Mord im Christmas Express - Alexandra Benedict - E-Book + Hörbuch

Mord im Christmas Express Hörbuch

Alexandra Benedict

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  • Herausgeber: Klett-Cotta
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Achtzehn Passagiere. Sieben Stopps. Ein Killer. Während halb Großbritannien unter einer dichten Schneedecke verschwindet, schlängelt sich der Christmas Express durch die malerischen schottischen Highlands. Doch plötzlich findet die winterliche Idylle ein jähes Ende: Einer der Mitreisenden an Bord treibt ein tödliches Spiel und gibt sich nicht mit einem Opfer zufrieden. Ein Weihnachtskrimi, wie Agatha Christie ihn heute schreiben würde: spannend, originell und absolut zeitgemäß. Es ist der Vorweihnachtsabend. In letzter Sekunde erreicht die pensionierte Polizeibeamtin Roz ihren Nachtzug. Zum Glück, denn sie muss unbedingt pünktlich von London ins schottische Fort William kommen – rechtzeitig zur Geburt ihrer Enkelin. Mit ihr an Bord befinden sich unter anderem eine junge Influencerin, ein narzisstischer Reality-TV-Star, eine schlagfertige alte Dame samt Katerchen, eine dysfunktionale Familie und Craig, der in Roz eine neue Saite anschlägt. Dann bleibt der Zug plötzlich im dichten Schneetreiben stecken. Und während die Geburt zu Hause immer dramatischer verläuft, geschieht an Bord des Zuges ein Mord, der bei Roz alte Wunden aufreißt. Der luxuriöse Schlafwagen wird zum klaustrophobischen Gefängnis für alle Beteiligten. Wen trifft es als nächstes, und wird Roz es rechtzeitig verhindern können?

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Zeit:10 Std. 5 min

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Cover for EPUB

Alexandra Benedict

Mord im Christmas Express

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger

Tropen

Impressum

Die vorangestellten Zeilen aus dem Gedicht »From A Railway Carriage« entstammen der Übersetzung von Florian Bissig.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Murder On The Christmas Express« im Verlag Simon & Schuster, London

© 2022 by Alexandra Benedict

Published by arrangement with Simon & Schuster UK Ltd, 1st Floor, 222 Gray’s Inn Road, London, WC1X 8HB

A Paramount Company

Für die deutsche Ausgabe

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: © Zero-media.net, München unter Verwendung der Daten des Originalverlags; Artwork: © Emma Ewbank

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50196-4

E-Book ISBN 978-3-608-12206-0

Schneller als Hexen, schneller als Feen,

Brücken und Häuser, Hecken und Seen;

Sie stürmen entlang wie grimmige Trosse,

Quer durch die Auen die Rinder und Rosse:

Und all die Bilder von Tälern und Höhen

Fliegen vorüber wie Schauer und Böen;

Und plötzlich pfeift, und immer wieder,

Ein buntes Bahnhofshaus vorüber.

Robert Louis Stevenson, »From A Railway Carriage«

Für Katherine Armstrong –Lektorin, Freundin und Meisterrätselraterin

Prolog

24. Dezember

Er würde sie nicht weinen sehen, diesmal nicht. Meg rannte aus dem Speisewagen, sie war sich bewusst, dass sämtliche Handykameras auf sie gerichtet waren. Ihre Augen brannten, als sie durch den Gang zu ihrem Abteil stolperte. Der Zug schien ihr zuzuflüstern: Er liebt dich nicht, er liebt dich nicht, er hat dich nie geliebt.

Während sie verzweifelt nach der Schlüsselkarte tastete, blickte sie über ihre Schulter. Grant war ihr nicht gefolgt. Ein Teil von ihr wünschte sich, er würde ihr hinterherrennen. Ein Teil wollte den großen Krach, der sich wie Liebe anfühlte, und die Versöhnung, die auf den Krach folgte, wenn Grant wieder nüchtern war und sie anflehte, ihm zu verzeihen. Dabei wusste sie genau, was passieren konnte. Was bereits um ein Haar passiert wäre. Und sie wollte nicht an Heiligabend sterben.

In ihrem Club-Double-Abteil verriegelte sie die Tür und rollte sich auf dem Bett zusammen. Sie drückte ein Kissen an die Brust und weinte. Ihr Herz tat so weh, als sei es ein weihnachtliches Knallbonbon, an dem zwei Leute mit aller Kraft zogen. Und am Ende war davon nichts weiter übrig als ein zerknüllter Zettel mit einem blöden Witz darauf.

Sie überlegte, ob sie zu der Frau gehen sollte, Roz – die ehemalige Kriminalkommissarin, die aussah wie Kate Bush. Vielleicht konnte die ihr helfen.

Ihr Handy vibrierte.

Und vibrierte wieder.

Sie sah auf das Display – sie war in einem Video markiert worden, und die Benachrichtigungen stapelten sich hundertfach auf ihrem Bildschirm. Alles schien sich zu beschleunigen – der Zug, ihr Herzschlag. Das Video war vor einer Minute gepostet worden. Irgendjemand hatte den ganzen Streit zwischen ihr und Grant gefilmt, vom ersten wütenden Flüstern über die Anschuldigungen, das Leugnen und Brüllen bis zu dem Augenblick, in dem Meg weggerannt war.

Sie las in Echtzeit mit, während die Kommentare aufploppten. Wie immer konnte sie nicht anders, konnte nichts ungelesen lassen:

Lindyhop2010: Ich bin TeamMeg!

Meg4Eva: ♥♥

InkedAndPrimped: Er ist heiß – da kann man ja wohl mal was schlucken. Ich würd’s machen!

DinosaurSenior:VERLASS IHN, MEG! Komm lieber zu mir, ich verwöhne dich gern

FalschePropheten: Glaub’s mir, dem darfst du keinen Schritt weit trauen

Nastasha_Roberts: Die Frau ist doch Psycho. Voll auf Droge, sieht man sofort

ICD3adp30pl3: Alles Fake News. Die ganze Beziehung von den beiden ist reine Publicity, und die andern machen mit bei der Show

Meg checkte Twitter – #megrantlovespat war voll im Trend.

Meg spürte, wie ihr Gesicht noch heißer glühte. Nun sah sie so rot und verquollen aus, wie sie sich fühlte. Sie wusste genau, was Grant jetzt sagen würde: »Auch damit kann man Geld machen.« Er war wie Rumpelstilzchen, er konnte aus jedem Mist Gold spinnen, besonders wenn sie dabei klein und verletzlich aussah. Morgen Abend hatte er die Story garantiert schon an eins der Promimagazine verkauft. Meg und Grant würden zusammen auf dem Titelblatt erscheinen, und in Megs retuschierten Augen würde kein Lächeln zu sehen sein.

Doch diesmal war alles anders. Nach dem, was er ihr zugeflüstert hatte, als sie im Speisewagen auf dem Tisch gestanden hatte. Die Leute würden fragen, warum sie nicht schon viel früher etwas gesagt oder ihn verlassen hatte. Die Glücklichen, die so redeten, waren noch nie missbraucht worden. Sie kapierten einfach nicht, dass man sich sogar nach trockenen Brotkrumen sehnte, wenn man völlig ausgehungert nach Liebe war.

Es spielte keine Rolle, was die Leute redeten, nun nicht mehr. Sie würde ihre Geschichte zurückerobern. Die Wahrheit sagen. Die ganze Wahrheit. Alles, was sie viel zu lange versteckt und in geheimen Videoclips dokumentiert hatte. Jetzt war der Zeitpunkt da, um zum Befreiungsschlag auszuholen und die Videos zu posten. Ihren eigenen Hashtag zu setzen: #Megtoo. Und so vielleicht für die vielen Frauen zu sprechen, die es selbst nicht konnten.

Meg holte die Puderdose heraus und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel. Ihre großen, schwarzen Pupillen reflektierten ihr Gesicht. Kajal und Mascara liefen ihr die Wangen hinunter und hinterließen dunkle Spuren auf der Foundation. Sie holte die neuesten Produktproben heraus, die ihr die Firmen zu Promotion-Zwecken zugeschickt hatten, beseitigte das schlimmste Geschmier in ihrem Gesicht und deckte die roten Flecken ab, die trotz Make-up sichtbar waren. Wenn sie schon mit verzerrtem Gesicht vor laufender Kamera schluchzen würde, dann wollte sie dabei wenigstens gut aussehen.

Meg schaltete Ringlicht und Filter an und tippte die Markennamen, die zu Beginn ihres Livestreams bei Instagram aufblitzen würden, ins Handy. Sie hatte Geheimnisse, und heute war der Tag, an dem sie ans Licht kommen würden. Kleines Weihnachtsgeschenk für ihre Follower, und die Rute für Grant. Ihrer Karriere würde das Ganze keinen Abbruch tun – auf Tiktok blieb die Zeit nie stehen, und es würde ihr etwas von der Aufmerksamkeit zurückbringen, die sie in letzter Zeit verloren hatte. Sie musste ruhig bleiben und authentisch wirken, während sie die Marken promotete. Ihr Traffic würde durch die Decke gehen, und ihre verunsicherten Sponsoren wären zufrieden.

Sie atmete so tief ein, wie ihre Lunge das erlaubte. Dann nahm sie eine Getränkedose in die Hand, für deren Bewerbung sie bezahlt wurde, setzte sie an die makellosen Lippen und klickte den Live-Button an.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als sie die Dose absetzte, als hätte sie gerade etwas Köstliches getrunken. »Hi, ihr Lieben. Ich hatte euch ja versprochen, ich würde mich später noch mal melden. Bei mir läuft es nicht direkt nach Plan. Wahrscheinlich habt ihr schon mitgekriegt, dass Grant und ich uns mal wieder gezofft haben. Normalerweise würde ich nie zulassen, dass ihr mich so seht.« Sie zeigte auf ihre schwarz verschmierten, verquollenen Augen. Aus der übersichtlichen Anzahl von Live-Zuschauern war mittlerweile ein wahrer Schneesturm geworden. Das war ihr Augenblick. »Normalerweise würde ich mich ein bisschen aufhübschen und weitermachen, wie immer. Aber heute nicht. Heute packe ich aus. Heute erfahrt ihr, was wirklich hinter meiner Beziehung zu Grant steckt.«

Das reichte erst mal, damit die Follower am Ball blieben. Werbepause. Sie sprach davon, dass sie unverwüstlich sei, genau wie die Foundation, die trotz der Tränen auf ihrem Gesicht blieb.

Und als sie das Gefühl bekam, dass ihr das Publikum wegbrechen könnte: »So, jetzt kommt’s! Was ich euch sagen will: Ich habe früher schon heimlich Sachen gefilmt. Aber jetzt habe ich den Eindruck, dass es an der Zeit ist, die Wahrheit muss einfach raus. Hinter dem Make-up und den Fotosessions, den Storys in Hello! und sonst wo, versteckt sich –«

Der Zug schlingerte und machte einen gewaltigen Ruck zur Seite. Die Bremsen kreischten. Die Tür zum Bad flog auf und knallte gegen die Wand. Der Waggon ruckte heftig und legte sich schräg. Meg kroch in die Ecke des Betts und hielt ihr Handy dabei ganz fest. »Was passiert hier?«, fragte sie, als ob ihr die Follower irgendwie helfen könnten.

Mit einem furchtbaren Kreischen kam der Zug zum Stehen.

Die selbst gemachte Weihnachtsdeko, die Meg gerade erst aufgehängt hatte, schwang hin und her, dann fiel sie herunter und landete direkt auf ihr. Designertaschen schlingerten durchs Abteil. Ihre Schmuckschatulle fiel vom Waschbecken, genau wie eine neue Lidschattenpalette, aus der sich pulvrige Farbpigmente in Rauch- und Fliedertönen über den Boden verteilten. Die Puderdose rutschte vom Bett und zerbrach, als sie gegen die Wand krachte.

Meg rührte sich nicht vom Fleck und wartete darauf, dass die Welt wieder ins Gleichgewicht kam. Den Gang hinunter waren Rufe, aus anderen Abteilen Schreie zu hören.

Wenige Augenblicke später: Totenstille. Meg schob das Fenster nach unten und ließ einen Schwall kalter Luft herein. Sie blickte an den Gleisen entlang um die Kurve, konnte aber nichts sehen, nur undurchdringliche Winterdunkelheit. Andere Fenster gingen ebenfalls auf.

»Tja, das habt ihr bestimmt nicht erwartet! Dass ihr miterlebt, wie unser Zug entgleist«, sagte sie in die Handykamera. »Ich auch nicht. Auch wenn ich seit Langem das Gefühl habe, dass mein Leben total aus der Spur geraten ist. Aber Grant kann jede Minute hier sein, ich muss es euch also schnell erzählen.« Sie atmete tief durch und blickte direkt in die Kamera. Sie wusste, dass ihre Augen groß wirken würden, ihre Pupillen riesig. »Anfangs war er einfach hinreißend. Er hat mich mit Romantik nur so überschüttet. Meine Therapeutin hat gesagt, er hätte mich mit Liebe bombardiert. Aber dann ist er ziemlich schnell –«

Meg unterbrach sich. Die Tür ging auf. Ein Fuß erschien im Türspalt. Grant. Zuerst war sie erleichtert und sagte: »Grant, oh, was –« Er kam herein und schloss die Tür hinter sich. Er hatte einen schrecklich bedrohlichen Ausdruck im Gesicht. »Bitte nicht –« Die Worte verendeten in ihrem Mund und wurden zu Kohlenstaub. Grant versuchte, sie zu packen.

Meg wich zurück, schlug wild um sich und stoppte dabei versehentlich die Live-Aufzeichnung. Sie ließ das Telefon zu Boden fallen, wo Grants Absatz das Display zertrümmerte. Sie hob die Hände vor das Gesicht. Hellseherische Fähigkeiten brauchte sie nicht mehr für diese Vorhersage. Sie würde doch an Heiligabend sterben.

Eins

23. Dezember

In der Nacht vor Heiligabend regte sich auf der Regent Street niemand und nichts. Die Autos standen seit zehn Minuten bewegungslos im Stau. Nur das Taxameter tickte munter weiter, Pence und Pfund schraubten sich gnadenlos immer weiter in die Höhe.

»Wann geht Ihr Zug genau?« Der Taxifahrer stellte das Radio leiser und drehte sich zu Roz um.

»Viertel nach neun«, antwortete sie, den Blick starr auf die Uhr gerichtet. Es war zehn vor neun.

Der Fahrer schüttelte den Kopf. »Bei dem Verkehr? Es braucht schon ein Weihnachtswunder, wenn wir es rechtzeitig bis Euston Station schaffen wollen. Wahrscheinlich müssen Sie den nächsten nehmen.«

»Aber ich fahre mit dem Nachtzug«, erwiderte Roz. »Dem letzten vor Weihnachten! Ich muss nach Schottland. Bei meiner Tochter haben die Wehen eingesetzt, sechs Wochen zu früh.«

Unwillkürlich huschte der Blick des Fahrers zu dem Foto von zwei Kleinkindern auf seinem Armaturenbrett. Sein Gesicht verdunkelte sich. Roz war versucht, ihn nach seinen Sorgen zu fragen, unterdrückte den Impuls aber. Es ging sie nichts an. Sie hatte selbst genug Schwierigkeiten, mit denen sie fertigwerden musste.

»Ich würde ja eine andere Strecke fahren«, sagte er, »aber so sieht’s momentan überall aus. Unfall auf der Charing Cross Road. Bis rauf zur Regent Street geht nichts mehr. Gibt es denn außer dem Nachtzug keine anderen Züge?«

»Alle ausgebucht«, erwiderte Roz und hielt ihr Handy hoch. »Ich habe nachgeguckt.«

Sie ließ das Fenster auf ihrer Seite herunter und hoffte, die Außenwelt würde sie von ihrer Panik ablenken. Die kalte Luft strömte herein, als sei sie der erste Gast des neuen Jahres, der schon auf der Türschwelle gewartet hatte. Draußen schoben sich, dick in Schals und Mützen verpackt, die Menschen beim weihnachtlichen Einkauf vorbei. Der lilagetönte Nachthimmel über London schien Schnee zu versprechen. Die Farbe erinnerte sie an das schwarze Haar ihrer Tochter Heather. Eigentlich müsste Roz jetzt bei ihr sein, ihr die Hand halten, Schokolade in den Mund stecken, die Gebärwanne mit Wasser füllen, tun, was es zu tun gab. Sie hätte damit rechnen müssen, dass es eine Frühgeburt werden könnte, aber in ihrem Leben gab es so vieles, das sie hätte tun müssen und nicht getan hatte. Als Heather schwanger wurde, hatte Roz ihr versprochen, dass sie sich von der Metropolitan Police Force in London frühpensionieren lassen und ein paar Monate vor der Geburt zurück nach Schottland ziehen würde. Sie würde mithelfen, das Haus für den Sturm eines neugeborenen Kindes wetterfest zu machen, das war zumindest der Plan gewesen. Aber dann hatte Roz sich entschieden, noch einen letzten Fall zu Ende zu bringen, bevor sie aus London wegging, und jetzt war das Baby schon auf dem Weg. Und Roz war nicht da für ihre Tochter. Schon wieder.

Sie sah aufs Handy. Keine neuen Whatsapps von Heather oder ihrer Partnerin Ellie. Und die Bahn-App zeigte nach wie vor die pünktliche Abfahrt ihres Schlafwagens an.

Der Taxifahrer stellte das Radio wieder lauter. Es lief »December Will Be Magic Again«. Die Stimme von Kate Bush kletterte erst ganz hoch, wurde wieder tief, klang zart und kristallklar wie frischer Schnee. Früher hatte Roz das Lied geliebt, aber der Dezember war für sie schon lange nicht mehr magisch gewesen.

Über ihr breiteten die berühmten Engel der Regent Street ihre weihnachtlich beleuchteten Flügel aus. Roz musste an Hannibal Lecter denken, der in Schweigen der Lämmer einen Polizisten ausweidet und wie einen blutenden Engel am Käfig aufhängt. Wahrscheinlich nicht unbedingt die Assoziation, die mit der festlichen Weihnachtsbeleuchtung beabsichtigt war. Also gut, wenn ihr kein Engel zu Hilfe kam, dann musste sie eben selbst dafür sorgen, dass sie es rechtzeitig zum Bahnhof schaffte, und zwar pronto.

»Ich steige hier aus«, sagte sie und griff nach ihrem Gepäck. »Was schulde ich Ihnen?«

Der Taxifahrer stoppte die Zähluhr. »Vierundzwanzig Pfund sechzig«, sagte er und zuckte entschuldigend die Achseln.

Roz hielt ihre Kreditkarte ans Lesegerät, fügte ein Trinkgeld hinzu und betete zum Gott der MasterCards, dass es mit der Bezahlung gleich klappen würde. Ein Augenblick, der ihr ewig vorkam, dann wurde der Beleg ausgespuckt.

»Danke«, rief Roz, während sie ihr Gepäck aus dem Taxi wuchtete.

»Ich drück die Daumen, dass Sie’s noch schaffen!«, rief ihr der Fahrer hinterher. Er betrachtete erneut das Bild seiner Kinder und bekreuzigte sich.

Zwei

Schwer schlug ihr der Rucksack gegen den Rücken, der dicke Koffer neben ihr sah aus wie der hilfreiche Diener Passepartout aus Reise um die Erde in 80 Tagen auf Rollen, als Roz über den Bürgersteig auf den U-Bahnhof Oxford Circus zueilte. Auf der Victoria Line waren es nur zwei Stationen bis Euston und dann ein paar Schritte zu Fuß bis zum überirdischen Bahnhof. Trotzdem würde es verflucht knapp werden. Sie hatte das Taxi genommen, um nicht das viele Gepäck durch London und in die U-Bahn schleppen zu müssen. Und nun war sie doch hier und musste sich irgendwie einen Weg durch das Gewimmel auf der Regent Street bahnen. Sie fühlte sich, als sei sie in einem Videospiel, in dem sie nicht Zombies, sondern Weihnachtseinkäufern wie dem Mann ausweichen musste, der gerade auf sie zukam und seine Geschenkpapierrollen schwenkte, als sei er ein Jediritter mit Lichtschwert. Roz’ Koffer schien ihre Panik zu teilen und gab ein verzweifeltes Quietschen von sich.

Auf der Rolltreppe in Oxford Circus sah Roz auf die Uhr. Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt ihres Nachtzugs. Ein Straßenmusikant sang »Driving Home for Christmas«, und sie stellte sich vor, ihrer neugeborenen Enkelin ins Gesicht zu blicken. Leider hatte sie auch vor Augen, was Heather für ein Gesicht machen würde, wenn Roz den Zug verpasste.

Auf dem Bahnsteig schleifte sie ihren Koffer durch die vielen Wartenden und in die U-Bahn. Sie stand direkt am Ausgang und hielt die Luft an, als die Tür sich zu schließen versuchte. Im Waggon roch es nach Schweiß und Kaffee und sich beißenden Parfüms. Die neben Roz eingezwängt stehende Frau blickte ihr ins Gesicht. Die beiden sahen sich mit dem resignierten Blick der U-Bahn-Fahrerinnen an: Entschuldigung für die erzwungene körperliche Nähe.

Roz’ Arme waren eingeklemmt, aber um zu wissen, dass ihr die Zeit davonlief, brauchte sie nicht auf die Uhr zu sehen. Ein schreckliches Gefühl der Beklemmung überkam sie. Sie atmete tief durch und versuchte, den aufkommenden Flashback zu unterdrücken. Doch keine Chance. Mit voller Wucht drängten die alten Erinnerungen auf sie ein, und Roz durchlebte von Neuem den schlimmsten Moment, als würde es in diesem Augenblick passieren, und nicht vor dreißig Jahren. Erinnerungen an den Mann auf ihr, wie sie ihn anflehte aufzuhören. Der Geruch seines Marlboro-Atems, als er ihr ins Gesicht spuckte.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte die Frau neben Roz. Sie warf einen Blick in Richtung Notbremse. Wenn sie die U-Bahn anhielt, würde Roz ihren Schlafwagen im Leben nicht mehr bekommen.

»Alles in Ordnung«, sagte Roz und versuchte, ihre Panik zu unterdrücken. Wäre sie nur früher losgefahren. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, wäre sie eine Stunde vor der Abfahrt des Zuges am Bahnhof gewesen. Sie hätte ahnen müssen, dass ein Unfall oder irgendetwas anderes dazwischenkommen und sie von ihrer Tochter fernhalten würde. Meist sorgte sie selbst dafür.

Bitte, mach, dass er Verspätung hat, betete sie zu wem auch immer. Mach, dass der Zug später fährt. Mach, dass Schnee das Gleis blockiert, ein Blatt am Fenster klebt, irgendwas. Ihre düstersten Gedanken kreisten sogar um einen Selbstmörder auf den Schienen. So weit ging sie in ihrem Stoßgebet aber nicht.

Als die U-Bahn in Euston anhielt, stürzte Roz auf den Bahnsteig und schlug flink Haken um Pendler und Einkäuferinnen. Die Rolltreppe war zu langsam, deswegen keuchte sie mit dem Gepäck an den schmerzenden Armen die Treppe hinauf. Sobald sie in die Bahnhofshalle kam, blickte sie hoch zur Uhr.

21:18 Uhr.

Ihr Herz war ein Aufzug, der in die Tiefe rauschen wollte, aber sie stellte den Fuß in die Tür. Noch war nicht alles verloren. Nach Luft schnappend, studierte sie die Anzeigetafel.

21:15 Uhr Fort William. Verspätet.

Eine Welle der Erleichterung. Sie ließ den Blick durch die Bahnhofshalle gleiten. Ein kugelbehängter Christbaum wollte an die Decke stoßen. Ein Weihnachtschor trällerte fröhlich in der Mitte der riesigen Halle. Menschenmengen mit Geschenksets und Taschenbüchern in der Hand ergossen sich aus den Läden. Ein Mann mit Rentiergeweih auf dem Kopf watschelte vorbei und zog bis zum Bersten gefüllte Koffer hinter sich her. Weihnachtliche Gefühle aller Art ließen sich beobachten, von überglücklichen Menschen, die ihre Angehörigen vom Zug abholten, bis zu einer einsamen Frau, die sich die Kapuze ihres roten Parkas über den Kopf gezogen hatte und Schluchzer zu unterdrücken versuchte.

Roz spürte den Drang, auf sie zuzugehen, ihr eine Umarmung, ein Taschentuch oder ein Stück von ihrem Whisky-Taiblet anzubieten – ihre Spezialität, eine Art schottischer Karamell-Fudge, nur besser, körniger und weniger klebrig, die sie erst an diesem Morgen zubereitet hatte. Sie musste an Heathers frostige Worte denken: »Meinst du nicht, es wird langsam mal Zeit, dass du an deine eigene Familie denkst, Mum, und nicht immer an alle anderen?«

Roz wandte sich von der weinenden Frau ab und lenkte ihre Schritte stattdessen zum Auskunftsschalter. Sie wollte wissen, wann der Nachtzug abfahren würde. Auf keinen Fall wollte sie es sich beim Warten zu gemütlich machen, einschlafen und doch noch den Zug verpassen.

Ein älterer Mann vor ihr in der Schlange bebte. Der Strauß mit Rosen und Eukalyptus in seiner Hand bebte ebenfalls. »Aber muss denn nicht ein Schienenersatzverkehr eingerichtet werden, wenn der Zug ausfällt?«

Die Frau hinter dem Schalter war vermutlich noch weit unter vierzig, hatte aber schon so viele Sorgenfalten, als hätte sich jeder Zugausfall in ihrem Gesicht eingegraben. »Sobald es eine neue Verbindung gibt, wird sie auf der Tafel angezeigt, Sir.«

»Aber was soll ich denn jetzt tun?«, fragte der Mann. »Ich muss nach Manchester. Meine Familie wartet auf mich.«

»Es tut mir wirklich schrecklich leid, Sir«, sagte die Angestellte. »Der Verkehr auf der Strecke muss wegen des starken Schneefalls eingeschränkt werden.«

»Aber andere Züge fahren doch auch!«

»Das wird von Fall zu Fall entschieden. Auf manchen Strecken gibt es größere Schwierigkeiten als auf anderen, je nach Zustand der Schienen, Art der Züge, dem Wetter vor Ort.«

»Aber es ist Weihnachten!«, stieß er mit hoher Stimme aus. Roz sah ihn auf einmal als kleinen Jungen vor sich, der zum ersten Mal begreift, dass es im Leben nicht gerecht zugeht.

Die Falten im Gesicht der Frau wurden tief wie Spurrillen, als sie die Stirn runzelte. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen«, sagte sie, und Roz glaubte ihr. »Sie müssen mit jemandem in der Zentrale sprechen. Dort können in besonderen Fällen Transportmöglichkeiten organisiert werden.«

Der Mann nickte langsam und wirkte schrecklich alt, als er davonging.

Roz hoffte, dass es noch sehr lange dauern würde, bis ihr demnächst eintreffendes Enkelchen lernte, wie ungerecht die Welt war. Sie checkte ihr Handy. Heather hatte ihr eine Whatsapp geschickt:

HEATHER: Immer noch Vorwehen. Habe schon alle Pfannkuchen verschlungen, die Ellie mir gebrutzelt hat. Zwischen den Wehen backt sie neue. Jetzt was von deinem Taiblet wäre schön! Bist du unterwegs?

Roz überlegte, wie sie darauf antworten sollte. Sollte sie ihr schreiben, dass die weihnachtlichen Leckereien in ihrer Tasche nur darauf warteten, ausgehändigt zu werden, sobald sie bei Heather eintraf? Oder dass sie sich noch gut an ihre einsetzenden Wehen erinnerte, als sie selbst mit Heather schwanger war. Noch genau wusste, wie verängstigt sie sich gefühlt hatte. Wie allein. Wie sie jetzt versuchte, diese ganzen aufsteigenden Erinnerungen zu verdrängen. Wie ihr das Herz wehtat für ihre Tochter. Oder vielleicht sollte sie Heather um Verzeihung bitten, all die Worte rauslassen, die sie so lange unter Verschluss gehalten hatte. Gab es ein Emoji für sowas?

Aber Whatsapp war nicht der richtige Ort dafür. Stattdessen schrieb sie nur:

ROZ: Zug hat Verspätung, bin also noch in Euston. Iss so viele Pfannkuchen wie du kannst! HDL, Mum x

Roz hätte Heather schon vor Wochen was von dem Taiblet schicken sollen. Warum hatte sie das bloß nicht gemacht? Keinen blassen Schimmer. Wenn es um die Arbeit ging, durchschaute ihr Gehirn die logische Entwicklung von Abläufen sehr gut. Immer war es ihr gelungen, einen vernünftigen Gedankengang aus dem Tatsachenchaos zu entwickeln. Aber wenn es um ihr eigenes Leben ging? Keine Chance. Es gab nicht mal die Entschuldigung, dass der Fudge frisch gegessen werden musste. Er hielt sich vermutlich mehrere Monate. Einmal hatte sie versucht herauszufinden, ob er ein Jahr unbeschadet überstehen würde, aber dann war schon nach den ersten vierzehn Tagen nichts mehr davon übrig gewesen.

»Kann ich helfen?« Die Frau am Infoschalter – Natalia laut ihrem schiefsitzenden Namensschild – sprach mit Roz. »Was kann ich für Sie tun?«

»Können Sie mir irgendetwas über den Nachtzug nach Fort William sagen?«, fragte Roz. »An der Tafel steht nur ›verspätet‹, aber nicht, wann er erwartet wird.« Beim Wort »erwartet« musste sie schon wieder an Heathers Wehen denken. Und ihre eigenen Wehen damals. Sie vertrieb die Erinnerungen aus ihrem Kopf. Bloß nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt.

Natalia tippte etwas in ihren Rechner ein. Erleichterung glättete ihre Züge. »Sie können sich glücklich schätzen. Der Nachtzug verkehrt heute nur auf der Strecke nach Fort William. Normalerweise wird der Zug in Edinburgh geteilt und fährt in verschiedene Teile der Highlands weiter, aber die anderen Strecken sind gesperrt worden, zu gefährlich.«

»Da hab ich ja noch mal Glück gehabt.«

»Der Zug müsste in weniger als einer Stunde hier eintreffen.« Die Sorgenfalten kehrten zurück. »Sie wollen ja nicht an einer der kleineren Haltestellen aussteigen, oder? Aufgrund der Verspätung wird der Zug an mehreren kleinen Bahnhöfen nicht halten.«

»Nein, ich fahre durch bis Fort William.«

»Dann ist ja alles supi«, erwiderte Natalia. »Sie sind pünktlich zu Weihnachten zu Hause.« Ihr Lächeln war ansteckend und sprang auf Roz über.

Natalias Lächeln verschwand allerdings sehr schnell wieder, als sie den grimmigen Gesichtsausdruck auf dem Gesicht des Mannes in der Schlange hinter Roz sah. Roz bedankte sich noch mal bei Natalia und hoffte, dass deren Weihnachten ab jetzt fröhlicher verlaufen würde.

Als Roz die Bahnhofshalle durchquerte, kam sie an einem widerlich volltrunkenen Businesstypen mit herunterhängender Weihnachtsmannmütze vorbei, der einer als Elfe verkleideten jungen Frau laut hinterherpfiff. Die Elfe zuckte zusammen und zog die Schultern ein.

Roz kannte diese Sorte Männer gut, so wie viele andere Frauen auch. Das Gefühl, als Freiwild zum Abschuss freigegeben worden zu sein. Pfiffe und Schlimmeres hatte sie schon zu oft erlebt. Genau deswegen war sie Polizistin geworden, damit andere Frauen so etwas nicht zu erleben brauchten. Aber sie hatte versagt; ihr letzter Fall hatte das nur zu deutlich bewiesen.

Sie starrte den jungen Mann mit ihrem besten Kommissarinnenblick an.

»Fick dich, Oma«, sagte er und verzog höhnisch das Gesicht.

»Ich werde in den nächsten Stunden Oma, Jungchen, und ich bin stolz darauf. Was würde deine Oma sagen, wenn sie dich so sehen würde, hm?«

Er wurde blass und blickte zu Boden.

»Hab ich’s mir doch gedacht.«

Er grinste noch einmal höhnisch und wankte davon. Die Elfe drehte sich mit einem wütenden Blick zu Roz um. »Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen, nur dass Sie’s wissen.« Und damit ging sie energisch davon, dass die Glöckchen an ihrer Mütze und ihren Schuhen nur so klingelten.

Das hatte Roz noch gefehlt. Jetzt wusste sie genau, warum sie London, dieses Irrenhaus, hinter sich lassen wollte. Sollten die Affen in diesem Zirkus doch ohne sie zurechtkommen.

Drei

Der Cappuccino in der Hand von Killa wurde kalt. Die Hand, die den Wegwerfbecher hielt, zitterte. Das war nicht gut. Zusammenreißen war angesagt. Der Mord musste geschehen. Das Opfer durfte nicht am Leben bleiben.

Killa sah zu, wie die Menschen durch die Bahnhofshalle hasteten, alle wollten nur nach Hause. Viele schienen sich über die Verspätungen und Zugausfälle aufzuregen oder anstrengende Weihnachtstage im Kreis der Familie, die am Zielbahnhof auf sie wartete, zu befürchten. Bräuchte Killa sich doch nur darum zu sorgen.

Killa versuchte sich zu beruhigen und ging den Plan noch einmal von vorn bis hinten durch. Die Fahrt mit dem Schlafwagen nach Fort William hatte Killa schon dreimal gemacht – Zug, Landschaft und Haltepunkte waren Killa so bekannt wie die verfrühten Falten im eigenen Gesicht. Killa hatte noch nie im Leben etwas dem Zufall überlassen, zumindest nicht, seit Killa das Opfer kannte. Aber es gab so viel zu bedenken. Zu viele Mitreisende im Zug. Dennoch war es die einfachste Methode, sich dem Opfer zu nähern. Irgendwann einmal würde es allein und angreifbar sein. Und eine ganze Nacht lang eingesperrt im selben Zug mit Killa.

Das zu wissen, war allerdings nicht unbedingt hilfreich. Killa würde zum ersten Mal etwas anderes umbringen als die Fruchtfliegen, die im Sommer die Bananen umschwirrten. Jetzt war es eher ein Gefühl wie Fruchtfliegen im Bauch. Ob sich alle Menschen so fühlten, wenn sie ihren ersten Mord begingen? Was war, wenn man es mit der Angst zu tun bekam? Wenn sich im entscheidenden Augenblick herausstellte, dass man nicht in der Lage war, einen Mord zu begehen?

Dabei brauchte es nicht viel. Entschlossenheit. Leidenschaft. Damit hatte Killa keine Schwierigkeiten. Zumindest nicht, wenn es um Leidenschaft für eine Sache ging. Aber Leidenschaft für eine Person, das war nicht mehr möglich gewesen seit … Aus dem Grund war Killa ja hier.

Als Killa zum Bahnhof kam und sah, dass der Zug Verspätung hatte, hätte Killa fast wieder kehrtgemacht und wäre nach Hause zurückgefahren. Hätte sich Weihnachten ohne Tod an den Händen vorgestellt, mit der Pute als einzigem Opfer. Aber es war zu spät, da war das Zielobjekt, zum Greifen nah. Killa beobachtete, wie das Opfer ständig auf den sozialen Medien nachsah, wie viele Likes es gerade hatte, wie es sein Spiegelbild in den Schaufensterscheiben bewunderte. Das Lächeln auf dem Gesicht, das so künstlich war wie die Bräune und die Wimpern, die auf dem Kissen herausfallen würden. Killa musste zur Tat schreiten, es gab keine andere Wahl.

Killa ging zum Whistlestop, um sich mit Verpflegung einzudecken. Bei langen Reisen musste man immer darauf vorbereitet sein, dass es im Zug möglicherweise nichts zu essen gab. Einmal hatte Killa die gesamte Reise von London nach Edinburgh mit nichts als einer Mandarine und einer kleinen Packung Pringles überstehen müssen. Heute gab es ein belegtes Brot mit Käse und Gurke, Nüsse und einen köstlichen Twirl-Riegel. Heute wurden keine Kalorien gezählt. Es war immerhin fast Weihnachten, und ein Mord wollte begangen werden. Nachdem auch noch ein Buch bei WHSmith gekauft worden war, machte Killa sich auf den Weg in die Erste-Klasse-Lounge, um dort auf den Zug zu warten. Jetzt hieß es nur noch lächeln und nicht auffallen.

Ein junges Pärchen ging vorbei, das Händchen hielt und die Arme schwingen ließ. Die beiden lachten und redeten über die Party, zu der sie fahren wollten. Für sie bestand Weihnachten wahrscheinlich aus nichts als Lichtern und Liebe und nach Zimt schmeckenden Küssen. Killa war sich sicher, dass die zwei genau wie das Gesetz, die Polizei, die Richter und Geschworenen, die Soaps und Boulevardblätter sagen würden, dass es falsch war, an Weihnachten zu töten. Aber sie kannten ja auch nicht die Geheimnisse der Zielperson. Noch nicht. Kamen diese Geheimnisse erst einmal ans Licht der Öffentlichkeit, würden alle Killa gratulieren und eine fröhliche Weihnacht wünschen.

Vier

Die Lounge für die Passagiere der ersten Klasse war größer, als Roz gedacht hatte, und trotzdem fast voll. Hinten im Raum erspähte sie einen freien Sessel und bahnte sich einen Weg zwischen dem Designermobiliar hindurch. Überall waren schottisch klingende Stimmen zu hören. Ein Heimweh überkam Roz, wie sie es seit vielen Jahren nicht verspürt hatte. Sie hatte sich schon lange an das Leben in London gewöhnt, wo der East-End-plus-Essex-Akzent so allgegenwärtig war wie der Marihuanageruch. Aber hier mit schottischen Dialekten in verschiedenen Tartanmustern fühlte sie sich sofort zu Hause.

Sie legte ihr Gepäck auf dem Sessel ab und machte einen Rundgang durch die Lounge. Es gab Duschen und Umkleideräume, ein Büffet mit kostenlosen Chips, Keksen, Obst und Gebäck, außerdem Zapfhähne, aus denen Teewasser und guter Kaffee kamen. So ging also die andere Hälfte auf Reisen. Roz fuhr gern mit der Bahn, war aber noch nie erster Klasse gereist. Ihre Kolleginnen und Kollegen von der Polizeiwache wussten, dass sie sich immer schon eine Reise mit dem Luxusschlafwagen gewünscht hatte, und hatten ihr die Fahrkarte zum Abschied geschenkt. Diesen Posten auf ihrem Wunschzettel konnte sie also abhaken.

Sie besorgte sich einen Kaffee und einen Muffin und machte es sich gemütlich, behielt die Anzeigetafel aber im Blick. Sie holte das Handy heraus – ihre letzte Nachricht war gelesen, aber nicht beantwortet worden. Ob Heather wohl gerade wieder eine Wehe hatte? Ellie war ja bei ihr, würde ihr den Rücken massieren und sich die Hand drücken lassen, bis die Knochen ächzten. Aber wenn Roz nur auch schon bei ihr sein könnte.

Sie holte ihren verspiegelten Zauberwürfel aus der Tasche, um sich abzulenken. Sie schloss die Augen und hielt ihn einfach nur in der Hand. Der Mirror Cube bestand aus Klötzchen verschiedener Größe, die alle mit spiegelndem Vinyl in derselben Farbe beklebt waren. In den späten Achtzigern war Roz zweimal Juniormeisterin im Rubik’s Zauberwürfel-Wettbewerb in Inverness gewesen und hatte seitdem nie den Drang verloren, alles in seine richtige Ordnung zu bringen. Sobald sie anfing, am Würfel zu drehen, verstummten die Stimmen in ihrem Kopf und in der Lounge. Roz nahm kein Geräusch mehr wahr außer dem Klicken der Steine, die ihren Platz fanden. Sie fühlte sich ruhig wie ein spiegelglatter See, und in ihrem Kopf war alles friedlich und leer.

»Kannst du das jetzt endlich mal sein lassen, Meg?« Eine Stimme durchdrang Roz’ Klickmeditation. Der Mann saß einige Meter entfernt und redete mit einer hinreißend aussehenden, glamourösen jungen Frau, die gerade ihren glühweinfarbenen Lippenstift nachzog, der farblich auf ihre Fingernägel abgestimmt war. Sie musste Mitte zwanzig sein und hatte die ausgeprägten Wangenknochen, zarten Handgelenke und Schlüsselbeine von jemandem, der nie viel aß. Doch in ihrem Gesicht zeichneten sich Konturen ab, die auf noch dunklere Schatten hindeuteten.

Der Mann sah auch gut aus, aber auf eine Art, die Roz völlig uninteressant fand: Fitnessstudio-gestählt, groß, mit kräftigem Knochenbau und gebräunter Haut, die glatt wie Leberpastete wirkte. Ihr Blick glitt sofort wieder an ihm ab, als wäre er mit Schmalz eingefettet. Das Pärchen war von Designertaschen umgeben. »Ich fahre mit dir in den Urlaub, nicht mit Gott und der Welt«, moserte er.

Mit seinen Beinen, die in einer wurstpellenengen Hose steckten, schien der Schönling den Weltrekord im Manspreading aufstellen zu wollen.

»Nicht so laut, bitte«, flüsterte Meg und warf einen Blick in die Runde, um zu sehen, ob sie beobachtet wurden. Roz beugte den Kopf, um in ihrer Handtasche nach einem Stückchen von ihrem Whisky-Taiblet zu suchen, die sie einzeln in Zellophan verpackt hatte. Sie wickelte es bedächtig aus – auf die Art wirkte sie beschäftigt. Seltsamerweise glaubten die meisten Menschen, sie würden nicht belauscht, wenn man sie nicht direkt dabei ansah. Roz hatte die Kunst des unbemerkten Beobachtens und Lauschens schon vor sehr langer Zeit perfektioniert und gelernt, selbst die kleinsten Dinge zu registrieren, bevor der Rest der Welt sie auch nur wahrgenommen hatte. Und je älter sie wurde, desto weniger wurde sie bemerkt. Das Alter machte unsichtbar.

Eine andere, noch jüngere Frau – Anfang zwanzig, würde Roz schätzen, aber viele Mädchen wirkten reifer als ihr Alter – und ihr Teenagerbruder versuchten nicht einmal, ihr Interesse an Meg zu verstecken. Sie saßen am Tisch neben der Kaffeemaschine und starrten die Influencerin mit offenem Mund an.

Als Meg die beiden bemerkte, erstarrte sie, dann verzog sie das Gesicht zu einem Lächeln und winkte ihnen zu. Sie legte die Hände an die Brust und nickte langsam, als habe sie ihre Aufmerksamkeit wie einen Segen empfangen. Dann tupfte Meg Concealer auf die dunklen Ringe unter ihren Augen und setzte eine übergroße Sonnenbrille auf. Sie befestigte das Handy an einem Selfiestick und steckte sich ein Mikrofon an. Ihr Handy war von einem Ringlicht umgeben, das wie ein Heiligenschein aussah.

Meg lächelte wieder, diesmal in die Kamera, und ihre Präsenz wirkte augenblicklich stärker, strahlender. »Hallo, ihr Lieben«, sagte sie. »Ich wollte euch nur kurz Bescheid geben – der Zug hat Verspätung, insofern müsst ihr euch noch ein kleines bisschen gedulden bis zu unserer Pyjamaparty im Schlafwagen. Also bleibt dran, schlüpft in was Gemütliches, holt euch ein paar Plätzchen und was zu trinken, alles, was euch in Weihnachtsstimmung bringt, und dann dauert’s nicht mehr lang, und wir rauschen zusammen in die Heilige Nacht, in no time.«

Die letzten drei Worte sang sie mit klarer Stimme, legte den Kopf schräg und hielt die Finger hoch zum Peace-Zeichen.

Das Mädchen neben der Kaffeemaschine sang laut mit. Sie hielt ein Handy hoch, vermutlich filmte sie das Ganze.

Roz steckte sich ihr selbst gemachtes Karamellbonbon in den Mund und googelte schnell: Meg in no time. Sie zerkaute das bröselige Taiblet und überflog die erste Seite mit Ergebnissen, während ihr die würzige Süße auf der Zunge zerging. Am häufigsten tauchten Fotos einer Meg Forth auf, wie sie einen Gesangswettbewerb im Fernsehen gewann und eine Trophäe hochhielt, während Glitter wie Schnee auf sie herabregnete. Auf YouTube und Tiktok gab es auch Videos. Es sah so aus, als hätte sie diesen Wettbewerb mit dem Song »In No Time« gewonnen, einer melancholischen Popballade über den Verlust von Liebe und Jugend, die Roz meinte, mal im Radio gehört zu haben. Wochenlang hatte sich der Song ganz oben in den Charts gehalten, danach hatte Meg ein Album herausgebracht, das es kurz auf die Nummer eins schaffte und dann in der Versenkung verschwand.

Ein Jahr später war Meg wieder aufgetaucht, als Beauty- und Travel-Influencerin und Dauerbrenner in den Klatschspalten der Illustrierten: Meg Forth zeigt stolz ihre Kurven und ihren Neuen, Reality-TV-Star Grant McVey. Grant war Roz’ oberflächlicher Googlerecherche zufolge Sieger bei Britain’s Best Boyfriend geworden, einer kurzlebigen Fernsehshow, in der er und neun andere Männer mit allen Mitteln der Kunst versuchten, eine Frau namens Freya für sich zu gewinnen. Grant waren die Herzen des abstimmenden Publikums zugeflogen, aber das von Freya hatte er kurz darauf gebrochen. Danach war er in einer ganzen Reihe von Reality Shows aufgetreten, und bei einer davon hatte er Meg kennengelernt. Seitdem hatten sie sich bereits ein paarmal getrennt – zwischen den Zeilen gelesen, schienen Grants Sauftouren und nicht nachlassendes Interesse an anderen Frauen schuld zu sein. Auf den Titelbildern der Promi-Magazine sah Grant seine Meg stets hingebungsvoll an. Jetzt, in der Ersten-Klasse-Lounge in Euston, betrachtete er sie finster und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

»Ich mach keins mehr, bis wir unterwegs sind, versprochen.« Meg streckte die Hand nach seinem Knie aus. Sie sprach leise und besänftigend auf ihn ein, in demselben Tonfall, den Roz bei Menschen kurz vor dem Ausrasten anschlug. »Auf dieser Reise geht es nur um uns zwei. Du weißt, ich muss mich regelmäßig bei meinen Followern melden, um die Sponsoren zufriedenzustellen. Aber wirklich wichtig bist nur du.« Sie lehnte sich vor und flüsterte Grant etwas zu, das Roz nicht verstand.

Er nickte zustimmend, aber sein Gesicht war immer noch wütend verzogen. Er fasste in die Innentasche seiner Jacke und holte eine E-Zigarre und ein Fläschchen mit Vape-Flüssigkeit heraus. Bedächtig füllte er das Gerät auf und inhalierte tief. Es zischte und knisterte unheimlich. Er blies Meg eine Riesendampfwolke ins Gesicht.

Meg lachte ein klein bisschen, wandte den Kopf aber ab. Der Ausdruck, der über ihr Gesicht huschte, sah verdächtig nach Angst aus. Sie öffnete ihre Handtasche, holte eine sehr scharfe, kleine Schere mit geschwungenem Griff und ein paar Blatt weißes Papier heraus. Sorgsam schnitt sie Kreise mit der Schere aus. Sie machte eine Papierpuppenkette, wie Heather sie früher gern gebastelt hatte. Als Meg mit dem Papier hantierte, bemerkte Roz einen dunkelblauen Fleck an der Innenseite ihres Oberarms. Die Art Bluterguss, die Roz bei Fällen häuslicher Gewalt schon zu oft gesehen hatte.

Doch solche vorschnellen Schlüsse sollte sie nicht ziehen. Außerdem ging sie nichts davon etwas an. Roz lehnte sich im Sessel zurück und versuchte, die Neugier abzuschalten, die sie im Lauf ihrer fünfundzwanzigjährigen Laufbahn als Polizistin schon mehrere Male fast um Kopf und Kragen gebracht hätte. Der Kaffee war gut, auch wenn sie ihn leider hatte kalt werden lassen. Und der Muffin hatte oben eine leckere, feste Kruste, die man in einem Stück abbrechen konnte, wie ein mit Schokochips gedecktes Dach. Roz hatte nie verstanden, warum ein »Muffin Top« so etwas Schlimmes sein sollte. Genauso wenig wie »Winkearme«. Für Roz waren beides positive Dinge: Wenn man Speckröllchen hatte, hieß das, das Essen schmeckte einem. Und Winkearme erinnerten sie an euphorische Begrüßungen. Beides hieß: Frau hatte gut gelebt.

»Mich schlägst du nie. Wollen wir wetten?«

»Um was?«

Etwas lautere Stimmen erregten ihre Aufmerksamkeit. Vier Jugendliche, den gestreiften Schals nach zu urteilen, Studierende an einer Universität, saßen um einen Tisch und spielten Karten. Um welches Spiel es sich handelte, konnte Roz nicht erkennen.

»Hier, das habe ich für die Nachbarn von meinen Eltern gekauft«, sagte die eine, zog einen Talisker-Whisky in runder Verpackung aus dem Rucksack und schwenkte ihn wie einen Zauberstab vor dem Gesicht ihrer Kommilitonin. »Der gehört dir, wenn du gewinnst. Dann kannst du deiner Tante was Besseres schenken als eine selbstbemalte Tasse.« Sie grinste.

Die junge Frau neben ihr hatte bunt gefärbte Haare, die ihr in zwei regenbogenfarbenen Flechtzöpfen auf den Rücken fielen. Sie wirkte älter als die anderen, aber zugleich auch jünger.

»Lass sie in Ruhe, Beck«, sagte der junge Mann ihr gegenüber. Unter den Bündchen seiner dunkelblauen Ärmel blitzten Efeutätowierungen hervor.

»Mensch, halt doch die Klappe, Blake.« Beck verdrehte die Augen.

»Was ist eigentlich los mit dir?«, fragte die androgyne, dunkel gekleidete Person, die neben Blake saß. »Kannst du nicht ein einziges Mal versuchen, nett zu sein, nur ein bisschen?« Bei dem blauschwarz gefärbten Haar musste Roz an einen Raben denken, und an ihre eigene Jugend als Grufti mit dickem Kajal und Trauerspitze. Sie hatte den Schwarz-in-Schwarz-Look geliebt; jetzt, da sie pensioniert war, konnte sie sich endlich wieder so anziehen.

»Du checkst mal wieder gar nichts, Sam. Ich will ihr doch nur helfen. Stimmt’s, Ayana?«, sagte Beck zu der Vierten in der Runde. Ayana nickte wenig überzeugt. »Wie soll sie es sonst ins Team schaffen? Von uns ist sie ja wohl diejenige, die das Preisgeld am dringendsten braucht.«

»Ich kann’s auch gut gebrauchen«, entgegnete Sam. »Wenn wir gewinnen, kann ich einen Master machen.«

»Schon, aber denk doch nur an unsere arme Ayana. Was ihre Familie mit dem Marktstand verdient, reicht nicht mal, um beim Italiener essen zu gehen, und erst recht nicht für die Studiengebühren. Und ob sie demnächst ein Stipendium oder einen reichen Typen auftut, der für sie löhnt, ist ja auch eher unwahrscheinlich, oder?«

Ayana sah sie grollend an.

Die vier versuchten wohl, bei Geek Street reinzukommen, dachte Roz – eine Quizsendung im Fernsehen mit starkem Suchtpotenzial, eine Mischung aus University Challenge, Love Island und Big Brother. Teams aus verschiedenen Universitäten wohnten zusammen in einem Fernsehstudio, das wie ein Wohnheim ausgestattet war, wo man ihnen beim Büffeln und Flirten zugucken konnte, bevor sie am Ende der Woche gegeneinander antraten. Das Fernsehpublikum war ganz verrückt danach, den Strebern dabei zuzusehen, wie sie sich anfreundeten, verliebten oder, am besten noch, sich prügelten – die Mail nannte die Sendung »Einen Käfig voller Nerds«. Immer mehr Teams schieden aus, und die Gewinnerinnen und Gewinner erhielten ein Stipendium, mit dem sie ihr ganzes Masterstudium finanzieren konnten. In die Uniteams hineinzukommen, war schwierig, diese Studierenden hier wetteiferten scheinbar um die letzten Plätze. Roz könnte sich auf jeden Fall eine schönere Art vorstellen, die Weihnachtsfeiertage zu verbringen, aber das musste schon jede und jeder selbst wissen.

»Ich glaube«, sagte Sam und starrte Beck mit gespielter Faszination an, »du bist wahrscheinlich der fieseste Mensch, den ich je kennengelernt habe.«

»Na, dann hab ich aber Glück, dass ich wenigstens schlau bin. Ihr könnt euch alle im Glanz meiner Genialität sonnen.«

»Wow.« Mehr fiel Sam dazu offensichtlich nicht ein.

»Aber natürlich bedeutet das«, fuhr Beck fort, »ihr drei müsst um die verbleibenden zwei Plätze in meinem Team kämpfen. Eigentlich hätte ich euch Losern das selbst überlassen sollen, statt mit euch auf diesen blöden Trip zu fahren. Aber da wir jetzt hier sind, können wir auch genauso gut trainieren. Ich wette um eine Schachtel Pralinen und die Kette, die ich meiner Mum schenken will.«

Ayana blinzelte mehrere Male und atmete tief durch. »Und wenn ich verliere?«

»Wenn ich ganz ehrlich sein soll, glaube ich nicht, dass du irgendwas besitzt, das ich gern hätte. Aber von mir aus – sagen wir deine Handtasche.«

Ayana zog ihre rote Handtasche an sich. Das abgenutzte Leder war an manchen Stellen glatt, an anderen rissig. Sie wickelte sich den verblassten Riemen um die Hand. »Die hat meiner Mum gehört«, sagte sie.

Beck blinzelte und legte den Kopf schräg. »Aber du bist doch überzeugt, dass du gewinnst, oder etwa nicht? Dann spielt es doch eh keine Rolle. Oder vielleicht glaubst du gar nicht unbedingt, dass du in unser Team gehörst? Willst du dich lieber gleich als Ersatzspielerin melden, und damit hat sich die Sache?«

»Ich spiele«, erwiderte Ayana. Roz fragte sich, um was für ein Kartenspiel es sich handeln mochte. Mau-Mau war es jedenfalls nicht, soviel stand fest.

»Ich kann’s nicht mitansehen«, sagte Sam, stand auf, entfaltete sich zur vollen, gertenschlanken Größe und entschwand in Richtung Unisex-Toilette.

Beck mischte die Karten, nahm die erste vom Stapel, runzelte die Stirn und deckte die nächste auf. Ihr fieses Grinsen behagte Roz überhaupt nicht. »Ayana Okoro«, sagte Beck mit der prahlerischen Lauerstimme eines Quiz-Showmasters aus den Achtzigern. »Nenne für jeden Buchstaben des Alphabets eine Hauptstadt.«

Eine Denksportübung. Roz liebte Denksport. Sie war jahrelang festes Pub-Quiz-Mitglied ihrer Polizeiwache gewesen und war als eine der besten und ambitioniertesten Quizspielerinnen bekannt, zumindest, bis der dritte Gin des Abends wirkte und sie anfing, zu kichern und alles schrecklich komisch zu finden. Sie sammelte Fakten und Eindrücke in ähnlich großer Menge wie die kleinen Shampoofläschchen, die sie aus Hotelzimmern mitgehen ließ.

»Stell ihr eine andere Frage.« Der Tätowierte sah Beck flehentlich an.

»Halt die Klappe, Blake«, giftete Beck. »Du hast sechzig Sekunden Zeit, Ayana. Und deine Zeit läuft ab …« Sie holte eine kleine Sanduhr aus der Tasche und drehte sie um. »Jetzt!«

»Ankara«, sagte Ayana und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. »Berlin, Caracas, Damaskus, Edinburgh …«

Während die Städtenamen Ayana immer schneller über die Lippen kamen, sah Roz ein Baby im Rentierstrampler, das auf sie zukrabbelte. Das kleine Geweih auf dem Kopf des Babys wackelte, als es sich am Bein ihres Tisches nach oben zog.

»Na, du«, sagte Roz. Das Kleinkind schenkte ihr ein zweizähniges Lächeln und ließ das Tischbein los. Roz streckte den Arm aus und hielt das Baby fest, bevor es umkippte. Ihr wurde warm ums Herz, als sie die kleine Patschehand am Arm spürte.

»Danke«, flüsterte ein Mann um die dreißig, als er auf sie zugerannt kam und das Kleine schnell auf den Arm nahm. »Das ist Buddy. Seit Neuestem ein Turbokrabbler. Ich heiße Phil.«

»Na, Buddy«, sagte Roz.

Buddy grinste, während er in das Tragetuch an Phils Brust verfrachtet wurde.

»Wie alt ist er?«, fragte Roz.

»Sieben Monate.« Phil flüsterte immer noch, dabei war sein Sohn ganz offensichtlich wach. »Mein nächstälterer heißt Robert. Irgendwie müssen wir einen Turbokrabbler, einen Kitaflitzer, einen pubertierenden Teenie und eine fast Erwachsene den ganzen Weg in die Highlands über in Schach halten.« Er zeigte in Richtung des Tischs, an dem seine größeren Kinder saßen. Der Teenager trug ein Metallica-T-Shirt und das junge Mädchen ein Ringelkleid. Sie starrte Meg immer noch hingebungsvoll an. Hinter ihnen kämpfte eine Frau mit einem sich windenden Kindergartenkind, um ihm einen Pulli überzuziehen.

»Ihre zwei Großen scheinen ja ganz begeistert von unseren Promis zu sein.«

Phil warf einen schnellen Blick hinüber zu Meg und erstarrte. In seinem Blick lag nichts von der Anbetung, die aus dem Gesicht seiner Kids sprach. Eher etwas, das nach Angst aussah. »Ach, Sie wissen doch, wie die jungen Leute sind.«

»Sie haben auch den Schlafwagen gebucht?«

Er riss den Blick von Meg los und grinste Roz schief an. »Genau, bis nach Fort William, aber ob wir in dem Wagen zum Schlafen kommen, steht auf einem anderen Blatt.« Die schwarzen Ringe unter seinen Augen deuteten auf unendlich viele Stunden Schlafmangel hin. »Freut mich jedenfalls. Das ist meine Frau Sally.«

»Phil!«, rief Sally ihm zu. »Ich bräuchte mal deine Hilfe!« Ihre Stimme klang gereizt oder möglicherweise auch nur extrem müde.

Phil schenkte Roz ein entschuldigendes Lächeln und eilte zu seinem Zweitjüngsten, der angefangen hatte, Zuckertütchen auf den Boden zu schleudern.

»Ulan Bator«, fuhr Ayana fort, »Vaduz, Warschau …« Sie unterbrach sich, aber ihre Lippen bewegten sich weiter, als versuchten sie verzweifelt, eine Hauptstadt mit X zu bilden. Roz durchforstete ihr Gehirn nach einer und verstand dann, warum Blake versucht hatte einzuschreiten. Es gab keine Hauptstadt, die mit X anfing.

Sam war zurück und stand abwartend zwischen den Tischen.

»Die Zeit ist fast rum«, sagte Beck, wieder das höhnische Grinsen auf dem Gesicht. Roz hätte zu gern dafür gesorgt, dass es ihr verging, und dachte blitzschnell nach, wie sie das schaffen könnte.

Dann klickte es, die Steine fanden an die richtige Stelle, und die Antwort war da.

»Sie ist schon fertig«, sagte Roz.

Beck wandte sich ihr zu, den Mund zu einem niedlichen Zähnefletschen verzogen. »Was?«

Roz lächelte sonnig zurück. »Sie haben ja sicher das schottisch-gälische Alphabet gemeint, richtig? In dem gibt es kein X, Y oder Z.« Fünf Jahre Gälischunterricht bei ihrer Tante und eine Begeisterung für Sprachen waren doch noch zu mehr gut als nur zum Entziffern von Straßenschildern und Beeindrucken von neuen Bekannten. Die Frauen, mit denen sie ausgegangen war, waren im Allgemeinen beeindruckter gewesen als die Männer.

»Was bedeutet, sie hat die Aufgabe in der vorgegebenen Zeit geschafft!« Sam klatschte in die Hände.

Blake lächelte und Ayana auch. »Danke«, sagte sie.

»Das ist Beschiss«, maulte Beck.

»Du willst mir doch nicht erzählen, das soll fair sein, dass du das gälische Alphabet gemeint, aber nichts davon gesagt hast? Du hast genau gewusst, dass wir vom heutigen englischen Alphabet ausgehen würden.« Blake verschränkte die Arme.

»Man soll halt nie einfach so von irgendwas ausgehen. So eine Hilfe würde Ayana im Fernsehstudio im Leben nicht kriegen. Wir sollen hier unter den gleichen Bedingungen wie –«

»Und woher willst du wissen, dass sie’s nicht gewusst hat?«, erwiderte Blake. »Her mit dem Zeug! Gib’s ihr.«

Ein Sturm der Gefühle raste über Becks Gesicht. Mit vorgeschobenem Kinn händigte sie Ayana den Whisky und eine Schachtel teurer Pralinen aus. Sie wollte gerade den Koffer öffnen, wohl, um die Kette herauszuholen, da sagte Ayana: »Nein, den Schmuck nicht. Schenk den deiner Mutter.« Ihre Stimme war rau; Roz hörte eine Menge Ungesagtes heraus. Ihr war klar, dass Ayana ihrer Mum nichts mehr schenken konnte, genauso wenig wie Roz ihrer Mutter.

»Sehr großzügig von dir«, sagte Beck, starrte dabei aber Roz herausfordernd an. Roz hielt ihrem Blick stand, bis Beck wegsah, dann erhob sie sich, um noch einen Kaffee zu holen.

Als Roz es durch das Labyrinth von Koffern zum Büffet geschafft hatte, fiel ihr dieselbe Frau wieder auf, die sie vorhin in der Bahnhofshalle hatte weinen sehen. Sie war mindestens zehn Jahre jünger als Roz und gerade dabei, sich den Rucksack mit kostenlosen Plätzchen, Chips und Äpfeln vollzustopfen, als sei er ein Weihnachtsstrumpf. Ihre dünnen Finger zitterten. Als sie merkte, dass sie beobachtet wurde, fuhr sie zusammen. Ein schuldbewusster Santa im roten Parka. Sie erwiderte Roz’ verschwörerisches Lächeln nicht.

»Keine Bange«, sagte Roz, griff nach mehreren Minipackungen Shortbread, hielt sie hoch und steckte sie sich in die Tasche. »Das ist nicht verboten. Ich weiß Bescheid, ich bin –« Sie unterbrach sich und setzte neu an. »Ich war Polizistin.«