Das tote Mädchen - Steven James - E-Book

Das tote Mädchen E-Book

Steven James

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  • Herausgeber: cbt
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Als ein totes Mädchen im Lake Algonquin gefunden wird, glaubt der 16-jährige Daniel, wie alle anderen auch, dass seine zwei Jahre jüngere Mitschülerin Emily durch einen tragischen Unfall ums Leben kam. Doch bei ihrer Beerdigung hat er eine Vision von ihr, wie sie ihn um Hilfe bittet. Daniel glaubt, dass sie ermordet wurde. Doch keiner will ihm glauben. Es fällt Daniel immer schwerer, zwischen seinen Visionen und der Realität zu unterscheiden. Doch er muss den wahren Killer stellen, bevor dieser wieder tötet ...

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Seitenzahl: 335

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DER AUTOR

Foto: © Emily Hand

Steven James ist preisgekrönter Bestsellerautor von mehreren Thrillern. Das tote Mädchen ist sein erstes Buch für Jugendliche. Er lebt am Fuß der Blue Ridge Mountains im östlichen Tennessee.

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Steven James

Das

tote

Mädchen

Aus dem Amerikanischen

von Andreas Brandhorst

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Für Susanna und Meg

1. Auflage

Erstmals als cbt Taschenbuch Februar 2017

© 2014 by Steven James

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»BLUR« bei Skyscrape, New York

© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Andreas Brandhorst

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

unter Verwendung eines Motivs von

© quadratiges.de/Andrea Hübner

jb · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-15330-4V001

www.cbt-buecher.de

»Die Menschen sind so notwendig verrückt,

dass Nicht-verrückt-Sein nur hieße, verrückt sein

nach einer anderen Art von Verrücktheit.«

Blaise Pascal, Philosoph und Mathematiker im 17. Jahrhundert

Prolog

Daniel hob eine Decke vertikal über sein Bett. Stacy stand neben seinem Schreibtisch, mit dem Rücken zur Wand. Er bemerkte, dass sie ungeduldig mit den Fingern an ihr Bein klopfte.

»Also …«, sagte er. »Stell dir vor, dass alles auf deiner Seite der Decke die Realität ist. Die Dinge, die du sehen, schmecken und fühlen kannst. Ich meine das, was tatsächlich existiert. Alles auf meiner Seite der Decke ist …«

»Nur eingebildet«, beendete Stacy den Satz für ihn. »Es existiert nur in deinem Kopf.«

»Ja. Nach dem, was ich in der vergangenen Woche herausgefunden habe, ist die Decke – die Barriere – in den Köpfen der meisten Menschen ziemlich dick. Dadurch wissen sie die ganze Zeit über, auf welcher Seite sie stehen.«

Daniel spürte Stacys Blick. Sie beobachtete ihn aufmerksam, vielleicht sogar wachsam.

»Eine Barriere, die uns dabei hilft zu unterscheiden, was real ist und was nicht.«

»Genau. Und jetzt stell dir die Decke als einen Duschvorhang vor, als etwas Durchsichtiges. Aber alles auf der anderen Seite bleibt verschwommen. Man weiß, dass es die andere Seite gibt …«

»Aber man kann auch zwischen den beiden Seiten unterscheiden.« Stacy klang erleichtert. »Man sieht den Unterschied.«

»Ja.«

»Und so geht es dir?«

Daniel zögerte. »Nein. Nicht ganz.« Er ließ die Decke fallen.

»Die Barriere ist weg?«

»Ja.«

»Vollkommen weg?« Stacy wich noch ein Stück weiter von Daniel zurück.

Er nickte. Ein Moment verstrich.

Ein sehr angespannter Moment.

»Macht dir das jetzt Angst?«, fragte er.

Stacy ging nicht auf die Frage ein und sagte stattdessen: »Aber kannst du fühlen, dass dies real ist? Dass ich hier und jetzt vor dir stehe?«

»Ja«, erwiderte er.

Aber er war nicht sicher. Es gab überhaupt keine Gewissheiten mehr in seinem Leben.

Er fürchtete, den Verstand zu verlieren.

1

Eine Woche vorher

Zum ersten Verschwimmen der Realität kam es bei Emily Jacksons Beerdigung.

Um 15:54 Uhr, dreißig Minuten bevor es geschah, starrte Daniel Byers aus dem Fenster des Wagens und beobachtete die Schatten der Kiefern und Birken, als sein Vater über die Landstraße im Norden von Wisconsin fuhr. Vor ihnen wehte der Wind einige Herbstblätter über die Straße. Der Himmel war stahlblau.

Es hatte schon zweimal geschneit, obwohl es noch September war. Natürlich war nur wenig davon liegen geblieben, in schattigen Stellen im Wald, die der Sonnenschein nicht erreichte, aber bald würde mehr Schnee kommen. In diesem Teil von Wisconsin konnte der Winter ziemlich hart sein.

»Sind wir bald da?«, fragte Daniel leise.

Sein Vater antwortete nicht.

»Dad?«

»Die Kirche befindet sich direkt hinter dem Highway 14. Noch eine Viertelstunde.«

Draußen schienen die Blätter und Zweige der Bäume ein komplexes Muster zu bilden, das ein Wechselspiel aus Licht und Schatten schuf.

»Was machen deine Kopfschmerzen?«, fragte sein Vater. »Sind sie weg?«

Daniel wollte ihn nicht beunruhigen. »Es ist alles in Ordnung«, log er.

Mach dich bereit. Du wirst gleich die Leiche sehen.

Plötzlich war ihm kalt und er drehte die Heizung auf.

Es schien nicht zu helfen.

13 Minuten vor dem Verschwimmen

Sein Vater fuhr langsamer, als sie sich dem Parkplatz der Kirche an der Beldon Road näherten.

»Keine Sorge«, wandte er sich an Daniel. »Wir bleiben nicht lange.«

Daniel wusste nicht, was er sagen sollte. Wie wurde man damit fertig, dass ein Mädchen, das dieselbe Highschool besucht hatte und dem er noch vor wenigen Tagen im Flur begegnet war, plötzlich nicht mehr lebte?

Daniels Vater steuerte den Wagen auf den Parkplatz. »Hast du gehört, Dan?«

»Ja.«

»Wir bleiben nicht lange.«

»Gut.«

Es fühlte sich ein bisschen seltsam an, eine Kirche zu besuchen. Daniel und sein Vater waren nur zweimal in der Kirche gewesen, seit Daniels Mutter sie vor einem halben Jahr verlassen hatte: einmal zu Ostern und dann in der darauffolgenden Woche, als sollten die Kirchgänge zu einer neuen Angewohnheit werden. Aber ihnen hatte der Schwung gefehlt, damit weiterzumachen.

In unmittelbarer Nähe des Gebäudes waren keine Parkplätze mehr frei, deshalb parkte Daniels Vater weiter hinten und stellte den Motor ab. Nach einigen stillen Sekunden sagte er: »Wir sind da.«

Sie blieben beide sitzen.

Schließlich klopfte Daniels Vater aufs Lenkrad und sagte: »Also gut.«

Er öffnete die Tür.

»Ich habe sie kaum gekannt, Dad«, sagte Daniel.

Sein Vater zögerte.

»Ich weiß.« Er saß noch immer im Wagen, mit einem Fuß draußen auf dem Boden. »Aber es ist wichtig, dass wir hier sind.«

Daniel hatte nie mit Emily Jackson gesprochen und nicht einmal ihren Namen gewusst, bis die Sache bekannt geworden war. Immerhin war sie zwei Jahrgangsstufen unter ihm gewesen – kein Wunder also, dass er sie kaum gekannt hatte. Trotzdem tat es ihm leid, dass sie ertrunken war, es tat ihm wirklich leid. Und gleichzeitig fühlte er sich schuldig, weil er nicht noch mehr Trauer empfand.

Emily Jackson.

Ein Mädchen, das man leicht übersah.

Daniel hatte gesehen, was geschah, wenn sie in die Kantine gekommen war und sich an einen Tisch gesetzt hatte. Den anderen Schülern schien plötzlich etwas einzufallen, das sie dringend erledigen mussten – einer nach dem anderen stand auf und ging. Oder wenn mehrere Jungen und Mädchen im Flur standen und sich unterhielten … Kaum sahen sie Emily, rückten sie näher zusammen, als wollten sie verhindern, dass sie sich zu ihnen gesellte.

Und dann ging sie an ihnen vorbei. Allein.

Daniel glaubte nicht, dass die anderen sie mit Absicht auf diese Weise behandelt hatten. Manchmal waren die Kids einfach so.

Daniel hatte Emily nie mit jemand anderem gesehen, immer nur allein.

Und jetzt war sie tot.

Ein Mädchen, das alle gemieden hatten, als es noch am Leben gewesen war.

Doch jetzt standen viele Autos auf dem Parkplatz.

Jetzt kamen alle, um Emily noch einmal zu sehen.

Jetzt, da sie tot war.

11 Minuten vor dem Verschwimmen

Sie überquerten den Parkplatz und näherten sich der Kirche. Daniels Blick erfasste die Dinge in den Autos, an denen sie vorbeikamen: Fast-Food-Tüten und Wasserflaschen im Fußraum, Hundehaare auf den Rücksitzen, Spielsachen für kleine Kinder und Rucksäcke. Aus irgendeinem Grund fiel ihm jede Einzelheit auf, mehr als sonst. Mehr als jemals zuvor.

Ein älterer Mann mit stoppeligem weißem Haar kam aus der Kirche und nickte Daniels Vater zu. »Sheriff.«

Daniel erkannte ihn: Mr Kettner, der Sprecher bei ihren Football-Heimspielen.

»Es tut mir sehr leid«, sagte er und sah Daniel an. »Ich weiß, dass du mit ihr zur Schule gegangen bist.«

Erneut fehlten Daniel die Worte. »Danke«, sagte er.

Mr Kettner zögerte kurz, als wollte er noch etwas hinzufügen, wandte sich dann an Daniels Vater. »Gut, dass Sie gekommen sind.«

»Wir haben es für wichtig gehalten.«

Mr Kettner seufzte leise. »Eine echte Tragödie. Das, was mit ihr passiert ist.«

»Ja.«

Das Gespräch war nur kurz gewesen, schien aber bereits zu lange zu dauern, und offenbar wussten beide nicht, wie sie es beenden sollten.

»Na schön«, sagte Mr Kettner. »Bis später, Sheriff.«

»Ja, bis später.«

»Daniel.« Mr Kettner nickte ihm zu.

»Auf Wiedersehen, Mr Kettner.«

Als der ältere Mann fortging, betonte Daniels Vater noch einmal: »Wir müssen nicht lange bleiben.«

Danke, dachte Daniel.

»Ja«, sagte er.

Dann gingen sie die Treppe der Kirche hoch.

2

Ein Dutzend Männer und Frauen standen in drei Gruppen im Eingangsbereich der Kirche, und als Daniel an ihnen vorbeiging, hörte er sie miteinander reden.

»Sie sieht gut aus.«

»Ja, stimmt.«

»Und die Blumen sind hübsch.«

»Sie hätte sich sehr gefreut, dich hier zu sehen.«

Es erschien Daniel ziemlich seltsam, solche Worte zu hören. Emily konnte nicht gut aussehen, nicht nachdem sie zwei Tage auf dem Grund des Lake Algonquin gelegen hatte. Und welche Rolle spielte es, ob die Blumen hübsch waren? Begriffen die Leute denn nicht, dass das Mädchen neben den Blumen tot war, für immer und ewig? Und warum sollte sich Emily freuen, jemanden zu sehen, den sie kaum kannte? Immerhin hatte niemand auf sie geachtet, als sie noch am Leben gewesen war.

Das gilt auch für dich. Du hast nie mit ihr gesprochen, nicht ein einziges Mal.

Wieder regten sich Schuldgefühle in Daniel.

Er verließ den Eingangsbereich und ging weiter in die Kirche hinein.

Im Altarraum standen zahlreiche Freunde und Mitschüler, begleitet von ihren Eltern.

Viele von ihnen wirkten betroffen, manche verängstigt, einige sogar gelangweilt, wie zum Beispiel Brad Talbot. Sie alle schienen hier fehl am Platz zu sein: die Jungs mit den Krawatten, die sie von ihren Vätern geliehen hatten, die Mädchen in ihren tristen dunklen Kleidern, in denen sie älter aussahen.

Die Luft roch nach Kiefernholz und alten Büchern.

Jemand spielte Klavier.

Hoch oben schwebte Staub durch den Sonnenschein, der durch die schmalen, hohen Fenster glänzte. Alles fühlte sich irgendwie unwirklich an.

Daniels Freunde, selbst die athletischen Typen von der Footballmannschaft … An diesem Ort sahen sie nicht stark und unverwüstlich aus, sondern irgendwie klein und zerbrechlich. Einige Mädchen weinten, und auch so mancher Junge hatte Tränen in den Augen, obwohl sie es zu verbergen versuchten. Viele von ihnen sahen ihn an, wie auf dem Spielfeld, wenn sie darauf warteten, dass er den nächsten Angriff begann.

Es erfüllte ihn mit Unbehagen.

Dort draußen, auf dem Spielfeld, wusste er, worauf es ankam. Hier kam er sich verloren vor, fehl am Platz, genau wie die anderen.

Er wich ihren Blicken aus.

Daniels Kopfschmerzen wurden schlimmer. Mit dem Daumen rieb er sich die Schläfe, doch es half nicht.

Sein Vater entschuldigte sich höflich und ging in den hinteren Teil der Kirche, um dort mit Mr McKinney zu sprechen, einem Lehrer an der Beldon High. Daniel blieb zurück.

Alles um ihn herum war gedämpft. Selbst die Klaviermusik aus dem vorderen Teil der Kirche klang hohl und schwächer als sonst.

Daniel sah den Sarg neben dem Klavier.

Du hast sie nie beachtet.

Nein, du hast sie nur nicht gekannt. Das ist etwas anderes.

Er versuchte, den Gedanken abzuschütteln, und schaute nach links, wo er weniger Personen vermutete. Bei der letzten Kirchenbank stand Stacy Clern, die erst vor kurzer Zeit auf die Beldon High gekommen war, neben einer Frau, von der Daniel vermutete, dass es ihre Mutter war.

Stacy war hübsch, aber nicht schön. Dunkelbraunes Haar. Freundliche Augen. Und im Gegensatz zu den oberflächlichen, dummen Mädchen, die er offenbar wie Fliegen anzog, schien Stacy die Art von bescheidener Bodenständigkeit zu verkörpern, die er sich wünschte.

Seit er sie zum ersten Mal in der Schule gesehen hatte, dachte er daran, sie anzusprechen und einzuladen, aber bisher war es ihm nicht gelungen, genug Mut dafür zu finden. Beim Football oder Basketball kannte er keine Unsicherheit, doch wenn er neben einem Mädchen wie Stacy stand, war sein Hals plötzlich wie zugeschnürt, und er bekam keinen Ton heraus.

Daniel konnte nicht erkennen, ob Stacy geweint hatte, aber sie schien sehr traurig zu sein. Er wollte zu ihr gehen und mit ihr reden, fürchtete jedoch, dass es ihm plötzlich die Sprache verschlagen oder er nur dummes Zeug stottern würde.

Er beschränkte sich darauf, ihr zuzunicken, und Stacy belohnte ihn dafür ebenfalls mit einem kleinen Nicken.

Eine Schlange hatte sich gebildet und führte zu Emilys Sarg.

Alle bewegten sich wie in Zeitlupe, wie lebende Schatten, die sich zusammendrängten und dann wieder voneinander lösten. Es wurde nicht mehr gesprochen, nur noch geflüstert.

Du hättest mit ihr reden sollen.

Irgendwie war es sowohl verrückt als auch völlig normal, sich schuldig zu fühlen, weil er nie mit Emily gesprochen hatte. Aus irgendeinem Grund hielt er es für notwendig, das jetzt nachzuholen, sie ein letztes Mal zu sehen. Vielleicht wollte etwas in ihm auf diese Weise dafür büßen, sie nicht besser gekannt zu haben. Wenn er ihr die letzte Ehre erwies, was auch immer das bedeutete … Vielleicht verschwanden dann die Schuldgefühle.

Daniel stellte sich an.

3

8 Minuten

Sechzehn Personen standen vor Daniel Byers, und er wartete direkt hinter dem Typen, der die Mannschaftsfotos machte. Ein Mädchen aus seiner Klasse, Nicole Marten, reichte ihm eine Kirchenbroschüre. Das Make-up an ihren Augen war verschmiert.

»Danke«, sagte er.

»Es ist so traurig, oder?« Daniel kannte Nicole seit sechs Jahren. Sie waren gute Freunde, doch mehr hatte sich aus ihrer Freundschaft nie entwickelt. »Ich meine, wie konnte so etwas nur passieren?«

»Ja«, erwiderte er. »Ich weiß es nicht.«

Nicole wischte eine Träne fort, lehnte sich plötzlich an Daniels Schulter und umarmte ihn. Es verunsicherte ihn, aber er wich nicht zurück. Für einen Moment legte er den Arm um sie. Dann trat sie einen Schritt zurück, rieb sich noch einmal die Augen, schenkte ihm ein schwaches Lächeln und verteilte weitere Kirchenblätter.

Daniel bemerkte, dass Stacy in seine Richtung blickte.

Es war nicht unbedingt der richtige Moment gewesen, sich von einem anderen Mädchen umarmen zu lassen. Insbesondere von einem, das so beliebt war wie Nicole.

Er mied Stacys Blick und sah auf die Kirchenbroschüre, die er von Nicole bekommen hatte.

Vorn standen Emilys Name und ihr Geburtsdatum.

Und das Datum ihres Todes.

Sie hatte vierzehn Jahre, vier Monate und zwanzig Tage gelebt.

Sofort rechnete Daniel, ohne es bewusst zur Kenntnis zu nehmen: Er hatte bereits 845 Tage länger gelebt als Emily.

Er öffnete die Broschüre nicht. Ihm lag nichts daran, Worte zu lesen, die vierzehn Jahre, vier Monate und zwanzig Tage Leben in einem Absatz zusammenfassten. Es schien einfach nicht fair zu sein.

Die Warteschlange schrumpfte, als die Personen ganz vorn am Sarg vorbeigingen und zu den Trauergästen traten, die in der Nähe des Klaviers einen Halbkreis bildeten. Vermutlich befand sich Emilys Familie unter ihnen.

845 Tage.

Die Vorstellung, dass der Tod das Ende bedeutete, das absolute, unwiderrufliche Ende aller Träume, Hoffnungen, Gedanken und Erinnerungen, eines jeden Lächelns und einer jeden Träne … Wie beunruhigend und verstörend.

Jugendliche sollten nicht über so etwas nachdenken müssen.

845 Tage.

Blumen schmückten den Sarg. Nur die linke Seite war geöffnet.

Die Schlange der Wartenden wurde kürzer.

Jemand hatte fünfzehn gerahmte Fotos von Emily auf einen nahen Tisch gestellt.

Zwei von ihnen zeigten sie als Kind bei Geburtstagspartys. Auf einem ging sie allein über einen Strand. Ein anderes zeigte sie in einer Hütte, zusammen mit einem älteren Mann, vielleicht ihrem Großvater. Auf dem größten Foto – ein Bild, das offenbar von einem professionellen Fotografen angefertigt worden war – kniete sie neben einem Golden Retriever. Auf den Fotos jüngeren Datums trug sie eine silberne Halskette, an der ein herzförmiges Medaillon hing.

Und auf allen Bildern lächelte Emily, was Daniel überraschte – in der Schule hatte er sie nie lächeln sehen.

Zwei Personen sahen sich die Tote an und gingen dann weiter. Als Daniel nach vorn trat, kam ein sehr traurig aussehender Mann vorbei und klopfte ihm auf die Schulter.

»Bist du ein Freund von Emily gewesen?«, fragte der Mann, den Daniel nicht kannte.

Eigentlich nicht. Ich habe sie kaum gekannt.

»Äh, ja, in gewisser Weise.«

Der Mann nickte und klopfte ihm noch einmal auf die Schulter. »Danke, dass du gekommen bist. Es bedeutet uns viel.« Dann ging er zu den anderen Leuten beim Klavier. Daniel vermutete, dass es sich um einen nahen Verwandten handelte, vielleicht sogar Emilys Vater. Plötzlich fühlte es sich noch schlimmer an, dass er sie nicht gekannt hatte, als hätte es diesem Mann mehr bedeutet, wenn er ein guter Freund von Emily gewesen wäre.

Daniel dachte daran, zu ihm zu gehen und zu sagen: »Wissen Sie was? Emily war eins der nettesten Mädchen, die ich kenne.«

Aber stattdessen wartete er in der Schlange.

Die jetzt rasch kürzer wurde. Nur noch acht Personen vor ihm.

Wenn doch endlich die Kopfschmerzen aufhören würden.

Ein weiterer Schritt, und er dachte daran, wenn Emily eine andere Highschool besucht oder in einem anderen Ort gewohnt hätte, fünfzig oder hundert Meilen entfernt … In dem Fall hätte er überhaupt nichts von ihrem Tod erfahren. Dann wäre er jetzt beim Footballtraining, das wegen der Beerdigung abgesagt worden war. Ständig starben Menschen, doch der Tod gewann erst Bedeutung, wenn er etwas im eigenen Leben berührte.

Noch vier Personen.

Schließlich sah er Emily Jacksons Gesicht.

4

1 Minute

Eigentlich sah er nur die obere Hälfte ihres Gesichts: die Augen, die Stirn, eine Strähne des blonden Haars. Irgendwie war es den Bestattern gelungen, sie so aussehen zulassen, als hätte sie nicht die ganze Zeit im Wasser gelegen. Trotzdem, ihr Gesicht wirkte nicht normal.

Die Augen waren geschlossen. Schminke verbarg die Akne auf der Stirn. Bisher hatte Daniel noch nie darüber nachgedacht, aber es gab Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt damit verdienten, Tote zu schminken.

So bezahlten sie ihre Rechnungen.

Daniel schob den Gedanken beiseite.

Nur noch drei Personen zwischen ihm und der Leiche.

Er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Nervosität erfasste ihn, fast so etwas wie Furcht.

Dann sah er den Rest des Gesichts.

Manche Leute sagten, Tote sähen aus wie Schlafende, aber auf Emily traf das nicht zu. Sie sah tot aus, und damit hatte es sich.

Noch zwei Personen.

Und nur noch eine.

Schließlich stand Daniel vor dem Sarg und starrte auf das bleiche Gesicht der toten Emily Jackson hinab.

Das Verschwimmen

Ihre Lippen waren wie die Augen geschlossen, die schmalen Hände auf der Brust gefaltet.

Sie sah kleiner aus, als Daniel sie in Erinnerung hatte, kleiner und zerbrechlicher.

Für einen makabren Moment verspürte er den Wunsch, ihre Hand zu berühren und das Mädchen zu trösten, das nie den Abschlussball der Highschool erleben, nie zum College gehen, nie heiraten und eine Familie haben würde.

Wie fühlt sich die Haut eines Toten an?

Die Frage verschwand in einem Strudel aus Furcht und Abscheu.

Du hast ihr keine Beachtung geschenkt.

Sie sah vertraut aus, und auch völlig fremd.

Wie still sie dalag, wie reglos.

Und dann öffnete Emily Jackson die Augen.

5

Daniel schnappte nach Luft, taumelte zurück und stieß gegen die Person hinter ihm. Er drehte sich um und sah eine ältere Frau, die einen besorgten Blick auf ihn richtete. »Entschuldigung«, brachte er hervor. »Haben Sie das gesehen?« Seine Stimme klang brüchig.

»Was?«

»Sie.« Daniel deutete auf Emily. Er wollte noch mehr sagen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken.

Die Frau beugte sich zur Seite und ihr Blick glitt zum Sarg. Aber sie verhielt sich ganz normal, und als sie Daniel erneut ansah, zeigte ihr Gesicht nicht nur Sorge, sondern auch Argwohn.

Mit klopfendem Herzen zwang sich Daniel, noch einmal in den Sarg zu sehen.

Es lief ihm eiskalt über den Rücken.

Emily lag noch immer dort, hatte aber den Kopf gedreht und starrte ihn mit geisterhaft weißen, farblosen Augen an. Ihre Lippen teilten sich und trübes Wasser rann aus ihrem Mund.

Sie ist tot, sie ist tot, sie ist tot. Das geschieht nicht. Es kann nicht geschehen.

Er zwickte sich in den Arm, so fest, dass es wehtat, aber Emily starrte ihn weiterhin an.

Erneut bewegten sich ihre Lippen, und er hörte, wie sie leise seinen Namen sagte: »Daniel.«

Das ist nicht real.

In Emilys Haar erschien Tang aus dem See. Ihre Kleidung war plötzlich nass, und die weiß geschminkte Haut nahm den blaugrauen Ton des Todes an – so musste Emily ausgesehen haben, als die beiden Angler sie gefunden hatten. Sie sprach noch einmal, mit einem nassen Gurgeln in der Stimme. Bei jedem Wort kam Wasser aus ihrem Mund. »Trevor war in dem Wagen.«

Schmerz zuckte durch Daniels Kopf.

Der Moment überwältigte ihn. Er war wie erstarrt, konnte sich nicht mehr rühren.

»Trevor hätte nicht in dem Wagen sein sollen«, sagte Emily. Mit einer plötzlichen Bewegung richtete sie sich auf. »Such meine Brille.« Sie streckte ihm die Hand entgegen, ergriff seinen Unterarm und drückte fest zu. »Bitte, Daniel.« Schmutziges Wasser quoll aus ihrem offenen Mund.

Er löste sich aus ihrem Griff und wich zurück. Der Kopfschmerz war zu einem lauten Hämmern geworden und die ganze Welt schien zu verschwimmen, ihre Farben zu verlieren und dunkel zu werden. Emily sank in ihren Sarg zurück, alles fing an sich zu drehen, und Daniel fand sich auf dem Boden wieder. Menschen beugten sich über ihn und fragten, was passiert sei und wie es ihm gehe.

Die durch sein Bewusstsein kriechende Finsternis verwandelte sich in eine scharfe Klinge aus Licht, die alles durchschnitt.

»Sie lebt«, sagte er, so laut er konnte. Doch es schien nicht sehr laut zu sein. »Emily ist noch am Leben.«

An mehr erinnerte sich Daniel nicht – die Dunkelheit umhüllte ihn ganz.

6

Er erwachte verwirrt, die Gedanken in einem Nebel aus Benommenheit. Offenbar lag er auf einer der harten Sitzbänke im Vorraum. Sein Vater und einige Erwachsene, die er nicht erkannte, blickten auf ihn herab.

Die Lampen an der Decke strahlten zu hell. Daniel blinzelte und drehte den Kopf zur Seite.

»Dan?« Die Stimme seines Vaters klang besorgt und erleichtert gleichermaßen. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Daniel blinzelte erneut. Die Erinnerungen kehrten zurück: wie er die Kirche betrat, sich dem Sarg näherte, Emily sah …

Sie hat mit dir gesprochen. Sie hat deinen Namen genannt.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte sein Vater noch einmal.

»Ja.« Er nickte. »Äh, ist sie …«

»Wer?«

»Emily. Ist sie …« Mann, das würde ziemlich seltsam klingen. »Ist sie wirklich tot?«

Sein Vater nickte ernst. »Lass uns zu Hause darüber reden, ja?«

»Sie ist also …?«

»Ja.«

Emily in ihrem Sarg, das Wasser, das aus ihrem Mund geströmt war, der gurgelnde Klang ihrer Stimme, der feste Griff ihrer Hand an seinem Unterarm … Alles hatte so echt gewirkt.

Aber wie konnte so etwas geschehen sein, wenn sie tot war?

Die Antwort lautete: Er musste es sich eingebildet haben. Emily war ertrunken, und Tote öffneten nicht ihre Augen, sie setzten sich nicht plötzlich in ihrem Sarg auf und sprachen mit einem, und ganz sicher streckten sie nicht die Hand aus und fassten einen am Arm.

Deine Fantasie hat dir einen Streich gespielt, das ist alles.

Und doch … Ihre Stimme war ihm so real vorgekommen wie jetzt die seines Vaters.

Er fühlte sich noch immer benommen, als er sich aufsetzte. Zwei Personen, die neben seinem Vater standen, traten zurück, und einige Sekunden später folgten die anderen ihrem Beispiel, bis nur noch Daniels Vater dastand.

»Du bist ohnmächtig geworden«, sagte er, als rechnete er damit, dass Daniel danach fragen würde. Er konnte nicht ahnen, dass sein Sohn an etwas ganz anderes dachte.

»Ich bin noch nie ohnmächtig geworden.«

»Lag es an den Kopfschmerzen?«

»Keine Ahnung.«

Sein Vater half ihm auf die Beine und unter den besorgten Blicken einiger Mitschüler verließen sie die Kirche.

»Vermutlich war es der Schock«, sagte Daniels Vater. »Der Schock darüber, sie so zu sehen.«

»Vielleicht.«

Während der Fahrt nach Hause versuchte Daniel, das abzuschütteln, was ihm so echt und real erschienen war. Emily konnte ihm nicht gesagt haben, dass Trevor im Wagen gewesen war, und sie konnte ihn auch nicht gebeten haben, ihre Brille zu suchen.

Aber wenn er darüber nachdachte … Eins der Fotos auf dem Tisch neben dem Sarg hatte sie mit einer Brille gezeigt und in der Schule hatte sie ebenfalls eine getragen.

Daniel wusste nicht, ob man im Sarg liegenden Toten die Brille aufsetzte. Die Vorstellung erschien ihm seltsam, aber vielleicht machte man so etwas, wenn die Verstorbenen ständig eine Brille getragen hatten, damit sie im Tod so normal wie möglich aussahen.

Doch in diesem Fall hätte niemand Emilys Brille finden können. Immerhin war sie ertrunken, und bestimmt hatte sie die Brille verloren, als sie von der Strömung zu der Stelle getragen worden war, wo man sie gefunden hatte.

Zu Hause angekommen zog sich Daniel in sein Zimmer zurück.

Er hatte nie gewusst, was er von Geistern und dergleichen halten sollte. Einerseits stellte das Übernatürliche oder Paranormale – wie auch immer man es nennen wollte – etwas dar, das er nicht ohne Weiteres akzeptieren konnte. Er glaubte an die Wissenschaft und daran, dass sie letztendlich auch eine Erklärung für das Unerklärliche finden würde.

Andererseits gab es viele Menschen, die tatsächlich seltsame Dinge sahen und erlebten: Sie hatten Visionen, hörten unheimliche Geräusche in der Nacht und beobachteten, wie sich Türen und Fenster von ganz allein schlossen.

Bis zu diesem Tag hatte sich Daniel kaum vorstellen können, wie sich so etwas anfühlte.

Aber was er in der Kirche gesehen hatte … War das wirklich Emilys Geist gewesen?

Eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein.

Daniel nahm die Krawatte ab – seine einzige – und hängte sie in den Schrank.

Wenn er tatsächlich Emilys Geist gesehen hatte – warum dann die Bitte, die Brille zu suchen? Daniel kannte zahlreiche Horrorfilme und hatte auch Geistergeschichten gehört, insbesondere von seinem Freund Kyle.

Nach dem, was die Leute sagten, waren Geister – wenn sie wirklich existierten – meist harmlos und halfen den Lebenden. Es kam auch vor, dass sie nach Gerechtigkeit suchten, nach einem Platz, wo sie Frieden finden konnten, oder nach einer Möglichkeit, den Limbus zu verlassen und endlich ganz ins Jenseits zu wechseln. Angeblich gab es aber auch Geister, die nach Rache strebten oder durch und durch böse waren.

Kyles Geschichten drehten sich oft um rachsüchtige Phantome oder Poltergeister, denen es darum ging, die Lebenden zu erschrecken oder ihnen zu schaden.

Oder sie zu töten.

Manchmal versuchten sie, jemanden umzubringen.

Daniel sagte sich, dass all diese Geschichten erfunden waren, dass im wahren, wirklichen Leben keine Geister existierten.

Aber als er das Hemd auszog, erschauerte er plötzlich und starrte auf seinen Arm.

Rote Striemen in Form einer Hand zeigten sich genau dort, wo ihn das tote Mädchen am Unterarm gepackt hatte.

7

Daniel schlief nicht gut.

Er fand keine Ruhe und sah immer wieder, wie sich Emily in ihrem Sarg aufrichtete und zu ihm sprach. Etwas in ihm wollte glauben, dass er sich alles nur eingebildet hatte, aber die roten Striemen an seinem Unterarm wiesen auf etwas anderes hin, auf etwas, das er nicht verstand.

Trevor war in dem Wagen. Trevor hätte nicht in dem Wagen sein sollen.

Such meine Brille.

Bitte, Daniel.

Im Traum nannte Emily immer wieder seinen Namen.

Bitte, Daniel.

Daniel …

Er erinnerte sich an die Fotos auf dem Tisch, und er sah Emily, wie sie sich von einem Bild zum nächsten bewegte und dabei veränderte: in der Hütte, auf dem Strand, neben dem Hund … Kleine Zwischenszenen zeigten ihm, wie sie durch die Flure der Schule ging.

Als er schließlich aufstand, hatte er das Gefühl, kaum geschlafen zu haben.

Die Abdrücke an seinem Unterarm waren noch immer deutlich zu sehen.

Er verbarg sie unter den Ärmeln eines Sweatshirts.

Daniel wusste nicht, wie er sie beim Training verstecken sollte. Vielleicht mithilfe der Armwärmer – solange niemand etwas im Umkleideraum bemerkte.

Sein Vater war wie üblich in der Küche und scrollte auf seinem iPad durch die Nachrichten, während er Kaffee trank. Das Lokalblatt hatte er bereits gelesen; es lag zusammengefaltet neben dem leeren Cornflakes-Teller. Er trug seine Uniform, mit Funkgerät, Taschenlampe, Handschellen und dem Revolver. Bereit für den Tag.

»Geht es dir heute Morgen besser, Dan?«

»Ja, danke.« Daniel hielt unbewusst den verletzten Arm von seinem Vater weg.

Lieber Himmel, wenn ihn diese Art von Befangenheit auch in die Schule begleitete, so stand ihm ein langer unangenehmer Tag bevor.

»Wann kommst du heute Abend vom Training?«

»Wir sehen uns nach dem Training noch Aufnahmen von den Pioneers an. Es könnte also halb sieben oder so werden. Um acht kommt Kyle. Wir wollen uns auf die Prüfung in Geschichte vorbereiten.«

Sein Vater trank den Rest Kaffee. »Soll ich auf dem Heimweg was zu essen holen?«

»Ich mache uns ein paar Fajitas.« Seit Daniels Mutter nicht mehr da war, wechselten sie sich beim Kochen ab, und seine Spezialität waren Tortillas. Sein Vater mochte sie und erhob deshalb keine Einwände dagegen.

»In Ordnung.« Er stand auf und klopfte Daniel auf die Schulter. »Ich weiß, dass du diese Woche ziemlich viel um die Ohren hast, Kumpel. Manches davon ist schwer zu verdauen. Kopf hoch.«

»Ich komme schon klar.«

Es lief ziemlich gut zwischen ihnen seit dem letzten Frühjahr, als Daniels Mutter einfach gegangen war.

Die Trennung von ihr setzte Daniels Vater zu. Er lächelte nicht mehr so viel wie früher und er arbeitete mehr. Er war ein guter Vater und immer da, wenn Daniel ihn brauchte. Aber manchmal belastete seine Traurigkeit sie beide, und Daniel wusste nicht, wie er ihm helfen konnte.

Noch waren Daniels Eltern nicht geschieden. Gelegentlich rief seine Mutter an und sagte, dass sie ihn vermisste und an seinem Leben teilhaben wollte, aber bisher war sie noch nicht aus den Twin Cities in Minnesota, wo sie bei ihrer Schwester lebte, nach Beldon zurückgekehrt, und deshalb bedeuteten ihm ihre Worte nicht viel. Es war allen klar, dass sie nicht zurückkehren würde, zumindest nicht für immer.

Draußen war alles mit einer dünnen Schicht Raureif überzogen. Daniel musste die Windschutzscheibe seines Wagens freikratzen, bevor er losfuhr.

Auf dem Weg zur Schule versuchte er, alle Gedanken an Emilys Tod und die Szene in der Kirche aus seinem Kopf zu verbannen, doch das fiel ihm schwer. Es musste mehr gewesen sein als eine Halluzination. Er hatte Emilys Geist gesehen und ihn sprechen gehört; die Striemen an seinem Unterarm waren der Beweis.

Aber was sollte er in diesem Zusammenhang unternehmen, abgesehen davon, die Druckstellen am Arm zu verbergen und zu versuchen, alles zu vergessen?

Das war die Frage.

Und er wusste keine Antwort darauf.

Aber eins stand fest: Sosehr er sich auch bemühte – er hatte etwas erlebt, das sich nicht so einfach aus seinem Gedächtnis vertreiben ließ.

Daniel parkte an der üblichen Stelle, am Rand des Platzes, in der Nähe des kleinen Kiefernwaldes, wo er morgens manchmal Rotwild sah, besonders im Winter, wenn es bei seinem Eintreffen noch fast dunkel war. Das Footballstadion befand sich auf der linken Seite, unweit eines Kornfelds, das ans Schulgelände grenzte.

Er nahm seinen Rucksack, schlang sich den Riemen über die Schulter und ging zum Gebäude.

Die Highschool von Beldon war relativ groß, wenn man die Einwohnerzahl der Stadt berücksichtigte. Etwa vor einem Jahrzehnt hatte sich jemand gedacht, dass es billiger war, Schüler aus den umliegenden Gebieten nach Beldon kommen zu lassen, als in den anderen Orten kleinere Highschools zu bauen. Dabei war es geblieben, mit dem Ergebnis, dass Daniels Jahrgang, obwohl der kleinste von allen, aus mehr als zweihundert Schülern bestand. Mit anderen Worten: An der Beldon High gab es so viele Schüler, dass einige von ihnen durch die Maschen schlüpfen konnten.

So wie Emily.

Daniels Freund Kyle Goessel parkte gerade seinen zwanzig Jahre alten mitternachtsschwarzen Mustang.

Kyle stieg aus und warf die Tür zu. »Was geht ab, Dan?«

»Hallo.«

»Alles in Ordnung mit dir? Ich hab gehört, was in der Kirche passiert ist.«

»Ja, alles okay.« Sie gingen Seite an Seite zum Schulgebäude, und Daniel fragte: »Du bist also nicht da gewesen?«

»Ich bin dort aufgekreuzt, als du schon weg warst.«

Seit Kyle und seine Familie vor fünf Jahren nach Beldon gekommen waren, verband sie eine enge Freundschaft, trotz der vielen Unterschiede zwischen ihnen.

Daniel interessierte sich mehr für Sport und Kyle vor allem für seine elektrische Gitarre und Comics. Nach der Schule arbeitete er bei Rizzo’s, einer beliebten Pizzeria.

Kyle mochte Englisch, Daniel Mathe.

Daniel stand auf klassischen Rock, Kyle auf Indie-Bands.

An diesem Morgen war Kyles schulterlanges dunkelblondes Haar noch ein wenig feucht von der Dusche. Mit einer Hand strich er es zurück.

Kyle war größer als Daniel, aber schlaksig und ein bisschen unkoordiniert – bis er lief. Eine seltsame Sache. Wenn er durch die Flure der Highschool ging, schienen sich seine Gliedmaßen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit zu bewegen, aber wenn er lief, war alles glatt und geschmeidig. Er konnte richtig gut rennen, und die Trainer hatten ihm mehrmals vorgeschlagen, an den Crossläufen oder den Wettbewerben im Stadion teilzunehmen. Doch er hatte immer abgelehnt, aus Gründen, die er größtenteils für sich behielt.

In gewisser Weise ähnelte er dem einen Typen in ihrer Klasse, Jacob Lawhead, der stotterte, wenn er sprach, dessen Stottern beim Singen aber vollkommen verschwand.

Manche sagten, dass alles im Kopf geschah, doch was spielte das letztendlich für eine Rolle? Dadurch wurde es nicht weniger real. Wann immer jemand sagte, dass etwas nur im Kopf stattfand, sollte besser das Wörtchen »nur« weggelassen werden, denn was im Kopf passierte, betraf auch den Körper. Anders ging es gar nicht.

Jemand musste den falschen Knopf der Fernbedienung gedrückt haben, denn plötzlich ging die Alarmanlage eines Autos los. »Wie großartig, dass jemand so etwas erfunden hat«, brummte Kyle. »Wirklich eine tolle Idee. Ich meine, wie viele Autodiebstähle sind mit solchen Alarmanlagen verhindert worden? Bestimmt Hunderttausende.«

Sie traten durch den Eingang und in den Flur, der an den Büros vorbei in den wissenschaftlichen Flügel des Hauptgebäudes führte.

Kyle hielt sein Handy in der Hand und startete die Taschenrechner-App.

»Nicht heute Morgen, Kyle.«

»Nur eine Aufgabe.«

»Ich bin wirklich nicht in der Stimmung …«

Kyle tippte bereits. »1489 mal 783 geteilt durch 4,4.«

»264.974,318«, antwortete Daniel sofort.

Kyle schüttelte den Kopf. »Mann, ich habe keine Ahnung, wie du das anstellst.«

»Es ist so wie bei deinem Gitarrenspiel.«

»Wie kannst du das damit vergleichen?«

»Du liest die Musik und übersetzt sie, ohne nachzudenken. Du weißt genau, was du tun musst, welche Saite wann zu spielen ist, der ganze Kram. Wenn ich mir ein Notenblatt ansehe, habe ich keine Ahnung, was all die Zeichen bedeuten. Vermutlich könnte ich mit der Zeit herausfinden, welche Note für welchen Ton steht, so wie du schließlich eine mathematische Formel entziffern kannst. Aber es wäre große Mühe für mich. Dir hingegen fällt es ganz leicht.«

»So wie dir die Mathematik.«

»Ja.«

Kyle steckte das Handy ein. »He, ich muss noch was aus meinem Spind holen. Komm mit.«

Sie gingen durch den Flur, vorbei an all den Schülern, die zu ihren Spinden oder Klassenzimmern eilten.

Noch fünf Minuten bis zum Läuten.

Nicole Martin kam ihnen auf dem Weg zum Englisch-Unterricht entgegen. »Hi, Kyle. Hallo, Daniel.«

»Hallo«, erwiderten sie.

Als sie weg war, warf Kyle Daniel einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Was ist?«

»Mann, sie steht auf dich. Du solltest sie zum Homecoming-Ball einladen.«

Daniel sah ihn groß an. Ihm war nie in den Sinn gekommen, dass Nicole ihn vielleicht auf diese Weise mochte. »Sie steht auf mich?«

Kyle schüttelte den Kopf. »Du bist vielleicht der Sportstar der Schule, aber wenn’s um Mädchen geht, hast du null Ahnung. Ist nicht böse gemeint.«

»Schon gut.« Sie erreichten den Spind. Daniel stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. »Ich dachte daran, die Neue einzuladen, Stacy.«

»Ja.« Kyle kramte in seinen Sachen. »Das erzählst du mir immer wieder. Wann stellst du sie mir vor?«

Wenn ein neues Mädchen an die Schule kam, sprachen normalerweise alle über sie, aber bei Stacy war das aus irgendeinem Grund nicht der Fall. Vielleicht, dachte Daniel, lag es daran, dass Emilys Tod zu sehr im Mittelpunkt stand.

»Bald.«

»Der Ball ist …«, begann Kyle.

»Am Samstag. Ja, ich weiß.«

»Du lässt es ziemlich knapp werden, Amigo. Ich meine, wenn du jemanden einladen willst.«

»Gehst du mit Mia?«

Kyle nickte. Er war seit Anfang des Sommers mit Mia zusammen – seine bisher längste Beziehung. »Ja.«

Er schloss seinen Spind und wandte sich Daniel zu. »Lass Nicole nicht ganz außer Acht. Sie ist cool. Und von Mia habe ich gehört, dass sie bisher noch kein Date hat.« Als sie sich auf dem Weg zum Englisch-Unterricht machten, zeigte Kyle auf einen Spind am Ende des Flurs. »Der gehörte Emily.«

»Woher weißt du das?«

»Ich hab sie manchmal gesehen, wenn sie hier ihre Sachen holte. Angeblich ist der Spind schon leer geräumt.« Kyle zögerte. »Ich frage mich, was sie darin gefunden haben.«

Der Gedanke daran, was sich vielleicht in Emilys Spind befunden hatte, brachte Erinnerungen an die Kirche zurück. Daniel schob sie beiseite.

Die Stelle an seinem Unterarm, wo ihn Emilys Hand berührt hatte, begann zu jucken, aber Daniel widerstand der Versuchung, sich dort zu kratzen. Zusammen mit Kyle schloss er sich einer Gruppe von Schülern an und kurz darauf betraten sie das Klassenzimmer für den Englisch-Unterricht.

Es war stiller als sonst, vermutlich deshalb, weil alle noch versuchten, mit Emilys Tod fertigzuwerden.

Einige Mitschüler fragten Daniel, ob mit ihm alles in Ordnung sei, aber abgesehen davon sprach zum Glück niemand über die Ereignisse in der Kirche.

Nachdem Emilys Leiche gefunden worden war, hatte die Schulverwaltung Psychologen beauftragt, die den Schülern dabei helfen sollten, den Schock zu überwinden.

Es war alles so schnell gegangen. Daniels Vater hatte gesagt, dass die Beerdigung normalerweise nicht so rasch nach dem Auffinden der Leiche stattfand, aber in diesem besonderen Fall wollte es die Familie offenbar so schnell wie möglich hinter sich bringen.

In Beldon gab es nicht genug Therapeuten für die Schule und deshalb hatte die Direktion Superior und Ashland um Hilfe gebeten. Die meisten Schüler, die Daniel kannte, sprachen nicht gern mit den Psychologen, aber offensichtlich gab es doch mehr Bedarf an therapeutischem Beistand. Schwer zu sagen.

Die Therapeuten verteilten ihre Telefonnummern und E-Mail-Adressen und versprachen, immer zur Verfügung zu stehen, falls sich jemand mit ihnen in Verbindung setzen wollte. Und das war’s auch schon. Sie hatten den Eindruck erweckt, tatsächlich voller Anteilnahme zu sein, aber Daniel wusste nicht, ob das alles etwas nützte.

Zeit heilte vielleicht die Wunden, doch seit der Sache mit seiner Mutter wusste Daniel: Manchmal führte Zeit nur dazu, dass sich der Schmerz noch tiefer in einen fraß, wie eine infizierte Wunde, die nichts von Heilung wissen wollte.

Ihre Englischlehrerin, Miss Flynn, schaute auf die Uhr an der Wand und hantierte mit den Unterlagen auf ihrem Pult. Sie war Single, Mitte zwanzig und trug Röcke, die für andere Lehrerinnen an der Schule tabu waren.

Sie hatte es weniger mit den klassischen Stoffen und mehr mit Geschichten über den Tod, über das Unheimliche und Makabre. Ihre Schüler hielten das für ein wenig seltsam, aber es machte den Unterricht interessant.

Am ersten Tag in der Schule hatte sie ihren Schülern gesagt, wenn die Trainer »Coach« genannt wurden, wollte sie mit »Teach« für Teacher, Lehrer, angesprochen werden. Dabei war es geblieben.

Kyle beugte sich zu Daniel. »Wollen wir wetten, dass sie uns eine Geschichte darüber gibt, wie man Kummer bewältigt? Etwas in der Art?«

»Das denke ich auch.«

Für einen Moment schaute er zu Nicole, als sie ihre Bücher hervorholte. Dann wandte er rasch den Blick ab, bevor sie merkte, dass er sie beobachtet hatte.

Die restlichen Schüler nahmen ihre Plätze ein, es läutete, und Miss Flynn stand auf, um mit dem Unterricht zu beginnen.

8

»Heute sehen wir uns eine Geschichte von Richard Brautigan an, eines Beatnik-Schriftstellers aus den 1960er-Jahren.«

Oh, das war eine Überraschung. Ein Hippie-Autor von vor fünfzig Jahren – nicht unbedingt die normale literarische Kost, die Teach in ihrem Unterricht sonst präsentierte.

Sie setzte sich wieder an ihr Pult und schlug die Beine übereinander, auf eine Art und Weise, die die Jungs in der Klasse vielleicht dazu bringen sollte, den Blick nach vorn zu richten.

»Die Geschichte heißt ›Greyhound-Tragödie‹ und stammt aus Brautigans Buch ›Die Rache des Rasens‹. Sie beginnt folgendermaßen: ›Sie wollte, dass aus ihrem Leben eine Illustriertentragödie würde wie in den Filmzeitschriften, wie der Tod des jungen Stars, mit langen Reihen weinender Leute und einer Leiche, die schöner war als ein großes Gemälde, aber sie schaffte es einfach nicht, aus der kleinen Stadt in Oregon wegzugehen, in der sie geboren und aufgewachsen war, und nach Hollywood zu gehen und zu sterben.‹«

Lange Reihen aus Trauergästen bei einer Beerdigung.

Die Leiche einer jungen Frau.

Das klang unangenehm vertraut.