Das Vermächtnis des Künstlers - Gordon McBane - E-Book

Das Vermächtnis des Künstlers E-Book

Gordon McBane

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Teil 1 der mitreißenden Mystery-Serie: Eine Reihe mysteriöser Mordfälle führt George Mallory nach Venedig Dr. George Mallory, Dozent für Psychologie an der Universität von Virginia, glaubt nicht an paranormale Phänomene. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, deren natürliche Ursachen ans Licht zu bringen. Als er einen Brief aus Venedig erhält, in dem ihm die Kuratorin eines venezianischen Kunstmuseums von einer seltsamen Serie von Todesfällen berichtet, ist seine Neugier geweckt. Die Fälle scheinen miteinander verknüpft zu sein, denn alle Opfer besaßen ein Gemälde des Künstlers Bragolin. Man erzählt sich, dass den Malereien ein Fluch anhaftet, der die Eigentümer in den Wahnsinn, manchmal sogar in den Tod treibt. George macht sich auf den Weg, um dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Er ahnt jedoch nicht, in welch große Gefahr er sich dadurch begibt … Das Buch ist der Auftakt einer Trilogie. Von Gordon McBane sind bei Midnight by Ullstein erschienen: Das Vermächtnis des Künstlers (Teil 1 der Bragolin-Serie) Die Maske der Angst (Teil 2 der Bragolin-Serie) Schatten über Venedig (Teil 3 der Bragolin-Serie) Leserstimmen: Atmosphärisch und spannend - keine Lektüre für zwischendurch ... aber auf jeden Fall lohnenswert! (milanistin auf Amazon) Klare Empfehlung! Mysteriöse Todesfälle in ganz Europa halten den auf übersinnliche Phänomene spezialisierten Psychologie-Professor Dr. George Mallory und die Kunsthistorikerin Josephine Canino auf Trab. (büchermensch auf Vorablesen)

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Der AutorGordon McBane, geboren 1988, stammt aus Schottland, wuchs aber am Niederrhein auf. Nach dem Abitur zog es ihn zunächst nach Hong Kong, wo er knapp ein Jahr lebte und Südostasien bereiste. Anschließend absolvierte er bis 2012 eine kaufmännische Lehre. Daraufhin studierte er bis 2015 Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit einigen Zwischenstopps in Berlin und Brüssel. Um seine Ausbildung zu finanzieren, arbeitete er bereits früh im Journalismus, u.a. als Redakteur bei der Westdeutschen Zeitung, freier Videojournalist beim ZDF und Pressereferent für die Uni Düsseldorf. Hauptberuflich in der PR-Branche tätig, schreibt er auch weiterhin als freier Journalist und Autor.

Das Buch

Teil 1 der mitreißenden Mystery-Serie: Eine Reihe mysteriöser Mordfälle führt George Mallory nach VenedigDr. George Mallory, Dozent für Psychologie an der Universität von Virginia, glaubt nicht an paranormale Phänomene. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, deren natürliche Ursachen ans Licht zu bringen. Als er einen Brief aus Venedig erhält, in dem ihm die Kuratorin eines venezianischen Kunstmuseums von einer seltsamen Serie von Todesfällen berichtet, ist seine Neugier geweckt. Die Fälle scheinen miteinander verknüpft zu sein, denn alle Opfer besaßen ein Gemälde des Künstlers Bragolin. Man erzählt sich, dass den Malereien ein Fluch anhaftet, der die Eigentümer in den Wahnsinn, manchmal sogar in den Tod treibt. George macht sich auf den Weg, um dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Er ahnt jedoch nicht, in welch große Gefahr er sich dadurch begibt …Das Buch ist der Auftakt einer Trilogie.Von Gordon McBane sind bei Midnight by Ullstein erschienen:Das Vermächtnis des Künstlers (Teil 1 der Bragolin-Serie)Die Maske der Angst (Teil 2 der Bragolin-Serie)Schatten über Venedig (Teil 3 der Bragolin-Serie)

Leserstimmen:Atmosphärisch und spannend - keine Lektüre für zwischendurch ... aber auf jeden Fall lohnenswert! (milanistin auf Amazon)Klare Empfehlung! Mysteriöse Todesfälle in ganz Europa halten den auf übersinnliche Phänomene spezialisierten Psychologie-Professor Dr. George Mallory und die Kunsthistorikerin Josephine Canino auf Trab. (büchermensch auf Vorablesen)

Gordon McBane

Das Vermächtnis des Künstlers

Ein Venedig-Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Februar 2018 (2)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © FOTOWEST  ISBN 978-3-95819-144-0  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inspiriert von einer wahren Begebenheit

Rotherham, England – halb fünf am Nachmittag

Humphrey Murray löste den Kronkorken von der Flasche und genehmigte sich einen erfrischenden Schluck Theakston Ale. Er hatte allen Grund, sich das Bier schmecken zu lassen. Trotz des Unwetters, das den Himmel vor seiner Haustür frühzeitig verfinsterte, war die Stimmung im Stadion ungebrochen und würde sich zu wahrer Ekstase entwickeln. Da – schon der nächste Konter!

Kein Abseits! Stapleton hatte von Jesper Olson über den rechten Flügel einen schönen Zuckerpass serviert bekommen und chippte ihn nun gekonnt über die hervorschnellenden Beine von Chris Fairclough, der sich stochernd dazwischenwerfen wollte. Tolle Parade und Abschuss! Nottinghams Keeper Han Segers konnte den Ball auf der Linie parieren, jedoch nicht mehr festhalten. Nachschuss musste folgen, Ballannahme und in die obere rechte Ecke gezielt … Tor! Anschlusstreffer durch Frank Stapleton nach der ersten Versenkung von John Gidman, der dem gegnerischen Hüter von Nottingham Forest keine Chance mehr ließ. Manchester führte bei diesem Auswärtsspiel damit in der ersten Hälfte schon mit 2:0. Humphrey hielt es nicht mehr in seinem Sessel, er riss die Arme in die Luft, ein euphorischer Yeah-Ruf entwich ihm.

Anhänger des Klubs wie er feierten nun ganz ungeniert sich selbst und ihre Mannschaft. Es stand außer Frage, dass man Liverpool und Tottenham hinter sich lassen würde. Aber wenn es dem Team gelänge, dieses Niveau noch bis zum Ende der Saison durchzuhalten, könnte man sogar Everton vom Thron stoßen. Ja, mit diesen prächtigen Kerlen auf dem Platz schien nichts unmöglich. Die aufgeheizte Stimmung im Stadion von Old Trafford drückte sich durchs Klatschen Tausender Hände, grölende Fanchoräle und die begeisterten Kommentare des Moderators aus.

Bis schließlich alle plötzlich verstummten. Auch Humphrey schwieg im selben Moment. Seine Fassungslosigkeit wurde sogleich durch einen Wutanfall abgelöst.

»Ich glaube es einfach nicht!«, entfuhr es ihm. Er schrie laut auf und lief erregt im Wohnzimmer auf und ab, stieß sich dabei den kleinen Zeh am Fußschemel, den er im schummrigen Dämmerlicht nicht mehr rechtzeitig gesehen hatte. Stromausfall! Licht und Fernseher waren zeitgleich ausgeknipst worden. Daran musste dieses scheppernde Gewitter über ihren Köpfen schuld sein. Seit dem Nachmittag kam es von der Küste unaufhaltsam näher, entlud sich nun mit kriegerischem Gebrüll über Rotherham und ließ den späten Nachmittag vorzeitig die Nacht begrüßen. Unter der dichten Wolkendecke war die Sonne vollkommen ausgesperrt.

»Ich fasse es nicht! Ausgerechnet jetzt!«

»Ich … ich schau mal nach dem Schaltkasten«, sagte seine Frau Linda diplomatisch und warf ihr Klatschmagazin hastig weg, in welchem sie gerade noch so vertieft geblättert hatte. Linda wusste, dass Humphrey ein Fußball-Match wichtiger war als ihre Ehe. Und wenn er nicht bekam, was er wollte, konnte Humphrey auch schnell mal zu einem Bogart werden. Sie stand auf, tapste vorsichtig aus dem Wohnzimmer und warf einen Blick durch die beschlagenen Fensterscheiben. Draußen goss es bereits wie aus Eimern, und langsam züngelten die ersten Blitze durch die finstere Wolkendecke wie feurige Schlangen.

Linda wollte nach den Leitungen schauen, eine undankbare Aufgabe, die bei ihren Freundinnen in der Regel von deren Männern übernommen wurde. Denn bei solch alten Bauten war der Schaltkasten noch draußen angebracht. Als sie durch den Matsch zur Außenfassade ihres kleinen, zweigeschossigen Landhauses watete, um dort den Stromkasten zu öffnen, bemerkte sie, dass keine der Sicherungen herausgesprungen war. Allerdings wunderte sie dies nicht, schließlich hatte sie im Vorfeld auch keinen Blitzeinschlag wahrgenommen. Vermutlich gab es Probleme mit dem Umspannungswerk, aber der Notfallstrom sollte sie sicher bald erreicht haben und dafür sorgen, dass Humphrey wieder ein Licht aufginge.

Da sie fürchtete, dass ihr Mann seine durch die unfreiwillige Pause forcierte schlechte Laune nun an ihr auslassen würde, hatte Linda es nicht sehr eilig, ins Haus zurückzukommen. Sie ließ sich lieber etwas Zeit und nahm es sogar in Kauf, dabei durchnässt zu werden. Schon seit Längerem zog es sie immer weniger in die eigenen vier Wände. Doch daran war nicht ausschließlich Humphreys impulsives Verhalten schuld. Linda fühlte sich schon lange nicht mehr wohl in ihrem Heim, und jeder Ausgang war für sie eine willkommene Erleichterung.

Als sie das Haus endlich wieder betrat, musste sie entsetzt feststellen, dass noch immer keine Elektrizität vorhanden war.

»Was ist denn los?«, fragte ihr Mann gereizt.

»Mit der Sicherung ist alles in Ordnung. Es muss am Generator liegen, der wohl noch nicht wieder angesprungen ist.«

»Und was denkst du, soll ich jetzt in der Zwischenzeit machen?«, fragte er herausfordernd. Seine Lippen bebten und entblößten dabei seine krummen Schneidezähne.

»Ich kann doch auch nichts dafür, Liebling.«

»Liebling?«, wiederholte er laut, als hätte sie ihn gerade übelst beleidigt. »Wir seifen gerade Nottingham ein! Und ich bin nicht dabei. Die Jungs brauchen mich. Verstehst du das?«

»Wieso rufst du nicht Duncan an und fragst, ob bei ihm auch der Strom abgeschaltet wurde? Du könntest das Spiel dann dort sehen?«, schlug Linda begütigend vor.

»Du dumme Gans! Wie soll ich ihn denn deiner Meinung nach anrufen, wenn wir keinen Strom haben?«, fragte er verärgert und raufte sich dabei das Haar.

»Tut mir leid, ich dachte nur …«

»Du sollst nicht denken! Und bei diesem Wetter fahre ich auch sicher nicht zu Duncan. Das ist wieder so typisch egoistisch von dir! Verdammt, ich werde morgen wie ein Vollidiot auf der Arbeit aussehen und mir das Spiel von meinen Kollegen erklären lassen müssen! Ich glaube, heute Abend gehe ich früh ins Bett, sofern ich überhaupt ein Auge zukriege«, schnauzte er sie an und dampfte daraufhin wie ein alter Traktor ins Badezimmer, wo er sich wütend einschloss.

Humphrey war nicht immer so zu Linda gewesen. Einst hatten die Murrays eine glückliche Beziehung in gegenseitiger Zuneigung geführt. Mit allem, was dazugehörte. Kennengelernt hatten sie sich, als beide gemeinsam in derselben Emaillefabrik gearbeitet hatten, bevor diese, wie so ziemlich alles in der Stadt, den Bach runterging und geschlossen wurde. Eine Hochzeitsreise nach Malta, später ein eigenes Haus, aber vor allem viele gemeinsame Erinnerungen waren es, was beide miteinander verband. Da hatte es sie auch nie gegrämt, dass sie keine Kinder bekommen hatten, um ihr Glück perfekt zu machen. Beide erfreuten sich bester Gesundheit und hatten mittlerweile Jobs, dank denen sie sorgenfrei leben konnten, wenngleich sie nicht gerade in Geld schwammen.

Doch seit etwa zwei Jahren war die Stimmung in ihrem Haus gereizt. Etwas hatte sich zwischen das Pärchen bugsiert und trieb die beiden langsam auseinander. Humphrey war angespannter und nervöser, ließ sich leicht provozieren und schnell zu etwas hinreißen. Linda hegte deshalb schon seit Längerem den Verdacht, dass er sie hinterging. Aber auch sie kam mit der neuen Situation nicht zurecht. Linda wollte es sich nicht eingestehen, doch in diesem Haus beschlich sie eine gewisse Furcht. Ohne genau zu wissen, wovor sie Angst hatte, ertappte sie sich immer häufiger dabei, dass sie sich beobachtet fühlte und einen nervösen Blick über ihre Schulter warf. Doch nie hatte sie etwas entdecken können. Besonders nachts, wenn sie in ihrem Bett lag, glaubte Linda Schritte von unten zu hören, hatte sich aber nie getraut, der Sache nachzugehen oder ihren Mann darauf anzusprechen. Denn seit Jahren lebte das Paar nun schon in diesem bescheidenen Anwesen, und es war nie etwas vorgefallen. Linda stellte sich die Frage, ob vielleicht nicht das Haus, sondern sie sich verändert hatte.

Nach einer ausgiebigen Dusche kam Humphrey schließlich aus dem Badezimmer und verdrückte noch ein paar Scheiben Weißbrot. Erst jetzt wagte sich Linda wieder hervor. Sie genossen ohnehin kaum noch ein gemeinsames Abendbrot, und wenn doch, verlief es schweigend ohne jegliche Anteilnahme oder Interesse am anderen.

Als Linda schließlich am frühen Abend die Treppe nach oben ins Schlafzimmer nahm, kam sie an jener Stelle vorbei, an der ihr stets bange wurde. An der Wand zu ihrer Rechten hing eine Reihe von Gemälden mit verzierten Rahmen. Alle waren klassische Darstellungen von Stillleben, Landschafts- und Porträtaufnahmen im Stil des Biedermeier mit einem Hauch von schwammigem Impressionismus. Sie zelebrierten Motive verschiedenster Art. Ein Tisch mit ausgekipptem, barockem Tintenfass, daneben die Abbildung eines romantisch verklärten Sonnenuntergangs über einem Weiher. Keine allzu große Kunst und auf der Kulturbörse sicher unter null gehandelt, aber dennoch Kunsthandwerk. Es war eben Kunst für den kleinen Mann – zugegeben: den spießigen kleinen Mann.

Als Linda die Treppe weiter hinaufstieg, erkannte sie die vergilbten Umrisse auf der cremefarbenen Tapete, wo bis vor kurzem ebenfalls noch ein Gemälde gehangen hatte. Linda hatte es persönlich abgenommen, nachdem sie das Bild nicht länger hatte ertragen können, sondern sich irgendwann davor gefürchtet hatte, die Treppe zu benutzen, da sie so unweigerlich daran vorbeihuschen musste.

Auch Humphrey spürte die beklemmende Wirkung, die von den Ölfarben auszugehen schien, erzählte Linda aber nichts davon. Brauchte er auch nicht, sie wusste, dass er abends Albträume hatte und dass diese immer schlimmer wurden. Bei ihr war es nicht anders. Im Schlaf suchten Linda die gleichen Augen heim, welche ihr auch auf der Treppe aufgelauert hatten. Es handelte sich vordergründig um harmlose Pupillen, deren Farbe von Grün bis Blau schwankte. Grün wie ein Smaragd oder Blau wie ein Saphir. Doch im Schimmer des Zwielichts konnte man in der Iris ein Funkeln erkennen. Ein Funkeln, das loderte wie Feuer und doch zugleich von wässriger Traurigkeit erfüllt war. Eine Träne stahl sich über die Lider und kullerte eine weiche Wange hinab. Es waren weinende Augen, aber es waren keine lebenden Augen. In diesen Augen lag nichts Menschliches. Die schwarze Iris war so tief, dass man aus ihr eine dunkle toxische Flüssigkeit wie aus einem Brunnen hätte trinken können.

Es waren diese Augen, die Linda verfolgten. Es war dieses Bild, das sie zusammen mit Humphrey vor zwei Jahren auf dem Wochenmarkt für ein Butterbrot bei einem holländischen Trödler erstanden hatte. Gedacht als passende Ergänzung für ihre kleine Galerie, die sich von der Diele bis zum Ende des Treppenabsatzes an der Empore hinzog. Anfangs hatte Linda sich von dem Bild in keiner Weise bedrängt gefühlt – im Gegenteil. Sie hatte damals sogar an ihren Mann appelliert, es zu kaufen, weil es eine tragische Schönheit in sich barg. Die Augen auf diesem Gemälde hatten in ihr Mitleid hervorgerufen. Doch mittlerweile fühlte sie nur noch Abscheu bei der Betrachtung des suchenden Blicks.

Nachdem sie das Bild angebracht hatten, hatte es langsam und unauffällig begonnen. Erst nach ungefähr zwei Monaten war es zum ersten handfesten Streit zwischen den beiden gekommen, dem Linda aber noch keine Beachtung beigemessen hatte. So etwas passierte in einer Beziehung nun mal, das musste es zwangsläufig in gewissen Abständen sogar. Allerdings hatten sich die Auseinandersetzungen aufgrund banaler Nichtigkeiten gehäuft. Dazu kam das schleichende Gefühl, nicht mehr nur zu zweit in diesem Haus zu leben.

Zum ersten Mal hatte sie es gespürt, als sie nachmittags in der Küche Möhren raspelte, um anschließend eine Suppe zu kochen. Da glaubte Linda, hinter sich Schritte zu vernehmen, aber es war keiner anwesend. In Wahrheit gab es nichts zu hören und nichts zu sehen. Niemand stand hinter ihr. Trotzdem hatte es sich angefühlt, als ob sich etwas bei ihr in der Küche befände.

Als sie schließlich an einem anderen Tag ein Echo aus dem Flur vernahm, das sich unzweifelhaft nach dem Wehklagen eines Kleinkindes anhörte, hatte sie das Gespräch mit ihrem Mann gesucht. Doch dieser hatte in seiner gewohnt grantigen Art von der ganzen Sache nichts wissen wollen.

Damals hatte Linda sich noch gefragt, ob sie sich alles nur einbildete. Doch ein Vorfall ließ diese Ahnung so schnell wieder erlöschen wie ein kleines Feuer, auf das man eine Schaufel Sand warf. Es war jenes Ereignis, bei dem sie das erste Mal das Bild mit den Vorkommnissen in Verbindung gebracht hatte.

Als Linda eines Tages die Treppe nach unten gelaufen war und an dem Bild vorbeikam, schauten sie die Augen plötzlich nicht mehr an. Das Gemälde hing nämlich nicht mehr an seinem Haken, sondern war mit der Abbildung zum Boden auf die Stufen herabgefallen, wobei sie zunächst nur die Rückseite des Rahmens sehen konnte. Sogleich hatte Linda das Bild aufgehoben und sich gewundert, wie es eigentlich hatte herunterfallen können. Denn der Haken an der Wand hatte keine Neigung oder Krümmung aufgewiesen. Ihr Mann war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Haus gewesen, doch konnte sie sich nicht vorstellen, dass er es abgenommen und dann einfach auf der Treppe liegen gelassen hatte. Als Linda das Gemälde schließlich wieder an seinen alten Platz zurückgehängt hatte, setzte auf einmal ihr Atem aus.

Die Augen! Sie hatten ihre Farbe gewechselt. Oder besser gesagt, sie schauten gänzlich anders, als wären sie plötzlich viel älter als vorher. Die Farbe war ihnen entwichen. Es waren leblose, tote Augen. Und für den Bruchteil einer Sekunde hatte Linda geglaubt, dass die Pupillen sich bewegt hätten. Es war kaum bemerkbar gewesen, genügte jedoch, um sie nach all den kleineren Vorkommnissen aus der Fassung zu bringen. Als sie wieder ihre Sinne beisammenhatte, sah das Gemälde aus wie immer. Hatte sie es sich also doch nur eingebildet?

Linda wollte daran glauben, aber dieser kurze Moment der Unsicherheit hatte ausgereicht, um das Bild als Urheber für das morbide Gefühl auszumachen. Es dauerte nicht lange, da sah sie die Augen in ihren Träumen. Sie kamen stetig näher und näher.

Als sie einen Monat später mitten in der Nacht das Weinen eines Kindes aus dem Flur gehört hatte, dort, wo die Treppe zur Galerie hinabführte, hatte sie endgültig die Furcht gepackt. Sie hatte etwas tun müssen.

Da sie sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr an den Augen vorbeitraute, war sie erst am nächsten Tag dazu gekommen, das Gemälde mit einer Tischdecke zu überziehen, um dem stechenden Blick der Augen zu entrinnen. Es war ihr äußerst schwergefallen und hatte sie viel Kraft gekostet, ganz so als hätten ihr die Augen mit etwas Unheilvollem gedroht, wenn sie ihnen die Sicht nähme. Deswegen hatte Linda ihr Gesicht abgewandt und ihre eigenen Augen geschlossen, um den vorwurfsvollen Blick nicht ertragen zu müssen, als sie die Abbildung verkleidete. Doch noch in derselben Nacht hatte sie erneut das leise Wehklagen vernommen. Es hatte sich angehört, als hätte ein Kind sich verlaufen oder seine Eltern verloren, und wimmerte nun einsam und verlassen in sich hinein. Sie war sich zu diesem Zeitpunkt nicht sicher gewesen, ob ihr Mann noch schlief, denn normalerweise schnarchte er dabei tief dröhnend. Nicht aber in diesem Moment. Dennoch hatte sie es nicht gewagt, ihn anzustupsen, sondern wälzte sich in ihrer Decke hin und her, drückte sich das Kissen auf die Ohren und versuchte, das Geräusch und die Angst zu ignorieren.

Am Morgen darauf hatte das Gemälde immer noch an der Wand gehangen, nur die Decke war herabgefallen. Linda hatte Humphrey umgehend darauf angesprochen, doch dieser war ausgewichen und hatte bissig reagiert. Er musste es auch gar nicht aussprechen, denn seine Augen sprachen eine unmissverständliche Botschaft. Sie zeugten von Furcht und der sturen Überzeugung, keine anderen Erklärungen in Betracht zu ziehen, als dass die Decke nicht richtig an dem Bild befestigt gewesen war. Die Tatsache, dass ihr Mann – ein leidenschaftlicher Kunstbanause – eine Möglichkeit gezielt außer Acht ließ, gegen das aus seiner Sicht kitschige Machwerk vorzugehen, überzeugte Linda nur noch mehr, dass dieses Bild verschwinden musste. Humphrey mochte keinen Sinn für Ästhetik haben, aber sicherlich hätte ihn ein verhangenes Gemälde in ihrer Galerie optisch gestört, und er hätte dagegen mit aller Macht gewettert. Ab diesem Zeitpunkt kam Linda langsam der Verdacht, dass etwas mit dieser Malerei nicht stimmen konnte. Es war verrückt, aber der Gedanke ließ ihr von da an keine Ruhe mehr.

Vor zwei Wochen hatte sie das Gemälde deshalb bei Tageslicht in ein Tuch gewickelt und in den Keller verbannt, mit der festen Absicht, es auf dem nächsten Markt zu verkaufen. Sollte sich kein Interessent finden, würde es auf den Müll wandern.

Und tatsächlich hatte der Unfug daraufhin aufgehört. Dennoch sollte das Bild verschwinden, denn seit es im Keller stand, traute sich keiner der beiden mehr hinunter.

Doch nun hatten sie keinen Strom mehr und saßen im Dunkeln. Es waren bereits Stunden vergangen, und Humphrey machte keinen Aufstand mehr, da das Spiel ohnehin längst abgepfiffen war. »Ich werde morgen früh von der Arbeit aus telefonieren und einen Elektriker kommen lassen«, knurrte er, als er sich ins Bett legte.

Das Gewitter war in großen Teilen bereits weitergezogen, aber ab und an leuchteten noch Blitze auf und drangen wie helle Scheinwerfer durch die Gardinen in ihr Zimmer. Neben der Taschenlampe waren sie momentan ihre einzige Lichtquelle. Das Donnern lag weit weg und hörte sich wie das infernalische Trommeln aus einer Höhle an.

Plötzlich vernahm Linda einen merkwürdigen Geruch, eine Art Mischung aus Pech und Harz. Da ihr Mann noch nicht eingeschlafen war, stieß sie ihn mit ihrem Ellbogen an.

»Was ist?«, murrte er.

»Riechst du das auch?«

»Ich riech gar nichts …«

»Die Fenster sind zu, es kann also nicht von draußen kommen.«

»Ich will jetzt schlafen«, entgegnete ihr Humphrey und muffelte sich auf die andere Seite.

Linda beließ es dabei und versuchte ihrerseits einzuschlafen.

Dieser kurze Dialog vor dem Schlafen sollte der letzte Wortwechsel des vormals glücklichen Ehepaares Murray bleiben, denn am nächsten Morgen waren sie beide tot.

Am 4. September 1985 titelte die Sun in einer Schlagzeile:

Mysteriöser Fund nach tödlichem Brand!

Ein Artikel von Paul Hooper

Ein Ehepaar kam in der Nacht vom 1. September bei einem Inferno in seiner Wohnung ums Leben. Es wurde nach Mitternacht von den Flammen überrascht. Humphrey und Linda M. aus Rotherham in Yorkshire lebten bereits seit sieben Jahren in dem Haus, doch für die beiden gab es keine Rettung mehr. Die Feuerwehr konnte nur noch ihre Leichen bergen. Offenbar hatten sie es nicht mehr geschafft, sich durch das Fenster in Sicherheit zu bringen. Dabei wurde nahezu das gesamte Anwesen zerstört und sogar die Kellereinrichtung fiel dem Brand zum Opfer. Allerdings machten die Rettungskräfte in den unteren Räumen eine merkwürdige Entdeckung. Für gewöhnlich arbeiten Feuer sich immer von unten nach oben vor. Doch über die alten Holzbalken und Treppen müssen die Flammen auch ins Untergeschoss gekommen sein. Auf diese Weise waren die Räume größtenteils ausgebrannt. Dort konnten die Einsatzkräfte aber ein völlig unbeschädigtes Ölgemälde sicherstellen. Das Bild, welches das Porträt eines kleinen Kindes mit traurigen Augen darstellt, zeigte keine Anzeichen von Brandeinwirkungen, nicht einmal von Ruß oder Rauch. Der Einsatzleiter Peter Hall erklärt dies dadurch, dass der Keller trotz aller Zerstörungen weniger in Mitleidenschaft gezogen wurde und das Bild deshalb mehr geschützt gewesen sei. Gleichzeitig sei es über eine verdichtete Hartfaserplatte eingerahmt worden, welche besonders resistent gegenüber Feuer sei.

Die Ursache des Brandes konnte noch nicht eindeutig geklärt werden, aber der Ausbruch des Feuers wurde bis in die Küche des Hauses zurückverfolgt. Daher könnte es sich nach Aussagen der Einsatzkräfte um einen Kabelbrand oder ein Problem mit dem Gasofen gehandelt haben. Dennoch hat der Fund des Bildes die Einsatzkräfte stark verunsichert. Immer öfter tauchen Meldungen über Gemälde auf, die im Zusammenhang mit Unglücksfällen stehen – oft mit tödlichem Ausgang. Die Sun bleibt an der Sache dran.

West Pittston, USA – vier Uhr nachmittags

Auf den ersten Blick sah die Chase Street wie jede andere Allee in amerikanischen Kleinstädten aus. Im Grunde hätte sie auch aus einem schwedischen Baumarktkatalog stammen können, wo man mit familienfreundlichen Neusiedlungsgebieten warb, indem man den Betrachter mit den glücklichen Gesichtern frischgebackener Eigenheimbesitzer und Häusern in strahlend weißer Farbe umgarnte. An diese mit Kugelahornbäumen gesäumte, zweispurige Straße schmiegte sich brav Familienhaus an Familienhaus. Der Verkehr lief in ruhigen Bahnen, die Vorgärten waren gehegt und gepflegt. Der Schulbus fuhr vor, die kleineren Kinder spielten auf dem Bordstein, während die Mütter die Hunde Gassi führten.

Nachdem der Bus die Schüler entladen hatte und auf dem Weg zur nächsten Haltestelle war, kam ihm ein ockerfarbener Chevrolet Caprice entgegen. Hinter dessen Lenkrad saß George Mallory, zielstrebig nach einer Hausnummer Ausschau haltend. In dem kleinen Ort West Pittston im US-Bundesstaat Pennsylvania schien alles seinen gewohnt ruhigen Gang zu nehmen. Im Gegensatz zu anderen Gemeinden in der Umgebung des Wyoming Valley konnte der Strukturwandel diesem Ort nichts anhaben. Der Wohlstand vieler Städte in der Region gründete einst auf der Montanindustrie. In älteren Restaurants und Friseursalons fand man noch Fotografien der Männer in den Zechen, ihre Gesichter so schwarz wie das Gefieder einer Krähe. Allerdings hatten sich in der Gemeinde während der Zeit des prosperierenden Kohlebergbaus auch Grubenunglücke zugetragen. Viele Arbeiter wurden in den Minen lebendig begraben, und nicht wenige ihrer Leichen blieben für immer verschollen, verschluckt vom Angesicht der Erde. Aber all das – die guten wie die schlechten Erinnerungen – lag nun schon lange zurück.

George konnte bei seiner Durchfahrt noch die alten Schlottürme in der Ferne erkennen. Aber schon seit langem stieg dort kein Rauch mehr auf, keine Laster standen bereit, um noch Steinkohle abzutransportieren. Aber zumindest in West Pittston hatten sich viele Dienstleistungsunternehmen bilden können, die der Bevölkerung weiterhin Arbeit boten und die Zechensiedlung am Leben erhielten. Die Gruben waren derweil alle geschlossen worden. Und ganz in der Nähe einer jener versiegelten Minen stand ein altes Doppelhaus aus dem 19. Jahrhundert. Genau zu diesem Haus zog es George.

Die weiße Farbe war bereits in Teilen abgeblättert, regenbefleckt und hatte sich in ein hellbraunes Beige verwandelt. Auch die Veranda hatte schon bessere Tage gesehen. Doch es war nicht jener verkrustete Stil, der das Anwesen von seiner Nachbarschaft abhob.

Jahre zuvor hatte das Haus noch eine beschauliche Atmosphäre suggeriert. Es war ein Ort gewesen, an dem man gerne eine Familie gründete und die Kinder aufwachsen sah. Dies hatten sich jedenfalls die Smurls gedacht, als sie 1974 mit ihren vier Kindern, den Großeltern und ihrem Schäferhund eingezogen waren. Und tatsächlich schien ihr Glück perfekt zu sein.

Auch auf George machte das Grundstück einen relativ entspannten Eindruck, als er es das erste Mal sah, während er auf der gegenüberliegenden Seite der Straße parkte. Doch seit mehreren Jahren hatte sich etwas unter dem Dach dieses Hauses zusammengebraut, der Horizont der Smurls sich stetig verdunkelt. Die Familie wurde von unheimlichen Vorfällen heimgesucht. Es hatte damit angefangen, dass die Elektrizität in ihrem Haus anscheinend nur nach Lust und Laune funktionierte, und es ging bis hin zu Berichten von fremden Stimmen, flackernden Lichtern und übernatürlichen Phänomenen, die die Gerüchteküche in der kleinen Ortschaft am Köcheln hielten.

So war das Anwesen, das man seit einiger Zeit nur noch das Smurl-Haunting-Haus nannte, in die lokale Medienberichterstattung gelangt. Man ging davon aus, dass es sich um einen Poltergeist handelte, der die Familie heimsuchte. Womöglich das Gespenst des Vorbesitzers oder die Seelen der verstorbenen Arbeiter? Die Smurls fühlten sich in ihrem Anwesen zunehmend unwohl und fast schon bedroht. Um eine Erklärung und vor allem Lösung für dieses Mysterium zu finden, hatten sie Pfarrer, Dämonologen, Spiritisten und Mystizisten um Hilfe gebeten.

Dies war einer der Gründe, warum es Dr. George Mallory in den verschlafenen Vorort von Pittston verschlagen hatte. Er war Psychologe an der Universität von Virginia. Neben der Soziologie und Anthropologie beinhaltete sein Fachgebiet vor allem die Analyse von Wahrnehmungsstudien, wodurch er als eine Art Sachverständiger für paranormale Phänomene galt. Er hatte bereits viele Fälle jener Art begutachtet, die unerklärlich schienen und Menschen in die Angst – ja, sogar Todesangst – trieben. Doch zählte er sich nicht zu den Voodoo-Priestern und Hexen-Doktoren, wie er viele der selbst ernannten Geisterjäger abfällig betitelte. Er sah sich lediglich als ein Experte auf dem Gebiet der menschlichen Psyche, war überzeugter Atheist und glaubte an die Physik und die Metaphysik. Dass er seine Forschungsschwerpunkte mehr und mehr auf die Parapsychologie gelegt hatte, ging auf seine eigenen Erfahrungen zurück. Er wollte der Thematik den Ruf des Übernatürlichen nehmen. Für ihn gab es immer eine rationale Erklärung für angeblich paranormale Phänomene.

Bei solchen Vorfällen wie im Haus der Smurls stellte er seine Nachforschungen nicht an, um sich wie viele seiner Konkurrenten medienwirksam zu profilieren, sondern weil er den Opfern vermeintlicher Geisterheimsuchungen helfen und wieder ein normales Leben ermöglichen wollte. Wenn er ein persönliches Ziel verfolgte, dann mittels seiner Arbeiten ein weiteres Buch zu schreiben, das den Titel Geist und Geistesgegenwärtigkeit bekommen sollte. Sein erstes Buch Die Maske der Angst hatte sich seinerzeit noch nicht überwiegend mit angeblich paranormalen Vorfällen befasst, sondern zunächst einmal viele Grundlagen für soziologisches Empfinden dargelegt und aufgezeigt, welche Rückschlüsse auf die Welt sich daraus den Menschen eröffneten.

George Mallory war nun angekommen. Hausnummer 328. Obwohl sich bereits sanfte Vorboten des Winters ankündigten, war das Wetter an diesem Nachmittag im November noch so angenehm warm, wie man es sich zu dieser Jahreszeit nur wünschen konnte. Der goldene Herbst schien sich ein letztes Mal aufzubäumen. Ungewöhnlich wenige Wolken zogen über den Himmel, und die Sonne umriss die Schatten in weichen Konturen. George trat den Stummel seiner Zigarette auf dem Asphalt aus und schritt über den kleinen, gepflasterten Weg durch den Vorgarten der Smurls. Man schien bereits auf ihn gewartet zu haben, denn die Eingangstür schwang auf, und heraus trat die Dame des Hauses.

»Dr. Mallory?«, fragte Janet Smurl.

»Ganz recht. Darf ich eintreten?«, entgegnete George unumwunden.

»Aber bitte. Wir haben bereits auf Sie gewartet«, sagte sie lächelnd.

George stieg über die Veranda und trat ein. Sogleich kam Janets Ehemann Jack hinzu und streckte kontaktfreudig seine Hand aus, die George höflich entgegennahm.

»Dr. Mallory, schön, dass Sie es einrichten konnten, den Weg auf sich zu nehmen. Sie wissen gar nicht, welchen Gefallen Sie uns damit tun«, erklärte er verhalten.

»Noch habe ich ja nichts gemacht«, antwortete George amüsiert und musterte die Wohnung. Die Inneneinrichtung war einfach und bescheiden, viele schwere Möbel, dicke Teppiche und Läufer. Es wirkte heimelig, aber konservativ. Über der Türschwelle hing ein kleiner Jesus am Kreuz. Zu den pistazienfarbenen Mustertapeten gesellten sich Blümchengardinen und Leinentischdecken. Jack und Janet Smurl sahen fast wie Geschwister aus, so sehr glichen sie sich mit ihren beiden Kassenbrillen, den kurzen Scheitelhaarschnitten, der bleichen Haut und ihrer schlaksigen Figur. Trotz seines Alters von zweiundvierzig Jahren sah George Mallory fitter und jünger aus als die besorgten Eltern, die aufgrund ihrer Grauhaar-Ansätze etwa in derselben Altersklasse sein mussten. George hingegen war dankbar, dass er sich noch einer dichten, tiefschwarzen Pracht auf seinem Haupt erfreuen konnte, nur hier und da war sie entlang der Schläfe bereits mit einigen silbernen Strähnchen meliert. Seine Frisur wurde dabei von seinem asphaltgrauen Trilby-Filzhut eingerahmt. Die bernsteinfarbenen Augen überdachten schwarze, hervorstechende Augenbrauen. Seine Haut war hellbraungebrannt, was er auf die wohltuenden Sonnenstunden an den Stränden Cape Cods zurückführte, die er bereits als Kind im Urlaub hatte genießen können. Zudem hatte er sich dank des regelmäßigen Sports eine ansehnliche Statur erhalten, auch wenn sie unter dem dunkelgrauen Jackett, das er heute trug, nicht zur Geltung kam. Alles, was er bei sich hatte, waren ein kleiner Koffer und eine Aktentasche. Erst in den geschlossenen Räumlichkeiten bemerkte George, dass an seiner Jacke noch ein wenig der kratzige Hauch seiner Kippen hing.

»Hatten Sie eine gute Anreise?«, fragte Janet.

»Ich habe gut hierher gefunden, danke! Der Ruf Ihres Hauses eilt Ihnen voraus. Ich brauchte nicht viele Leute nach dem Smurl-Haunting zu fragen. Ihre Kinder sind nicht daheim?«, fragte er.

»Nicht direkt, sie sind bei ihren Großeltern nebenan«, antwortete Jack und deutete mit einer einladenden Geste Richtung Küche. »Können wir Ihnen etwas anbieten? Kaffee oder Tee?«

»Einen Earl Grey, bitte. Ähm, hätten Sie was dagegen, wenn ich …?«

»Nur zu«, erwiderte Jack. George zog eine rot-weiße Schachtel seiner geliebten Morley-Zigaretten hervor. Ein schiefes Lächeln zeichnete sich auf Jacks Gesicht ab. »Natürlich, Sie brauchen einen Aschenbecher. Liebling? Wärst du so freundlich?«, wies Jack seine Frau an, die daraufhin in die Küche stakste. »Nehmen Sie doch erst mal Platz. Es war sicher eine lange Reise?«

»Mir tut nur etwas der Rücken vom langen Sitzen weh, aber ansonsten bin ich sehr neugierig darauf, was Sie mir mitzuteilen haben.«

George griff in die Innenseite seiner Jacke und zückte sein kleines Nickelfeuerzeug, um sich eine Zigarette anzustecken. Sofort hing der bläulich-silberne Qualm im Raum, als er an dem Glimmstängel zog und entspannt ausatmete wie ein Indianerhäuptling beim Rauchen seiner Friedenspfeife. Es kratzte, brannte und stach im Hals. Ein schönes Gefühl.

»Sie müssen entschuldigen«, warf Jack ein, »Sie sind nicht der erste Fachmann, den wir gerufen haben. Eine Menge Grafologen, Astronomen und Paralontologen haben bereits unsere vier Wände untersucht. Sie konnten unsere Berichte zwar bestätigen, aber keine Lösungen anbieten.«

»Paralontologen?«, fragte George erheitert, als er am Essenstisch Platz nahm und seinen Hut absetzte. »Meinten Sie vielleicht Paläontologen? Denn Paralontologen gibt es nicht, soweit mir bekannt ist. Und Paläontologen beschäftigen sich mit der Archäologie.«

»Und warum nennt man sie dann nicht Archäologen?«

»Weil Paläontologen nach den Spuren von Dinosauriern graben und Archäologen nach den Spuren von Menschen.«

»Tut mir leid, ich komme da leicht durcheinander. Ich habe nie studiert und kenne mich mit so etwas nicht aus«, erklärte Jack ein bisschen peinlich berührt.

»Halb so wild. Es ist mir zwar ein bisschen schleierhaft, was Grafologen hier zu suchen hatten, aber haben Sie Astronomen vielleicht mit Astrologen verwechselt?«

»Wo liegt der Unterschied?«

»Astronomen wissen alles über die Sterne. Astrologen glauben, dass die Sterne alles über uns wissen«, dozierte George.

»Na ja, auf jeden Fall waren hier irgendwelche –logen … sehr schlaue Leute eben«, entgegnete Jack ausweichend, »aber die konnten uns allesamt nicht helfen.« Zur gleichen Zeit kam Janet mit einem Tablett zurück und servierte den Tee.

»Sehr schlaue Leute? Und was lässt Sie glauben, dass ich besser als meine Kollegen wäre?«, fragte George.

»Nun ja, wir hatten hier noch keinen Psychologen für Geistererscheinungen. Ich habe mich erkundigt, und Sie wurden als der beste Mann auf diesem Gebiet bezeichnet. Vor allem seien Sie der seriöseste und versuchten nicht, den Leuten irgendein Jägerlatein einzubläuen.«

»Vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich einer der wenigen Parapsychologen in Amerika bin. Dieser Forschungszweig ist bis heute noch nicht akademisch anerkannt. Und Sie hoffen, dass ich hier keinen Schamanen-Regentanz aufführe?«

»So in der Art«, erwiderte Jack und musste lachen. Die Atmosphäre schien entkrampft, aber immer noch nicht gelöst. George spürte, dass die Smurls angespannt waren, sich aber darum bemühten, locker und abgeklärt zu wirken. Janet schenkte George eine Tasse schwarzen Tees ein.

»Danke«, sagte er und nahm vorsichtig einen Schluck, da das Getränk noch recht heiß war.

»Nun«, setzte Jack wieder an, »wie gehen Sie denn bei Ihrer Arbeit vor?«

»Ich werde Ihnen zunächst ein paar Fragen stellen. Wenn ich mir über den Sachverhalt im Klaren bin, werde ich das Haus auf etwaige Anomalien untersuchen.«

»Anomalien?«, fragte Janet. »Und wie gedenken Sie das anzustellen?«

»Ich habe meine Methoden. Eigentlich funktioniert es nach dem simplen Ausschlussverfahren. Ich habe mich bereits über Ihren Fall kundig gemacht, soweit es mir im Voraus möglich war«, sagte er, knallte im selben Moment seinen Koffer auf den Tisch und öffnete ihn. »Arthur Conan Doyle ließ durch seinen Meisterdetektiv Sherlock Holmes einst folgende These aufstellen: Wenn man alle logischen Lösungen eines Problems eliminiert, ist die unlogische – obwohl unmöglich – unweigerlich richtig. Ähnlich gehe auch ich vor. Je nach Fall gibt es viele Werkzeuge, um nicht Begreifbares begreifbar zu machen. Temperaturmessgeräte, Lichtsensoren, Magnetfeldscanner. Aber in Ihrem Fall genügt erst mal eine simple Audioaufnahme, denke ich.« Er zog eine Menge Dokumente hervor, aber was die Smurls wirklich beeindruckte, waren seine technischen Gerätschaften. Ein großes, klumpiges Tonbandgerät, eine NAGRA III der Schweizer Marke Kudelski. Dazu Headset-Kopfhörer und Einzelteile einer Tonangel, die er zusammensteckte und verkabelte. An deren Ende befand sich ein Stativ, an welchem er ein schmales Kolbenmikrofon befestigte. Während er all dies tat, führte er die Smurls in seine Erhebungsverfahren ein.

»Es gibt für diese Art von Arbeit kein Rezept. Bei der Vorprüfung zu einem Exorzismus, ob also tatsächlich ein Fall von dämonischer Besessenheit vorliegt, geht man ganz anders vor, als wenn eine Frau meint, den Geist ihrer verstorbenen Mutter nachts im Haus herumschleichen zu sehen.«

»Sie waren also tatsächlich schon mal bei einer Teufelsaustreibung dabei? Es gibt ihn also wirklich, Satan?«, fragte Janet mit aufgerissenen Augen.

»Nein, einem solchen Ritual habe ich noch nie beigewohnt«, erwiderte George, obwohl es gelogen war. Er wollte nicht all seine Klienten über die Abgründe seines Berufes informieren, zumal ihn die Teufelsaustreibungen selbst anwiderten und er sich schon immer dafür einsetzte, diese archaische Menschenquälerei als kriminelle Tat zu ahnden. Doch mit Blick auf das Jesus-Abbild über der Türschwelle konnte er sich einer süffisanten Bemerkung nicht erwehren. »… aber es gehört auch nicht in den Blickfang eines Wissenschaftlers, solch religiösen Kulten beizuwohnen. Und ob es so etwas wie Satan gibt oder nicht, kann man nur zu hundert Prozent beantworten, wenn man auf der anderen Seite ist. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass selbst wenn der Leibhaftige existiert, er sicher Besseres zu tun hätte, als in alte Häuser einzukehren und dort die Türen knarren zu lassen, um uns zu erschrecken.« George hatte sich sehr diplomatisch ausgedrückt.

»Sie glauben also nicht an Gott?«, fragte Jack. Eine peinliche Stille trat ein. Draußen war das Pfeifen des Windes zu hören, der durch die undichten Fenster hindurchzog wie Blut aus einer fauligen Wunde.

»Ich glaube …«, setzte George an, »ich glaube an das, was ich sehen, riechen, schmecken, anfassen, hören – kurz: Was ich fühlen kann.«

»Aber wir fühlen hier die dunklen Kräfte. Und sie haben sich uns auch schon offenbart!«

»Dann wird sich dies auch irgendwie messen lassen«, entgegnete er. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte Sie nicht beleidigen. Aber im Verlaufe meiner Untersuchungen bin ich zunehmend zu der Überzeugung gelangt, dass es sehr wohl Geister gibt. Allerdings nicht im esoterischen Sinn, sondern in einer rationalistischen Auslegung. Die Geister, die wir wahrzunehmen glauben, sind nach meiner Theorie nur die Geister, die in unserem Inneren ruhen, unserem Unterbewusstsein. Und je nachdem, wie stark diese ausgeprägt sind, vermögen wir sie auf unsere Umwelt zu übertragen. Letztendlich nimmt jeder Mensch äußere Einflüsse ganz anders wahr als irgendeiner seiner Mitmenschen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Sie haben ja eine sehr schöne Inneneinrichtung. Nehmen wir doch mal das Klavier dort vorne«, sagte George und deutete auf das Pianino in der Ecke. »Wo haben Sie das her?«

»Oh, wir spielen eigentlich nie darauf. Aber wir dachten, dass es gut zu unserer Einrichtung passen würde. Es gibt unserem Heim ein gewisses Pathos«, erklärte Jack unsicher.

»Wir haben es günstig bei einem Gebrauchtwarenhändler gekauft. Reine Dekoration«, ergänzte seine Frau.

»Perfekt. Was, wenn ich Ihnen nun sagen würde, dass ihr Problem in diesem Klavier liegt. Es ist verflucht! Das Klavier gehörte nämlich einst einer Frau, die darauf spielte, um über den Verlust ihres toten Kleinkindes hinwegzukommen. Als sie starb, fand man sie zusammengebrochen über den Tasten ihres Musikinstruments. Die Polizei entdeckte kurz darauf aber auch die Leiche ihres Kindes, eingewickelt im Gehäuse des Pianinos. Die Frau hatte ihr Kind wahrscheinlich selbst umgebracht. Und nun steht diese Tatwaffe bei Ihnen als Dekoration. Denken Sie gründlich darüber nach, wie würden Sie wohl darauf reagieren?«, fragte George.

Die runzelnden Gesichter der Smurls hätten eigentlich schon Antwort genug für ihn sein müssen. Jack fand als Erster die passenden Worte. »Ich denke, ich würde das verdammte Ding auf der Stelle verschrotten lassen!«

»Anders gesagt, Sie hätten Angst davor?«

»Ich gebe es nicht gerne zu, aber ja. Es wäre mir unangenehm, so etwas in diesem Haus zu haben.«

»Ich sehe es genauso wie mein Mann.«

»Ich hatte nichts anderes erwartet. Und wahrscheinlich sehen Sie schon jetzt dieses Klavier mit anderen Augen? Sie stellen sich nämlich gerade vor, ob dort wirklich der tote Körper eines Kleinkindes hineinpassen würde und ob der Verwesungsgestank nicht bereits vorher Nachbarn hätte aufmerksam machen müssen. Und all das bereitet Ihnen nun Unbehagen.«

»Allerdings«, gestand Janet.

»Und genau das sind die inneren Geister, die inneren Dämonen. Die inneren Stimmen Ihres Unterbewusstseins, die zu Ihrem Verstand sprechen und die Wirklichkeit nicht erklären, sondern verklären. Abgesehen davon, dass die Geschichte von vorne bis hinten erlogen ist, hätte sich doch auch bei einer Tatsachenbehauptung nicht viel für Sie geändert? Egal, welche Vergangenheit dieses Klavier besitzt, es ist immer nur eine Mutmaßung, dass es verflucht sei. Bei einer völlig anderen Assoziation wäre es in Ihren Augen womöglich sogar ein Glücksbringer. Der Punkt ist: Das Klavier ist immer noch dasselbe. Das Klavier hat sich nicht verändert. Auch die Welt hat sich nicht verändert. Das Einzige, was sich verändert hat, sind Sie selbst. Sie haben sich in Ihrem Inneren ein kleines Stück verändert. Und das nur, weil Sie aufgrund einer Geschichte diesen Klotz dort drüben plötzlich in einem anderen Licht gesehen haben. Ich behaupte keineswegs, dass Menschen, die sehen, was andere Menschen nicht sehen können, verrückt sind. Im Gegenteil: Ich glaube sogar daran, dass gewisse Menschen sensibler in ihrer Wahrnehmung für die Welt sind. Aber kritisch wird es dann, wenn sie versuchen, aus dem Wahrgenommenen die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. Denn am Ende zieht nicht mehr der Mensch einen Schluss, sondern der Schluss zieht den Menschen hinfort. Ich möchte damit sagen: Das, woran man glaubt, ist für einen stets die Wahrheit. Und Wahrheit wird irgendwann zur Realität. Aber einer sehr subjektiven Realität.«

Janets Mundwinkel krümmten sich zu einem zaghaften Lächeln.

»Ich gebe zu, so habe ich das noch nie betrachtet, Dr. Mallory.«

»Klingt interessant«, räumte Jack ein, »doch ich glaube, in unserem Fall geht es ein wenig über die Wahrnehmung hinaus.«

»Womit wir dazu kommen, weshalb ich hier bin«, antwortete George, der nun sein Equipment aufgebaut hatte und sich seine Unterlagen zurechtlegte. »Auch wenn ich mich schon vorab informiert habe, würde ich gerne erst noch einmal Ihre Sicht über die Vorfälle hören.«

Jack und Janet wechselten unsichere Blicke, bis Mr Smurl ausholte. »Nun, es begann ungefähr drei Jahre nachdem wir hier eingezogen waren. Die Kinder bemerkten es als Erste, aber natürlich haben wir darauf nicht viel gegeben. Nachts würde ihr Schrank Geräusche machen, und komische Schatten wären an ihren Fenstern vorbeigehuscht. Aber eines Tages war Janet im Keller, um die Wäsche zu machen und hörte, wie ihre Mutter nach ihr rief. Janet rief nach oben, was ihre Mutter von ihr wolle, bekam aber keine Antwort. Also ging sie hoch, doch ihre Mutter war nicht da. Sie war zu dieser Zeit gar nicht im Haus, wie sich später herausstellte, sondern einkaufen. In der Folgezeit waren immer mehr merkwürdige Geräusche aus verschiedenen Ecken des Kellers zu hören. Schließlich spürte Janet sogar, wie sie von einer unsichtbaren Hand berührt wurde – mehrmals! Stimmt’s, Liebling? Gleichzeitig begann die Elektronik in unserem Haus zu spinnen. Ich bin Elektriker, und ich habe alle Leitungen genauestens untersucht, aber keine Probleme finden können. Und doch gingen übermäßig viele Geräte wie unser Toaster kaputt, und wir hatten immer wieder mit langen Stromausfällen zu kämpfen. Als unsere Tochter dann eines Tages von der Messe kam, vernahm sie in der Küche eindeutig Stimmen. Sie rief uns, und da habe ich sie schließlich auch gehört. Ich bin nicht verrückt, wir haben sie alle drei gehört. Wir wissen nun, dass wir nicht alleine sind in diesem Haus. Selbst unser Hund hat mittlerweile Angst und spürt offenbar die dunkle Energie, die von diesem Anwesen hier ausgeht. Wir würden ja am liebsten wegziehen, aber wer möchte solch ein Haus schon kaufen?«

George verglich Jacks Schilderungen mit seinen Aufzeichnungen. Nach einem kurzen Moment des Schweigens ergriff er wieder das Wort. »Welcher Art waren die Stimmen? Worüber sprachen sie?«

»Das konnten wir nicht richtig verstehen. Es war fast wie ein Geheul … ein Gesang«, antwortete Jack.

»Gab es bei diesen Anomalien Regelmäßigkeiten? Also traten die Stimmen, die Sie gehört haben, in gewissen Zeitintervallen auf?«, fragte George.

»Kann ich nicht so recht sagen. Nur eins ist klar: nachts sind wir bisher unbehelligt geblieben. Zum Glück! Ich glaube, dies ist auch der einzige Grund, warum wir vor Angst noch nicht gestorben sind«, entgegnete Jack, und seine Frau griff bei seinen letzten Worten behutsam nach seiner Hand. Er nickte ihr als Zeichen des Entgegenkommens zu.

»Und was ist mit den Räumen des Hauses? Lässt sich da ein Muster erkennen?«, fragte George.

»Leider ist es so, dass wir uns mittlerweile kaum noch alleine in den Keller trauen. Es sind nicht bloß Geräusche, sondern man spürt förmlich, dass etwas in der Luft liegt. Sie werden wahrscheinlich selbst gleich dort runtergehen wollen. Ansonsten sind die Stimmen und Geräusche meist im Erdgeschoss zu hören. Daher nehmen wir eben auch an, dass der Keller das Zentrum für diesen … diesen Spuk ist. Dasselbe trifft übrigens auch auf die Wohnung von Janets Eltern zu. Allerdings weniger häufig, weswegen sich ein Großteil unseres Lebens mehr und mehr nach dort drüben verlagert.«

»In den Berichten war aber auch davon die Rede, dass Ihr Hund durch die Luft geschleudert worden sei?«, hakte George nach.

»Das kommt dabei raus, wenn in einer verschlafenen Ortschaft wie West Pittston solch eine Geschichte die Runde macht«, stöhnte Jack. »Unser Hund wittert lediglich eine Gefahr, wie ich bereits erwähnte, aber er wurde bisher kein Opfer der dunklen Kräfte. Dass er durch die Luft gezogen wurde, ist ein durch Mundpropaganda entstandenes Märchen.«

»Das ist äußerst beruhigend«, erwiderte George lapidar. Die Smurls schienen seinen Sarkasmus nicht zu bemerken. Gut so. Er drückte den Stummel seiner Zigarette in den Aschenbecher, schon die dritte seit seiner Ankunft. »Na, dann will ich mir mal selbst ein Bild von dem Spuk machen – oder besser gesagt: Einen Ton.« Dabei stülpte er sich die Kopfhörer über die Ohren, warf sich das Tonbandgerät mit dem Trageband über die Schulter und griff nach der Tonangel. Mit der ganzen Aufnahmetechnik sah er mehr wie ein Videojournalist vom Fernsehen denn wie ein Wissenschaftler aus.

Etwas unwillig tapsten die Smurls zur Kellertür. Auch wenn sie es George nicht zeigen wollten, so kostete es sie doch einige Überwindung, die Tür aufzustoßen, das Licht einzuschalten und als Erste den Weg nach unten zu wagen. Der Raum stach wie jeder Keller durch seine karge Einrichtung hervor. Mit dem schmutzig grauen Kachelboden, den alten Holzbohlen und den mit Spinnenweben verhangenen Heizungsrohren lud er geradezu dazu ein, für Gespenstergeschichten herzuhalten.

Die Smurls standen ganz still in der Ecke und schauten aufmerksam zu, wie Dr. Mallory mit seinem Mikrofon die Umgebungsgeräusche einfing, die ihren Ohren entgingen. Er schwenkte die Angel dabei in unregelmäßigen Abständen von einer Ecke des Raums zur anderen. Zuerst hierhin, dann dorthin. Dabei drehte er oft an den Reglern seines Geräts, ohne dass die Smurls eine Ahnung hatten, wonach er gezielt suchte oder was er dort tat. Jack wollte etwas sagen. Doch als könnte er Gedanken lesen, hielt Dr. Mallory seine Faust mit nach oben ausgestrecktem Zeigefinger vor seine Lippen als Zeichen, keinen Lärm zu machen. So ging es mehrere Minuten. Schließlich streckte er die Tonangel auch gen Boden, als wolle er dort den Staub aufsaugen. Nachdem sich seine Stirn in Falten gelegt hatte, nahm er seine Kopfhörer kurz ab und sprach die Smurls direkt an: »Auf was für einem Fundament ist das Haus hier erbaut?«

Jack schaute verwundert. »Ich … ich glaube, auf nacktem Fels, falls Sie das meinen. Jedenfalls nicht auf weichem, sandigem Untergrund. Ich gestehe aber auch, dass ich mich da nicht so recht auskenne.«

»Das ist auch nicht nötig, denn ich habe bereits einen Verdacht.«

»Im Ernst!?«, fragte Janet schockiert, als wäre Dr. Mallory der Verkünder einer finsteren Wahrheit.

»Um ehrlich zu sein, hatte ich den Verdacht schon vorher, als ich mich über Ihren Fall kundig gemacht habe. Aber er scheint sich zu bestätigen. Es gilt, nun eine letzte Probe zu machen«, sagte er und wies die Smurls an, mit ihm wieder nach oben zu gehen.

»Haben Sie viele elektrische Geräte im Haus?«, fragte George, als er sein Equipment im Wohnzimmer wieder ablegte.

»Na ja, einiges ist uns ja kaputtgegangen. Aber ansonsten besitzen wir nicht mehr als andere Bürger auch. Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Jack.

»Haben Ihre Eltern auch Empfangsgeräte nebenan?«, fragte George Mrs Smurl.

»Nein, sie sind bescheidener aufgestellt. Sie haben zum Beispiel keinen Fernseher«, antwortete sie.

»Aber vielleicht ein Radio?«

»Ja. Das haben wir ihnen gegeben, weil vor allem meine Mutter nachmittags doch immer so gerne …«

»In Ordnung«, unterbrach sie George. »Sie sagten, dass Sie dieses unbehagliche Gefühl und die Stimmen unregelmäßig, aber niemals nachts vernehmen?«

»Äh, ja, ich denke …«, bestätigte Jack.

»Können Sie sich daran erinnern, ob dies häufig vor den Mahlzeiten passiert ist?«

»Hm, einige Male ja, deswegen war meine Frau zu dieser Zeit ja auch in der Küche. Aber die meisten Mahlzeiten verlaufen ohne merkwürdige Vorkommnisse.«

»Mir geht es nicht um das Essen, sondern ums Kochen. Mrs Smurl, wären Sie so gütig und würden kurz nebenan zu Ihren Eltern gehen und das Radio einschalten?«

»Glauben Sie etwa, wir könnten nicht unterscheiden, ob wir das Radio meiner Schwiegermutter von nebenan hören oder nicht!?«, fragte Jack erregt.

»Darauf will ich nicht hinaus«, erwiderte George. »Mrs Smurl, wären Sie so freundlich?«

»Natürlich. Welcher Sender denn?«

»Ganz gleich. Schalten Sie es einfach nur ein. Stellen Sie die Lautstärke ruhig auf ganz leise. Die Hauptsache ist, dass das Radio eingeschaltet ist.«

Neugierig wie eine junge Katze hastete Janet rüber, um das auszuführen, was ihr George aufgetragen hatte.

»Wir gehen derweil in die Küche«, sagte dieser zu Jack.

»Ich verstehe das Ganze nicht …«

»Keine Angst. Dafür bin ich ja da. Hätten Sie vielleicht die Güte, uns noch einen Tee aufzukochen?«

Jacks Augäpfel sahen nun wie Bullaugen aus. »Na, wenn Sie unbedingt möchten«, seufzte er, nahm einen Wasserkessel, ließ ihn volllaufen und stellte ihn auf die Herdplatte, die bald heiß werden musste.

Kurz darauf kam auch schon Janet zurückgeeilt. »Ist angeschaltet!«

»Gut. Denn es wird Sie interessieren, was ich Ihnen mitzuteilen habe. Ich muss Sie wohl enttäuschen, denn wir haben es hier nicht mit einem Poltergeist zu tun, sondern lediglich mit einer Akkumulation physikalischer Ereignisse.«

»Das haben auch schon andere zu erklären versucht«, monierte Jack abfällig, wofür er sich einen scharfen Blick seiner Frau einfing.

»Auch ohne Voruntersuchungen wäre für jeden Fremden zu erkennen gewesen, dass Ihr Haus ganz dicht an einer der ehemaligen Minen erbaut worden ist«, erklärte George.

»Aber genau das ist es ja«, fiel ihm Jack harsch ins Wort. »Wir glauben, es sind die Geister der verschütteten Bergleute!«

»Und sie mögen in Frieden ruhen, aber ich kann Ihnen versichern, dass es nicht die unerträglichen Arbeitsgesänge der verstorbenen Kumpel sind, die Ihnen da um die Ohren knallen«, erläuterte George. »Nein, wir haben es hier wohl mit einem Fall von … sagen wir Magnetismus zu tun.«

»Ich werde wohl einen Magneten von einem Dämon unterscheiden können!«, rief Jack verärgert aus.

»Schatz, lass den Mann doch erst mal erzählen!«, erwiderte Janet schroff.

»Ganz so simpel ist es nun auch wieder nicht. Ich spreche vom Erdmagnetfeld, welches temporäre, wenn auch für den Menschen kaum wahrnehmbare Schwankungen in der Umwelt verursachen kann. Zum Beispiel Infraschall. In Ihrem Fall ist es vermutlich durch die unterirdischen Schächte der alten Minen oder den nahen Sendemast am Ende der Straße katalysiert worden – womöglich sogar durch beides. Jedenfalls können so durch den Boden tiefe Töne durch noch so kleine Spalten hindurchdringen, die für das menschliche Ohr zunächst noch nicht hörbar sind. Aber bei gewissen Überlagerungen ergeben sie plötzlich einen feinen, aber leisen Klang. Auch wenn man sie noch nicht vernimmt, können diese Töne bereits Einfluss auf unsere Wahrnehmung und unsere anderen Sinne haben. Es könnte also erklären, warum Sie das Gefühl hatten, dass Sie jemand berührt, Mrs Smurl.«

»Fantastisch!«, rief die Frau strahlend aus.

Doch ihr Mann blieb skeptisch. »Das sind doch nur Mutmaßungen!«, grunzte er. »Eine ähnliche Theorie hatte sogar mal einer Ihrer Kollegen aufgestellt, dass es etwas mit den unterirdischen Minenschächten zu tun haben könnte. Aber das erklärt noch lange nicht, dass so vieles andere im Haus verrücktspielt. Die wehklagenden Stimmen, die wir eindeutig gehört haben, werden wohl kaum durch eine Laune von Mutter Natur hervorgerufen worden sein. Ich frage: Wo sind Ihre Beweise, Dr. Mallory?«

»Oh doch! Auch Mutter Natur beliebt zuweilen zu scherzen«, antwortete George mit lässigem Schmunzeln.

»Wie darf ich das jetzt verstehen?«

»Na, seien Sie doch mal still, und hören Sie ganz genau hin«, sagte George.

Die Smurls hielten den Atem an und wollten ihren Ohren nicht trauen. Durch das pfeifende Geräusch des Wasserkochers waren nebulöse Stimmen zu vernehmen. Zu leise, um es einer menschlichen Sprache zuordnen zu können, aber unbestreitbar vorhanden. Die Stimmen klangen wie eine infernalische Bündelung wahnhafter Ichs, die langsam in sich zerfielen. Sie wurden von einem fernen Ort hergetragen und hauchten im dumpfen Echo ihren letzten Atem aus.

Janet riss die Augen weit auf. »Oh mein Gott! Das sind sie! Das sind die Stimmen!«, rief sie mit einer fast schon heiteren Miene. Wahrscheinlich, weil nun auch endlich mal eine dritte Person anwesend war und bestätigen konnte, dass sie nicht verrückt waren.

»Ja, das sind die Stimmen«, sagte George zufrieden. »Doch diese Stimmen dringen nicht durch das Tor der Hölle, sondern aus dem Sendemast des örtlichen Lokalradios!«

»Sie meinen …?«

»Ganz recht. Für Sie mag es skurril klingen, aber mir ist schon einmal so ein Fall passiert, daher meine rasche Schlussfolgerung. Sehen Sie, in Kombination mit anderen Strömungen und vor allem bei Mittelwellensendern in direkter Nachbarschaft, wirken die Metallplatten Ihres Herdes wie ein Empfänger für die Hörfunkfrequenz, über welche die Geräuschkulisse übertragen wird. Vorausgesetzt, ein empfangfähiges Gerät ist in unmittelbarer Nähe eingeschaltet. Und Ihr Wasserkessel funktioniert dank seiner Form ganz wunderbar wie ein Sprachrohr. Mrs Smurl, welche Sendung haben Sie drüben eingeschaltet?«

»Äh, ich glaube, es lief gerade die Hitparade der Siebziger«, sagte sie.

»Nun, wenn ich mich nicht täusche, hören wir hier gerade eine sprichwörtlich verwässerte Version von Heartbeat, It’s a Lovebeat von der DeFranco Family. Sie werden sicher Übereinstimmungen finden, wenn sie zu Ihren Schwiegereltern rübergehen und es mit dem Radioprogramm vergleichen. Beweis genug für Sie, Mr Smurl?«

Janet lachte laut auf, doch Jacks Blick verdunkelte sich. Er trat auf Georges Provokation einen Schritt näher. »Nein, Dr. Mallory. Sie irren sich! Ich bin mir sicher, dass es in Wahrheit die Chi-Lites mit Have You Seen Her? sind«, sagte er und klopfte George mit breitem Lächeln auf die Schulter.

»Und was den kaputten Toaster angeht: Ich glaube, von billigen Elektrogeräten werden viele Familien in Amerika heimgesucht«, ergänzte George schmunzelnd.

Charlottesville, USA – zwanzig nach zwölf am Mittag

Das Wintersemester hatte schon vor acht Wochen begonnen, und dennoch tummelten sich die Studenten auf dem Campus wie ein Haufen aufgeschreckter Moorhühner. Man sollte meinen, dass der Vorlesungsalltag und der Lernstress für etwas Ruhe sorgen würden, aber anscheinend besaß die heutige Jugend mehr Freizeit als noch zu Georges Zeiten.

Er schloss daraufhin wieder das Fenster, obwohl er nach der langen Abwesenheit kurz durchlüften wollte. Die stickige Enge in seinem Büro wurde durch den Gestank seiner Zigaretten noch verstärkt, und das Nikotin hinterließ durch die gelbliche Verfärbung der Tapete auch langsam an der Inneneinrichtung seine Spuren. George war es egal, solange seine Zähne nicht ins gleiche Farbschema verpfuscht wurden. Und momentan deutete noch nichts darauf hin, dass sein breites Lächeln ohne weiß glänzende Zähne auskommen müsste. Auch seine Kondition und allgemeine Gesundheit hatte bisher unter seinem starken Tabakkonsum nicht gelitten, und das, obwohl zwei Schachteln am Tag bei ihm die Regel waren – wenn er viel zu tun hatte, konnte sich der Verbrauch auch verdreifachen. Vierzig Zigaretten innerhalb von vierundzwanzig Stunden waren keine Seltenheit, sondern alltäglich bei George Mallory. Seine Kollegen witzelten daher hinter seinem Rücken, dass seine Lunge schon bald den Zuschlag für die Titelrolle in der Neuauflage des Science-Fiction-Films Das schwarze Loch erhalten würde. George nahm den Galgenvögeln freilich oft damit den Wind aus den Segeln, dass er über sich selbst scherzte. Wenn er beispielsweise von seinen Reisen berichtete, kam er nicht umhin zu erwähnen, dass Marlboro die Hauptstadt von New Mexico sei.

Aber der allgemeine Spott ergoss sich weniger über seine Liebe zum Tabak als vielmehr auf sein Fachgebiet selbst, für das er so viel umherreiste. Sein spartanisches Dienstzimmer stellte nur einen Teil der Schikane vonseiten der akademischen Welt dar. Nicht nur, dass sein Arbeitszimmer eindeutig die kleinste Parzelle aller Dozenten an der Uni war, es glich auch noch einem länglichen Korridor und besaß kaum Raum in der Breite. Durch die milchigen Fensterscheiben hatte man immerhin einen einigermaßen schönen Blick über das College mit seinen grünen Parkanlagen und der Alderman-Bibliothek. Von dem Grünstreifen war eben noch das Getöse und Gegröle der jungen Wildfänge bis in sein Büro in der fünften Etage zu hören gewesen. Die Neulinge unter den Studenten eröffneten ihre wissenschaftliche Karriere mit einer Reihe von Saufspielen: Kastenlauf, Kampftrinken, Flaschendrehen, Bierbaron und wie man sonst noch die ganzen anderen Abwandlungen nannte. Wahrscheinlich würde das Besäufnis wieder auf dem Lawn stattfinden und die Tour standesgemäß am Denkmal von General Robert E. Lee enden. Daher hatte er vorhin die Fenster geschlossen, um vor allem das lallende Gekreische der jungen Mädels und das Geklimper der Flaschen abzuschmettern. Alles in allem hatte sich seit seinem Antritt als Dozent nicht viel an der Universität von Virginia geändert, die eine der ältesten Akademien von Amerika und noch von Thomas Jefferson selbst gegründet worden war.

Gleichzeitig war sie eine der wenigen Bildungsinstitutionen der USA, welche eine eigene Abteilung für Wahrnehmungsstudien im Fachbereich der Psychologie anbot und damit Georges Forschung aus den staatlichen Finanztöpfen unterstützte. Zumindest für eine gewisse Zeitspanne.

Sein Büro selbst war im unrenovierten Zustand in einem schlichten Grau gehalten. Auch die Grundausstattung mit Tisch, Telefon, Schreibmaschine, drei Stühlen und Aktenschränken erwies sich als recht simpel. Einen Computer oder gar Drucker mit Faxgerät besaßen nur die wenigsten. Was sein Zimmer aber so außergewöhnlich machte, waren die vielen Artefakte, die er im Laufe seiner Tätigkeit gesammelt hatte. Plunder für die einen, Reliquien für andere. An seinem Aktenschrank hing eine Axt, die einst die Tatwaffe in einem Mordfall in Schweden dargestellt hatte. In einem langen Kordon aus Acrylhaltern reihten sich an der Wand drei Dutzend Reagenzgläser aneinander, die u. a. mit Asche aus der kasachischen Wüste in der Sowjetunion gefüllt waren. George erwiderte auf Nachfrage immer, dass es sich dabei lediglich um Bodenproben handle. In Wahrheit waren es die verkohlten Überreste von Menschen, die von Tataren bei lebendigem Leibe verbrannt worden waren, da man glaubte, die Opfer seien von Geistern besessen gewesen.

An der Wand hinter ihm lehnte eine große Pinnwand aus Kork, wo so viele Blätter, Notizzettel und Fotos angeheftet waren, dass alleine dafür ein ganzer Redwoodbaum im Sägewerk hatte dran glauben müssen. Alle stellten sie bildliche Erinnerungen zu mysteriösen, ungeklärten Mordfällen dar, hauptsächlich aus den Vereinigten Staaten und Kanada. Zwar hatte George kaum an der Aufklärung von irgendeinem dieser Fälle jemals mitgewirkt, allerdings verfolgte er das Geschehen mit großem Interesse. So studierte er gerade einen Prozess, der in den Mainstream-Medien bisher noch kaum Niederschlag gefunden hatte. An der McMartin-Vorschule in Manhatten Beach, Kalifornien, gab es erste Anzeichen einer großen Anzahl sexueller Übergriffe von Lehrern auf ihre Schüler. Interessant an diesem Fall war für George, dass die Schule angeblich von einem Satansring unterwandert war, der sich an den Kindern rituell verging.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Fall auch von den großen Zeitungen aufgeschnappt und übertrieben dargestellt werden würde. Am Ende würde es nicht mehr um die Kinder, sondern die angeblichen schwarzen Messen gehen. George wusste, dass der Satanismus viel harmloser war, als die meisten Menschen annahmen. Wahrscheinlich wussten viele Pseudo-Satanisten nicht einmal selbst, dass ihr Glaube nichts mit schwarzer Magie zu tun hatte, sondern lediglich eine frühe Vorstufe des Atheismus darstellte. Jungfrauenopferungen, das Trinken von Tierblut, vorzugsweise von Ziegen oder Fledermäusen, sowie das Tragen schwarzer Kutten entsprachen keiner Tradition und gehörten ins Reich der Schauermärchen.

Viel erschreckender und authentischer waren dagegen die Inhalte der Bücher, die George in seinem Besitz hatte. Seine kleine Privatbibliothek bestand kaum aus Esoterik-Literatur, sondern wissenschaftlichen Abhandlungen. Dennoch ließ die Thematik einen gewissen Hang zum Schrecklichen erkennen. Der Sadist von Dr. Karl Berg, in dem das Sozialverhalten Peter Kürtens, des berüchtigten Vampirs von Düsseldorf, analysiert wurde. Gesammelte Aufsätze der Parapsychologen Ed und Lorraine Warren über ihre jahrelangen Nachforschungen wie beispielsweise bei einem Fall aus den Siebziger Jahren auf Rhode Island. Dort wurde das Anwesen einer Familie vermeintlich von dem Fluch einer Hexe heimgesucht.

In einem anderen Fall ging es um die Verurteilung eines Mannes namens Arne Cheyenne Johnson, der angeblich aufgrund dämonischer Besessenheit mehrere Menschen in Connecticut umgebracht hatte. Dazu verschiedene Arbeiten über den psychopathischen Massenmörder und Leichenschänder Edward Gein. Dieser war erst vor einem Jahr in der Haft an den Folgen seiner Krebserkrankung verstorben, hatte aber einst weltweite Presseaufmerksamkeit erhalten, nachdem die Polizei ihm mehrere Mordfälle nachweisen konnte und bei der Durchsuchung seiner Farm entdeckte, dass er die Leichen seiner Opfer verstümmelte. Ihre abgeschnittenen Nasen und Ohren behielt er nachweislich als Talismane, und die abgetrennten Köpfe hatte er zuvor ausgelöffelt und als Näpfe für seine Hunde zweckentfremdet. Vermutlich war er auch Kannibale, wenngleich man dies nie zweifelsfrei feststellen konnte.

Daneben standen Werke von Jean Piaget, B. F. Skinner, Michel Foucault, Friedrich Nietzsche, Abraham Maslow, Sigmund Freud und Ludwig Feuerbach. Zu Georges Lieblingslektüre zählten Treatise on Basic Philosophy von Mario Bunge, Das Tao der Physik von Fritjof Capra und Die Lehren des Don Juan von Carlos Castaneda.

An der gegenüberliegenden Wand verstaute George in einem Regal seine Gerätschaften, von denen das Tonequipment, wie er es bei den Smurls genutzt hatte, nur einen Bruchteil darstellte. Einige Module hatte er sogar selbst konstruiert. In seiner Ablage fanden sich unzählige Gutachten zu einem Insassen einer psychiatrischen Heilanstalt namens Boris Blake.