Die Maske der Angst - Gordon McBane - E-Book

Die Maske der Angst E-Book

Gordon McBane

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Teil 2 der packenden Mystery-Serie: Auf der Suche nach den geheimnisvollen Gemälden entspinnt sich ein Kampf um Leben und Tod  George Mallory setzt die Suche nach den verschollenen Gemälden von Bragolin gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Josephine Canino fort. Bei ihrer Jagd scheinen sie von mehr als einem Grauen verfolgt zu werden. Nachdem beide einem Anschlag auf ihr Leben nur knapp entgangen sind, ist klar, dass noch jemand hinter den Bildern her ist. Doch wer ist der Attentäter mit der Maske, der es auf Josephine abgesehen hat? Und welches Geheimnis verbirgt sich hinter den Kunstwerken? Das Buch ist der zweite Teil einer Trilogie. Von Gordon McBane sind bei Midnight by Ullstein erschienen: Das Vermächtnis des Künstlers (Teil 1 der Bragolin-Serie) Die Maske der Angst (Teil 2 der Bragolin-Serie) Schatten über Venedig (Teil 3 der Bragolin-Serie) LeserInnenmeinung: Wie ein Buch von King - aber nicht von Stephen King, sondern von Quentin Tarantino geschrieben! Der Autor versteht es bei der Länge der Geschichte dennoch die Spannung zu halten. Ich bin sehr gespannt auf "Schatten über Venedig". (milanistin auf Amazon)

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Der AutorGordon McBane, geboren 1988, stammt aus Schottland, wuchs aber am Niederrhein auf. Nach dem Abitur zog es ihn zunächst nach Hong Kong, wo er knapp ein Jahr lebte und Südostasien bereiste. Anschließend absolvierte er bis 2012 eine kaufmännische Lehre. Daraufhin studierte er bis 2015 Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit einigen Zwischenstopps in Berlin und Brüssel. Um seine Ausbildung zu finanzieren, arbeitete er bereits früh im Journalismus, u.a. als Redakteur bei der Westdeutschen Zeitung, freier Videojournalist beim ZDF und Pressereferent für die Uni Düsseldorf. Hauptberuflich in der PR-Branche tätig, schreibt er auch weiterhin als freier Journalist und Autor.

Das Buch

Teil 2 der packenden Mystery-Serie: Auf der Suche nach den geheimnisvollen Gemälden entspinnt sich ein Kampf um Leben und Tod George Mallory setzt die Suche nach den verschollenen Gemälden von Bragolin gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Josephine Canino fort. Bei ihrer Jagd scheinen sie von mehr als einem Grauen verfolgt zu werden. Nachdem beide einem Anschlag auf ihr Leben nur knapp entgangen sind, ist klar, dass noch jemand hinter den Bildern her ist. Doch wer ist der Attentäter mit der Maske, der es auf Josephine abgesehen hat? Und welches Geheimnis verbirgt sich hinter den Kunstwerken?

Gordon McBane

Die Maske der Angst

Ein Venedig-Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Februar 2018 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © FOTOWEST  ISBN 978-3-95819-145-7  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inspiriert von einer wahren Begebenheit

Was bisher geschah:

George Mallory ist Psychologie-Dozent an der Universität von Virginia mit dem Spezialgebiet Parapsychologie. Anders, als viele jedoch annehmen, glaubt er nicht an paranormale Phänomene, sondern hat es sich zur Aufgabe gemacht, deren natürliche Ursachen ans Licht zu bringen und das vermeintlich Übersinnliche rational zu erklären. Als er einen Brief aus Venedig erhält, in dem die Kuratorin eines venezianischen Kunstmuseums, Dr. Velmonte, von einer seltsamen Serie von Todesfällen berichtet, ist seine Neugier geweckt. Die Fälle scheinen miteinander verknüpft zu sein. Eine Reihe von Hausbränden mit tödlichem Ausgang, die sich in den letzten zwanzig Jahren über ganz Westeuropa erstreckte, geriet in den Fokus der Presse, da aus den ausgebrannten Trümmern jedes Mal nichts anderes geborgen werden konnte als ein Gemälde – völlig unbeschädigt von Feuer und Rauch. Alle Opfer waren im Besitz solch eines Bildes. Und diese Porträts zeigen stets ein trauerndes Kleinkind mit vorwurfsvollem Blick. Alle sind sie signiert mit dem Pseudonym eines unbekannten Künstlers: Bragolin. Wer verbirgt sich hinter diesem Namen?

Man behauptet, dass ein Fluch auf diesen Porträts lasten würde und die Augen der Kinder ihre Besitzer in den Wahnsinn und in den Tod treiben würden. Dr. Velmonte ist bereits seit zwanzig Jahren auf der Suche nach diesen Bildern und hat bis auf zwei Exemplare alle Werke gesammelt, um sie in einer Galerie auszustellen. George soll zusammen mit der Kunsthistorikerin Dr. Josephine Canino für das Antenor-Museum herausfinden, ob von der Gemäldeserie wirklich eine dunkle Macht ausgeht. Dr. Canino geht nach ihren Recherchen davon aus, dass die porträtierten Kinder wirklich gelebt haben und von jenem Bragolin im Venedig der Nachkriegszeit in sein Atelier entführt und umgebracht wurden. Dr. Velmonte geht sogar noch weiter, denn sie glaubt, dass der Urheber dieser Werke die Kinder tötete, indem er ihnen mit jedem Pinselstrich nach und nach ihre Seelen nahm, bis sie in das jeweilige Gemälde eingesperrt waren. Deshalb gehe von den Bildern eine solch bedrohliche Kraft aus. Der Legende nach könne der Fluch nur gebrochen werden, wenn alle Gemälde von Bragolin gesammelt und so die Seelen der Kinder wiedervereint wären.

Die einzigen zwei Gemälde, die dem Antenor-Museum noch fehlen, sind laut Dr. Velmonte von ganz besonderer Bedeutung, weil sie einen Jungen beziehungsweise ein Mädchen zeigen, Geschwister, weswegen die beiden Bilder in gewisser Weise zusammengehören. George Mallory und Josephine Canino verschlägt es bei ihrer Suche nach den letzten beiden Porträts ins spanische Salamanca, wo der reiche Kunstsammler Franchot Seville eines dieser Gemälde besitzt: das Exemplar mit dem trauernden Mädchen. Josephine ist auf ihn aufmerksam geworden, weil Sevilles Frau Lydia vor einigen Wochen spurlos verschwunden ist. Bei der Polizei und in der Öffentlichkeit kursieren viele Spekulationen, ob ihr Mann Franchot für ihr Verschwinden verantwortlich ist. Dieser beteuert jedoch seine Unschuld. Interessant ist für Josephine, dass nicht er, sondern Lydia die eigentliche Besitzerin des Bragolin-Bildes war. Als George und Josephine Franchot jedoch nach einem gescheiterten Besuch noch einmal aufsuchen, finden sie nur seine verstümmelte Leiche in dessen Villa. Man hat ihm die Augen aus dem Kopf geschnitten. Das Bragolin-Gemälde ist hingegen entwendet worden.

Durch einen Hinweis kommt George zu der Vermutung, dass der berüchtigte Kunstdieb Dominique Poincaré hinter dem Mord stecken könnte. Er findet dessen Aufenthaltsort heraus und will sich nach Montségur in Südfrankreich begeben. Josephine jedoch ist sehr verstört seit dem Mord an Seville und befürchtet, dass die Polizei sie damit in Verbindung bringen könnte. Vor allem der venezianische Inspektor Carlos Orlando, der durch einen Presseartikel auf Georges Arbeit aufmerksam geworden ist, hat ihn und Josephine nun ins Visier genommen, kann beiden aber noch nichts nachweisen. Trotz aller Überredungsversuche durch Dr. Velmonte beschließt Josephine zunächst aus dem Projekt auszusteigen, vor allem, da sie ihre Tochter Amanda nicht in Gefahr bringen will. Amanda ist jedoch nicht Josephines leibliches Kind, sondern von ihr im Alter von neun Jahren adoptiert worden. Josephine ist einst selbst ein Waisenkind gewesen und hat schreckliche Erfahrungen im Heim gemacht. Um einem anderen Kind dies zu ersparen, hat sie Amanda adoptiert, deren Eltern bei einem Unfall gestorben sind. Mittlerweile steckt das Mädchen in der Pubertät und gerät mit Josephine immer häufiger aneinander, seit ihre Mutter mit ihr nach Venedig gezogen ist, um an diesen unheimlichen Bildern zu forschen.

Kurz bevor George mit dem Auto nach Frankreich aufbricht, gelingt es Amanda, sich als blinde Passagierin im Kofferraum zu verstecken, nachdem sie im Streit mit Josephine aus der Wohnung gerannt ist. Während Josephine auf die Rückkehr ihrer Tochter wartet, wird sie nachts in ihrer Wohnung von einer dunklen Gestalt angegriffen. Der Attentäter verbirgt sein Gesicht hinter einer diabolischen Harlekin-Maske und will Josephine umbringen, indem er ihr die Augäpfel raubt – auf die gleiche Art ist auch Seville gestorben. Nur knapp dem Angriff entkommen, erfährt Josephine nach langen Gesprächen mit der Polizei, dass ihre Tochter bei George ist. Sie ist erst mal beruhigt und vertieft sich in den Lieblingscomic ihrer Tochter, um Amanda besser zu verstehen, hat dabei jedoch bald verstörende Erlebnisse, die die dunklen Schatten ihrer Vergangenheit lebendig werden lassen. So glaubt sie in dem Comic Mr Cantare zu erblicken, der sich sogar bewegt. Mr Cantare war der Name einer furchteinflößenden Vogelscheuche, über die sich einst in Josephines Heim viele dunkle Geschichten rankten. Die kleine Josephine musste sich ihr damals bei einer Mutprobe stellen.

Unterdessen erreicht George mit Amanda Montségur und kann dort besagten Poincaré aufspüren und mit unerwarteter Hilfe von Amanda bei einer Konfrontation bezwingen. Der Kunstdieb erzählt George daraufhin im Verhör, dass er für einen ihm unbekannten Auftraggeber arbeitet, der unter dem Decknamen Samaghul operiert. Poincaré beteuert jedoch, dass er nur ein Kunstdieb sei und nichts mit dem Mord an Seville zu tun hat. Alle Fäden laufen daher bei seinem Auftraggeber zusammen, doch Poincaré hat diesen Samaghul bisher noch nie gesehen. Der Franzose verrät George aber, dass neben dem Exemplar von Seville auch das andere Bragolin-Bild entdeckt worden ist. Das Gemälde des trauernden Jungen befinde sich im Besitz des deutschen Grafen Magnus von Eisenstein. Doch es gibt ein Problem: Der Graf ist verschwunden – zur selben Zeit wie auch Lydia Seville. Da Poincaré George den geheimen Aufenthaltsort des Grafen mitteilt, läßt dieser den Kunstdieb laufen. Zusammen mit Amanda fährt George zurück nach Venedig, denn nun gibt es wieder eine heiße Spur.

Venedig, Italien – Viertel vor sechs am Morgen

Während sich George und Amanda in einem anderen Teil von Europa bereits auf der Rückfahrt nach Italien befanden, wurde Josephine nach einer unruhigen Nacht in ihrem Hotelzimmer abrupt aus den Schlaf gerissen. Der Tag war noch gar nicht erwacht, die Sonne noch nicht über den Horizont geklettert, da klingelte schon das Telefon neben ihrem Bett. Aufgeschreckt hievte sie ihren Körper aus der Decke und tastete müde zum Hörer auf dem kleinen Nachttisch. Sie hatte wohl nur ein paar Stunden Schlaf abbekommen.

Das Letzte, an das sie sich noch erinnerte, war, dass ihr die Begegnung mit Mr Cantare wieder ins Gedächtnis gekommen war. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Im gleichen Moment fiel ihr die unheimliche Abbildung in Amandas Comic wieder ein. Rasch schaute sie zur Zimmerecke, wo das Magazin noch aufgeschlagen auf dem Teppich lag, glücklicherweise mit den betitelten Seiten zum Boden. Ihr blieb keine Zeit, um das Ereignis aus der vergangenen Nacht noch einmal gedanklich durchzuspielen, auch wenn sie langsam den Verstand zu verlieren glaubte.

Sie griff hastig zum Hörer. Pico, der kleine Plüschkater, lag noch immer im Bett neben ihr. »Ja?«, sagte sie verschlafen.

»Guten Morgen, Frau Canino! Ich hoffe, wir haben Sie nicht zu früh geweckt?«, hauchte ihr eine gespielt freundliche Damenstimme entgegen.

»Wer ist da?«, murmelte Josephine.

»Ich bin von der Rezeption. Ein Anruf ist für Sie eingegangen. Ein gewisser Dr. George Ma …«

»Was!? Stellen Sie ihn durch!«, rief sie und kämpfte sich auf.

»… Mallory«, führte die Dame den Satz ein wenig verunsichert zu Ende. »Na gut, dann stelle ich den Anruf durch. Einen schönen Aufenthalt wünsche ich Ihnen noch.« Ein kurzes Klicken ertönte, das sich anhörte, als wäre eine Falle zugeschnappt.

»Josephine, hier ist George«, rauschte es plötzlich von der anderen Leitung wie aus einem Tunnelschacht heran. Mit einem Mal war Josephine hellwach und ihre Ohren auf Hochfrequenz gespitzt. Automatisch füllten sich ihre Augen mit Tränen.

»George? Oh mein Gott, George, wo bist du? Wie geht es Amanda?«, fragte sie. Seine Stimme klang kratzig, einsilbig, die Verbindung stand kurz davor abzureißen. Immer wieder wurden seine Worte durch Störungen unterbrochen oder abgeschnitten.

»Beruhige dich, ich habe nicht viel Zeit. Hör zu, versuche, so schnell es geht, alles über einen Magnus von Eisenstein herauszufinden. Magnus von Eisenstein! Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Was? Ich verstehe nicht!? George, geht es euch gut? Was ist passiert? Wo seid ihr? Woher wusstest du, dass ich hier zu erreichen bin?«, fragte sie flehend.

»Ich habe nicht mehr viel Zeit. Magnus von Eisenstein aus Wien, es ist wichtig. Und forsche in den historischen Archiven der amerikanischen Besatzungsbehörden – die amerikanischen Behörden! Hast du verstanden?«

»Weshalb? Wovon redest du?«

»Graf von Eisenstein aus Wien. Du musst dich auf die Suche nach ihm machen. Er könnte uns zu dem Bild des weinenden Jungen führen. Und da ist noch etwas …«

»George? George, ich höre dich sehr schlecht!«

»In Venedig gibt es eine Straße. Calle dei Turchette. Calle dei Turchette«, wiederholte er überbetont. »Hausnummer 2741.«

»George, du sprichst in Rätseln für mich!«

»Tu es einfach! Gehe den Hinweisen nach!«

»Bitte, sag mir doch, was geschehen ist«, bettelte Josephine und fiel sofort wieder in die heisere Tonlage zurück. »Wo ist Amanda? Bitte, lass mich sie sprechen!«

»Es … es geht ihr gut. Wir … befinden uns bereits auf dem Rückweg. Versuche alles …«

»George? George?«

» …«

Ein schrilles Tuten zeigte, dass die Verbindung unterbrochen war. Niedergeschlagen ließ Josephine den Hörer mit zittriger Hand sinken und auf die Ladestation gleiten. Ein Gedanke jagte den nächsten. Georges Anruf hatte nicht nur mehr Fragen aufgeworfen statt beantwortet, sondern sie sogar noch mehr verunsichert. Er hatte ihr erzählt, dass es ihnen beiden gut ginge und sie bereits auf dem Rückweg seien. Aber trotz der Störung barg seine Stimme etwas, was ihr Angst einflößte. George hatte Angst gehabt. Er klang müde, abgekämpft und erschöpft, als hätte er alle Hoffnung aufgegeben. Hatte er sie nur angelogen, damit sie sich beruhigte?

Josephine versuchte, sich den Namen wieder ins Gedächtnis zu rufen, den George ihr mit auf den Weg gegeben hatte. Magnus von Eisenstein. Noch nie gehört. Klang sehr wilhelminisch und dick aufgetragen, aber für den Moment konnte sie sich nicht näher damit beschäftigen. Was hatte George ihr noch mitzuteilen versucht? Er sagte etwas von den historischen Archiven der Amerikaner. Womöglich meinte er Unterlagen der US-amerikanischen Besatzungstruppen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dann noch die Straße Calle dei Turchette. Der Name sagte ihr etwas, auch bei der Hausnummer dämmerte ihr etwas, bloß kam sie gerade nicht darauf, wo sie diese Adresse schon einmal aufgeschnappt hatte.

Im Moment war sie noch zu müde, als dass sie daraus ein schlüssiges Bild hätte zusammensetzen können. Aber natürlich würde sie ungeachtet ihrer Erinnerungen diese Straße aufsuchen. All dies klang viel zu widersprüchlich, als dass sich ein roter Faden daraus hätte ergeben können. Weder sagte ihr ein Graf Eisenstein etwas, noch konnte sie sich vorstellen, dass es in den Archiven der Stadt historische Dokumente aus den internen Angelegenheiten der Amerikaner gab – zumindest keine konkreten, aus denen sich wichtige Schlussfolgerungen ziehen ließen. Womöglich waren im Stadtmuseum einige Beschlüsse der alliierten Kontrollkommission ausgestellt, die aufgrund ihrer Wirkung einen historischen Wert besaßen, aber wohl kaum pikante Details preisgaben wie den Notenaustausch zwischen den Botschaften. Zumal Josephine sich zu fragen begann, ob ihnen mit der Existenz eines solchen Archivs überhaupt geholfen wäre. So viel George in der kurzen Zeit hatte schildern können, gab es wohl einen Zusammenhang zwischen jenem Grafen und dem Verbleib eines Bragolin-Porträts – womöglich war er gar der Besitzer des letzten Gemäldes?

Aber die Amerikaner spielten bei der Suche nach den Bildern doch überhaupt keine Rolle. Sicher, sie hatten die Stadt nach der Einnahme durch die Briten rasch übernommen und formal ein Besatzungsstatut unterhalten, welches aber in keiner Weise mit der Nachkriegspolitik im zerschlagenen Deutschen Reich zu vergleichen war. Die Bevölkerung hatte wenig bis gar nichts von der Anwesenheit der Alliierten mitbekommen. Italien wurde, während bereits der Kalte Krieg heraufdämmerte, als Verbündeter im Kampf gegen die Kommunisten betrachtet. In Rom wie auch in Venedig gab es nach dem Krieg bald eigene Regierungen. Die Amerikaner hielten sich sorgsam zurück und agierten selbst in der Anfangszeit nur im Hintergrund.

Dementsprechend wenig mischten sie sich schon ab 1946 in die inneren Angelegenheiten Venedigs ein, als offiziell die Kontrollkommission aufgelöst und ein Jahr später der Friedensvertrag mit Italien unterzeichnet wurde. Spätestens 1948 war die fremde Besatzung beendet und wurde ein Jahr später durch das NATO-Statut ersetzt. Daher bestand nie ein Grund zu der Annahme, dass die Amerikaner auch nur Kenntnis von den Morden und den Bragolin-Kindern genommen haben könnten – selbst die städtische Gendarmerie von Venedig sah in den unzähligen Kinderleichen nicht das Muster eines eiskalten Mörders und hatte keine Ermittlungen angestellt.

Enttäuscht ließ Josephine die Schultern hängen. Selbst wenn in Georges Mitteilung irgendetwas Nachvollziehbares stecken mochte, so bemaß sich das Feld ihrer Untersuchungen doch auf ein überschaubares Areal. Wenn es solche historischen Unterlagen aus den internen Archiven der Amerikaner gab, könnte man sich diese wohl kaum wie in der öffentlichen Bibliothek ausleihen und einen Blick hineinwerfen. Über diesen Eisenstein könnte sie vielleicht noch etwas in Erfahrung bringen, aber über die ehemalige Besatzungsbehörde? Selbst wenn es Dokumente gab, so waren sie sicher nach Abzug und Schließung der US-Einrichtungen mit in die Vereinigten Staaten genommen oder direkt vor Ort vernichtet worden.

Unschlüssig lief Josephine in der Diele auf und ab. Angestrengt dachte sie über ihr nächstes Vorgehen nach, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und massierte sich dabei die Kopfhaut. Plötzlich fiel ihr Blick auf die Kommode neben der Eingangstür. Dort fand sich in dem kleinen Schälchen, in dem für gewöhnlich Informationsflyer des Hotels und ein kleiner Schokoriegel zur Begrüßung der Gäste bereitlagen, eine handgeschriebene Visitenkarte. Sie gehörte Carlos Orlando, jenem Polizeiinspektor, der sie erst gestern besucht, auf unhöflichste Art und Weise bedrängt und ihr damit noch mehr Gründe gegeben hatte, sich Sorgen zu machen.

Sie dachte an den strengen Blick des vierschrötigen Glatzkopfes, als sie just bemerkte, dass die Uhr gerade sechs Uhr in der Früh anschlug. Sie beschloss, dem Inspektor nicht zu viel Zeit zum Ausschlafen zu gewähren, bevor sie seine Nummer wählte.

Montpellier, Frankreich – zehn vor sechs am Morgen

»Josephine? Hallo …? Shit!«, fluchte George und schmetterte den blechernen Hörer zurück auf die Apparatur. Diese Telefonstation an einem Quick-Stop nahe der Autobahnauffahrt war absolut vorsintflutlich und offenbar seit Jahren nicht mehr gewartet worden. Doch das war sicher nicht der Grund, warum die Übertragung abgebrochen worden war. George hatte schlicht und einfach sein letztes Münzgeld verbraten. Er konnte nur hoffen, dass Josephine seinen Anweisungen Folge leisten würde. Die Zeit rannte ihnen davon, falls es wirklich jemand nicht nur auf die Bragolins, sondern auch auf sie abgesehen hatte.

Zwar besaß George noch ausreichend Bargeld, allerdings nur in italienischer Währung. Dr. Velmonte hatte ihm für seine Reise eine Kreditkarte mitgegeben, doch weder konnte er damit an diesem alten Apparat zahlen noch mittels einer Telefonkarte, die er sich im Zweifel irgendwoher hätte besorgen können. Kurzzeitig überlegte er, sich in einem Fachgeschäft eines der teuren Mobiltelefone zu kaufen, doch verwarf er diesen Gedanken rasch wieder. Die Suche danach wäre viel zu aufwendig gewesen, und es bestand nicht gerade die beste Aussicht, dass sich hier ein Elektronikladen mit ausgewählter Telekommunikation befand – geschweige denn ausreichend Empfang.

Wenn er mit Amanda nun in einem Schuss durchfahren würde, könnten sie es bis zum Abend nach Venedig schaffen. Dann könnte George sich selbst um die Angelegenheiten kümmern, allerdings war er jetzt schon ziemlich erschöpft. Und er würde es noch mehr sein, wenn er endlich die Seestadt erreicht hätte. Ein wenig Vorarbeit von Josephine konnte da nicht schaden, bis er sich wieder erholt hatte.

Er hatte sich nur eine bescheidene Mütze voll Schlaf gegönnt, als er vor zwei Stunden an einem Rastplatz gehalten hatte, um kurz die Augen zu schließen. Amanda, die nur etappenweise während der Fahrt geschlafen hatte, war zu müde, um ihn auf Trab zu halten. Wahrscheinlich würden sie noch solch eine Rast einlegen müssen, bevor sie ihr Ziel erreichten. Ohne Zwischenstopp war eine Weiterfahrt in Georges momentaner Verfassung einfach zu gefährlich. Dennoch hoffte er, vor Mitternacht die Adriaküste erreicht zu haben.

Er schritt zurück zum Auto, der Morgen war noch so jung, dass die Nacht das Leben hier beherrschte. Der Himmel verhieß mit seiner bleigrauen Wolkendecke keinen entspannten Tag. Nur eine helle Linse am östlichen Horizont mit violetten Kringeln kündigte die aufsteigende Sonne an. Als er in den Wagen stieg, lugte Amanda verträumt unter der Jacke hervor, die ihr George als Decke umgelegt hatte. Ein weiches, junges Gesicht ohne jeglichen Makel. Ein Gesicht, welches das Leben noch vor sich hatte. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich auf die andere Seite und fiel zurück in einen unruhigen Schlaf. George konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen. Was die Kleine jetzt wohl träumte?

Da fielen ihm augenblicklich seine eigenen Träume ein, die ihn unregelmäßig befallen hatten, seit er in Venedig angekommen war. Er wusste nicht, wie er dies deuten sollte. Es waren nur Träume. Und doch erwuchs in ihm ein Gefühl der Beklemmung daraus, dass ihn die nächtlichen Visionen in der Markusstadt heimgesucht hatten, als ginge eine infernalische Kraft von dem Ort aus, der unter den Kanälen der Inseln schlummerte. Er versuchte, die Gedanken, die ihn beschlichen, abzuschütteln wie Dreck vom Stiefelabsatz.

Da kam George plötzlich ein ganz anderer Gedanke, und er zog die Pistole hervor, die er Poincaré zuvor abgenommen hatte. Durch seine Zeit in Vietnam war ihm der Gebrauch von Schusswaffen nicht fremd. Und tatsächlich glaubte er, die Machart der Kanone benennen zu können. Es handelte sich um eine FN Browning High Power Kaliber 9 mm, wie sie noch immer in vielen Armeen rund um den Globus Anwendung fand. Silberne Ausführung mit einem Griff aus dunklem Ebenholz und einem vernickelten Abzug aus Perlmutt. Fünfhundert Gramm verchromtes Eisen, Schildplatt, Blei und Holzmaserung. Aber dieses Modell zeigte hier und dort bereits Gebrauchsspuren und wirkte etwas abgegriffen. Kein Zweifel, aus dieser Mündung waren bereits Kugeln abgefeuert worden.

Poincaré musste sie schon länger mit sich herumgeschleppt haben. Es war zwar ein belgisches Fabrikat, deren erste Modelle bereits vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurden. Aber erst mit dem Einmarsch der Deutschen wurde diese Wumme richtig populär, da die Waffenhersteller sie der Wehrmacht bereitstellten, die sie wiederum hauptsächlich an die Waffen-SS weitergab. Nach dieser Feuertaufe erfreute sich die Pistole bald großer Beliebtheit und gehörte nach dem Krieg zur Grundausrüstung der französischen Fremdenlegion. Wer weiß, in welchen Teilen der Welt der alte Poincaré sich herumgetrieben hatte und diese Waffe zum Einsatz gekommen war. George öffnete das Magazin. Es war voll geladen mit dreizehn Patronen, eine weitere im Lauf.

Leise steckte er die Waffe wieder zurück in die Jacke. Dann startete er den Motor, dessen Aufheulen Amanda nur mit einem summenden Murren quittierte. Er legte den Gang ein und ließ die Kupplung kommen. Der Wagen fuhr ratternd los.

Venedig, Italien – ein Uhr nachmittags

Wie mit einer Pinzette hob Josephine das Comicalbum behutsam auf, als könnte sie sich die Finger daran verbrennen. Sie wagte es nicht, einen Blick hineinzuwerfen. Aber da es Amandas Eigentum war, konnte und wollte sie es nicht einfach wegwerfen, aber hier rumliegen durfte es auch nicht. Verdammt, es war doch nur ein schäbiges Magazin! Und doch fürchtete sich Josephine davor, darin weiter herumzublättern, aus Angst, dass der Unaussprechliche dort wiedererscheinen könnte. Nein, sie war nicht verrückt; sie stand einfach nur vor einem Nervenzusammenbruch. Ja, sie musste es sich in ihrem verängstigten Zustand einfach eingebildet haben. Es gab schlicht keine andere Erklärung. Wäre George hier, könnte er dies aus psychologischer Sicht wahrscheinlich sogar fachmännisch erklären.

Dennoch beschloss sie, weder ihm noch Amanda fürs Erste von dieser Erscheinung zu berichten. Der Angriff des nächtlichen Einbrechers war bereits genug harter Stoff, mit dem die beiden klarkommen mussten, wenn sie wieder in Venedig eintrafen. Da brauchte sie nicht auch noch die Geister aus ihren Kindertagen heraufbeschwören. Vorsichtig legte Josephine das Heft daher in eine Schublade und schloss diese sogar ab. Es war lächerlich, aber sicher war eben nun mal sicher.

Im selben Moment plärrte plötzlich das Telefon los, doch diesmal glaubte sie den Anrufer zu kennen. Sie nahm ab und hörte wie erwartet sofort den schwerfälligen Atem von Inspektor Orlando.

»Dr. Canino, wir haben einen Gewinner«, knurrte er, ohne sie zu begrüßen. Es waren nun schon mehrere Stunden vergangen, seit Josephine ihn unter seiner Nummer kontaktiert hatte. Der Beamte hatte zuerst überrascht gewirkt, als sie ihn anrief, um ihn um Hilfe zu bitten. Distanziert hatte der Polyp darum gebeten, über die Hintergründe ihrer Anfrage informiert zu werden. Wahrscheinlich hatte er vermutet, dass dies bloß ein Ablenkungsmanöver von Josephine war. Viele Verdächtige zogen unwissentlich damit die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich, indem sie paradoxerweise den Ermittlern Hilfe anboten und dann versuchten, die Beamten durch falsche Hinweise in die Irre zu führen.

Doch Josephine hatte ihn damit ködern können, dass ihre Anfrage mit der Suche nach den Bragolins zu tun hatte – ein Thema, welches den Ermittler anscheinend auch privat interessierte. Orlando, der von sich selbst behauptet hatte, ein Faible für solch mysteriöse Geschichten zu haben, war sogleich ganz Ohr gewesen, als sie ihn über die Angelegenheit aufklärte. Allerdings hatte der Schnüffler von ihr nur die zensierte Version serviert bekommen. Geschmeidig wie eine Katze umging Josephine all die heiklen Themen, die sie und George in ein schlechtes Licht hätten rücken können. George erwähnte sie fast überhaupt nicht, auch den Fall Seville streifte sie nur am Rande. Stattdessen berichtete sie oberflächlich von den Forschungsergebnissen, wie sie es nannte.

Der Umstand, dass sie die Geschichte so geschildert hatte, als ob sie kurz davorständen, eine große Verschwörung aufzudecken, musste den Jagdtrieb des Ermittlers schließlich geweckt haben. Zwar hatte seine unveränderte Tonlage keinen Aufschluss darüber gegeben, ob sein Interesse erwacht war, aber die Tatsache, dass er ihrer Bitte nachkam, zeigte doch, dass er zumindest den Köder geschluckt hatte. Josephine hatte ihn letztendlich darum ersucht, im Fall Bragolin die Archive zu durchforsten, falls es entgegen aller Wahrscheinlichkeiten Unterlagen der amerikanischen Besatzungsbehörden dazu gab, in denen womöglich irgendetwas über Bragolin oder einem Magnus von Eisenstein verzeichnet wäre.

Nun hatte Orlando sie zurückgerufen und ihr sofort eröffnet, dass es mindestens einen Treffer gebe. George musste tatsächlich über diesen Poincaré an neue Informationen gelangt sein. Erst jetzt kam ihr wieder in den Sinn, dass dies ja auch genau sein Ziel gewesen war, als er sich nach Montségur aufgemacht hatte. Doch seit Tagen dachte sie an nichts anderes mehr als an ihre Tochter. Für einen Moment vergaß sie sogar die positive Rückmeldung von der anderen Seite des Hörers. Die Freude darüber, dass George mit seinen kryptischen Aussagen richtiggelegen hatte, wurde von seiner Ankündigung überstrahlt, dass er und Amanda wohlauf seien und sich bereits auf dem Rückweg befänden. Hoffnung keimte in ihr auf, dieser Alptraum möge bald ein Ende finden.

Doch dann zog die brummende Stimme des Inspektors sie wieder in die Gegenwart zurück. »Hallo? Sind Sie noch dran?«, fragte er.

»Ja, ja, ich bin hier«, antwortete sie hastig.

»Gut. Ihre Suchanfrage hat tatsächlich mehrere Treffer ergeben. Nach Ihrem Anruf habe ich mit den Kollegen sowohl von der Spurensicherung als auch aus dem Archiv gesprochen; die haben auf fast alle Daten Zugriff. Und wer hätte es für möglich gehalten, tatsächlich gibt es mehr Akten von den Amis als gedacht. Natürlich nichts Wichtiges, was den Weltfrieden gefährden könnte, sondern mehr Klatsch und Tratsch. Keine Infos aus der internen Korrespondenz, aber Notenaustausch zwischen den Amis und unseren Leuten. Vieles davon ist aber auch nicht neu. So ist schon lange bekannt, dass die CIA die Telefone der frühen Stadtregierungen hatte abhören lassen. Die haben uns nach dem ganzen Scheiß mit Benito natürlich nicht mehr so schnell über den Weg getraut. Die Details sind dennoch pikant und dürften bei so manchem Historiker eine Erektion hervorrufen. Über einen gewissen Eisenstein konnte ich dort leider nichts finden, aber was Ihre Geschichte betrifft, so haben sich die Amerikaner sehr wohl mit Ihrem Fall beschäftigt.«

»Erzählen Sie weiter«, sagte Josephine aufgeregt.

»In diesen Archiven war wie gesagt nichts über Eisenstein zu finden, aber ich habe mich dennoch nach dem Herrn umgehört. Mit ein wenig Durchhaltevermögen hätten auch Sie dies in Erfahrung bringen können. Meinten Sie Magnus Eissner von und zu Eisenstein? Aus Wien?«

»Gibt es denn viele Menschen, die so heißen?«, fragte sie spöttelnd.

Dies nahm ihr der Ermittler anscheinend krumm. »He! Passen Sie auf, und vergessen Sie nicht, wer hier wem hilft. Ich frage nur, weil ich keine Verbindung zwischen diesem Mann und Ihrem anderen Anliegen sehen kann!«

»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht beleidigen. Was haben Sie denn herausgefunden?«

»Na ja, wie der Name es schon suggeriert, handelt es sich bei den Eisensteins um ein deutsches Adelsgeschlecht. Dieser Magnus ist demnach das führende Oberhaupt einer Dynastie, die sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Sein Vermögen verdankt er jedoch wohl seinem Können als Geschäftsmann, denn die Familie ist nicht gerade von Schicksalsschlägen verschont geblieben. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor sie mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs zunächst jegliche Privilegien. Und nach dem Zweiten Weltkrieg ging es dann richtig rund, da sie auch noch ihre größten Landbesitze und Hüttenwerke in Böhmen eingebüßt haben, die von den Kommunisten als Volkseigentum beschlagnahmt wurden und heute hinter dem Eisernen Vorhang vor sich hin modern. Nach Magnus’ Antritt als Familienoberhaupt nutzte er die Entschädigungszahlungen aus den Lastenausgleichsgesetzen, um sich an der Börse einzukaufen. Er hatte zuvor erfolgreich von den deutschen Regierungen finanzielle Entschädigungen aufgrund des Verlustes seiner Immobilien im Krieg erwirkt. Seinem ersten Antrag hatte Bonn bereits im frühen Stadium stattgegeben, nach mehreren Klagen und langer Verzögerung zahlte auch Wien ihm schließlich eine Hauptentschädigung und gewährte ihm auf mehreren Ebenen günstige Eingliederungsdarlehen. Lediglich an Ost-Berlin scheiterte er. Seine neuen Geschäfte machte er mit dem frisch erworbenen Kapital in der Petrochemie und leitete die österreichische Geschäftsniederlassung von Benthic Petroleum. Später agierte er als Unternehmensberater und gründete mehrere Firmen als Teilhaber mit, die sich auf die Optimierung von … ach, ist auch nicht so wichtig. Irgendwas mit noch mehr Chemie und so ’nem Kram. Auf jeden Fall brachte er es zu einem noch größeren Vermögen, als seine Vorfahren es je hätten erwirtschaften können. Zog daneben ein hauseigenes Verlagswesen hoch, reiste durch die Welt und hielt Vorträge … zumindest bis vor kurzem.«

»Wieso? Was ist geschehen?«

»Na ja, der Herr Graf ist fort. Verschwunden. Keine Entführung, zumindest gibt es dafür keine Anzeichen. Alle seine Geschäfte laufen weiter, sein Kalender war gefüllt bis zu dem Tag, an dem er von niemandem mehr angetroffen wurde. Darüber hinaus hat er auch keine weiteren Termine mehr eingetragen. Ganz so, als hätte er gezielt geplant zu verschwinden. In der österreichischen Öffentlichkeit fällt dieses Thema weniger auf, aber in den Wirtschaftsnachrichten wird immerhin darüber diskutiert, ob der Mann eventuell hinter seinem vornehmen Namen irgendwelche Schulden oder dubiose Buchhaltertricks versteckt hielt. Man glaubt, dass er sich nun vor seinen Gläubigern ins Ausland abgesetzt hat.«

Josephine wollte es nicht aussprechen, aber der Fall Eisenstein bot anders als von Orlando behauptet doch eine Konvergenz zu ihren Ermittlungen. Schließlich war auch Lydia Seville von einem Tag auf den anderen gänzlich verschwunden ohne ein Indiz, das für eine Entführung gesprochen hätte. Wenn Orlando nur halbwegs anständig arbeitete, musste sein Gehirn rotiert und ihm diese Erkenntnis rasch vor die Linse gezaubert haben. Doch der Ermittler ging nicht weiter darauf ein.

»Das war’s?«, fragte Josephine.

»Das war’s.«

»Und was ist mit den Unterlagen im Archiv?«

»Ja, jetzt kommen wir zum interessanten Teil unseres Gesprächs. Notizen und Depeschen der amerikanischen Kommissare. Es geht aus den Papieren genauso hervor, wie Sie es mir geschildert haben. Auch die Amerikaner bemerkten irgendwann die hohe Anzahl der Kinderleichen in Venedig nach dem Krieg.«

Josephine stutzte. »Moment«, unterbrach sie ihn angespannt. »Was heißt hier auch die Amerikaner? Wollen Sie damit sagen, dass die venezianischen Ordnungshüter ebenfalls an dem Fall dran waren?«

»Sieht zumindest ganz so aus. Es gab immerhin eine Korrespondenz zwischen der amerikanischen Militärpolizei und den Carabinieri.«

»Das kann nicht sein«, empörte sich Josephine. »Ich sitze bereits seit Jahren an dem Fall und habe mich durch viele Akten gefressen – auch von der Gendarmerie. In der Zeit zwischen 1945 und 1948 gab es keine Erwähnung einer Mordserie.«

»Ihnen ist schon klar, dass die Zeiten damals sehr … chaotisch waren, um es mal so auszudrücken. Die Bürokratie verlief noch nicht reibungslos. Auch die Akten unserer amerikanischen Freunde sind unvollständig und sehr fragmentarisch. Sie glauben, Sie hätten gründlich recherchiert? Immerhin sind Ihnen diese Dokumente hier ja auch durch die Lappen gegangen?«

Josephine wurde langsam wütend. Sie fühlte sich in ihrem Stolz verletzt, dass ein solcher Macho-Cop nun womöglich entscheidende Hinweise gefunden hatte, die direkt vor ihrer Nase gelegen hatten und nicht von ihr berücksichtigt worden waren.

»Ich konnte schließlich nach keinen Unterlagen suchen, von denen ich nicht mal gewusst habe, dass sie überhaupt existieren«, fauchte sie gereizt. »Und selbst wenn: Ich denke kaum, dass diese Akten der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Sie sind mit Sicherheit unter Verschluss und können nur von Beamten wie Ihnen eingesehen werden?«

»Kompliment, genauso ist es«, schnurrte Orlando, bevor sein Ton wieder umschwang, »aber wissen Sie, was ich mich nun frage? Wenn Sie dieser Angelegenheit nie nachgegangen sind, warum fordern Sie mich jetzt plötzlich auf, danach zu suchen? In unserem Gespräch heute Morgen haben Sie mir noch verschlafen mitgeteilt, dass Sie der Sache selbst nachgegangen wären und nun meine Hilfe bräuchten, um an die notwendigen Unterlagen heranzukommen. Nun behaupten Sie, dass Sie keine Ahnung von dem Ganzen hätten? Hat Ihnen womöglich jemand einen Tipp gegeben, wo Sie nachgucken sollten?«

Josephine zögerte einen Moment. Sie war in ihrem Zorn unvorsichtig geworden und hatte ihre Deckung vernachlässigt. Nun war dem Bullen eine Ungereimtheit aufgefallen. Sie musste sich schleunigst etwas einfallen lassen, denn bei einer zu langen Gedankenpause würde sich Orlandos Verdacht gegen sie weiter erhärten.

»Nein, ich hatte mir bereits aus mehreren Literaturquellen die nötigen Infos zusammengetragen …«

»Verarschen Sie mich nicht, Dr. Canino!«, schnitt Orlando ihr das Wort ab. »Sie reden sich um Kopf und Kragen. Sie sind nicht von alleine auf diese Spur gestoßen! Also, wer hat Ihnen diesen Tipp gegeben?«

»Niemand, ich habe …«

»Wer hat Ihnen diesen Tipp gegeben?«, unterbrach er sie noch einmal ruppig und wiederholte die Frage mit bebender Stimme.

Josephine fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen und wusste nicht weiter. Orlando meinte es ernst und war bereit, bis zum Äußersten zu gehen.

»Vielleicht kann ich Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen«, fuhr er in kantiger Weise fort. »Kann es sein, dass dieser Hinweis von Dr. Mallory stammt?«

Josephine war klar, dass er wusste, dass er genau ins Schwarze getroffen hatte. »Ja«, war daher ihre kurze und ehrliche Antwort. Ihr blieb keine Zeit, sich etwas Adäquates einfallen zu lassen.

»Gut, dass wir so ehrlich miteinander umspringen. Und ich nehme an, diese Information hat Dr. Mallory aus Frankreich, richtig?«

»Was wollen Sie von mir?«

»Dasselbe wie gestern. Ich will Dr. Mallory. Es drängt mich, ihn zu dem Mord an Seville zu befragen.« Josephine war nun in die Enge getrieben worden, und es blieb ihr nur noch ein Ausweg – die Flucht nach vorne.

»Ich dachte, Sie wollten mir helfen?«, fragte sie ihn vorwurfsvoll. »Stecke ich etwa in einem Verhör?«

»Nichts dergleichen, ich will nur …«

»Ich habe Ihnen vertraut!«, unterbrach sie ihn. »Dr. Mallory und ich haben Franchot Seville wegen einem dieser Bragolins aufgesucht, das habe ich Ihnen bereits erzählt. Wir haben nichts mit dem Tod des Mannes zu tun, sondern wollen eine Mordserie aufklären, die seit vierzig Jahren ungelöst ist. Eigentlich wäre so etwas ja Ihr Job! Wer hat denn noch alles Zugriff auf diese Akten?«

»Niemand außer den Beamten, Dr. Canino. Auch Wissenschaftler und Journalisten ist es nicht gestattet ohne ausdrückliche Genehmigung Einsicht in diese Unterlagen zu erhalten.«

»Gibt es ein Register oder Protokoll, wann diese Dokumente zuletzt genutzt wurden?«

»Mir gefällt nicht, worauf Sie hinauswollen, Frau Doktor«, brummte der Polyp durchs Telefon.

»Und mir gefällt nicht, warum Sie in dieser Sache nicht längst tätig geworden sind. Ich weiß nicht, wo Dr. Mallory sich aufgrund seiner Recherchearbeit aufhält, aber er hat mir diese Informationen zugespielt. In diesem Sinne haben Sie recht, die Informationen stammen von ihm. Aber er wird wohl kaum von Frankreich aus Zugriff auf die Akten in Venedig erhalten haben. Denken Sie bitte wie ein richtiger Polizist! Worauf ich hinauswill, ist, dass Dr. Mallory diese Informationen von jemand anders erhalten haben muss. Irgendjemand muss doch noch außer Ihnen Zugriff auf diese Daten haben?«, fragte sie forsch.

Orlando wägte seine Antwort bedächtig ab. Anders konnte Josephine sich sein Schweigen nicht erklären.

»Sie reiten sich immer weiter in die Scheiße rein, Frau Doktor. Denn für jemanden, der behauptet, unschuldig zu sein, wissen Sie mir einfach viel zu viel«, erwiderte er. Josephines Nackenhaare stellten sich auf, und eine Kälte zog wie ein eisiger Schleier über ihre Haut. Es war, als säße der Inspektor direkt neben ihr und hauchte sie grinsend an.

»Ich hatte also recht?«, fragte sie.

Orlando hustete kurz und schien das erste Mal aus der Ruhe gebracht worden zu sein. Denn nun hatte Josephine bei ihm ins Schwarze getroffen.

»Es gibt einen Hinweis, dass es einen nicht berechtigten Zugriff auf dieselben Unterlagen gegeben hat, die sie angefragt haben«, entgegnete er.

»Einen nicht berechtigten Zugriff?«

»Jemand wusste ganz genau, wonach er suchen musste, und ist fündig geworden …«

»Wie konnte dies geschehen? Die Akten stehen doch unter Verschluss?«

»Das lässt sich nicht genau sagen, aber ich bin auch nicht die Auskunft. Wir wissen nur, dass ein Unbekannter vor mindestens ein paar Jahren Einsicht in diese Unterlagen genommen haben muss.«

»Und was ist dort verzeichnet? Ich muss es wissen!«

»Erst wenn Sie mir Dr. Mallory ausliefern«, antwortete er abweisend.

»Sie werden ihn zu Gesicht bekommen. Wir haben nichts zu verbergen. Ich weiß nicht, wann er wiederkommt, aber glauben Sie wirklich, ich würde ihn vor der Polizei verstecken?«

»Vielleicht gebe ich Ihnen die Information trotzdem nicht. Ich möchte mir nicht ausmalen, was Sie damit anstellen.«

»Ich bin Wissenschaftlerin und ausgewiesene Kunsthistorikerin. Was kann denn schon in den Depeschen der amerikanischen Behörden zu finden sein, was mit alten Ölgemälden zusammenhängt?«

»Das vielleicht nicht, aber diese Kindermorde von denen Sie mir erzählt haben … zugegeben: Ich dachte, das alles sei bloß von Ihnen erstunken und erlogen. Aber es gab tatsächlich eine Note der Amerikaner, in der über eine Reihe von Todesfällen unter Kindern geschrieben wird.« Josephines Puls machte einen gewaltigen Satz.

»Das deckt sich in einigen Punkten mit Ihrer Geschichte«, fuhr Orlando fort. »Man dachte zuerst an eine Krankheit, da die Todesursache nicht festzustellen war. Weil es sich bei den Opfern ausnahmslos um Kinder handelte, glaubte man nicht an einen Mord. Die katastrophale Versorgungslage und mangelnde Hygiene – da war es damals nicht ungewöhnlich, dass die Menschen einfach tot umfielen.«

»Ja, ja, ich weiß. Aber wie kann es sein, dass die alliierten Besatzer von dieser Serie Wind erhielten und die städtischen Ordnungskräfte nicht?«

»Wer sagt, dass die Carabinieri der Sache nicht auf eigene Faust nachgegangen ist?«, erwiderte Orlando.

»Sie meinen, die venezianische Gendarmerie wusste aus eigenen Ermittlungen davon? Ich habe in all meinen Recherchen nie etwas darüber gefunden?«, entgegnete Josephine entrüstet.

»Das sagten sie bereits. Aber hier lässt sich aus vielen Depeschen eine Korrespondenz zwischen unseren Leuten und den Amis ablesen. Die mysteriösen Sterbefälle waren vielleicht nicht oberste Chefsache, aber doch wohl den Ordnungskräften bekannt. Und ich glaube, ich habe einen Hinweis, warum der Fall nicht weiterbearbeitet wurde. Ja, ich glaube daraus sogar ableiten zu können, warum die Carabinieri in dieser Sache keine weiteren Ermittlungen aufgenommen haben.«

»Nun reden Sie schon!«

»Sie müssen mir eines versprechen, Frau Doktor …«

»Ich sagte doch schon, dass Sie Dr. Mallory zu Gesicht bekommen werden!«

»Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, aber da ist noch etwas anderes.«

»Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.«

Es folgte eine erneute Pause, die wie ein Magnet an den Spannungsfeldern der beiden zerrte.

Dann ergriff Orlando wieder das Wort. »Diese Papiere hier sind in höchstem Maße vertraulich, und ich kann Sie Ihnen unmöglich zuspielen, das würde mich meinen Kopf kosten … und den Ihren auch. Sie vertrauen mir, dass es stimmt, was ich Ihnen aus diesen Archiven mitteile, aber ich muss auch Ihnen vertrauen können.«

»Was soll ich tun?«, fragte Josephine.

»Wenn schon die Polizei niemals dieser Sache nachgegangen ist, so will ich, dass Sie es tun.«

»Was?«

»Finden Sie heraus, was es mit den toten Kindern auf diesen Bildern auf sich hat. Ich will die Wahrheit erfahren!«

»Sie glauben mir also? Ich meine … Sie glauben, dass diese Gemälde den Tod bringen?«

»Mit Glauben hat das nichts zu tun. Als Ermittler muss ich die Fakten im Blick behalten. Aber Sie können dieser Sache nachgehen. Sehen Sie es als Chance, zu beweisen, dass sie nichts mit Sevilles Tod zu tun haben. Vielleicht hat wirklich jemand anders ihn umgebracht, um sich das Gemälde zu schnappen. Vielleicht hat dieser Jemand auch wirklich Sevilles Frau entführt. Und vielleicht war es auch exakt dieselbe Person, die Sie nachts angegriffen hat, um einen potentiellen Zeugen auszuschalten. Aber das interessiert mich im Moment nicht. Mich interessiert gerade nur eins: dass Sie in dieser Sache wieder tätig werden.«

»Macht Ihnen diese Geschichte etwa Angst?« Erneut folgte eine kleine Pause. Als Orlando sich wieder meldete, war seine Stimme zu einem hohen Flüstern geworden.

»… ich habe nur Angst, dass diese Sache nie aufgeklärt wird und weitere Menschen sterben müssen. Gott stehe uns bei, wenn das stimmt, was Sie sagen. Ich habe schon von vielen unheimlichen Fällen gehört, aber so was …« Er verstummte kurz, um tief durchzuatmen. »… aber so was übersteigt selbst mein Vorstellungsvermögen. Wenn Sie das Schicksal dieser Kinder aufklären wollen, werde ich Ihnen die Informationen geben. Werden Sie es tun?«

»Das werde ich. Sie haben mein Wort.«

»Dann hören Sie mir nun ganz genau zu … die Carabinieri sind dieser Spur nachgegangen. Nachdem die Opferzahl der Kinder mehr und mehr gestiegen ist und sich allmählich ein Muster abgezeichnet hat, mussten die Behörden tätig werden. Man nahm zunächst an, dass es mehrere Täter waren … eine Art Zigeunerbande, die aus Jugoslawien oder so vertrieben worden ist und sich hier niedergelassen hat, um Kinder zu entführen. Zuerst glaubte man, dass die Kinder durch Gift oder Drogen umgebracht worden seien, da es keine Spuren von Gewalteinwirkung gab. Doch Gift konnte man rasch ausschließen, da jegliche Substanz, die eine tödliche Auswirkung auf den Körper hat, sich spätestens im Blut oder anderen Körperflüssigkeiten hätte nachweisen lassen. Schon die Farbe der Totenflecken oder die Größe der Pupillen hätte Aufschluss darüber geben können, ob hier ein toxischer Cocktail am Werk gewesen ist.«

»Warum habe ich darüber nie etwas gelesen?«

»Weil diese Akten vernichtet worden sind. Von der italienischen Polizei. Sie mussten vernichtet werden. All das geht nur noch bruchstückhaft aus der Korrespondenz der amerikanischen Kommissare hervor.«

»Aber was haben die mit der ganzen Sache zu schaffen?«

»Sie waren es, die den Carabinieri befahlen, die Unterlagen zu vernichten!«, entgegnete Orlando leise.

»Was? Ich verstehe nicht …«

»Ich glaube, Sie verstehen sehr gut. Die Besatzungsbehörden hatten noch lange Zeit den Daumen auf den venezianischen Ordnungskräften. Als die Todesserie immer unerklärlicher wurde, übernahmen sie selbst das Kommando. Sie haben den Carabinieri den Fall weggenommen und befohlen, alle Unterlagen darüber zu vernichten und nie mehr davon zu sprechen!«

»Warum? Zu welchem Zweck?«

»Das geht aus den Noten nicht hervor, ich kann nur mutmaßen. Aber die Amerikaner bildeten anscheinend eine geheime Sonderkommission. Diese Kommission betrieb fortan die Ermittlungen.«

»Und was war das Ergebnis?«

»Hach, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber die Berichte liegen mir nicht vor. Auch sie wurden später von den Amerikanern vernichtet. Aber ich habe eine andere Meldung, die Sie aus den Schuhen hauen wird …«

»Nun sagen Sie schon!«

»… aus dem Schreiben geht hervor, dass man den Täter fassen und die Serie somit beenden konnte. Halten Sie sich fest: Es gibt zwar keinen Namen, aber der Mann, den man gestellt hat, war ein Künstler. Man verhaftete ihn in seinem Atelier.«

»Bragolin«, nannte Josephine den Namen, als handelte es sich dabei um ein Fremdwort. »Bragolin. Es gab ihn also wirklich. Was wurde aus ihm?«

»Er ist gestorben«, erwiderte Orlando. »Was genau vorfiel, kann aus den Resten nicht herausgelesen werden, aber vermutlich wurde Ihr Bragolin bei diesem Einsatz erschossen. Das war natürlich auch ein Grund, warum man diese Akten gern geschreddert sehen wollte. Der Zugriff verlief anscheinend ohne Genehmigung und absolut inoffiziell.«

»Was wurde aus seiner Leiche?«

»Das weiß ich nicht. Auch darüber gibt es keine Auskunft. Aber es hat ihn gegeben. So viel steht fest.«

»Geht denn aus dem Schreiben hervor, wo dieses Atelier liegt oder wo Bragolin gelebt hat?« Orlando zögerte.

»… ich denke, ich habe Ihnen schon genug erzählt. Genug, damit Sie Ihre Arbeit wieder aufnehmen können …«

»Verladen Sie mich nicht! Ich brauche diese Information!«

»Und was werden Sie dann tun? Auf eigene Faust rumschnüffeln und Anwohner belästigen? Ich werde sicher nicht Zivilisten dazu motivieren, polizeiliche Ermittlungen zu betreiben.«

»Aber genau darum haben Sie mich doch eben gebeten!«

»Nein, da haben Sie mich missverstanden. Ich würde niemals Zivilisten auffordern, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen oder sich in Polizeiarbeit einzumischen. Aber die Ordnungskräfte mit Hinweisen zu unterstützen, ist eine ganz andere Sache. Ihre Arbeit sollte sich lieber auf Ateliers und Bibliotheken beschränken. Überlassen Sie mir die Straße.«

»Natürlich werde ich nichts tun, was Sie irgendwie bei der Polizei in Bedrängnis bringen könnte. Sie haben mein Wort darauf. Und Sie kriegen Mallory, das verspreche ich Ihnen!«

Orlando atmete gespannt aus, es klang, als würde er auf der anderen Leitung beiläufig eine Zigarette rauchen. »Ihr Schlachtfeld sind die Museen. Die Unterwelt gehört der Polizei«, sagte er. Doch seine Worte klangen wackelig und ohne festen Halt.

Plötzlich fasste Josephine einen Entschluss. »In den spärlichen Informationen, die Sie in den Händen halten, findet sich wohl nicht auch zufällig ein Hinweis über Samaghul?«

Ein Räuspern auf der anderen Seite ließ die Verbindung erzittern. »Gut geraten«, entgegnete der Schnüffler, bemüht, nicht überrascht zu wirken. »Es gab tatsächlich vage Zeugenaussagen, dass einige der Kinder zuletzt in Anwesenheit eines kostümierten Teufels oder Clowns gesehen wurden. Ein vermummter Gaukler, wenn Sie so wollen. Es gab natürlich Vermutungen, dass dies jener Bragolin gewesen sein könnte. Der Mörder verkleidet in einer diabolischen Maskerade. Selbst in Venedig nicht gerade eine unauffällige Tarnung. Einige sprachen davon, dass diese Gestalt wie der Samaghul ausgesehen hätte. Tss, ich würde darauf nicht allzu viel geben. Aber woher wussten Sie das, Frau Doktor?«

»Es war der Samaghul, der mir vor zwei Nächten in meiner Wohnung aufgelauert hat!«

»Was? Samaghul? Sie meinen, der Attentäter kam in Gestalt dieser kostümierten Märchengestalt? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

»Sie haben eine Adresse, wollen es mir aber nicht sagen. Ich glaube aber, ich kenne sie schon …«

»Was?«

»Calle dei Turchette, Hausnummer 2741. Ist es diese Straße?«

Nun konnte der Bulle seine Verblüffung nicht mehr verbergen. Er war völlig überrumpelt. »Sagen Sie mal, woher wissen Sie das alles?«, fragte er bissig.

»Das tut jetzt nichts zur Sache. Sie haben mein Wort. Ich nehme meine Arbeit wieder auf und händige Ihnen Mallory aus. Dafür will ich aber nicht länger Ihren Atem in meinem Nacken spüren. Verstanden?«

»Jetzt, passen Sie mal auf, mit wem Sie …«

Josephine legte auf. Sie brauchte die Antwort des Beamten nicht mehr abzuwarten. Sie kannte die Adresse bereits. Und das lag nicht nur daran, dass ihr George zuvor den Namen dieser Straße genannt hatte. Sie war schon einmal an dem Ort gewesen, ohne es zu wissen. Ohne zu wissen, dass es der Ort war, an dem Bragolin sein Ende gefunden hatte. Sie wusste nun wieder, woher sie die Straße kannte. Das Haus an dieser Stelle gehörte einst Bruno Amadio, dem Besitzer und Verkäufer der Bragolins.

Bragolin … es gab ihn also wirklich.

Savona, Italien – Halb fünf am Nachmittag

In einem kleinen Bistro, das den Namen Barnabas trug, gönnten sich George und Amanda eine Stärkung. Der Tisch, an dem sie Platz nahmen, bestand aus einer dicken Pinienscheibe, an der abschnittsweise sogar noch die Rinde vorhanden war. Es sollte ihr letzter Halt sein, bevor sie endlich wieder in Venedig ankommen würden. Da sie wenigstens wieder auf italienischem Boden waren, fiel die Kommunikation leichter, weil Amanda mit den Einheimischen reden und sie nach dem Weg fragen konnte. Und da hier auch wieder Lira akzeptiert wurden, hatten sie die freie Auswahl.

Beide saßen abseits der meisten Besucher in einer Nische und warteten auf ihre Bestellung. Das Gasthaus hatte auf seiner Beschilderung vorne auf der Straße seine mediterrane Küche besonders hochgelobt. Die Inneneinrichtung des Bewirtungsbetriebs war mit gekacheltem Boden und Trägern aus Eiche und kupfernen Sudkesseln altertümlich gestaltet. Das Licht hatte einen seltsam gelblichen Farbton, der zuweilen an Einkaufsläden für arme Leute erinnerte. Dennoch war die Atmosphäre herzlich, das Haus erfüllt von Lachen, Trinken und Geschichten.

Während die anderen Gäste sich plaudernd ihre Ravioli und Pasta in den Mund schoben, verlief die Konversation zwischen den beiden äußerst hölzern. Amanda nippte an einem Glas Cola mit Eiswürfeln, die langsam vor sich hinschmolzen und den Sirup verdünnten, während George etwas in sich gekehrt mit dem Löffel in seinem Kaffee herumrührte. Mit seinem Bestand an Lira hatte er zuvor noch mal versucht, Josephine zu erreichen, aber sie war wie erwartet nicht an den Hörer gegangen. Doch dies wertete er als gutes Zeichen; vermutlich, weil Josephine nun auf den Beinen war und in der Zwischenzeit seinen Hinweisen nachging.

Er verfügte jedoch nicht mehr über die Kraft, Dr. Velmonte anzurufen. Freilich wollte er die alte Frau nicht auch noch verrückt machen und würde ihr lieber alles in Ruhe erklären, sobald sie eingetroffen waren. Vermutlich hatte er mit seinen Aussagen und Amandas spontanem Trip für ziemlich viel Verwirrung gesorgt. Ärger war jedenfalls vorprogrammiert, und deswegen brauchte er nun unbedingt eine Mahlzeit, um seinen ausgelaugten Optimismus wieder aufzutanken.

»Wir haben noch etwa drei, maximal vier Stunden Fahrt vor uns, bevor wir Venedig erreichen«, sagte er schließlich in einem etwas papierenen Tonfall.

»Wow, ich kann es kaum erwarten, in mein altes Leben zurückzukehren«, jubelte Amanda ironisch.

Nun schaute George wieder zu ihr hinüber. Sein säuerlicher Blick ließ keine frechen Seitenkommentare mehr zu. »Bitte hör mir zu. Wir müssen unsere Geschichten endgültig aufeinander abstimmen. Deine Mutter hat viel durchgemacht, und wenn sie nun auch noch erfährt, dass dieses Abenteuer uns beinahe Kopf und Kragen gekostet hätte, kriegt die arme Frau sicher einen Herzinfarkt.«

»Na und? Werde ich halt von einer Familie in die nächste geschoben. Was soll’s!«

»Sag mal, warum hasst du deine Adoptivmutter eigentlich so sehr?«

»Ich hasse sie doch gar nicht.«

»Deine Wortwahl lässt mich zu einer anderen Einschätzung kommen.«

»Nun ja … es nervt mich, dass sie sich aufführt, als wäre sie meine richtige Mutter!«, nörgelte Amanda.

»Kannst du dich denn noch an deine richtigen Eltern erinnern?«

Amanda senkte ihr Haupt. »Nicht wirklich. Mir blieben nur ein paar alte Fotos. Und die Erinnerungen, die an ihnen hängen. Ich schaue sie mir nur heimlich an, wenn Joe es nicht mitbekommt.«

»Weshalb das?«

»Um mich daran zu erinnern, was ich einst verloren habe.«

»Ich meine, warum tust du es heimlich?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie unsicher. »Ich glaube, es tut ihr weh … also Joe tut es weh. Sie hat es mir natürlich nie verboten, aber …« Amanda brach ab. Entweder wusste sie nicht weiter, oder sie wusste, was sie sagen wollte, fand aber nicht den Mut, es auszusprechen.

»Sie weiß, dass sie deine leiblichen Eltern niemals ersetzen kann, und sie weiß auch, dass du ein Recht darauf hast, ihrer zu gedenken.«

»Ich weiß …«, antwortete Amanda knapp. Sie trank weiter und vermied den Augenkontakt. Sie tat so, als wäre sie mit sich selbst beschäftigt, wurde jedoch von George durchschaut. Er nahm nun seinerseits all seinen Mut zusammen und bohrte weiter nach.

»Du trägst sie bei dir? Oder?«

»Was?«, fragte Amanda.

»Deine Eltern … du hast sicher ein Foto von ihnen in deinem Geldbeutel.«

»Woher weißt du das?«

»Na, hör mal, Kleines … bin doch nicht von vorgestern«, erwiderte er mit einem warmen Lächeln.

Etwas mechanisch griff Amanda in ihre Hosentasche und zückte ein kleines Portmonee. Langsam öffnete sie es und kramte ein angeknittertes Farbfoto heraus. George bekam es von ihr überreicht, ohne darum gebeten zu haben. Nachdem er es entgegengenommen hatte, musterte er die Details. Die Abbildung zeigte einen Mann und eine Frau mit einem kleinen Mädchen im Arm, das vor Freude übers ganze Gesicht strahlte. Unnötig zu fragen, wer das Mädchen war. Der Blick in den Augen der jungen Eltern war frei von allen Sorgen. Der Tannenbaum mit dem glänzenden Schmuck im Hintergrund wies unmissverständlich auf ein Weihnachtsfest hin. Amanda hielt auf dem Bild einen kleinen Gegenstand in den unbeholfenen Kinderhänden. Ohne Zweifel ein Geschenk in Form eines Teddybärs. Das Foto schien mit einem Selbstauslöser geknipst worden zu sein.

Während Amanda und ihre Mutter auf einem kiesgrauen Cordsofa Platz genommen hatten, stand der Vater neben ihnen und legte seine Hand behutsam auf die Schulter seiner Frau. Vermutlich hatte er den Fotoapparat eingestellt und war dann rasch zur Couch zurückgeeilt, bevor der Auslöser losging. Es war aber auch nicht auszuschließen, dass jemand anders das Bild aufgenommen hatte und der Vater – obwohl genug Platz auf dem Sofa vorhanden war – sich als Familienoberhaupt sehen wollte, das immer über Frau und Tochter wachen würde. Es gab viele Möglichkeiten, wie dieses Bild zu interpretieren war.

Die Farben waren mittlerweile etwas ausgebleicht, aber immer noch gut zu erkennen. Es musste damals sehr kalt gewesen sein, denn Amandas Eltern trugen dicke Pullover. Zimtrot war das Oberteil des Vaters, marineblau jenes der Mutter. Irgendwie wirkten die Gesichter von Amandas Eltern vertraut auf George. Er wollte das Bild jedoch nicht länger unter die Lupe nehmen, um Amanda nicht in Verlegenheit zu bringen, und reichte es ihr wieder zurück. Sie legte es vor sich auf den Tisch und betrachtete es gedankenverloren.

Gleichzeitig griff nun George schelmisch in seine eigene Tasche und holte seine Geldbörse hervor. Kurz darauf übergab er Amanda ein Foto. Neugierig blickte sie darauf und erkannte das monochrome Porträtfoto einer etwas reiferen Dame mit einem herzlichen Gesicht. Die Aufnahme war in Schwarz-Weiß gehalten, und es war nur zu erahnen, dass ihre Haare entweder blond oder hellrot gewesen sein mussten. Der schmale Mund wirkte durch den dunklen Lippenstift schwarz wie die Nacht und dünn wie ein durchgezogener Faden.

»Oh … deine Mutter?«, fragte sie.

George nickte stoisch.

»Wie ist ihr Name?«

»Susan. Wie hießen deine Eltern?«

»Monique und Toni Diaz.«

»Hm …«

»Was ist?«, fragte Amanda.

»Ach, nichts … hab gerade nur an etwas gedacht«, antwortete er.

»Aber du siehst deiner Mutter nicht besonders ähnlich«, entgegnete Amanda, »vielleicht gerätst du mehr nach dem Vater. Wo ist er?«

»Ich trage kein Bild von ihm bei mir. Meine Mutter ist bereits vor langer Zeit verstorben. Ihn sehe ich hingegen noch zweimal im Jahr … höchstens.«

»Zweimal im Jahr … und dann trägst du kein Foto von ihm bei dir?« Ihre Stimme zitterte, denn sie merkte, dass diese Frage sich wie ein stummer Vorwurf anhörte.

»Schlimmer, als keinen Vater gehabt zu haben, ist, meinen alten Herrn als Vater gehabt zu haben. Jedenfalls sieht man auf deinem Foto, von wem du die sanfte Nase abbekommen hast. Wenn ich so darüber nachdenke … vielleicht hast du in einem Punkt recht, was Josephine betrifft. Stell dir mal vor, sie wäre deine leibliche Mutter und du müsstest ihren Zinken tragen …?«

Amanda lächelte etwas angestrengt und reichte ihm das Bild zurück. »Ich bin schon zufrieden, wenn ich später auch so viel Holz vor der Hütte habe wie sie!«, sagte sie mit einem schwachen, aber tapferen Grinsen. Es war ein Grinsen, das an einem seidenen Faden hing und jeden Moment wieder in sich zusammenfallen konnte.

Ihre Unterhaltung wurde kurz unterbrochen, als die Kellnerin kam und die Bestellung servierte. Lasagne für Amanda, während sich George mit einer einfachen Pilzsuppe begnügte. Trotz der langen Fahrt verspürte er nur geringen Appetit. Auch er legte sein Foto nicht zurück, sondern platzierte es auf dem Tisch vor seinem Teller wie eine Schachfigur auf einem Spielbrett.

»Hast du noch viele Erinnerungen an sie?«, fragte das Mädchen weiter. Für einen kurzen Moment glaubte sie, die Vertraulichkeit des Augenblicks zwischen ihnen beiden überstrapaziert zu haben, doch George gab sich keine Blöße.