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„Das Verhör“ ist die neue fesselnde Low-Fantasy Kurzgeschichte in der Gegenwart einer Stadt namens Night Hollow – eine Stadt, die den Ruf hat, Dinge zu verschlucken: Erinnerungen, Menschen, ganze Nächte. Diese Geschichte erzählt von einem personifizierten Grauen nach einem Blutbad. Doch die Polizei weiß nicht, wen sie da hat ... und welche diabolische Absicht hinter der Greueltat steckt. Täter trifft auf Detective in einem Verhör ... oder ... doch nicht?! Ungleiche Charaktere treffen erneut aufeinander in diesem literarischen Snack für unterwegs. Hier bekommt die Realität einen Riss ...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Ein abgelegenes Waldstück, im Nichts gefangen, zehn Meilen vor der Stadt. Der Horizont kündigt es an: Ein Gewitter zieht auf. Es grollt und grummelt in der Ferne – dumpf und bedrohlich. Für Sekundenbruchteile hellt es auf, dann verschlingt die Dunkelheit alles erneut. Scharfe Blitze zucken durch den Himmel, spalten für Augenblicke die Nacht. Der finstere Nachthimmel hat seine Schleusen geöffnet. Regen prasselt unaufhörlich auf den Asphalt der Straße. Unzählige Regentropfen verschmelzen unermüdlich zu Pfützen, zu Strömen.
Ein leistungsstarker Motor zerreißt die Nacht. Idylle und Technik ergeben ein ungleiches Paar, prallen aufeinander und zersplittern. Ein Lichtkegel huscht zwischen den Bäumen abseits der Straße hindurch, vertreibt die Schatten. Äste und Sträucher werfen bizarre Silhouetten, fliehen angsterfüllt in die Nacht, aufgeschreckt in ihrem düsteren Dasein.
Ein Transporter rast durch die Nacht und macht schnelle Meter in Richtung Stadt. Ein schwarzer Koloss, ein Ungeheuer auf vier Rädern. Die weiße Aufschrift trägt die Nummer „GAT-08“. Es prangt auf dem Dach und an der Doppeltür hinten. Vorn zwei Sitze – für Fahrer und Schütze. Hinten finden bis zu sechs Personen Platz. Blickdicht. Schallisoliert. Kugelsicher – eine mobile Festung.
Metall kreischt, das Getriebe scheppert. Der Gang findet seinen Weg ein weiteres Mal nicht.
„Ruhig, Mendez, wir sind fast da!“, mahnt der Beifahrer seinen Nebenmann mit kritischem Blick als er sich aufgrund der ruppigen Fahrweise am Armaturenbrett abstützt.
„Leck mich, Johnson!“, platzt es forsch aus Mendez heraus, die Worte wie ein Schlag. „Haben sie diese Bestie gesehen? Dieses Ding … mit all den Ketten? Seine Augen … diese unheimlichen Augen. Das ist … kein Mensch.“ Er greift nach dem hölzernen Kreuz Jesu Christi, das mit einem Rosenkranz an der Mittelkonsole baumelt. Seine Finger zittern, als sie über die kleinen Holzkugeln gleiten. „Kein Mensch ...“, flüstert er unheilvoll, als ob er sich selbst überzeugen wolle.
Mit einem Ruck schiebt Johnson den kleinen Sichtschutz in der Zwischenwand zur Seite – ein Blick auf die Ladung. Das schwache Licht im hinteren Fahrzeugteil schaltet sich ein. Die Lampe wippt. Da ist der Mann. In fester Umklammerung aus Korsett und Eisen. Mehrere Schlösser verbinden Ösen mit Ketten, die dumpf immer wieder gegen Metall schlagen. Fest verbunden mit der Fahrzeugwand. Und dennoch sitzt er da lässig – beinahe überheblich. Seine Hände, fest mit breiten Kabelbindern umschlossen, ruhen in seinem Schoß.
Sein Kopf wird von einem schwarzen Sack umhüllt. Polizei-Standard. Eingesetzt, wenn Gefangene als besonders gefährlich gelten. Oder brutal. Blickdicht, jedwede Identität verschluckend. Sein Kopf ist nach hinten gelehnt. Er ist etwa 1,85 m groß, muskulöser Oberkörper. Die schwarze Hose strafft sich am Oberschenkel und bildet einen schützenden Schirm über den eleganten Business-Schnürern. Das weiße Hemd klafft am Hals auf, die weiße Krawatte hängt schlaff wie ein zerfledderter Faden. Die Ärmel sind präzise über den Ellenbogen hochgekrempelt. Auf seiner Haut ziehen sich großflächig aufwendige Tätowierungen alter Schriftzeichen – das Blut hat sie jetzt zu einem verwischten Gemälde gemacht. Eins geworden mit seinem oder dem Blut der getöteten Kollegen. Zwei mattschwarze Ringe an der rechten Hand wirken wie Signaturen dunkler Omen. Sein Daumen umkreist diese spielerisch. Johnson kann seinen Blick von ihm nicht abwenden.
„Ja ja ja …“, erklingt es, die Stimme träge, fast lasziv. Ein Atemzug, tief und lang, als koste ihn jede Silbe Überwindung – oder als gäbe er ihnen bewusst Gewicht. „Bin ich. Ja, habe ich. Nein, diese nicht. Durchaus. Nur für jenen einen noch. Und weil ich es euch gestattet habe.“ Dann hebt er den Kopf. Ein Impuls. Eine Bewegung, die kein Geräusch macht, aber alles verändert.
Er blickt. Nicht mit Augen, sondern mit etwas dahinter. Der Sack bleibt schwarz. Und doch ist es, als wäre er durchsichtig geworden. Johnson spürt den Blick, bevor er ihn denken kann. Eiskalt. Schwarz. Ohne Boden. Ein Schauer kriecht ihm die Wirbelsäule hoch, setzt sich fest wie Frost. Unerbittlich.
„Hallooo, Officer Johnson – sind wir schon daaa?“ Die Stimme klingt sanft, beinahe freundlich – doch jeder Laut wirkt gezielt gesetzt, überbetont. Die Vokale dehnen sich genüsslich aus, als wolle er jede Sekunde auskosten – oder sie quälend verlangsamen. Es ist keine Frage – es ist ein Spiel.
Plötzlich reißt der Mann seine Arme hoch – eine schnelle, unvorhersehbare Bewegung, wie ein Zucken aus tiefster Dunkelheit. Die Ketten schnappen und halten ihn, als er seine Hände krampfhaft zu einem Würgegriff formt. Ein markerschütterndes Klirren übertönt sogar das Motorengeheul. Johnson fährt erschrocken zurück, seine Hand schießt instinktiv zur Waffe. Für einen Wimpernschlag hängt die pure Bedrohung in der Luft. Dann, ebenso abrupt, kehrt wieder Stille ein. Als sei nichts geschehen. Das Monster wird gehalten.
Er beginnt unter dem Sack zu lachen. Zuerst leise, dann steigert es sich zu einem lauten, aufgeregten Lachen – exzentrisch, fast manisch, als wäre der Wahnsinn selbst in seinen Adern. „Halt dein dummes Maul!“, brüllt Johnson, der Zorn in seiner Stimme so greifbar wie die Wut, die in seinem Innern brodelt. Er schiebt den Sichtschutz zum Transportraum wieder zu. „Los, fahr!“, faucht er Mendez an. „Ich habe nicht gerade wenig Lust, diesem Widerling hier im Wald eine Kugel zu verpassen.“ Mendez nickt. Doch Johnson verschweigt ihm den Gedanken, der sich wie ein Schatten in seinem Kopf festsetzt: Woher kennt dieser Bastard seinen Namen? Er kann nur das Namensschild auf der Uniform gelesen haben. Beim Reinsetzen. Nur das Namensschild. Ganz sicher. Oder … doch nicht?
Das Gewitter tobt über der Stadt. Eingebettet zwischen den schroffen Ausläufern der Shadow Ridge Hills und dem endlosen Dickicht des Ravenpine National Forest, liegt Night Hollow, Oregon, wie ein vergessenes Flüstern zwischen den Seiten eines alten Buches. Dichte Wälder, nebelverhangene Landstraßen und ein Himmel, der selten ganz klar wird – hier endet die Zivilisation und es beginnt das, wofür Karten keine Worte haben.
Im 20. Jahrhundert war dies die florierende Hochburg für Rüstungsgüter im Zweiten Weltkrieg, später für Schwerindustrie. Unzählige Arbeitsplätze und eine Viertelmillion Einwohner – ein Kraftzentrum mit entsprechendem Polizeiapparat. Das alte Stahlwerk und die verlassene Schiffswerft – jetzt ein beliebter Ort für Riten, Leichenfunde und Dinge, über die nicht gesprochen wird – am Darkwater River, der in den Lake Eira mündet, sind Relikte aus den Tagen vor Umweltauflagen, Globalisierung und Korruption.
Der Stadtkern ist geprägt von alten viktorianischen Häusern, verblichenen Schildern, rostigen Tankstellen und kleinen Diners, in denen der Kaffee immer nach Asche schmeckt. Die Seitenstraßen verlieren sich schnell in namenlosen Pfaden, die irgendwo im Nirgendwo enden. Laternen flackern dort, wo sie überhaupt noch leuchten.
Night Hollow hat den Ruf, Dinge zu verschlucken – Erinnerungen, Menschen, ganze Nächte. Wenn ein Sturm aufzieht, klingt der Wind wie eine Warnung. Die rund 37.000 Bewohner sind freundlich, aber reserviert. Wer neu in die Stadt kommt, wird höflich empfangen – und mit stummen Blicken gemustert. Es ist kein Ort, an dem man strandet – es ist einer, in den man gerufen wird. Doch nicht jeder, der kommt, geht auch wieder.
Der Regen hält sich nicht mehr zurück. Langsam rollt der Transporter auf ein Gebäude zu, dessen riesiges, dunkelblaues Tor bereits offensteht. Es ist ein grauer, gedrungener Betonbau aus den späten 70ern, der ein Stück außerhalb des Zentrums ruht: das „NHPD“ - oder auch „Night Hollow Police Department“. Funktional, unfreundlich, flurbeleuchtet mit grellem Neon, das brummt, wenn es regnet – also fast immer. Der Funkempfang ist schlecht, die Telefonleitungen rauschen, und jeder Cop dort hat mehr Geschichten auf der Seele als in Dienstberichten erwähnt wurden. Es wurde nie zurückgebaut. Offiziell, wegen regionaler Verantwortung für Umlandgemeinden – inoffiziell, weil es Spezialeinheiten für Gefahrgut, Sektendelikte und Forensik gibt. Den heutigen Ruf hat es sich für seine Spezialverhöre erarbeitet. Denn die Leute hier wissen, dass man manche Dinge besser „anders“ fragt – aber noch weniger davon aufschreibt.
Es ist kurz nach Mitternacht als der Transporter zum Stehen kommt. Das riesige Tor fährt langsam zu. Metallene Verriegelungen schieben sich in die Konstruktion, das Quietschen frisst sich durch den Lärm des Regens und rastet schließlich ein – hart und endgültig. Ein uniformierter Mann in fester Regenbekleidung nähert sich der Fahrerseite. Mendez kurbelt das Fenster herunter.
„Hey Leute, ihr bringt uns also dieses Prachtexemplar. Wir haben schon gehört, was in Shire los war. Oh man, wisst ihr schon, wen es erwischt hat?“