Das unvollendete Leben der Addison Stone - Adele Griffin - E-Book

Das unvollendete Leben der Addison Stone E-Book

Adele Griffin

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sie lebte für die Kunst und für die Liebe

Addison Stone ist eine hochbegabte, dynamische Künstlerin, die in New York lebt und gewagte Kunstwerke in Szene setzt – ein gefeiertes Wunderkind in der Szene. Doch ihr Leben endet viel zu früh, als sie eines Abends von der Manhattan Brücke stürzt. Sie war erst achtzehn Jahre alt. War es Selbstmord? Ein Unfall? Oder Mord? Anhand von Interviews mit ihrer Familie, ihren Freunde, ihrer hippen New Yorker Entourage und ihren vergangenen Liebhabern, einer Vielzahl von Kunstwerken und Fotos gerät man in den atemberaubenden Sog von Addison Stones faszinierendem und enigmatischem Leben …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 316

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Für Charlotte Sheedy

1. Auflage © 2014 Adele Griffin Published by arrangement with Soho Press and Rights People, London. Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Unfinished Life of Addison Stone« bei Soho Teen, an imprint of Soho Press, New York. © 2015 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt Lektorat: Monika Hofko Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin unter Verwendung eines Fotos von © Soho Press he ∙ Herstellung: kw

»Ich brauch’ ein hell’res Wort als hell.«

JOHN KEATS

Foto von Addison Stone, mit freundlicher Genehmigung von Lincoln Reed

BERÜHMTE KÜNSTLERIN

ADDISON STONE

STIRBT MIT 18

New York City (AP)

Die Polizei von New York bestätigt, dass sie im Todesfall der Künstlerin Addison Stone die Ermittlungen aufgenommen hat. Die Leiche der jungen Frau wurde am frühen Morgen im East River in der Nähe der Manhattan Bridge aufgefunden. Erste Berichte deuten darauf hin, dass die Tote bei dem Versuch, ein Plakat an die obere Ebene der Manhattan Bridge zu kleben, in den Fluss stürzte.

»Wir standen auf der Brücke und sahen sie fallen«, berichtete Michael Frantin, der mit seiner Frau Ginny anlässlich ihres ersten Hochzeitstags auf der Brücke war. »Sie trug ein silberweißes Kleid. Es ging alles ganz schnell. Wie eine Sternschnuppe.«

Am Abend zuvor war die Künstlerin auf einer Party von Carine Fratepietro gewesen, die auf dem Landsitz der Gastgeberin im Hudson Valley stattfand. Nach einem Streit mit einem der Gäste hatte Stone das Fest überstürzt verlassen. »Sie war sehr aufgebracht«, erklärte Alexander Norton, ein weiterer Gast, und fügte hinzu, Stone habe eine spannungsreiche Beziehung mit dem Künstler Lincoln Reed geführt, der dafür bekannt ist, politische und soziale Anliegen in seinen Werken zu thematisieren.

Ein Freund der Familie, der nicht genannt werden will, erklärte, Stone, die in Peacedale im Bundesstaat Rhode Island aufgewachsen war, habe öfter davon gesprochen, sie wolle sich umbringen, und sie habe auch mindestens einen Selbstmordversuch hinter sich.

ERICKSON MCAVENA

Lieutenant Keith Buschhueter von der New Yorker Polizei bestätigte, kurz vor 2.30 Uhr am Mittwochmorgen seien mehrere Notrufe bei der Leitstelle eingegangen. Stone sei bewusstlos gewesen und habe nicht reagiert, als der Krankenwagen eintraf, erklärte er weiter und fügte hinzu, die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen, aber bislang gebe es keine Anzeichen für ein Fremdverschulden. Er beschrieb Stones Tod als einen tragischen, vermeidbaren Unglücksfall. »Offenbar trug sie keinen Klettergurt und hatte auch sonst keinerlei Vorsichtsmaßnahmen für die Arbeiten in einer Höhe von über sechs Metern getroffen«, sagte er. »Es ist nicht auszuschließen, dass sie bewusst so gehandelt hat.«

Stone war nicht nur bekannt für ihre Gemälde, sondern auch für ihre subversiven öffentlichen Kunstaktionen. Ihre Werke wurden über die Berger-Galerien verkauft, doch sie bemalte auch häufig öffentliche Orte wie Brücken, Wassertürme und verlassene Gebäude. Am bekanntesten ist vermutlich das kontroverse Project #53, für das sie im Frühling dieses Jahres ihr eigenes Porträt aus dem Whitney-Museum stahl.

Addison Stone erhielt unter anderem das W.-W.-Sadtler-Stipendium und auch ein Stipendium der Maynard-Stiftung für das Studium an einer Kunsthochschule, erklärte ihr Vater Roy Stone der New York Daily News. Ihre Arbeiten wurden in Galerien und Museen in New York, Los Angeles, Europa und Asien ausgestellt. »Meiner Tochter standen sämtliche Möglichkeiten offen«, sagte Stone. »Ich warte die ganze Zeit darauf, dass sie anruft und sagt, das Ganze sei nur wieder so ein verrückter Stunt von ihr gewesen.«

»Wer hat unserem Schmetterling die Flügel gebrochen?«: Die Titelgeschichte der Zeitschrift Art & Artists über Addison Stone war die meistverkaufte Ausgabe in der Geschichte der Zeitschrift.

ICH BEGEGNETE ADDISON STONE nur ein einziges Mal. Sie hatte sich als Erstsemester in meinem Schreibseminar am Pratt Institute, einer sehr angesehenen Kunsthochschule, angemeldet. Es waren nur noch sechs weitere Studenten in dem Kurs und als Gastdozentin war ich froh über so eine kleine Gruppe. Eine Viertelstunde nach Beginn der ersten Seminarstunde ging ich davon aus, dass der oder die »A. Stone« auf meiner Liste bestimmt nicht mehr auftauchen würde. Daher war ich etwas verärgert, als kurz darauf ein Mädchen ganz dreist hereinspazierte.

Sie war wunderschön, groß und schlank, mit blasser Haut, dunklen Augen und mit zwei Zöpfen, die ihr über die Schultern hingen wie zwei schwarze Seile. Nur die Narben an ihren Handgelenken waren ein etwas verstörender Anblick. Sie sagte nichts, entschuldigte sich auch nicht für die Verspätung. Noch bezeichnender war jedoch, dass sie den einzigen leeren Stuhl so weit zurückschob, dass er sich außerhalb des Stuhlkreises befand, den ich vorbereitet hatte. Sobald sie saß, ließ sie ihre farbbeklecksten Arme sinken, als würde sie sie nicht mehr brauchen.

Wir waren mitten in der Vorstellungsrunde und fingen ihr zuliebe noch einmal von vorn an. Jeder im Kreis sagte ein paar Sätze darüber, wer er war und woher er stammte. Als Addison an der Reihe war, schüttelte sie den Kopf. »Ich bin noch nicht hier«, murmelte sie. Verblüfft schauten die anderen Studenten, wie ich darauf reagieren würde. Was bildete dieses Mädchen sich eigentlich ein? Ich tat gar nichts und dachte: Jedem von euch wird von diesem Tag nur das Mädchen in Erinnerung bleiben, das sagte, es sei nicht da.

AM ENDE DER STUNDE gab ich den Schülern die Aufgabe, eine Erinnerung auszuwählen und sie mit der Erzählstimme ihres damaligen Ichs zu beschreiben. Höchstens eine Seite. Der Aufsatz sollte bis siebzehn Uhr am Freitag in meinem Mail-Postfach sein. Um 17.13 Uhr am Freitag traf Addisons Text ein:

Ich komme als Letzte. Ich bin zu spät. Ich ziehe den Stuhl weg, damit ich mich wohler fühle. Ich bin unsichtbar und zur Schau gestellt. Meine Worte bauen eine Mauer um mich. Mein ganzes Leben schon bin ich zwei Menschen – ich bin sie und ich bin ich. Jetzt soll ich einen Moment auswählen. Aber die Vergangenheit ist mir total egal. Warum sollte ich zurückblicken, wo ich doch so rasend schnell vorwärtseile? Ich habe nur Angst, dass ich nicht mit mir Schritt halten kann. Mir rennt fast immer die Zeit davon.

Kurz darauf landete noch eine Mail von ihr in meiner Mailbox:

Hiermit melde ich mich von Ihrem Seminar wieder ab.

Das war’s.

Natürlich habe ich sie nie vergessen. Als ich hörte, Addison habe die Kunsthochschule nach nur einem Semester wieder verlassen, war ich enttäuscht, verfolgte aber wie alle in der Fakultät ihre Karriere. Ich jubelte innerlich, als ihr Selbstporträt für die Whitney-Biennale ausgesucht wurde. Ihr Coup Project #53 faszinierte mich. Und im Juli darauf war sie schon tot. Eine außergewöhnliche Künstlerin mit so viel schöpferischem Potenzial – alles ausgelöscht. Wie traurig und sinnlos.

Addison-Doppelgängerin, mit freundlicher Genehmigung von Adele Griffin

In der Zeit hatte ich Schwierigkeiten, Ideen für mein nächstes Buch zu entwickeln, und während ich immer mehr über meine ehemalige Schülerin erfuhr, wurde mir klar, dass Addison Stones Leben sämtliche Zutaten für einen Roman mitbrachte. Schließlich hatte ich es Julie Jernigans brisanter Titelgeschichte in der Kunstzeitschrift Art & Artist zu verdanken, dass ich in die Gänge kam und tiefer nach der Wahrheit forschte. In »Wer hat unserem Schmetterling die Flügel gebrochen? Die letzten Tage der Addison Stone« deutet sie an, einer der beiden berühmten jungen Männer, mit denen Addison zusammen gewesen war, Zachary Fratepietro und Lincoln Reed, könnte für ihren Tod verantwortlich sein.

Jedes Mal wenn ich den rätselhaften Absatz lese, den Addison für meinen Kurs hastig heruntergetippt hatte, fragte ich mich, ob darin nicht die Bitte lag, sie zu finden.

Ich beschloss, mich auf die Suche zu machen. Da ich ein Jahr vom Unterrichten befreit war, stürzte ich mich in die Recherche. Ich interviewte zahlreiche Menschen, die eine Verbindung mit Addison hatten. Ihre Geschichte führte mich von Sag Harbor nach Kalifornien, von Europa nach Nepal und natürlich auch in die kleine Stadt Peacedale in Rhode Island, wo Addison ihre Kindheit verbracht hatte. Ich war fast schon besessen von ihr. In jeder Galerie, in jedem Café und an jeder Straßenecke meinte ich eine Doppelgängerin von ihr zu sehen.

Ich dachte – völlig lächerlich –, wenn ich in ihre Vergangenheit eintauchen würde, hätte ich bessere Chancen, irgendwo etwas von Addison selbst zu erhaschen, und wenn es auch nur eine flüchtige Begegnung auf einer belebten Straße wäre. Sie schien überall zu sein und nirgends. Und nach der Veröffentlichung von Polizeiberichten, denen zufolge sowohl Lincoln als auch Zach in jener Nacht in Manhattan gewesen waren und beide kein Alibi hatten für die Zeit um Addisons Tod, wurde ich noch neugieriger, fast schon misstrauisch. Beide waren nicht sehr zugänglich. Keiner von ihnen wollte mit mir sprechen.

Was hatten sie zu verbergen?

Nachdem ich Tausende Stunden an Gesprächen mit Leuten aufgezeichnet hatte, die Addison gut gekannt hatten, und monatelang gesichtet, gesammelt und zusammengefasst hatte, soll diese Biografie nun die Wahrheit ans Licht bringen, so wie ich sie sehe. Zugleich danke ich den vielen Menschen, die dieses Buch durch ihre großzügige Mitwirkung möglich machten, darunter auch einige wenige, die lieber anonym bleiben wollten. Großer Dank gebührt auch denen, die mir Fotos und Erinnerungsstücke zur Verfügung stellten und uns dadurch einen lebendigen und persönlichen Einblick in Addisons Welt geben.

Nun wünsche ich allen Lesern, ihrer Familie, ihren Freunden, den Fans und auch denjenigen, die Addison hier zum ersten Mal begegnen, dass sie sie zwischen diesen Seiten finden mögen.

Adele Griffin

JONAH LENOX: Ich war Addisons erster Freund. Wir lebten beide in Peacedale und gingen eine Weile miteinander, aber als ich im Sommer dann nach Boulder in Colorado zog, ging Addison nach New York. Sie liebte diese Stadt, die sie dann am Ende das Leben kostete. Nachdem Addisons Leichnam von New York hierher überführt worden war, damit sie in Rhode Island bestattet werden konnte, meinte ich fast sie frotzeln zu hören: »Das ist doch nicht zu fassen, Lenox. Gerade als ich dachte, ich wäre entkommen, karren sie mich wieder hierher zurück.«

Am Tag vor der Beerdigung bin ich von Boulder hergeflogen und sofort zu unserem Strand am Point Judith gefahren. Dorthin, wo wir immer saßen und über die Sandbank schauten. Ich habe den Himmel betrachtet und das Wasser, ganz grau bis zum Horizont, und alles sah so echt aus und so unendlich weit, und da wusste ich es. Ich sagte es sogar laut: »Sie ist frei.«

Der Strand bei Point Judith, Rhode Island, mit freundlicher Genehmigung von Jonah Lenox

LUCY LIM: Ich heiße Lucy und bin – ich meine, ich war – Addys beste Freundin. Wir kannten uns schon seit dem Kindergarten. Ich dachte, sie würde mal meine Mitbewohnerin sein, meine Trauzeugin, die Taufpatin meiner Kinder. Stattdessen ist sie gestorben. Am 28. Juli. Laut den Wetteraufzeichnungen war es der heißeste Tag in diesem Jahr. Am Morgen ihrer Beerdigung lag die Hitze immer noch über der Stadt. Heißer als die Achselhöhle eines Schafscherers, hätte meine Großmutter Lim gesagt. Niemand mit auch nur einem Funken Verstand würde an so einem Tag wegen einer Beerdigung aus dem Haus gehen und gelangweilt in einer stickigen Kirche herumstehen. Dachte ich zumindest.

Doch schon als Mom und ich in die Columbia Street einbogen, sahen wir die Autos. Hunderte säumten die Straße bis zum Kirchentor und noch mehr parkten schräg auf dem Rasen und vor dem Friedhof. Dazu noch Fotografen, Nachrichtenteams und so viele Jugendliche, wie ich noch nie auf einem Haufen gesehen habe. Alle standen schweigend da, dunkelviolette Iris in den Händen, Kopien von Fotos von ihr, dieses Catch-Foto von ihr und Lincoln im Aufzug, Ausdrucke von ihren Bildern, Kerzen, sogar Teddybären. Und ich weiß noch, wie ich dachte: Ach du Scheiße, Addy! Wenn du das sehen könntest!

JONAH LENOX: Vor dem Gottesdienst hab ich bei meiner Großmutter noch ein paar Schnäpse gekippt. Ich wollte eigentlich nicht hin. Addison war mein Mädchen gewesen. Die andere Addison Stone, wegen der sich jetzt die ganze Stadt in die Kirche quetschte, die kannte ich gar nicht. Aber ich hab mir eine Krawatte umgebunden, obwohl es mindestens hundert Grad im Schatten waren. Und ich trug die rote Strickmütze, die sie mir mal geschenkt hat. Diese Mütze – also, die würde ich sogar aus ’nem brennenden Haus rausholen.

WILMA PLANO, Mitarbeiterin bei Allens-Plano, Bestattungsunternehmen und Krematorium:

Seit fünfunddreißig Jahren kümmere ich mich um die Verstorbenen hier in Peacedale. Ich habe alte Menschen zurechtgemacht, Kinder, manchmal sogar winzige Babys, Gott sei ihren kleinen Seelen gnädig. Die meisten in meiner Branche wissen, dass bei dieser Arbeit nur eines wichtig ist: Es muss so aussehen, als würden sie schlafen. Aber in meinem ganzen Leben habe ich noch nie so viel Leben im Gesicht einer Toten gesehen. Sie schien förmlich zu strahlen. Als hätte sie der Welt einen Streich gespielt und würde sich jeden Moment aufsetzen und lachen. Nachdem mir dieser Gedanke gekommen war, konnte ich ihn nicht mehr abschütteln. Hat mir eine Heidenangst eingejagt, wenn ich ehrlich sein soll. Dabei hab ich immer gedacht, mir würde vor nichts gruseln. Aber da hab ich mich geirrt.

HAILEY REISS, Reporterin von The Times: Ich erhielt den Auftrag, über Addison Stones Beerdigung zu berichten. Das war eine ziemlich heiße Sache, weil es zu dem Zeitpunkt schon jede Menge Gerüchte über ihren Tod gab. Manche meinten, es sei ein missglückter Streich von Zach Frat gewesen, andere berichteten von einem Streit mit Lincoln Reed und von einer tragischen Dreiecksbeziehung.

Unfall, Selbstmord – die Leute tratschten, egal worüber. Es gab zu viel Rätselhaftes an dieser Nacht, was nicht zusammenpasste. Deshalb war ich neugierig, wer alles auftauchen würde und wer nicht: Freunde, Feinde, die üblichen Spinner … Und ich wollte unbedingt ein Zitat von Lincoln Reed als Aufhänger für meinen Artikel, aber der war gar nicht da.

Addison Stone war – und ist es bis heute – ein heißes Thema.

Mein Redakteur wollte auch unbedingt ein paar gute Bilder haben. Zum Beispiel einen Schnappschuss von Lincoln, auf dem er schuldbewusst guckt. Oder tieftraurig. Oder wie Carine Fratepietro Addison Stones Mutter umarmt. Oder von diesem exotischen Riesen Gil Cheba, wie der völlig zugedröhnt herumwankt. Oder wie einer der Lutz-Brüder auf einer Hollywoodschaukel sitzt und Cola trinkt.

Meine Zeitung dachte, sie hätte als Einzige die geniale Idee gehabt, einen Promi-Bericht über die Beerdigung zu bringen, doch als ich ankam, sah ich die anderen schon: New York Post, VanityFair, New York, Daily Beast, Gawker, TMZ, People, Star, ArtRightNow. Und ich entdeckte Julie Jernigan, die schließlich diesen Artikel für Art & Artists schrieb, der längst zu einem Klassiker geworden ist. Alle waren da. Und alle wetteiferten wir um eine gute Platzierung auf Reddit. Doch wir mussten unsere Kameras abgeben. Es sah so aus, als wären sämtliche Polizisten der Gegend ausgeschwärmt, um nur für einen Tag Addisons Privatsphäre zu schützen. Niemand wird also je Fotos von der Feier zu Gesicht bekommen, weil keiner welche machen durfte.

Addisons Beerdigung lief ganz anders ab, als ich erwartet hatte. Da drängten wir uns alle, um über den spektakulären Tod einer Prominenten zu berichten, zu jung, zu schön, zu begabt und zu früh gestorben – ich meine, wer hätte über eine solche Beerdigung nicht berichten wollen?

Aber wissen Sie was? Es war wirklich furchtbar traurig. Addisons Gäste hatten dieses Mädchen wirklich alle sehr geliebt. Das spürte man. Wie eine riesige knisternde Woge der Trauer.

OFFICER SEAMUS RIORDAN von der South Kensington Police: Ich bin jetzt schon seit fünfzehn Jahren bei der Polizei, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Man hatte uns schon vorgewarnt, als wir etwa um Viertel nach elf mit sechs Streifenwagen abgestellt wurden: Wegen der Beerdigung eines Mädchens, das irgendeine Berühmtheit gewesen war, könnte es zu einem Massenauflauf kommen. Also, ihr Name sagte mir nichts. Jon Bon Jovi, LeBron James – das sind berühmte Leute. Aber offenbar hatten viele das tote Mädchen gekannt, denn wir steckten erst mal in einem Riesenstau fest, von der Columbia Road bis ganz rüber zur Kirche.

Und dann diese Massen. Jugendliche, die auf Autodächern saßen, Kränze um Hydranten legten und mit roter Kreide Botschaften auf den Gehweg und an Telefonzellen schrieben. Junge Leute, die Bäume mit Klopapier umwickelten.

Wir hatten Pfefferspray dabei, Taser, das ganze Programm. Man muss auf alles vorbereitet sein. Aber dann wurde uns klar, dass es nur Fans von ihr waren. Harmlose Kids. Sie durften nicht in die Kirche und wollten einfach nur irgendwie dabei sein. Man muss sich das so vorstellen wie bei dem Open-Air-Konzert bei unserem Sommer-Festival drüben in Pawtucket. Wir brauchten keine Verstärkung. Und als es doch mal kurz brenzlig wurde, war das wegen einem Familienstreit beim Empfang hinterher, und da war sowieso keiner von uns dabei.

Ein paar Tage später bin ich an ihr Grab gegangen. Wollte es mir ganz in Ruhe allein ansehen. Alle Blumen blühten im Sonnenschein. Es sah richtig hübsch aus. Und wissen Sie was? Man konnte den Geist des Mädchens immer noch spüren. Man konnte immer noch die Liebe spüren, die sie umgab.

Addison Stones Grab auf dem St.-Martin-in-the-Fields-Friedhof in Peacedale, Rhode Island, mit freundlicher Genehmigung von Adele Griffin

CHARLIE STONE, Addisons Bruder: Ich bin sechzehn Monate jünger als Addison. Wir hatten keine anderen Geschwister. Und nur dass Sie es wissen: Ich hasse es, über die Beerdigung meiner Schwester zu sprechen. Aber natürlich erinnere ich mich noch ganz genau an alles. Meine Eltern und ich saßen in der ersten Reihe. Dann kamen unsere Cousinen Maddy und Morgan mit Tante Jen und Onkel Len, dann Gam-Gam, meine Großmutter väterlicherseits, und unsere Großeltern aus Bristol, Gran und Pop O’Hare. Ich wollte das nicht mit dem offenen Sarg. Aber in dem Punkt waren meine Eltern ein bisschen verrückt. Sie waren so stolz auf Addisons Aussehen. Ein offener Sarg – das war so ziemlich das Einzige, worauf Mom und Dad sich einigen konnten.

Mom hatte Addison ganz falsch angezogen. Ich musste die ganze Zeit daran denken, dass Addison sich total aufgeregt hätte wegen ihrem letzten Outfit: einer weißen Bluse und einem langen schwarzen Rock, den sie höchstens mal zu einer Chorprobe in der neunten Klasse getragen hatte. Schwarze Schuhe, die sie nicht mal mit nach New York nehmen wollte. Die standen schon seit zwei Jahren bei uns im Flur im Schrank und dann schickt Mom sie mit diesen Schuhen an den Füßen zu Petrus in den Himmel? Ach du lieber Gott!

Ich bin einfach sitzen geblieben. Ich habe schönere Erinnerungen an meine Schwester als ihr totes Gesicht auf einem Spitzenkissen. Wie ich so allein dasaß, habe ich durch die offene Tür die vielen Leute gesehen. Da hab ich erst kapiert, wie wichtig Addisons Beerdigung war. Noch viel wichtiger als der Schulball. Und die Kids waren total respektvoll. Sie saßen einfach nur auf den Autodächern oder lagen auf Decken im Gras. Die ganze Zeit habe ich ihre Anwesenheit … spüren können. Wie ein Summen in den Wänden der Kirche. Dieses Wusch-wusch-Wusch vom vereinten Herzschlag ihrer Verehrer – ob es wohl so war, Addison zu sein? Und ich fragte mich, ob sie es in dem Moment vielleicht auch spüren konnte.

LUCY LIM: Ich hab sie mir angesehen. Ich konnte nicht anders. Ich musste wissen, ob dieses Mädchen, das immer so unglaublich lebendig wirkte, tatsächlich weg war. Ich konnte die vielen brennenden, qualmenden Drähte in ihrem Kopf immer noch spüren. Am härtesten traf es mich, wie ruhig sie aussah. Keine Angst mehr in ihrem Gesicht, keine Panik. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Wimpern geschwungen wie bei einer Puppe. Rosige Wangen und glänzendes Haar. Sie sah kein bisschen verwahrlost oder fertig aus. Nur wie meine liebe Addy, die ein Mittagsschläfchen hält.

MAUREEN STONE, Mutter: Ich sage es mir immer wieder. Ich bin die Mutter eines Kindes, das gestorben ist. Ich gehöre zu einem Klub, in dem keiner Mitglied sein will. Gott weiß, wie viele Monate es mir einfach nicht in den Kopf wollte. Meine Tochter war weg. Meine Tochter ist tot.

Sie wissen ja nicht, wie es die ganzen Jahre über war. Sie haben ja keine Ahnung, wie es ist, die Mutter eines Mädchens zu sein, von dem man meint, es könnte jeden Tag sterben – so lange, bis sie tatsächlich gestorben ist.

EVE LIM, Lucys Mutter: Schade, dass Sie die Mädchen nie zusammen erlebt haben! Die allerbesten Freundinnen! Lulu und Addy, Addy und Lulu, so nannten sie sich immer. Die Hälfte der Zeit verbrachten sie bei Addison, die andere Hälfte bei uns. Später, als die Mädchen in der Highschool waren, kam Addison öfter zu uns, wegen der Schwierigkeiten bei ihr zu Hause.

Ich bin eine alleinerziehende Mutter, deshalb fand ich es toll, sie bei uns zu haben. Die Mädchen ins Kino zu fahren oder mit ihnen zum Essen zu gehen. Einen anderen Radiosender einzustellen und zu hören, wie sie hinten auf dem Rücksitz kichern. Das war so schön! Ich weiß, dass sich Addison seit diesen Addy-und-Lulu-Tagen sehr verändert hat, aber als ich ihr Gesicht im Sarg sah, konnte ich ihr Lachen in meinem Kopf hören. Wenn sie lächelte, ging die Sonne auf. Was für eine Schönheit. Ich werde sie nie vergessen.

LUCY LIM: Nach dem Gottesdienst liefen Mom und ich erst mal herum wie Zombies. Seit drei Tagen standen wir total unter Schock. Und als wir uns schluchzend bis zu dem Empfang im Untergeschoss der Kirche durchgekämpft hatten, merkten wir, dass sich auch ein paar Medientypen eingeschlichen hatten. Alle wollten sie ein Stück vom Kuchen, und alle stellten tausend Fragen über Addy – über ihr Intimleben, ihren Drogenkonsum, ihre geistige Verfassung, ihre angeblichen Selbstmordversuche, und vor allem: Wo war Zach Frat? Wo war Lincoln Reed? Mein Blick wanderte durch den Raum und ich entdeckte Addys Bruder. Armer Charlie. Ein Reporter redete wie ein Irrer auf ihn ein und ich sah es schon kommen. Ich dachte mir: Oh verdammt, gleich verliert Charlie die Beherrschung. Gleich explodiert er.

JONAH LENOX: Später habe ich zu Charlie gesagt: »Ich wünschte, ich hätte als Erster zugeschlagen. Ich hätte diesem Reporter zu gern den Gefallen getan.« Aber die Sache ist die: Wenn ich kann, versuche ich, mich aus so was rauszuhalten. Meine Oma sagte immer: »Werd bloß nicht wie dein Vater, sonst jag ich dich auch mit dem Gewehr vom Hof!« Deshalb hab ich mich an dem Tag eher zurückgehalten. Ich hatte mir eine Dose Cola mitgebracht und sie mit Whiskey gemischt, um mich zu betäuben, und hielt mich raus. Aber dann fingen Charlie und der Reporter irgendwann an zu raufen und schließlich wurde ein richtiger Kampf daraus und ich musste mich einmischen.

Charlie ist ein kräftiger Kerl und ziemlich jähzornig. Und ich hörte den Reporter sogar noch fragen: »Gab es da nicht so eine Abmachung zwischen Ihrer Schwester und Max Berger?« Und Charlie nur so: »Was hast du gesagt, du Arsch? Was sagst du da? Sag das noch mal!« Und als der Reporter lieber schwieg, packte Charlie einen Stuhl und drückte ihn damit gegen die Wand: »Sag das noch mal! Sag das noch mal!« Wer Addison kannte, hätte eine solche Frage niemals gestellt. Addison stand auf eigenen Füßen. Sie brauchte keinen alten Scheißer wie diesen Kunsthändler Berger, um den Durchbruch zu schaffen.

CHARLIE STONE: Ja, also, der Typ sagte, er sei von der Presse. Jack Soundso. Jack Wichser. Redete über meine Schwester, als wären sie die besten Freunde gewesen. Als wäre er am Boden zerstört. Ich war erst kurz vorher von einem Football-Trainingscamp unten in Pensacola nach Hause zurückgerufen worden und stand noch voll unter Strom. Meine Schwester war tot. Meine Schwester! Direkt neben uns stand der Stuhl. Ich weiß, alle sagen, ich hätte ihn damit gegen die Wand gedrückt. Aber es war eher so, dass ich ihn damit gestoßen habe, und er fiel dann gegen die Wand und fuchtelte mit den Händen herum und traf mich dabei im Gesicht. Da schlug ich zurück und landete einen perfekten Haken. Manchmal kann so ein perfekter Haken halt auch ganz schön erleichternd sein. Und dann kam Jonah Lenox – der Lenox, wie Addison ihn immer nannte, er war ihr Freund in der Highschool – und mischte sich ein. Lenox wirkt immer ganz ruhig, aber wenn er provoziert wird, kämpft er bis zum bitteren Ende. Und hast du nicht gesehen, schrien alle herum und zogen und zerrten, und ich schlug mit den Fäusten um mich und wollte gar nicht mehr aufhören … aber ich war froh über die blauen Flecken. Die blauen Flecken, die man sehen konnte, meine ich.

Styling von Beverly Feirtag • Fotos von Christopher Bacardi

Addison ist es gewöhnt, dass man sie anstarrt. Jetzt gerade zum Beispiel schaue ich sie an, so wie die meisten anderen Gäste im ständig überfüllten Café Rouge im West Village, die alle so furchtbar lässig tun. Wir sind hier auf einen Kaffee verabredet, bevor sie Richtung Uptown schwirrt zur Frost Gallery, um auf die Vernissage eines »neuen Freundes« zu gehen. Stone ist pünktlich, was mich überrascht, obwohl es mich eigentlich nicht überraschen sollte. Groß und schlank in einer schwarzen Hose und einem perfekt verwaschenen dunkelgrauen T-Shirt. Trotz ihrer schlanken Linie bestellt sie sofort gut gelaunt einen Eiskaffee und einen glutenfreien Cupcake mit Schokoladenfüllung. »Weiß eigentlich jemand, was Gluten überhaupt ist?«, fragt sie. »Ich nicht, ich weiß nur, dass man es nicht essen soll.« Stones Appetit auf Süßes ist ansteckend. Ich bestelle zu meinem grünen Tee noch ein Stück Zitronenkuchen. Doch solche süßen Sünden sind das passende Vergnügen für eine junge Frau mit einem übergroßen Appetit auf diese Stadt. Stone ist ziemlich angesagt, seit sie letzten Sommer mit ihrem Gemälde Talking Head Aufsehen erregte, und gilt als der neue Stern der Berger/Fratepietro-Künstlerschmiede. Und jetzt wollen wir mehr über sie erfahren. Am besten gleich alles. Wer ist diese Addison Stone? Zuallererst sieht sie sich als Künstlerin. »Ich bin jung, ich studiere noch. Der Weg ist noch weit«, gibt sie zu, aber sie scheint selbst zu wissen, dass diese Beschreibung nicht ganz zutreffend ist. Stone, die hauptsächlich mit Öl auf Leinwand malt, zeigt einen Porträtstil, der einerseits an eine vergangene Zeit erinnert und zugleich eine Dekonstruktion dieser Art von Malerei darstellt. Mit kühnen Pinselstrichen zaubert sie kraftvolle, schöne

(Fortsetzung auf S.128)

Ich bin jung, ich studiere noch. Der Weg ist noch weit.

JACK FROEK, Blogger und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Last Call: Sagen wir mal so: Auf der Beerdigung trieben sich nur Deppen herum. Lauter Kleinstadtspießer. Die hätten sich gegenseitig ein Bein gestellt, um einen Erdnussflip am Boden zu ergattern. Genau solche Hinterwäldler, die in ihrer Freizeit gern Schwule totprügeln. Und zu meiner Verteidigung: Ich kannte Addison Stone wirklich aus New York. Ich konnte ihr jederzeit ’ne SMS schicken: Und, was geht, Stone?, und sie antwortete mir dann so was wie: »Überraschungs-Auftritt« von DJ Generate im Green Monkey, aber erst ab Mitternacht. Und ich war dann da. Ich holte mir ein Zitat von ihr, machte heimlich ein Foto, das gar nicht so heimlich war. Sie liebte es, so bekannt zu sein. Last Call brachte immer wieder Storys über sie und bekam dafür exklusive Schnappschüsse, vor allem als sie dann mit Zach Frat zusammen war. Das ist Carine Fratepietros Sohn, wussten Sie das? Echte New Yorker High Society. Nachdem Zach und Addison zusammengekommen waren, sah man gar nichts mehr vor lauter Blitzlichtern.

Addison ließ sich tragen von dieser Liebe. Wir brauchten sie und sie brauchte uns. Sie ging großzügig um mit ihrem Privatleben, zum Beispiel schrieb sie kostenlos Berichte für uns, einfach nur so zum Spaß, darüber, was sie zum Frühstück aß und wo sie gerne Schuhe oder Künstlerbedarf kaufte. In der Redaktion nennen wir Leute wie sie »Style Checker«. Leute, die man beachten sollte. Gleichzeitig verweigerte sie sich der Selbstvermarktung über Plattformen wie Facebook oder Instagram. Sie fand es völlig in Ordnung, wenn über sie geredet wurde, aber sie wollte das Gerede nicht in Gang setzen.

Die wichtigste Nachricht war: Zach Fratepietro und Lincoln Reed kamen nicht zur Beerdigung. Keiner von ihnen stand in diesem schäbigen Kirchenkeller herum, mit einem Teller Grillfleisch und Brot in der Hand. Dafür waren alle anderen da: Max Berger, die Lutz-Brüder, und sogar der halbe Familienclan der Broyards und der Galarzas hatte sich nach Peacedale begeben. Nur Stones Exfreunde fehlten! Und ich hatte einen Tipp bekommen, sie hätte an dem Abend vor ihrem Tod nicht nur mit einem von ihnen Streit gehabt, sondern mit beiden, mit Lincoln und Zach!

Klar war es nicht ganz in Ordnung, wie ich das mit Charlie angepackt habe. Aber dieser Gorilla gehört echt hinter Gitter! Er hat mir das Schienbein gebrochen und mir ein blaues Auge verpasst. Hat er Ihnen das erzählt? Den Rest des Tages saß ich in diesem Provinz-Krankenhaus rum und wurde geröntgt. Die Rechnung habe ich dem Typen geschickt. So ein Wichser. Hab allerdings auch nicht erwartet, dass er sie bezahlt.

LUCY LIM: Der Empfang hinterher war dann der emotionale Overkill. Addys Mutter musste sich auf eine Liege im Pfarrbüro legen. Es war gesteckt voll. Ich weiß noch, dass es mir fast vorkam wie eine Horrorversion des Abschieds, den wir durchmachten, als Addy nach New York zog. Einmal hatte sie ihre Mutter zu sich eingeladen, um ihr zu zeigen, dass es ihr gut geht. Weil ihre Mom auch Geburtstag hatte, führte sie uns zum Abendessen aus und nahm uns dann zu einer Filmpremiere mit und anschließend zu einer abendlichen Gartenparty in Williamsburg. Überall drängten sich die Menschen um sie, sie liebten sie und suchten ihre Nähe.

Addys Mutter genoss den Abend sehr. Und ich auch. Es war magisch. Das chaotische Gegenstück zu dieser Feier im Untergeschoss der Kirche. Auch wenn Addy selbst das bestimmt sehr lustig gefunden hätte. Ich kann fast hören, wie sie zu mir sagt: »Lulu, meine Beerdigung war echt krass! Alle waren da! Und es gab sogar eine Schlägerei!« Das hätte ihr supergut gefallen.

Addison Stone, Maureen Stone und Lucy Lim, mit freundlicher Genehmigung von Brian Bedrino

JONAH LENOX: Am Nachmittag fuhr ich alle Orte ab, wo wir zusammen gewesen waren. Die Scheune von meiner Großmutter, unsere alte Schule, die alte Molkerei. Ich ließ die Verliebtheit noch einmal aufleben. In der alten Molkerei habe ich sie zum ersten Mal geküsst. Es war Oktober. Ich hatte eine Kugel Honigeis gekauft, die wir uns teilten.

Wir saßen draußen auf der Steinbank. Addison sagte: »Ich finde es toll, Eis zu essen, wenn es kalt ist. Kälte hoch zwei!« Sie legte die Beine auf meinen Schoß. Ihr Mund war klebrig sahnig und schmeckte nach Honig. Ich wollte sie eine Million Dinge fragen, so persönliche Sachen wie: »Was macht dir Angst. Bist du noch Jungfrau? Was würdest du tun, wenn du nur noch einen Monat zu leben hättest? Was wäre deine letzte Mahlzeit? Was bedeutet der Himmel für dich? Mit welchem Wort würdest du dich beschreiben?«

Aber am meisten wollte ich sie küssen. Von ihren Küssen bekam ich Hunger nach mehr. Ich war total verrückt nach ihr, körperlich, geistig, einfach nach allem. Ich konnte Addison näher an mich heranlassen als sonst irgendeinen Menschen auf der Welt, obwohl ich mich dann jedes Mal nach noch mehr sehnte. Deshalb war ich auch so froh, dass ich diese beiden Idioten Zach und Lincoln auf der Beerdigung nicht sehen musste. Das einzig Gute an dem Tag war, dass die nicht auftauchten.

MAUREEN STONE: Irgendwann waren alle weg. Die Kids, die in unserem Vorgarten campiert hatten, packten ihre Sachen zusammen und kehrten in ihr eigenes Leben zurück, und Charlie zog los, um sich mit Freunden zu treffen, und Roy schlich sich ins Bett. Und mein Mädchen war auch weg.

Wissen Sie, dass man nie einen Abschiedsbrief gefunden hat? Ich habe gelesen, bei der Hälfte aller Selbstmorde gibt es einen Brief. Addison hätte bestimmt einen dagelassen. Als Mutter weiß ich das. Ich weiß es ganz tief drin. Deshalb kann ich einfach nicht glauben, dass sie es mit Absicht getan hat. Nein. Ich will es nicht glauben. Und ja, ich finde es seltsam, dass diese beiden jungen Männer sich nicht blicken ließen. Vor allem Lincoln. Den ganzen Tag habe ich nach ihm Ausschau gehalten und gehofft. Aber er kam nicht.

Dabei hatte ich tausend Fragen an ihn.

Exit: Roy, gemalt von Addison Stone, mit freundlicher Genehmigung der Saatchi Gallery

ROY STONE, Vater: Dann werde ich wohl auf die Art in die Geschichte eingehen. Als Addison Stones Vater. Wegen dem und wegen ihrem Gemälde von mir, Exit: Roy. Ich habe gehört, es hängt irgendwo in London. Ich hab kein Problem damit, dass ein Bild von mir berühmt ist. Es kümmert mich einfach nicht groß. Vielleicht fahre ich eines Tages mal nach London und schaue, ob mich dort jemand erkennt. Ich habe auch kein Problem damit, dass ich selbst berühmt bin.

Wie wär’s, wenn wir mit einem kleinen Überblick über den Familienstammbaum anfangen? Meine Familie stammt ursprünglich aus Lowell in Massachusetts. Sie lebten schon seit Generationen dort und arbeiteten in der Textilindustrie. Hauptsächlich als Spinner. Baumwollstoffe, Leinen, Wolle – meine Vorfahren zogen mit den Spinnereien mit, die entlang des Fall River gebaut wurden, bis diese Arbeit vor Jahren verschwand und unser einst so großartiges Land nach Indien outgesourct und von Chinesen übernommen wurde. Ich meine, heutzutage findet man in Amerika doch kein einziges Produkt mehr, das von Amerikanern hergestellt wurde, oder?

Als mein Vater Ethan Stone noch ein Junge war, in den Fünfzigerjahren, und sogar noch in den Siebzigerjahren, als ich aufwuchs, gab es jede Menge Arbeit in den Textilfabriken. Die meisten aus meiner Sippe, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, alle arbeiteten irgendwann einmal in der Mantelfabrik in Burlington. Meine Leute zogen uns drei Kinder in Burlington groß und später dann in Bristol. Ich war der Klugscheißer, der einen anderen Weg einschlug. Machte gleich nach dem College den Abschluss zum Buchhalter. Ich war fast schon ein Genie in Mathe. Und wissen Sie was? Addison hat ihr Talent hundertprozentig von meiner Ururgroßmutter Dorothea Egglington geerbt, die alle nur Dottie nannten.

Dorothea »Dottie« Stone, geborene Egglington, Fall River 1913. Fotograf unbekannt. Mit freundlicher Genehmigung von Roy Stone

Die Art und Weise, wie Addison eine Zeichnung entstehen lassen konnte, wie sie ein Muster oder einen Umriss zeichnete, der das Auge erfreute und einen zum Nachdenken brachte … also, genau so war Dottie auch. Sie war eine Berühmtheit und sie sah Addison sogar ein bisschen ähnlich. »Schwarze Iren«, so nennt man so ein Aussehen bei uns. Sie konnte Muster für Quilts und Kragen entwerfen, da war sie ihrer Zeit weit voraus. Und mütterlicherseits waren unter Addisons Vorfahren fast nur puritanische Lehrer und jede Menge flohzerbissene katholische Nonnen und kanadische Holzfäller. Aber verraten Sie bloß Maureen nicht, dass ich das gesagt habe.

MAUREEN STONE: Meine Großmutter, Addisons Urgroßmutter, Renee Arsenault, war Addisons Ebenbild. Nicht äußerlich, aber von der Seele her. Ein richtiger Wildfang. Sie war frankokanadischer Abstammung, Dichterin und Abenteurerin und schon zwei Mal verheiratet, bevor sie meinem Großvater begegnete. Mit einem ihrer Männer hatte sie das ganze Umland der Großen Seen bereist. Selbst Fische gefangen, sich von den Früchten des Landes ernährt, bis sie sich auf einmal einer Theatertruppe in Vermont anschloss, den Portland Players. Sie trat in einer Inszenierung von Only an Orphan Girl auf, die so beliebt war, dass sie fast ein Jahr lief. Sie war sehr unkonventionell, meine Granny Renee. Addison kam genau nach ihr. Lassen Sie sich da von Roy bloß nichts einreden.

Renee Arsenault, circa 1952, mit einem unidentifizierten Mann, möglicherweise ihrem zweiten Ehemann. Fotograf unbekannt. Mit freundlicher Genehmigung von Maureen Stone

ROY STONE: Sobald die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, entschied Maureen, sie brauche eine Veränderung, weg von Bristol, und begann mir Peacedale schönzureden, die Schulen und die Krankenhäuser und die Kinderbetreuung und so. Dinge, die einer Mutter eben wichtig sind. Für mich gab es keinen Grund, in Bristol zu bleiben. Außerdem, was nützt es einem Mann, mit seiner Frau zu streiten?

Dann fand Maureen das Haus mit dem weißen Lattenzaun und ich nahm das so hin. Fand eine Stelle in der Buchhaltung einer Firma. Die Arbeitszeiten waren erträglich und die Zusatzleistungen ganz ordentlich. Da war Allison gerade fünf geworden. Damals nannten wir sie noch Allison. Wissen Sie, dass sie ihren Namen aus eigenem Antrieb geändert hat? Wir hatten sie nach meiner Mutter getauft. Allison Grace Stone. Allison kam von mir, und Grace, so hieß Maureens Mutter. Aber das war wohl nicht gut genug für sie. Klar hat es mich enttäuscht. Addison – was ist denn das für ein Name?

In Peacedale ließ es sich gut leben. Im Bramble Circle, wo wir wohnten, gab es freundliche Nachbarn und ordentliche Vorgärten. Wollen Sie wissen, was ich nach unserem Einzug als Erstes tat? Ich spannte eine Hängematte auf. Wie gesagt, ich bin leicht zufriedenzustellen. Ich lebe mich überall ein.

KARL TAEKO: Meine Frau Ele und ich wohnten gegenüber von Roy und Maureen Stone. Heute leben sie nicht mehr hier, aber als sie einzogen – das muss jetzt fünfzehn Jahre her sein –, marschierte Ele plötzlich in unserem Garten auf und ab wie ein Gladiator. »Ole wale, pupule, pupule!« Das ist Hawaiianisch und bedeutet so viel wie: »Hier ist was faul.«

»Ach was, das ist doch eine nette Familie«, sagte ich zu ihr. »Wieso regst du dich so auf?«

Aber Ele ließ sich nichts vormachen. Von Anfang an war sie überzeugt, dass Maureen eine unglückliche Frau war. Dass Roy zu rücksichtslos war. Und die Tochter sei die schlimmstmögliche Kombination aus beidem: der dunkle Geist beider Eltern. Ele bat sogar unseren Schamanen, ein la’au kahea für unser Haus durchzuführen, und hängte Klangspiele auf unserer Veranda auf, um ihre Gedanken von diesen Verrückten abzulenken – den pupule, wie sie sie nennt. Die Klangspiele hängen immer noch da.