Das Verräterkarussell - Arthur A. Quint - E-Book

Das Verräterkarussell E-Book

Arthur A. Quint

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein jüdischer Physiker aus Wien bietet dem amerikanischen Geheimdienst bahnbrechende Forschungsergebnisse an. Sein prominenter Berliner Kollege begeht sogar einen Mord, um ihr gemeinsames Werk zu schützen. Doch die Gestapo ist den Männern auf den Fersen - und mit ihnen gerät der blutjunge amerikanische Agent Thomas K. Wolf, Nachkomme deutscher und österreichischer Emigranten, in eine komplizierte und lebensgefährliche Spionageaffäre.

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Arthur A. Quint

Das Verräterkarussell

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Imagno und National Archives of Norway; https://foto.digitalarkivet.no/fotoweb/archives/5001-Historiske-foto/Indekserte%20bilder/Fo30141603180042.tif.info

ISBN 978-3-8392-7198-8

Prolog

Fast hatten sie es geschafft, fast war der Albtraum vorbei.

Die schwarze Limousine stoppte vor dem Ortsrand von Scheibenhardt. In den Häusern an der engen Straße, die geradewegs zur Brücke führte, brannte kein einziges Licht. Tom zog die Handbremse an und blickte konzentriert durch die größeren Löcher der völlig perforierten Windschutzscheibe nach vorn: Im Schein der wenigen Straßenlaternen erkannte er in etwa 200 Metern Entfernung einen rot-weißen Schlagbaum vor der Brücke.

»Wir werden zu Fuß gehen müssen«, stellte Richard angespannt fest. Sarah hatte mit einem Taschentuch auf der Fahrt all das Blut aus seinem Gesicht und von seinen Händen entfernt. Seiner Stimme nach zu urteilen, schmerzten seine Verletzungen mehr, als er zugeben wollte. »Holt eure Dokumente raus. Wenn sie fragen, wir haben drüben Geschäftliches zu erledigen, in Hagenau.« Er klopfte Tom auf die Schulter und fügte hinzu: »Es ist besser, wenn ich mit den beiden Schießeisen die Grenze passiere.«

Tom griff in seine Innentasche und reichte ohne Umschweife die Parabellumpistole nach hinten. Er war froh, sie wieder los zu sein.

»Warum werfen wir die Waffen nicht einfach weg?«, fragte Sarah.

»Noch nicht«, antwortete Richard. »Noch sind wir nicht in Sicherheit. Jetzt muss ich hier erst mal aussteigen …«

»Sollen wir dir helfen?« Sarah knotete sich einen Seidenschal um den Hals.

»Nein, nein, es wird schon gehen.« Richard öffnete die Tür. Er war kreidebleich.

»Tim«, flüsterte Richard sichtlich mit Mühe in Richtung von Tom und nickte dann Sarah zu, als sie in der Dunkelheit langsam durch das beinahe totenstille Dorf marschierten, »du gehst als Erster durch die Kontrolle, dann Sonja. Sollten sie bei mir Verdacht schöpfen, seid ihr zwei schon durch.«

Stacheldrahtrollen säumten den Flussverlauf, und große Schilder wiesen in deutscher Sprache darauf hin, dass sie sich auf die Staatsgrenze zubewegten. Ganz plötzlich glaubte Tom, ein Brennen auf seiner Brust zu verspüren. Er griff für einen kurzen Moment unauffällig auf seinen Mantel und fühlte das kleine Notizbuch in seiner Innentasche, von dem er weder Richard noch Sarah erzählt hatte. Aber er hatte nicht vor, das nun zu ändern. Jetzt war nur entscheidend, dass sie sich in Sicherheit brachten und am Leben blieben, alles andere konnte später geklärt werden.

»Kein überflüssiges Wort mehr«, zischte Tom, als er zwei Soldaten mit geschulterten Gewehren vor einem Wachhaus entdeckte. Hinter dem einzigen Zugang zur Brücke – einem mit Brettern, Draht und Sandsäcken gesicherten Korridor, der an einer kleinen Baracke vorbeiführte – waren zwei weitere Aufseher postiert, die neben dem Schlagbaum in der Kälte froren.

Mindestens vier Mann, dachte Tom konzentriert. Da erkannte er zwei Wachtürme unweit des Ufers, von denen aus man ins Nachbarland spähen konnte. Hinter der kurzen zweispurigen Brücke wehte am anderen Ufer neben einem mit Sandsäcken geschützten Häuschen die blau-weiß-rote Trikolore in einer leichten Brise. Dort war Frankreich.

Das deutsche Scheibenhardt und das französische Scheibenhard waren nicht zwei Nachbarorte, sondern ein in zwei Hälften durchschnittenes Ganzes. Eine Runde illustrer Politiker musste irgendwann entschieden haben, dass der schmale Fluss namens Lauter die zahlreichen kleinen Fachwerkhäuser aus weißem Stein und schwarzem Holz in zwei Teile zu trennen hatte.

Einer der Soldaten sah auf und trat eine Zigarette mit seinem Stiefel aus. Der junge Mann in der dunkelgrünen Uniform hatte Richard, Sarah und Tom bemerkt.

»Sie wollen um diese Zeit über die Grenze?«, fragte er etwas herablassend.

»Ja«, antwortete Tom sofort.

Der vielleicht 18 Jahre alte Deutsche zuckte mit den Achseln, trat zur Seite und deutete auf die Baracke hinter sich. »Weisen Sie sich dort drüben aus. Halt, einer nach dem anderen.«

Tom blickte über seine Schulter zurück. Richard blieb stehen und nickte ihm zu, Sarah schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.

Sie ist eine außergewöhnlich willensstarke Frau, dachte Tom. Wahrscheinlich konnte niemand wirklich hinter ihre wunderschöne Fassade blicken und wissen, was in ihrem Kopf vorging.

Er wandte sich wieder herum, ging geradewegs unter einer he­rab­baumelnden Hakenkreuzfahne hindurch und folgte dem schmalen Gang in Richtung der kleinen Baracke.

»Die Papiere«, befahl ein uniformierter Mann Mitte 30 hinter einem Fenster, deutete mit dem Zeigefinger auf eine große Öffnung unter der Scheibe und schob seine Brille die Nase hinauf. Der oberste Knopf seiner olivfarbenen Jacke war geöffnet, der Mann wirkte müde. Tom fasste in seine Innentasche und wollte seinen Pass hinausziehen – doch plötzlich hielt er inne.

»Ihre Papiere«, wiederholte der Beamte ungeduldig. Tom schob seine Hand wieder in den Mantel.

»Nur einen Moment«, beteuerte er, lächelte gequält und wurde hochrot. Er hatte geistesabwesend anstelle seines Ausweises das kleine rote Notizbuch hervorgekramt, das er in Wien in den Kunststoffbeutel eingewickelt hatte. Schnell stopfte er es wieder in die Innentasche und ermahnte sich innerlich selbst: Mach’ jetzt, verdammt noch mal, keinen Anfängerfehler! Er hoffte, dass der Beamte keinen Verdacht geschöpft hatte.

»Hier.« Tom legte den gefälschten reichsdeutschen Pass von Tim Wallstrom aufgeschlagen auf das Holzbrett.

»Wallstrom«, las der Uniformierte desinteressiert und gähnte. Tom bemühte sich, so sehr er konnte, nicht aufgeregt zu wirken, aber sein Puls raste. Der Brillenträger blickte auf und musterte Toms Gesichtszüge. Langsam und bedächtig blätterte er dann zum Foto der Fälschung. Tom ließ seine Arme baumeln und bemühte sich, gelassen zu wirken, doch er befürchtete, dass es ihm nicht besonders gut gelang.

»Haben Sie Devisen dabei?«

»Keine 100 Reichsmark«, log Tom sofort, »Ich bin nur kurz in Frankreich. Ich will morgen Abend schon zurück sein.«

»Der Nächste!«, brüllte der Grenzer und ließ Tom zusammenzucken. Erst als der Mann den Pass zurückschob, hatte Tom verstanden. Sofort nickte er, schnappte sich den Ausweis und eilte los. Es hatte geklappt! Er war durch!

Tom ging durch den Korridor auf den Schlagbaum zu. Die beiden Soldaten wichen zur Seite und ließen die Schranke in die Höhe gleiten. Tom fühlte, wie eine tonnenschwere Last von seinen Schultern fiel, als er die vom letzten Regenwasser glänzende Brücke betrat und endlich das Deutsche Reich verließ.

»Ihre Papiere bitte, Fräulein«, hörte er den Beamten hinter sich laut rufen. Tom setzte langsam einen Fuß vor den anderen, hielt die Luft an und lauschte angestrengt. Nun war Sarah hinter ihm an der Reihe.

»Kann passieren.«

Tom atmete auf. Auch Sarah war durch! Es fehlte nur noch Richard.

»Der Nächste.«

»Ihren Ausweis«, vernahm Tom kaum noch hörbar, denn er hatte schon beinahe den höchsten Punkt der Brücke erreicht. Er schloss die Augen, bemühte sich, beinahe geräuschlos aufzutreten und spitzte seine Ohren: Sarahs Schuhe klackten nicht weit hinter ihm auf dem Pflaster. Fast war es geschafft! Fast!

»Frankreich, Frankreich«, murmelte Tom zuversichtlich und ballte seine Hände zu Fäusten. In ein paar Augenblicken würde sich das verdammte kleine rote Buch aus Wien endlich in Sicherheit befinden …

Wenige Meter vor ihm öffnete sich eine Tür in dem Grenzhäuschen auf französischer Seite. Ganz langsam trat eine Gestalt heraus, die einen dunklen Hut trug und in einen langen Mantel gehüllt war. Tom blieb abrupt stehen und blinzelte: Die Gestalt verbarg eine Hand hinter dem Rücken und blickte auf die deutsche Seite hinüber.

Wer zum Teufel ist das?, dachte Tom, als sich die Person seelenruhig etwa zehn Meter vor ihm mitten auf die Fahrbahn stellte. Auf einmal hob sie den Kopf und ließ Tom unvermittelt einen Schritt zurückweichen: Das fahle Licht fiel auf das von Narben übersäte Gesicht von Colonel Francis Colpo.

»Nein!«, wollte Tom vor Wut und Überraschung schreien – doch ehe er es konnte, schnellte schon die rechte Hand des Colonels nach vorn: Tom blickte direkt in die Mündung eines Revolvers. Als Colpo nur einen Augenblick später mit regungsloser Miene abdrückte, ließ sich Tom instinktiv auf den Rücken fallen. Da brach die Hölle los.

Zahllose Stimmen riefen an beiden Ufern mit einem Mal aufgeregt durcheinander, wurden aber von zahlreichen Schüssen aus allen Richtungen mit Leichtigkeit übertönt. Scheinwerfer erleuchteten die Brücke schlagartig taghell. Tom drehte sich unter dem dröhnenden Lärm auf den Bauch und blickte zurück. Die Brücke war leer – und Sarah war verschwunden.

Eine deutsche Wache sackte getroffen mit schmerzverzerrtem Gesicht hinter dem Schlagbaum zu Boden. Ein zweiter Soldat feuerte mit einem Gewehr in die Luft, während neben ihm Projektile in die Sandsäcke und Barrikaden einschlugen.

Tom überlegte nicht lange. Er raffte sich auf und rannte mit eingezogenem Kopf zurück. Ohne von einer Kugel getroffen zu werden, schaffte er es wieder zum Schlagbaum und blickte sich hektisch um. Wo war Sarah? Wo Richard? Was war mit ihnen geschehen?

Während auf dem deutschen Wachturm eine Salve aus einer automatischen Waffe abgefeuert wurde, rollte Tom unter dem rot-weißen Balken hindurch, kam wieder auf die Beine, sprang gebückt über eine Stacheldrahtzaunrolle, krachte dahinter zu Boden, raffte sich erneut auf und raste los.

»Halt!«, kreischte eine Stimme hinter ihm. Tom kümmerte es nicht. Er warf energisch seine Arme und Beine nach vorn und lief durch die leeren Straßen des Dorfes in Richtung Westen, direkt in einen Wald hinein.

Erst als der Lärm hinter ihm deutlich abebbte, blieb Tom stehen. Sein Herz raste, als er sich an den Stamm einer großen Birke lehnte und außer Atem in alle Himmelsrichtungen blickte. Zitternd tastete er nacheinander seine Arme, Beine und schließlich seinen Oberkörper ab. Alles unversehrt, verstand er und wischte sich schließlich mit einer Hand über den Mund.

Doch das Gefühl der Erleichterung dauerte nur wenige Momente an, denn sofort wurde Tom bewusst, dass er sich nun völlig allein auf deutschem Boden befand – und vor allem, dass er verraten worden war.

»Verflucht!«, flüsterte Tom wütend und verängstigt zugleich. Was sollte er jetzt nur tun? Alles war verloren. Jetzt waren nicht nur die Deutschen, sondern offenbar doch auch die eigenen Leute hinter ihm her! Was, zum Teufel, war nur passiert?

Tom machte unsicher ein paar Schritte zurück in jene Richtung, aus der er gekommen war, und kniff die Augen zusammen. Was um alles in der Welt war mit Sarah und Richard geschehen? Hatten die sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht, als sie Colpo erkannt hatten? Aber verdammt, verdammt, wieso hatte Colonel Colpo sie verraten? Wieso, um Himmels willen?

Plötzlich fiel irgendwo erneut ein Schuss und durchschnitt die Luft regelrecht. Tom ging instinktiv in die Knie, drehte sich dann aber um und rannte weiter. Dies war nicht der Zeitpunkt, um lange nachzugrübeln – er musste sich jetzt darum kümmern, am Leben zu bleiben.

Mehrere Minuten lang folgte er einem schmalen Trampelpfad durch den Wald. Dann, auf einmal, wurde Tom langsamer, schnaufte laut, drehte ruckartig seinen Kopf zur Seite und blieb stehen: Er hörte das Plätschern von Wasser. Toms Augen weiteten sich – er entdeckte das glitzernde Flussbett der Lauter, das vielleicht 20 Meter von ihm entfernt hinter einem im Mondlicht schimmernden Grenzzaun lag. Am gegenüberliegenden Ufer erkannte er in der Dunkelheit die Silhouetten zahlloser hoher Bäume, deren Äste im Wind klapperten.

Tom biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht konnte er diesem Schlamassel doch noch entkommen!

Er gab sich einen Ruck, querte mit zwei Sätzen den Weg und erreichte das an steilen Pflöcken angebrachte Gitter. Tom verschwendete keinen Gedanken daran, ob der Zaun unter Strom stehen könnte – er griff mit beiden Händen in die Drahtmaschen und kletterte hinauf. Als er ganz oben angekommen war, drückte er mit der rechten Hand drei Stacheldrahtbahnen ein Stück hinab und schob dann vorsichtig zuerst sein linkes und dann sein rechtes Bein hinüber. Als er sich schließlich auf der anderen Seite des Zauns fallen ließ, schnitten sich Drahtdornen in seine Stirn. Tom krachte unsanft zu Boden und spürte, wie ihm Blut über das Gesicht lief. Aber es kümmerte ihn nicht weiter. Er erhob sich, sprintete das letzte Stück des abfallenden Ufers hinab, holte tief Luft und sprang schließlich so weit er nur konnte nach vorn. Er ruderte wild mit Armen und Beinen, bis er mit zusammengekniffenen Augen in die Fluten eintauchte.

In diesem Moment wusste Tom, dass er einen Fehler begangen hatte.

Das eiskalte Wasser versetzte seinem Körper 1000e Nadelstiche, alles um ihn herum wurde von einem lauten Rauschen verschlungen. Verkrampft sank er wie ein Stein hinab – und er konnte nichts dagegen tun. Er riss seine Augen verzweifelt auf und verstand, dass es hier tatsächlich zu Ende gehen würde.

Er hatte verloren. Er hatte in diesem verdammten Verräterkarussell die Übersicht verloren.

Auf einmal wünschte er sich nichts sehnlicher, als wieder in Philadelphia sein zu können, dort, wo alles angefangen hatte.

I.

1. Das Ende

Als er tief ins Waschbecken gebeugt die Hände auf seine frisch rasierten Wangen drückte, verschloss das kalte Wasser seine Ohren. Tom hörte mit einem Mal nichts mehr – und das war ein gutes Gefühl. Nur ein einziger Gedanke kreiste immer und immer wieder in seinem Kopf umher: Fort, er wollte einfach nur fort.

Nach einer Weile rebellierten seine malträtierten Lungen und forderten Sauerstoff. Er ließ seinen Oberkörper nach oben schießen und atmete laut ein. Das Wasser klatschte auf den Beckenrand, den Spiegel, die Fliesen und seine perfekt geputzten schwarzen Lederschuhe. Tom betrachtete sich selbst im Spiegel.

Er konnte nicht weg.

Wortlos beugte er sich langsam nach vorn und stützte sich auf dem Porzellan ab. Er lehnte sich mit seiner Stirn an die reflektierende Glasscheibe und presste seine Zähne aufeinander. Zahlreiche Tropfen fielen von seinem Kinn hinab.

»Es ist vorbei, Tom«, flüsterte er sich zu. Er griff nach dem Schalter und knipste das Licht aus.

In stoischer Ruhe kämmte er sich seine wieder getrockneten blondbraunen Haare, knöpfte sich das weiße Hemd zu und knotete seine Seidenkrawatte. Auf einmal bemerkte er, wie leblos das Zimmer wirkte: Das Filmplakat von Der Blaue Engel, das die verführerische Marlene Dietrich gezeigt hatte, und das noch größere Plakat von Camel Caravan, der Radio-Show mit Benny Goodman, hatte Tom schon am Tag zuvor von den Wänden genommen. Nun versprühte der Raum den Charme einer Abstellkammer.

Tom ging zum Fenster und sah hinaus. Es würde kaum noch eine Stunde dauern, bis die Sonne über das Dach des Verwaltungsgebäudes auf der anderen Seite des Hofes gestiegen sein und sich das Zimmer wieder in einen Backofen verwandeln würde. Aus genau diesem Grund hatte Tom in den vergangenen Wochen die meiste Zeit nicht hier, sondern in der kühlen Bibliothek verbracht und seine letzten zwei Abschlussarbeiten über Der Wohlstand der Nationen von Adam Smith und Das Ende des Laissez-Faire von John Maynard Keynes geschrieben.

Tom krempelte seine Ärmel herunter und legte seine silbernen ziemlich abgenutzten Manschettenknöpfe an. Die eingravierten Initialen »TKW« waren kaum noch zu erkennen. Die anderen Jungs würden wahrscheinlich ganz neue tragen, manche mit Brillanten besetzt, manche aus massivem Gold. Chris Van Kampen würde mit Sicherheit am lautesten damit angeben, wie viel Geld er hingeblättert hatte, damit er nur für diesen Anlass bestens ausgestattet war.

Tom holte tief Luft und streckte seinen schlanken, aber großgewachsenen Körper. Angestrengt betrachtete er sich selbst mit seinen nachdenklich funkenden dunklen Augen in dem Spiegel, der als Letztes seiner eigenen Sachen an der kahlen Wand über dem Bett hing. Seine blasse Gesichtsfarbe lud förmlich dazu ein, ihn zu unterschätzen, wusste er. Und dennoch: Seine klar geschnittenen Wangenknochen und sein breites, markantes Kinn verliehen Tom etwas Rohes und Starkes. Tom hielt diese Kombination für einen Vorteil: Die meisten Menschen wussten nie so recht, was sie von ihm halten sollten.

Er hatte nur noch wenige Minuten und wurde langsam unruhig. Er beschwor innerlich Mark Aurels Besinnung auf die Vernunft. Sie vermochte all jene Kräfte zu zähmen, die den Menschen vom tugendhaften Weg abbrachten. So hieß es. So war es richtig. Vernunft.

Langsam schob er seine Gürtelschnalle um wenige Millimeter zu Seite. Alles stimmte. Erst dann griff er nach dem schwarzen Umhang, den er am Abend zuvor sorgsam über die Stuhllehne gelegt hatte. Schwungvoll warf er sich den Talar über die Schultern, klemmte den quadratischen Hut mit der goldenen Kordel unter seinen Arm und verließ sein Zimmer.

Er ließ sich Zeit, durch den Gang des dritten Stockwerks zu schreiten. Der schimmernde Boden war frisch poliert und die Teppichläufer längst für die Ferien eingemottet worden. Die vielen Türen zu den anderen Zimmern waren allesamt verschlossen, es war ungewohnt still. Als ob sich das ganze Gebäude schlafen gelegt hätte.

»Guten Morgen Thomas! Lass’ dich umarmen!«

Toms Mutter drückte ihren Sohn innig und war vor Rührung den Tränen nahe. Sie trug ein elegantes blaues Kleid sowie einen modischen Hut und war dezent geschminkt. Während seine Mutter Tom wieder aus der Umklammerung ließ und liebevoll seine Robe zurechtzupfte, nickte Tom seinem Vater zu. Karl Wolf wirkte wesentlich gefasster als seine Ehefrau. Er trug seinen dunklen Anzug samt Krawatte mit Gelassenheit und Würde zugleich. Karl Wolf hielt seinen Zylinder locker in der rechten Hand, während er in der linken seine Taschenuhr betrachtete, die mit einer Kette an seiner Weste befestigt war.

»Bin ich zu spät?«, fragte Tom gereizt.

»Nein«, beruhigte ihn sein Vater mit einer abwehrenden Handbewegung. »Wir sind voll im Zeitplan.«

»Mein Gott«, strahlte Maria Wolf und lehnte sich an ihren Gatten, »sieh’ ihn dir nur an, Karl. Kaum 22 Jahre alt und schon der erste Nachkomme der Familie Wolf, der in Amerika studiert hat.«

»Wir sind stolz auf dich, mein Junge, will sie damit sagen.« Karl Wolfs Augen glitzerten vor Freude.

Sie spazierten über die gepflegten Wege zwischen den Gebäuden der Universität hindurch und steuerten geradewegs auf die alte Fakultät im südlichen Teil des Campus’ zu. Auf einer Wiese war eine Bühne aufgebaut worden, und hinter einer Menschenmenge standen Dutzende weiße Klappstühle auf dem Rasen. Einige Personen hatten bereits Platz genommen.

»Hey, Tom! Hier drüben sind wir.«

»Mutter, Vater, darf ich vorstellen?« Tom machte eine formelle Geste. »Das ist Matt Strawson. Wir waren gemeinsam in der Laufmannschaft.«

»Sehr erfreut, Matthew«, bemerkte Karl Wolf.

»Ich gratuliere zu Ihrem Abschluss«, fügte Toms Mutter nahtlos an. »Sie sind sicher sehr stolz.«

»Vielen Dank!« Matt verbeugte sich. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr. Endlich ist es vorbei, was, Tom?«

Tom nickte höflich und blickte sich unruhig um.

Karl Wolf strich sich über seinen weißen Schnurrbart. »Thomas hat uns erzählt, dass Sie bereits im Herbst bei einer Bank in New York anfangen, Matthew?«

Tom hielt den Atem an.

»Ja«, erwiderte Matt sofort stolz, »für mich geht’s an die Wall Street. Ich kann es selbst kaum glauben.«

»Vorbildlich«, stieß Karl Wolf hervor – und blickte seinen eigenen Sohn ernst an. Toms Miene verfinsterte sich.

»Aber ich muss zugeben«, warf Matt ein, »dass mein Vater ein bisschen seine Hände im Spiel hatte. Er kennt jemanden im Vorstand, glaube ich. Ich freu’ mich aber trotzdem riesig, das können Sie mir glauben.«

»Wo werden Sie den Sommer verbringen?«, fragte Karl Wolf.

»Eigentlich wollte ich mit einem Zeppelin nach Europa, aber das hat sich ja jetzt nach Lakehurst erübrigt. Eine Schiffsreise reizt mich im Moment nicht, ich war erst im letzten Sommer mit einem Dampfer in der Karibik unterwegs. Das kann echt sehr langweilig sein. Ich würde am liebsten mit einem Clipper über den Pazifik fliegen und mir vielleicht Schanghai ansehen. Die Stadt soll ja eine Wucht sein.«

Tom seufzte leise. Auch wenn er wusste, dass die Strawsons sehr vermögend waren, so konnte er sich einfach nicht daran gewöhnen, mit welcher Leichtigkeit Matt von kostspieligen Unternehmungen sprach. Die Reise mit dem luxuriösen Flugboot nach Asien kostete alleine über 600 Dollar, wie Matt Tom schon ein paar Tage zuvor erzählt hatte. Für die Summe hätte man sich gleich ein paar gebrauchte Autos kaufen können.

»Die Lage dort ist aber nicht besonders stabil«, gab Karl Wolf zu Bedenken.

»Schanghai ist doch schon einmal bombardiert worden, nicht wahr?«, fragte Maria Wolf etwas verunsichert.

»Stimmt«, bestätigte Tom und nickte. Ein paar Jahre zuvor hatten die Japaner die Stadt angegriffen. »Zigtausende sind damals umgekommen, Matt.«

»Jaja«, gab der zu. »Ich hab’ sowieso noch nichts im Detail geplant. Vielleicht verbringe ich die Monate auch ganz einfach in unserem Sommerhaus auf Long Island und geh’ segeln.«

»Was für ein Boot haben Sie?«, fragte Karl Wolf interessiert.

»Wir sollten langsam nach vorne gehen«, kam Tom Matt zuvor. »Colin und Peter halten uns die Plätze frei.«

»Gute Idee«, rief Matt lachend, »wenn ich heute auch zu spät dran bin, macht mir Professor Pence bestimmt die Hölle heiß!«

Maria Wolf nickte ihrem Sohn verständnisvoll zu. »Na, dann geht schon, Junge, wir suchen uns hier zwei Stühle.«

Tom nickte seinen Eltern zu. »Bis später dann.«

Großer Applaus brandete auf, als drei ältere Professoren das Podium betraten. Ein grauhaariger Mann, der einen purpurnen Talar trug, ging zu einem Mikrofon. »Ladies und Gentlemen, im Namen der Wharton School der University of Pennsylvania heiße ich Sie alle, Eltern wie Verwandte, Bekannte und Freunde, Professoren und nicht zuletzt die diesjährigen Absolventen, herzlich in Philadelphia zu unserer Abschlussfeier willkommen.«

2. Der Löwe

»Ist ihm der Käfig nicht zu eng?«, fragte das kleine Mädchen, ohne seine Augen von dem Löwen hinter den Gitterstäben zu nehmen.

»Aber nein, mein Schatz«, antwortete Frau Lehner und beugte sich tief zu ihrer Tochter hinab, »das macht ihm gar nichts aus. Geh’ aber nicht zu dicht heran, ja?«

Das Mädchen nickte bedächtig und beobachtete fasziniert, wie die majestätische Raubkatze auf dem erdigen Boden langsam hin und her trottete.

»Ist das ein Männchen oder ein Weibchen?« Die Kleine spielte mit ihren dunklen Zöpfen.

»Ein Männchen«, kam jemand der Mutter zuvor. Frau Lehner sah überrascht auf und entdeckte einen Schritt hinter ihr einen nicht besonders großen Mann, der mit hängenden Schultern etwas schüchtern über den Kopf des Kindes hinweg zum Tier blickte. »Die Löwendamen haben nicht so eine schöne Mähne.«

»Stimmt das?«, flüsterte das kleine Mädchen eingeschüchtert.

»Ja, das stimmt«, antwortete Frau Lehner und nickte dem Fremden unbeholfen zu. Der deutete ihre Verlegenheit richtig, setzte ein Lächeln auf und hob seinen Hut ein wenig an.

»Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch«, sagte Morgenstein und spazierte über den breiten Kiesweg davon.

Doktor Adam Morgenstein mochte den Tiergarten Schönbrunn. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er hier das erste Mal zusammen mit seinem Vater die Löwen und auch Elefanten, Wölfe, Tiger und Kängurus beobachtet hatte. Damals, als Österreich noch eine Weltmacht gewesen und von Kaiser Franz Joseph regiert worden war, hatte man den Zoo noch als Menagerie bezeichnet. Aber in den letzten Jahrzehnten hatte sich vieles in dieser Stadt verändert, dachte Morgenstein.

Er erreichte den ringartigen Weg, der sich im Zentrum des Tiergartens um einen schönen, in Habsburgergelb gestrichenen Pavillon legte. Morgenstein suchte sich eine Parkbank, die im Schatten der hohen Bäume lag, und nahm Platz.

Der Zoo war gut besucht. Das lag wohl einerseits an dem herrlichen Wetter, andererseits auch an diesem Otto Antonius, der seit einigen Jahren Direktor von Schönbrunn war. Der Mann verstand es wirklich bestens, seinen Zoo in den Zeitungen oder im Radio zu bewerben.

Morgenstein lehnte sich zurück und entfaltete das Neue Wiener Journal, das er mitgebracht hatte. Die Beilage Der österreichische Kamerad, die auch zum Journal gehörte, hatte er wie immer einfach weggeschmissen, als er sich die Zeitung am Stand bei der Straßenbahnhaltestelle in der Operngasse gekauft hatte. Diese Zusatzseiten, die für Soldaten- und Veteranenverbände gedacht waren, konnte er nicht ausstehen.

Morgenstein hatte all diese Verbände, Bünde und Parteien so satt, die seit dem Großen Krieg sein Land wie eine Heuschreckenplage nach der anderen heimgesucht hatten. Egal, wen man hernahm, ob den republikanischen Schutzbund der Sozialisten, die Heimwehr des christlich-nationalen Lagers, oder jetzt auch die unsägliche faschistische Einheitsbewegung Vaterländische Front – Morgenstein konnte die Menschen nicht verstehen, die irgendwelchen hetzerischen Ideologen blind und enthusiastisch folgten.

Morgenstein legte aufgebracht die Zeitung neben sich und starrte durch die vielen Zoobesucher regelrecht hindurch.

Ach Lydia, dachte Morgenstein und seufzte. Er fühlte, wie ihm unwillkürlich die Tränen in die Augen schossen. Sofort griff er ruckartig in die Tasche seiner dunkelgrauen Weste und blickte auf seine alte Taschenuhr.

»Er ist spät dran«, sagte Morgenstein, in Gedanken versunken.

»Bin ich das?«

Morgenstein zuckte überrascht zusammen und sah auf. Vor ihm stand ein etwa 50 Jahre alter Mann, der einen hellen Sommeranzug trug und verschmitzt grinste. Ein grauer Schnurrbart zierte sein breites und markantes Gesicht, das das eines amerikanischen Filmstars hätte sein können. Seine hellen Augen blitzten regelrecht unter dem lässig aufgesetzten Hut und versprühten genau jenes Selbstbewusstsein, das Morgenstein bei sich selbst so oft vermisste.

»Josef«, stieß Morgenstein hervor, stand auf und schüttelte seinem Gegenüber die Hand. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«

»Es ist gut, Sie wiederzusehen, Adam«, verkündete Professor Josef Schwarzbeck in seinem unverkennbaren, beinahe akzentfreien Deutsch, das auf Morgenstein viel weltmännischer wirkte als der weiche, gemütliche Wiener Dialekt. Schwarzbecks Familie stammte aus Hamburg, aber er arbeitete seit vielen Jahrzehnten an der Technischen Hochschule Berlin. Die sprachliche Färbung der deutschen Hauptstadt hatte er aber keineswegs angenommen.

»Wie war Ihre Reise?«, fragte Morgenstein bemüht höflich.

»Ein bisschen anstrengend.« Schwarzbeck legte seinen linken Arm lässig auf die Lehne der Parkbank. »Aber das ist Schnee von gestern. Ich bin im Hotel Imperial abgestiegen, da konnte ich mich von der langen Zugfahrt bestens erholen. Ich bin jetzt wieder ganz frisch.«

»Sehr schön.«

Der Deutsche sah sich schweigend um.

»Ich glaube nicht«, stellte Schwarzbeck schließlich leise fest, nachdem er sich vorgebeugt hatte, »dass mir irgendjemand gefolgt ist. Diese Treffen an öffentlichen Orten, die ganze Geheimniskrämerei – hier in Wien ist das, glaube ich, nicht notwendig, Adam. Wenn Sie nach Berlin kommen würden, gut, das lass’ ich mir ja einreden, aber hier …«

»Mir ist es lieber so, besser, wir gehen kein Risiko ein.«

Schwarzbeck nickte bedächtig. »Also: Was gibt es so Dringendes, was Sie mir nicht schriftlich mitteilen wollten?«

Morgenstein richtete sich auf und räusperte sich. »Ich habe mir Gedanken gemacht. Josef, Sie wissen, wie wichtig mir unsere gemeinsame Arbeit ist. Seit dem Tod von …«

Schwarzbeck lächelte mitfühlend.

»Seit dem Tod von Lydia«, setzte Morgenstein erneut an, »ist unsere Arbeit das Einzige in meinem Leben, das von Relevanz ist.«

»Dessen bin ich mir bewusst.«

»Dennoch sehe ich mich zu einem Schritt gezwungen, der unserem Projekt nicht dienlich ist, befürchte ich.«

Schwarzbeck hob seine Augenbrauen. Er wirkte mit einem Mal tief besorgt. »Wovon sprechen Sie?«

»Ich denke … nein, was ich sagen will … ich will nach Amerika emigrieren, Josef.«

»Amerika? Jetzt? Aber wieso?« Schwarzbeck wirkte wie vom Schlag getroffen. Mit so einer Neuigkeit hatte er offensichtlich nicht gerechnet.

»Ich bitte Sie, Josef. Sie wissen genau, warum.«

»Sie sind Jude. Natürlich bin ich mir dessen bewusst. Aber Sie leben in Österreich, Herrgott. Sie leben nicht im Deutschen Reich! Mussolini beschützt Ihren Schuschnigg, Wien liegt doch absolut außerhalb der Reichweite der Nazis.«

Morgenstein hatte natürlich geahnt, dass dieser Einwand kommen würde, denn er stimmte: Der Erfinder des Faschismus, der »Duce« Benito Mussolini, hielt seit Jahren seine starke Hand schützend über das österreichische faschistische Regime. Er und Schuschniggs ermordeter Vorgänger, Engelbert Dollfuß, waren angeblich sogar enge Freunde gewesen. Aber Morgenstein hatte sich andere Argumente vorbereitet.

»Antisemitismus hat in Wien eine langjährige Tradition, Josef.«

»Wollen Sie mir jetzt mit den alten Geschichten von diesem Bürgermeister Lueger kommen«, unterbrach ihn Schwarzbeck brüsk, »der vor Jahren die Stadt regiert hat? Der war doch harmlos, der hat die Judenhetze doch selbst als Pöbelsport bezeichnet.«

Morgenstein war überrascht. Schwarzbeck hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt.

»Das ist doch eine alte Leier!« Der Deutsche wirkte nun aufgebracht. »Und außerdem: Es gibt überall Judenhasser, auch in Amerika. Adam, machen Sie sich da doch nichts vor. Wissen Sie denn nicht, dass einige Nazis Henry Ford regelrecht verehren? Ach, der Führer verleiht dem Mann bestimmt noch einen Orden!«

Morgenstein ballte seine Hände zu Fäusten. »Es muss Amerika sein. Albert Einstein, Eugene Wigner – hinter dem Atlantik sind Wissenschaftler in absoluter Sicherheit vor den Nazis. Nicht dass ich mich mit diesen beiden vergleichen will, aber …«

»Aber Wien ist doch nicht Berlin! Wien ist doch sicher für Sie! Sogar Professor Freud ist noch hier, oder etwa nicht?«

»Ich bin der festen Überzeugung, dass es an der Zeit ist, die Zelte abzubrechen. Früher oder später wird in Wien genau der gleiche Wind wehen wie in Ihrer Hauptstadt, Josef.«

Schwarzbeck schwieg und musterte seinen Kollegen für eine ganze Weile. »Dann nehmen wir das für einen Moment an. Was würde dann hier mit Ihnen geschehen, hätten Sie hier in Wien Berliner Verhältnisse? Ich sage es Ihnen: nichts. Rein gar nichts. Ein paar Einschränkungen hier und da, in Ordnung, aber im Großen und Ganzen lässt sich das ertragen.«

Morgenstein schüttelte energisch seinen Kopf. »Sie verharmlosen die Situation.«

»Keineswegs. Ich darf Sie daran erinnern, mein Lieber, dass es eine uns gut bekannte jüdische Person gibt, die ganz unbehelligt in Berlin ihrer Arbeit nachgeht.«

Morgenstein wusste, von wem Schwarzbeck da sprach.

»Lise Meitner ist auch Jüdin«, flüsterte der Deutsche energisch, »und sie ist sogar Österreicherin, genau wie Sie selbst!«

»Sie unterschlagen, dass Lise Meitner, wie alle Juden, sehr wohl von den staatlichen Universitäten verbannt worden ist und jetzt am privaten Kaiser-Wilhelm-Institut arbeitet. Und das wissen Sie besser als ich, Josef. Also versuchen Sie mich nicht mit solchen billigen Tricks umzustimmen.«

Das hatte gesessen. Während Schwarzbeck seine Niederlage in diesem Punkt eingestand, indem er wortlos in sein Jackett griff und ein silbernes Zigarettenetui herausholte, blickte Morgenstein in den Himmel. Er hatte Lise Meitner nie persönlich kennengelernt, aber Lydia hatte viel von ihr erzählt. Die beiden hatten als junge Frauen im gleichen Jahr die Matura am Akademischen Gymnasium in Wien bestanden. Lise Meitner mit 22, Lydia mit 23 Jahren. Beide hatten sich zu Hause ganz allein das ganze notwendige Wissen beigebracht – Mädchen durften diese Schule auch jetzt noch nicht regulär besuchen, soweit Morgenstein wusste.

Morgenstein sah das Gesicht seiner verstorbenen Gattin Lydia wieder ganz klar vor sich. Sie ist so wunderschön gewesen, dachte er.

»Lise Meitner und Otto Hahn machen große Fortschritte, wie ich höre«, erklärte Schwarzbeck plötzlich und ließ Morgenstein aufhorchen. »Die zwei werden uns uneinholbar davonziehen, wenn Sie diesen amerikanischen Irrweg da gehen wollen, mein Lieber.«

»Wir sind auch jetzt schon seit fast zwei Jahren auf unsere umständlich geheime schriftliche Korrespondenz angewiesen«, warf Morgenstein ein, »und wir kommen gut voran.«

»Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir nur unnötig Zeit verlieren würden. Sehen Sie es realistisch: Wenn Sie emigrieren, bringt das nur Probleme und Verzögerungen mit sich.«

Morgenstein nickte und wirkte schuldbewusst.

»Adam«, flüsterte Schwarzbeck, »ich bitte Sie, halten Sie noch ein bisschen durch. Vielleicht sechs oder zwölf Monate. Wir stehen so kurz vor dem Durchbruch!«

Morgenstein schloss seine Augen.

»Und ich spreche nicht nur vom Durchbruch auf akademischer Ebene«, legte Schwarzbeck nach. »Ich hab’s Ihnen schon ein paar Mal erklärt: Nur mit Hilfe der Politik lässt sich diese Welt ändern.«

»Josef, reden Sie doch Klartext. Sie wollen sich mit unserer Arbeit den Nazis anbiedern.«

»Die Nationalsozialisten sind Mittel zum Zweck für uns beide, nicht mehr.«

»Sie haben leicht reden.« Allmählich fühlte sich Morgenstein einmal mehr von seinem Berliner Kollegen völlig überrumpelt. Während Morgenstein um dieses Treffen gebeten hatte, um seine geplante Flucht vor den Nazis zu erörtern, schlug Schwarzbeck schon wieder nichts anderes vor, als sich mit genau diesen Leuten in ein Bett zu legen.

»Ach«, zischte Schwarzbeck und machte eine abfällige Handbewegung, »unterstellen Sie mir nicht, ich wäre ein Nazi, Adam. Sie wissen am besten, dass das nicht stimmt.«

»Nein, Sie sind ein Opportunist.«

»Das mag sein.«

Sie schwiegen eine Zeit lang, und Morgenstein blickte abwesend zum Löwengehege. Ein kleiner Junge lehnte sich zwischen seinen Eltern ängstlich und neugierig zugleich zu den Gitterstäben vor, um einen Blick auf das Raubtier zu erhaschen.

»Es ist unerlässlich«, beteuerte der Deutsche und zwinkerte mit einem Auge, »dass wir diese Parteibonzen in Berlin beeindrucken. Jeder von denen muss sich darum reißen, uns die Hand zu schütteln. Die müssen sich in unserem Ruhm sonnen wollen.«

»Das sind Hirngespinste! Das würden selbst Sie nicht fertigbringen. Und überhaupt ist das nicht das Thema. Ich …«

»Weit gefehlt. Was glauben Sie, warum ich seit Jahren in Berlin von Party zu Party eile? Weil ich so gerne mit irgendwelchen Nazi-Lackaffen über deren lächerliche Rassentheorie plaudere?« Schwarzbeck lachte über seine eigene Bemerkung laut auf. »Wenn wir es erst mal mit Hilfe der Politiker auf die Titelseite jeder verdammten Zeitung Deutschlands geschafft haben, werden wir unwiderruflich als die deutschen Genies gelten. Als die Koryphäen der Kernphysik! Ha, dann können Otto Hahn und Lise Meitner mit so vielen atemberaubenden Ergebnissen antanzen, wie sie wollen.«

»Sie vergessen wieder, dass ich Österreicher bin, nicht Deutscher. Und ich wäre schon gar kein idealer Vorzeigedeutscher, sondern vielmehr das genaue Gegenteil. Ich bin das Feindbild.«

»Aber Sie wissen doch selbst, wie das Spielchen läuft. Diese Idioten schimpfen zwar auf Außenseiter, aber wo die den Nazis nützlich sind, werden sie in Watte gepackt. Wenn wir zwei einmal unsere Arbeit veröffentlichen, werden Sie wie ein König in Berlin empfangen werden, Adam.«

»Das bezweifle ich doch sehr, Josef. Aber das ist auch ganz egal, denn mein Entschluss steht unumstößlich fest. Ich werde nach Amerika gehen.« Morgenstein erschrak, als er sich die Worte laut aussprechen hörte. Schwarzbeck fluchte leise und steckte sich eine Zigarette an.

»Sie sind ein verdammter Dickschädel, Adam.«

Ganz plötzlich weiteten sich Morgensteins Augen. Er fixierte mit seinem Blick zwei schweigsame Männer, die sich auf der anderen Seite des breiten Weges auf eine Parkbank gesetzt hatten. Die beiden Enddreißiger trugen dunkle Straßenanzüge und wirkten keineswegs wie zwei Herren, die einfach so aus purem Zeitvertreib in den Zoo gehen würden.

»Ich glaube, die beiden beobachten uns«, stieß Morgenstein mit bebender Stimme leise hervor. Sein Herz begann mit einem Mal, schneller zu schlagen.

»Was?«, fragte Schwarzbeck.

Morgenstein sah sich hektisch um. Eine Dame schob einen Kinderwagen vor ihnen über den Kiesweg, dahinter liefen zwei schreiende Kinder um die Wette. Beim Pavillon saßen einige Gesellschaften an den vielen Tischen und unterhielten sich laut. Hinter einer großen Ulme stand ein schlanker Herr und schien zu warten. Für einen kurzen Moment blickte er genau zu Schwarzbeck und Morgenstein herüber.

Morgenstein verspürte den Drang, sofort aufzuspringen und so schnell er konnte fortzulaufen. Irrte er sich? Sah er schon Feinde, wo keine waren?

»Bleiben Sie ruhig«, mahnte Schwarzbeck.

Was, wenn doch jemand Josef gefolgt war? Was, wenn die jetzt wussten, dass Josef immer noch mit ihm in Kontakt stand?

»Ich werde einen Brief an die Amerikaner schreiben«, flüsterte Morgenstein schnell, während sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. »An das Außenministerium in Washington oder sonst jemanden. Und ich werde den Amerikanern meine Dienste anbieten. Ich bitte Sie, meine Entscheidung zu respektieren, alter Freund!«

Morgenstein erhob sich, zog seinen Hut vor dem Deutschen und ging in Richtung Ausgang.

Schwarzbeck blieb mit offenem Mund sitzen.

3. Der erste Kontakt

»Darf ich Ihnen gratulieren?« Ein älterer, dicklicher Gentleman, der sich zwischen den dicht beieinanderstehenden Menschen zur Familie Wolf hindurch gedrängt hatte, schüttelte Tom die Hand. »Sallinger, Fred Sallinger. Angenehm. Was für ein gelungenes Ambiente hier, nicht wahr?«

»Genau das Richtige für diesen Anlass!«, stimmte Maria Wolf zu.

Nach dem Ende der Zeremonie hatte der Dekan zu einem großen Empfang in einem repräsentativen Gebäude der University of Pennsylvania geladen.

»Und, junger Mann – haben Sie schon Pläne für Ihre Zukunft?«

Tom registrierte, wie sein Vater sofort sein Champagnerglas absetzte und neugierig seine Augenbrauen hob.

»Nein«, antwortete Tom. Karl Wolf blickte über die Schulter von Fred Sallinger hinweg beschwörend in das Gesicht seines Sohnes.

»Nun, dann wird es Sie sicherlich interessieren, dass wir, Socony-Vacuum Oil, immer auf der Suche nach jungen talentierten Männern sind. Darf ich Ihnen meine Karte geben? Hier.«

Tom nickte und griff zu.

»Melden Sie sich, wenn Sie Interesse haben. Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Möglichkeiten wir Ihnen bieten können, mein Freund.«

Der Dicke verabschiedete sich galant von Toms Eltern und quetschte sich schon zu einem nächsten Absolventen durch.

Karl Wolf machte einen Schritt auf Tom zu. »Was sollte denn das? Warum so schroff?«

Tom blickte zur Seite und schwieg. Ohne dass es irgendjemand merkte, ballte er seine Hand zu einer Faust.

»Junge, du hättest dich doch wenigstens mit ihm ein bisschen unterhalten …«

»Karl«, flüsterte Maria Wolf scharf, aber mit einem Lächeln auf den Lippen, und packte ihren Mann sanft am Oberarm. »Lass’ es gut sein, ja? Du hast es mir versprochen.«

Karl Wolfs Gesichtszüge entspannten sich sofort, er wirkte mit einem Mal sogar verlegen. Toms Blick blieb jedoch verbissen.

»Du hast recht«, gab Karl nach. »Tut mir leid, Junge. Vergib’ mir.«

»Und weil du es nicht lassen konntest«, sagte Maria Wolf spitzbübisch und blickte aufmunternd zu ihrem Sohn, »schuldest du mir wie vereinbart dieses wunderschöne Paar Schuhe von Bradley’s, mein lieber Karl.«

»Bradley’s?«, fragte Tom.

»Dieses neue Geschäft in Boston, in der Newbury Street«, erklärte sein Vater. »Deine Mutter hat mittlerweile schon ein Vermögen dort gelassen.«

»Nun übertreib’ mal nicht, Schatz. Thomas, hör’ gar nicht hin. Das sind alles Wettschulden deines Vaters gewesen, genau wie heute auch.«

Karl Wolf schmunzelte. Nach einer Weile tat es Tom ihm gleich.

»Du hast uns das Diplom noch gar nicht gezeigt, Junge.«

»Richtig, richtig.« Tom hob überrascht seine linke Hand, in der er die Schriftrolle gehalten hatte, seit er die Bühne auf der Wiese verlassen hatte. Tom entfernte vorsichtig eine blaue Schleife und entrollte das Papier.

»Omnibus et singulis has Litteras lecturis«, las er die kunstvoll geschwungenen Schriftzeichen. Tom überflog die vollständig in lateinischer Sprache verfassten Zeilen und übersetzte, so gut er konnte. »Überall wurden Institutionen der höheren Bildung gegründet, die befähigt sind, jene Männer mit angemessenen und passenden Titeln zu dekorieren, die sich in der Philosophie und den Wissenschaften ausgezeichnet haben. Aus diesem Grunde bezeugen wir, der Provost, der Vizeprovost und andere Professoren der Universität von Pennsylvania, dass … der ehrenhafte Thomas K. Wolf …«

Tom stockte kurz.

»… seine Zeit bei uns für geistige und wissenschaftliche Studien ergiebig verbracht und im Zuge einer Prüfung durch Kuratoren und Professoren bewiesen hat, dass wir ihm den Rang des ›Bachelor of Finance‹ am 15. Juni im Jahre 1937 verleihen sollten. Wir haben ihm alle Rechte, Ehren und Privilegien, die dieser Rang mit sich bringt, anerkannt. Dies bezeugend an dem genannten Tag und Jahr in Philadelphia, unterzeichnen wir – unsere Kuratoren haben übereinstimmend angeordnet, dass das Siegel unserer Universität angebracht werden soll.«

»Wunderschön«, stellte Maria Wolf fest.

»Ja, das ist schon was«, pflichtete ihr Mann bei.

»Oh, sieh’ nur, Karl. Das sind Bob und Lulu Kershaw! Da hinten. Komm’, wir gehen kurz zu ihnen und begrüßen die zwei.«

Tom machte eine abwehrende Geste. »Ich warte hier.«

»Nicht weglaufen, Thomas«, rief Karl Wolf schon im Gehen, »ich bring’ dir gleich ein neues Glas mit. Dass du nichts trinkst, ist einfach nicht richtig, mein Sohn.«

Während seine Eltern sich von ihm entfernten, öffnete Tom seine rechte Hand und ließ die zerdrückte Visitenkarte von Fred Sallinger unbemerkt zu Boden fallen.

Nach einer Weile blickte Tom noch einmal auf das Diplom. Was hatte er übersetzt? Der »ehrenhafte Thomas K. Wolf«.

Ehrenhaft.

Was hatte er Ehrenhaftes getan? War es ehrenhaft, ein Studium zu absolvieren? War das eine so große Herausforderung, die sprichwörtlich zu Ruhm und Ehre gereichte? Tom fühlte sich keineswegs ehrenhaft. Er fühlte sich ja obendrein fast genauso verloren wie schon zu Beginn seiner Zeit in Wharton.

Tom rollte das Dokument wieder ein.

Als er aufsah, bemerkte er hinter einer Gruppe von Eltern und Professoren einen vielleicht 50 Jahre alten Mann, der einen nichtssagenden grauen Anzug trug und dazu einen ebenso grauen Hut in der Hand hielt. Weil der Gentleman keinen Gesprächspartner hatte und einen etwas angespannten Eindruck machte, wirkte er in dieser Runde von ausgelassen feiernden Menschen deplatziert. Er hatte die rechte Hand in seiner Hosentasche vergraben und ließ seinen Blick durch die Menge schweifen. Er suchte jemanden.

Vielleicht war er der Vater eines Absolventen, der seine Familie aus den Augen verloren hatte, dachte sich Tom. Gerade, als er wieder auf sein Diplom blicken wollte, bemerkte er, dass der Mann die gesuchte Person gefunden zu haben schien: Er marschierte direkt auf Tom zu.

»Guten Tag, Mister Wolf«, sagte der Namenlose mit einer tiefen, sonoren Stimme. »Ich gratuliere zu Ihrem Abschluss.«

»Danke«, erwiderte Tom unsicher und räusperte sich.

Sein Gegenüber hatte kurze hellgraue Haare, stechend blaue Augen und überaus markante Gesichtszüge. Tom erschrak beinahe, als er aus der Nähe erkannte, dass das Gesicht des Unbekannten mit mehreren Narben übersät war.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Francis Colpo.«

Tom streckte widerwillig seine Hand aus. Colpo packte so stark zu, dass Tom innerlich zurückschreckte.

Der ausgelassene Trubel im Saal schien zu verstummen und alle Lichtquellen schlagartig schwächer zu werden. Tom fühlte sich auf einmal, als würde er hypnotisiert.

»Sie werden sich fragen, warum ich Sie kenne, Mister Wolf.«

Tom nickte langsam.

»Ich bin ein Interessensvertreter.«

»Ein Interessensvertreter?«, fragte Tom und bemühte sich, abschätzig zu klingen.

Colpo musterte Tom von Kopf bis Fuß. »Ich vertrete eine Gruppe von Institutionen, die nach jungen Menschen mit gewissen Charaktereigenschaften und Fähigkeiten suchen.«

»Verstehe. Welche Branche repräsentieren Sie? Versicherungen? Öl? Metall? Automobile?«

Colpo lächelte milde. »Sie kommen gleich zur Sache, Mister Wolf, was? Wir suchen niemanden für irgendeinen Job. Was wir Ihnen anbieten wollen, ist eine Chance. Wir verfolgen Ihre Karriere seit einiger Zeit und sind der Meinung, dass Sie unter Umständen für besondere Aufgaben geeignet sind.«

Tom neigte seinen Kopf argwöhnisch zur Seite.

»Das mag für Sie etwas ungewöhnlich klingen. Aus Gründen, die ich Ihnen nicht nennen werde, gehe ich heute nicht näher da­rauf ein, wer ›wir‹ sind. Ich kann Ihnen aber versichern, dass unser Angebot seriös ist.«

Colpo zog einen kleinen Umschlag aus seiner Anzugtasche und reichte ihn Tom.

»Als Zeichen für unsere Ernsthaftigkeit und unser ehrliches Interesse möchten wir Ihnen das hier übergeben. Sehen Sie es als vertrauensbildende Geste an. Öffnen Sie diesen Brief erst, wenn Sie übermorgen wieder in Boston angekommen sind.«

»Woher wissen Sie …?«

»Ich werde mich wieder mit Ihnen in Verbindung setzen«, unterbrach Colpo Tom barsch. »Auf Wiedersehen, Mister Wolf.«

Colpo drückte Tom das Kuvert in die Hand, drehte sich um und verließ den Saal rasch, ohne dabei eilig zu wirken. Es schien so, als ob niemand außer Tom überhaupt Notiz von Colpo genommen hatte.

Schlagartig nahm der Geräuschpegel der lachenden Menschen wieder zu, während auch die Kristallleuchter wieder heller erstrahlten. Als wäre all das soeben nicht passiert.

»Ich hoffe, du bist nicht verdurstet.« Karl Wolf reichte seinem Sohn eine Sektflöte.

»Ist irgendetwas?«, erkundigte sich Maria Wolf. »Du siehst so blass aus, Thomas.«

Tom schüttelte seinen Kopf. Unauffällig steckte er den Briefumschlag in seine Hosentasche.

»Nein, nein«, antwortete er und zwang sich zu lächeln, »alles bestens.«

4. Die richtigen Verbindungen

Der blaue Mercedes jagte über die breite Ost-West-Achse, die wie ein Strich durch den sattgrünen Tiergarten im Herzen von Berlin schnitt. Heinrich Meyerling lenkte, ohne in die Spiegel zu blicken, vor einem Doppeldeckerbus auf die mittlere Fahrbahn der Paradestraße und reihte sich nur wenige Zentimeter hinter der Stoßstange eines alten Opels auf der rechten Spur ein. Meyerling stützte seinen linken Ellenbogen lässig auf das Fenster und ignorierte das Gehupe um ihn herum. Er erwartete ja nicht, dass jeder auf der Straße so rasant mit einem Wagen umgehen konnte, wie es die Rennfahrer Bernd Rosemeyer oder Rudolf Caracciola imstande waren, aber wenn die Leute nicht in der Lage waren, sich im Straßenverkehr zu behaupten, sollten sie besser zu Fuß gehen.

Meyerling steuerte den schnittigen Wagen in die lange runde Auffahrt eines herrschaftlichen Gebäudes im Stil der italienischen Hochrenaissance, des Haupttrakts der Technischen Hochschule Berlin. Er stoppte den Wagen unweit des großen Eingangs. Er zögerte kurz, denn eigentlich war das Parken hier nicht erlaubt, glaubte er. Aber wer sollte ihm schon einen Strafzettel ausstellen? Die Portiere wussten genau, wem das Sportgefährt gehörte. Und dass sein Vater Ludwig Meyerling ein Vertrauter und persönlicher Freund von Reichsminister Hermann Göring war, war bestimmt ebenso allen an der Hochschule bekannt. Heinrich Meyerling zuckte mit den Achseln, fuhr sich mit der rechten Hand durch sein schütteres Haar, um damit seine Halbglatze zu überdecken, und lief die Stufen hinauf. Wen interessierte heute schon ein Strafzettel?

Der flüchtige Gedanke an seinen alten Herrn machte Meyerling für einen Moment wütend. Sein Vater hatte zeitlebens nie eine Universität von innen gesehen – er war alles andere als ein schlauer Kopf oder ein gewiefter Rechner. Im Grunde genommen war er sogar ein ziemlicher Trottel. Was seinen alten Herrn die Karriereleiter so weit hinaufgespült hatte, war neben seinem Ehrgeiz sein ausgeprägtes politisches Gespür gewesen: Als der Schwarze Freitag an der Wall Street Amerika in die größte Wirtschaftskrise aller Zeiten gestürzt hatte, hatte der alte Mann als einer der wenigen sofort verstanden, dass die Katastrophe auch vor Deutschland nicht Halt machen würde. Ludwig Meyerling war wenige Wochen nach dem Börsensturz im Oktober 1929 als nicht besonders erfolgreicher Vertreter für Küchenmesser in die NSDAP eingetreten. Er selbst behauptete zwar heute, die ideologische Überlegenheit der Nazis schon immer erkannt zu haben, aber Heinrich wusste, dass sein Vater einfach nur zur richtigen Zeit aufs richtige Pferd gesetzt hatte. Die Krise hatte Deutschland mit voller Härte getroffen und, genau wie von Ludwig Meyerling erwartet, die Leute für markige Sprüche und dem Ruf nach einer starken Hand empfänglich gemacht. Nur etwa drei Jahre nach seinem Parteieintritt, als die Nazis 1933 die Macht übernommen hatten, war Ludwig Meyerling schon auf du und du mit Leuten wie Joseph Goebbels oder Heinrich Himmler gewesen. Und mittlerweile war aus ihm ein hohes Tier in Hermann Görings Luftfahrtministerium geworden.

Meyerling ging im schnellen Schritt durch die Eingangshalle und steuerte mit grimmiger Miene auf die Treppe zu. Manchmal dachte er darüber nach, wie viele einflussreiche Größen im Regierungsapparat der Nationalsozialisten wirklich etwas auf dem Kasten hatten, und wie viele genau solche Flaschen waren wie sein eigener Vater. Sicher, alle konnten keine Idioten sein. Immerhin hatte die Regierung in den letzten vier Jahren so einiges bewegt. Die Städte waren sicher geworden, die Leute hatten wieder Arbeit, die Wirtschaft erholte sich wie versprochen – der Fortschritt war tatsächlich spürbar. Insbesondere Letzteres war vielleicht nicht allein auf dem Mist der Nazis gewachsen, schließlich hatte sich die Weltwirtschaft insgesamt wieder gefangen. Aber ganz abgesehen davon hatte es der Führer eben auch verstanden, nach außen hin stark und selbstbewusst aufzutreten und den Großmächten ringsum zu imponieren. Deutschland war wieder wer!

Er bog in einen hohen Gang ein und ging über den glatten Marmor an zahlreichen dunklen Holztüren vorbei.

Sicher, das hatte seinen Preis gehabt. Aber die Juden waren ja selbst schuld, dachte Meyerling. Jeder wusste, wie habgierig und hinterhältig die meisten dieser Leute waren. Und den Kommunisten und den Anarchisten, deren Gedankengut Berlin in den 20ern geradezu zersetzt hatte, weinte Meyerling keine Träne nach. Auch dass sie alle linken und anderen nicht linientreuen Zeitungen verboten hatten, war ihm egal.

Als er seine eigene Bürotür erreichte, wollte Meyerling instinktiv nach links abbiegen. Doch dann erinnerte er sich daran, was er heute noch vorhatte, und ging nach einem kurzen Zögern weiter.

»Guten Tag, Herr Doktor«, rief ihm eine junge Dame mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen zu, die ihm entgegenkam.

»Tach«, antwortete Meyerling einsilbig. Er wusste nicht genau, wer sie war, wahrscheinlich eine Sekretärin von irgendeinem der Statiker. Oder war sie die Neue am Maschinenbauinstitut? Er schüttelte kurz seinen Kopf und wies sich innerlich an, keinen Gedanken mehr an das Mädchen zu verschwenden. Schließlich war sie weder sehr charmant noch besonders hübsch.

Aber warum die Naziführung so viele deutsche intellektuelle Talente freimütig herschenkte und so mir nichts, dir nichts auf deren kostbaren Dienste verzichtete, war Meyerling einfach ein Rätsel. Gerade plante Goebbels’ Propagandaministerium wieder einmal so eine berüchtigte Propagandaaktion, diesmal ging es gegen Werner Heisenberg. Der hatte nicht mehr getan, als die Thesen eines anderen schon in Ungnade gefallenen deutschen Genies – niemanden Geringeren als Albert Einstein – offen zu bestätigen. Es war schlichtweg fahrlässig, wie die Führung mit seinem intellektuellen Schatz umging, dachte Meyerling. Gut, nicht wenige der Geschassten waren Juden. Aber so einen Makel musste man doch von Fall zu Fall gesondert beurteilen! Es waren ja nicht alle Juden ausnahmslos Halsabschneider, da war Fingerspitzengefühl gefragt.

Nein, in diesem Staatsapparat lief wahrscheinlich noch nicht alles rund. Aber was erwartete man auch schon von Politikern?

An einer Balustrade, von der man über eine Treppe blicken konnte, blieb Meyerling zähneknirschend stehen und blickte ruhig auf seine goldene Armbanduhr. Es war wenige Minuten vor 17 Uhr. Perfekt. Ein wohlig warmes Kribbeln entstand in seinen Fingern, jetzt, wo es langsam ernst wurde.

Vielleicht war es auch einfach überheblich, den Nationalsozialisten Vorwürfe zu machen, dachte er sich für einen Moment. Schließlich hatte er selbst davon profitiert, dass auf Geheiß eben dieser Nazis die jüdischen Kollegen von der Hochschule gejagt worden waren. Meyerling hätte es niemals offen zugegeben – aber hätte es diesen Reinigungsprozess nicht gegeben, wäre er wohl nie an seinen Posten gekommen. Er wusste, dass er nicht der begabteste Physiker der Welt war, ja bei Weitem nicht einmal der begabteste an dieser Universität. Aber er hatte die richtigen Verbindungen. Er war der, der die wirklich Begabten lenken und koordinieren konnte. Und der, der mutig genug war, um außergewöhnliche Maßnahmen zu treffen. Und wenn er mit seinem Vorhaben Erfolg haben würde, würden das irgendwann selbst die dümmsten Nazis auf Gottes Erde honorieren.

Er beobachtete, wie hinter einer Gruppe von Studenten zwei junge Damen auftauchten.

Auf die Sekunde genau, dachte er zufrieden und leckte sich über die Unterlippe. Die zwei pflegten wirklich jeden Tag um exakt 17 Uhr nach Hause zu gehen. Die linke, eine überaus hübsche und zierliche Blondine namens Wally Schmidt, trug ein knallig rotes körperbetontes Kleid. Ihre etwas größere Begleiterin, die brünette Helga Fassmann, hatte einen etwas zu knappen blauen Rock mit einer weißen Bluse kombiniert. Sie hatte überaus lange schlanke Beine, die sie offenbar gerne zur Schau stellte. Meyerling biss sich auf die Unterlippe, als er die zwei unauffällig beobachtete. Er wartete ab, bis sie die Treppe hinabstöckelten, dann ging er los.

Er wusste es natürlich nicht genau, aber er war sich ziemlich sicher, dass Professor Schwarzbeck schon mit jeder der beiden attraktiven Sekretärinnen geschlafen hatte. Der Mann ließ einfach nichts anbrennen. Zu Meyerlings Missfallen hatte der Kerl ein geradezu sagenhaftes Glück bei Frauen, auch wenn sie zum Teil so jung waren, dass sie spielend seine Töchter hätten sein können. Meyerling erreichte die dunkle Tür an der Ecke, die zu Schwarzbecks Räumlichkeiten führte, und stellte sich ruhig vor das Schloss. Er blickte sich kurz um: Ein paar Studenten und SA-Männer in braunen Uniformen und mit um die Oberarme gewickelten roten Hakenkreuzbinden waren noch auf dem Gang unterwegs, aber niemand schien ihn argwöhnisch zu beobachten. Wer konnte ihn auch allen Ernstes verdächtigen, dreist einfach in das Büro eines Kollegen einzubrechen, als der gerade eine unangekündigte Reise ins Ausland angetreten hatte? Meyerling holte den Dietrich aus seiner Hosentasche, den er ein paar Tage zuvor in einem Eisenwarenladen gekauft hatte. Er führte ihn in das Schloss ein, drehte ihn, wie vom Verkäufer angewiesen, herum – und die Tür glitt einen Zentimeter nach innen.

Bestens, dachte Meyerling und spürte, wie das Adrenalin durch seinen Körper strömte. Es war ein erhebendes, ja berauschendes Gefühl.

Ruhig trat er ein und verschloss die Tür hinter sich. Ohne zu zögern, ging er zwischen den beiden Eichentischen von Wally Schmidt und Helga Fassmann hindurch direkt auf die hintere Tür zu. Zu seiner großen Überraschung war das eigentliche Zimmer von Professor Josef Schwarzbeck nicht abgeschlossen – die Tür war nur angelehnt.

Du bist nachlässig, Josef, dachte sich Meyerling, als er in das Zimmer trat. Hinter dem mit Akten und Papieren übersäten Schreibtisch stand ein schwerer Ledersessel. Durch das große Fenster dahinter konnte man in einen der Innenhöfe der Universität blicken. Meyerling nahm Platz und prüfte die Schubladen.

Die oberste war mit Bleistiften, Büroklammern und Kleingeld befüllt. In der zweiten lagen diverse leere Notizblöcke. Die unterste, die größte, ließ sich nicht öffnen. Meyerlings linkes Auge zuckte: Das musste es sein.

Er griff in die Innentasche seines grauen Jacketts und zog ein Klappmesser heraus. Während er es an das Schloss der Schublade ansetzte, überkamen ihn leichte Zweifel. Würde Schwarzbeck so etwas Wichtiges tatsächlich hier in seinem Büro aufbewahren? Würde er es nicht viel eher zu Hause verstecken? Als das Schloss knackte, gewann Meyerling wieder Zuversicht. Nein, ein so von sich überzeugter Mann wie Schwarzbeck hielt es keine Sekunde für möglich, dass sich jemand erdreisten konnte, hier einzudringen.

»Da kennst du mich falsch, Josef«, flüsterte Meyerling. Seine kleinen Augen begannen gierig zu blitzen, als er die Schublade aufzog. Er nahm eine braune dicke Mappe heraus und legte sie auf seine Oberschenkel. Er schlug den Deckel auf und fand eine große Sammlung eingehefteter handgeschriebene Seiten. Aufgeregt blätterte Meyerling in der Mappe.

Es war nicht die Handschrift von Schwarzbeck, die kannte Meyerling sehr gut. Josef hatte eine ziemliche Sauklaue. Der Verfasser dieser Zeilen war zweifellos jemand anderes: Die Worte waren feinsäuberlich niedergeschrieben worden, ganz so, als wollte der Verfasser Platz sparen. Zahllose mathematische Formeln und Skizzen säumten den langen Text, an manchen Stellen entdeckte Meyerling Kommentare in einer anderen Farbe: Das war die Handschrift von Schwarzbeck.

Josef hat sich Anmerkungen gemacht, schlussfolgerte Meyerling. Er entzifferte die Worte »Anknüpfungspunkt: Transurane, Fermi, der Artikel in Nature von 1934«. Meyerling kannte den Artikel natürlich, auch wenn er ihn nie ganz verstanden hatte. Der Italiener Enrico Fermi hatte die schweren Uranatome mit Neutronen beschossen und interessante Beobachtungen gemacht. Unter anderem hatte Fermi nach dem Beschuss überraschenderweise gleich mehrere Ergebnissubstanzen mit unterschiedlichen Halbwertszeiten registriert, wenn Meyerling es richtig in Erinnerung hatte. Hektisch blätterte Meyerling weiter. Er spürte, dass er ganz dicht dran war.

Auf einer Seite, die in anderer Farbe, aber mit derselben ordentlichen Handschrift geschrieben worden war, waren einige Zeilen von Schwarzbeck heftig unterstrichen worden. »Lise Meitner und Otto Hahn sind auf der richtigen Spur«, stand im sauberen Text. »Meine Laborergebnisse weisen eindeutig darauf hin, dass Ida Noddack-Tacke recht hat. Vielleicht hat Fermi die Kerne nicht transformiert, sondern tatsächlich gespalten?«

Meyerling hielt inne. Das war ja besser, als er erwartet hatte. Plötzlich jedoch zuckte er zusammen. Er hatte am Ende der Seite genau das entdeckt, nach dem er eigentlich gesucht hatte.

»Jetzt hab’ ich dich!«, zischte er und leckte sich über seine Unterlippe. Der Text war mit einer Grußformel unterfertigt: »Beste Grüße aus W., A.M.«

Meyerling begann, vor Freude zu zittern. Das war der Beweis, den er brauchte. Aber was sollte er jetzt damit tun? Würde er die ganze Mappe mitgehen lassen, wüsste Schwarzbeck, was geschehen war. Aber Meyerling konnte diese Sammlung nicht einfach hierlassen. Er brauchte etwas Handfestes. Entschlossen riss Meyerling das Blatt, auf dem der Verfasser die Verabschiedung notiert hatte, aus dem dicken Ordner heraus, faltete es und steckte es ein. Dann warf er die Mappe wieder zurück in die Schublade und verschloss sie.

Als Heinrich Meyerling mit einem breiten Grinsen auf den Lippen die Eingangstreppe der TH wieder hinabeilte, sah er, dass kein Strafzettel an die Windschutzscheibe seines Wagens gesteckt worden war. Natürlich nicht. Es war alles einfach bestens gelaufen.

»Jetzt hab’ ich dich, Josef«, sagte Meyerling, als er den Motor startete, »und deinen Judenfreund Adam Morgenstein aus Wien auch.«

5. Zwanzigtausend

Das Hotel, in dem Karl Wolf seine Familie und sich für die Nacht untergebracht hatte, lag nur wenige Blocks von der Universität entfernt auf der anderen Seite des Flusses in Philadelphia. Es war schon dunkel, als sie im Restaurant an einem Tisch am Fenster Platz nahmen.

Nach dem Dinner entschuldigte sich Maria Wolf für ein paar Minuten und verließ den Tisch. Karl Wolf steckte sich eine Zigarette an, während Tom noch die letzten Bissen seines Desserts aufgabelte.

»Ich weiß«, erklärte Toms Vater, »ich hab’ deiner Mutter versprochen, nicht wieder damit anzufangen, solange wir noch in Philadelphia sind. Das ist dein Tag, mein Junge. Aber versuch’ mich bitte zu verstehen. Ich sorge mich um dich.«

Tom sah kurz auf. Dann stieß er seine Gabel in den Schokoladenkuchen. »Das ist nicht nötig.«

»Und ich tue es trotzdem. Seit einem halben Jahr schon, ehrlich gesagt.«

Tom legte seine Gabel wortlos auf den Teller.

Sein Vater beugte sich nach vorn. »Glaubst du, das alles hier ist normal?«

»Was meinst du damit?« Tom verschränkte seine Arme.

»Wir haben Glück, Thomas. Du hast so ein Glück! Ein Studium an einer solchen Universität, das Hotel hier, sogar die Torte, die du da isst – zum Kuckuck! Wir können von Glück sprechen, dass ich mich all die letzten Jahre vor öffentlichen Aufträgen kaum retten konnte. Der New Deal hat uns gerettet, ohne den hätten Al und ich vielleicht sogar zusperren müssen. Sieh’ dir die Leute da draußen auf der Straße an, Junge. Das sind immer noch schwierige Zeiten.«

»Das weiß ich doch.«

Toms Vater und dessen Geschäftspartner Alistar Kellson hatten an der lukrativen Planung der unzähligen Staudämme und Kraftwerke mitgearbeitet, die die Roosevelt-Regierung am Tennessee-Fluss zur Belebung der Wirtschaft errichten hatte lassen.

»Warum lehnst du es dann so lange schon ab«, fragte Karl Wolf, »dich endlich um deine Zukunft zu kümmern? Ich kann dich nicht ewig durchbringen.«

Toms Miene verfinsterte sich. »Was hast du denn nach deinem Studium getan?«

Sein Vater lehnte sich zurück und zog an seiner Zigarette.

»Das waren andere Zeiten, Thomas. Das war eine andere Stadt. Eine andere Welt.«

»Du bist ein Jahr durch ganz Europa getingelt und hast es dir gut gehen lassen, Vater.«

Karl Wolf nickte. »Ja, das ist richtig. Aber das ganze Geld, das ich damals die zehn Monate lang ausgegeben habe, hatte ich mir über die Jahre neben dem Studium als Kellner hart verdient, Junge. Das war Knochenarbeit! Und in solchen noblen Häusern wie diesem hier bin ich damals sicher nicht abgestiegen. Damals … damals war das möglich, einfach so loszuziehen. Damals vor dem Krieg … Ich konnte mir die Stellen als Architekt mit meinem Abschluss in Wien aussuchen. Die haben mich mit allen Mitteln zu überreden versucht, dass ich bei ihnen anfange. Das eine Jahr auf Reisen, das war für mich alles andere als ein Risiko, Junge. Das war egal. Damals.«

Tom blickte zu Boden und schloss seine Augen. »Du weißt genau, was wir eigentlich für die Zeit nach meinem Abschluss geplant hatten.«

»Ja, das weiß ich, Sohn. Aber unter diesen Umständen – es ist zu gefährlich.«

»Das ist es nicht überall.«

»Ach, Thomas«, protestierte Karl Wolf gereizt, »du musst das verstehen. Ich will weder Wien noch Deutschland unter diesen Umständen wiedersehen. Wir warten, bis sich die Lage entspannt. In ein paar Jahren, ja, dann besuchen wir das Grab deiner Großeltern in Österreich. Und Mamas Tanten in Hannover. Und wir sehen uns London, Paris, Venedig und vor allem Wien an. Später.«

Tom seufzte. »Ich will mich gar nicht beschweren. Es soll eben nicht sein.«

»Sag’ mir, Thomas, hast du denn keine Idee, in welche Richtung du jetzt gehen willst? Ich meine, warum nicht die Öl-Branche? Oder eine Bank, eine Versicherung.«

Tom schüttelte langsam den Kopf. Aber er sagte nichts.

»Ich habe mit deinen Professoren gesprochen – sie haben mir versichert, dass du in beinahe jedem Fach zu den Besten gehört hast.«

Tom nickte und presste seine Lippen aufeinander.

»Junge, dir stehen einfach alle Wege offen. Was willst du denn …?«

»Das ist es ja, verdammt«, unterbrach ihn Tom. Er ballte beide Hände zu Fäusten, und Karl Wolf riss seine Augen auf. Sein Sohn sprach plötzlich deutsch und nicht mehr englisch. Das hatte er schon lange nicht mehr getan, schon gar nicht in der Öffentlichkeit.

»Versteh’ doch endlich«, flüsterte Tom und beugte sich vor. »Ich weiß nicht, was ich will!«

Karl Wolf blickte sich um. Keiner der anderen Gäste hatte sich zu ihnen umgedreht, niemand schien vom Klang der fremden Sprache irritiert zu sein. Er senkte sein Haupt, dämpfte die Zigarette aus und sagte im für Tom schwer verständlichen Wienerisch, seiner eigenen Muttersprache: »Des geht vorbei. Glaub’ ma, scho bald, wenn ’ma wieda z’Haus san, dann wird das schon.«

Beide schwiegen.

»Na, die Herren, so still?«, fragte Maria Wolf beschwingt, als sie zurück zum Tisch kam und wieder Platz nahm. Tom versuchte mit einem Lächeln zu kaschieren, was offensichtlich war.

»Dann sollten wir vielleicht die Stimmung ein bisschen aufheitern, was meinst du, Karl?«

»Unbedingt, meine Teure!« Karl Wolf rieb sich freudestrahlend die Hände. Toms Mutter holte ein kleines Päckchen hervor, das mit einer roten Schleife umwickelt war.

»Tadaaa!«, rief sie.

»Mein Junge«, begann Karl Wolf, nachdem er sich geräuspert hatte, »ein Abschnitt in deinem Leben geht zu Ende. Ein wichtiger Abschnitt. Als Anerkennung für deine Leistungen und auch als Wegbegleiter für deinen zukünftigen Weg, wo auch immer der dich hinbringen mag, möchten wir beide dir das hier überreichen.«

Tom griff zögerlich nach dem Geschenk. »Danke, das wäre gar nicht nötig gewesen.« Er hatte tatsächlich nicht damit gerechnet. Tom löste das rote Band, riss vorsichtig das Geschenkpapier auf und öffnete die zum Vorschein kommende lackierte Schatulle. Als er sie aufklappte, machte er große Augen.

»Sie gefällt ihm«, bemerkte Maria Wolf und stieß ihren Mann mit dem Ellenbogen in die Seite.