schnell rein, Isabelle. Es ist eisig kalt hier draußen. Holly ist Südländerin und nicht an dieses Wetter gewöhnt.« Rachels Stimme klingt fast wie früher.

»Natürlich«, sagt Isabelle.