Das Verrätertor - Edgar Wallace - E-Book

Das Verrätertor E-Book

Edgar Wallace

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Beschreibung

Der Ganove Tiger Trayne plant einen ungeheuerlichen Coup. Er will die Kronjuwelen aus dem Londoner Tower stehlen. Ein wahnwitziger Plan wird geschmiedet. In Deutschland sehr erfolgreich verfilmt mit Klaus Kinski und Eddi Arent. Null Papier Verlag

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Edgar Wallace

Das Verrätertor

Kriminalroman

Edgar Wallace

Das Verrätertor

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Ravi Ravendro 1. Auflage, ISBN 978-3-954182-04-6

www.null-papier.de/wallace

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ka­pi­tel 1

Ka­pi­tel 2

Ka­pi­tel 3

Ka­pi­tel 4

Ka­pi­tel 5

Ka­pi­tel 6

Ka­pi­tel 7

Ka­pi­tel 8

Ka­pi­tel 9

Ka­pi­tel 10

Ka­pi­tel 11

Ka­pi­tel 12

Ka­pi­tel 13

Ka­pi­tel 14

Ka­pi­tel 15

Ka­pi­tel 16

Ka­pi­tel 17

Ka­pi­tel 18

Ka­pi­tel 19

Ka­pi­tel 20

Ka­pi­tel 21

Ka­pi­tel 22

Ka­pi­tel 23

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Kapitel 1

»Ge­wehr ab!«

Ein­und­drei­ßig Ge­weh­re be­weg­ten sich mit ei­nem Schlag – ein­und­drei­ßig wei­ße Hän­de flo­gen wie ein Blitz an ein­und­drei­ßig Ho­sen­näh­te, als ob sie gleich­mä­ßig von ei­ner un­sicht­ba­ren Ma­schi­ne be­wegt wür­den. Wie aus Erz ge­gos­sen stand die Li­nie feu­er­ro­ter Uni­for­men, die großen Tscha­kos aus Bä­ren­fell wa­ren ta­del­los aus­ge­rich­tet. Die Mar­schmu­sik brach dröh­nend und don­nernd ab, als die letz­ten vier Mann der al­ten Wa­che um die Ecke des Wei­ßen Tur­mes schwenk­ten und ver­schwan­den.

»Weg­tre­ten!«

Bob­by Long­fel­low steck­te die blan­ke Sä­bel­klin­ge in die Schei­de, klemm­te das Mo­no­kel fes­ter und schau­te auf die klei­ne Kir­che St. Pe­ter ad Vin­cu­la, die im lich­ten Schein ei­nes Som­mer­mor­gens vor ihm lag. Er be­merk­te eine klei­ne, di­cke Dame, die mit ei­nem Füh­rer in der Hand auf ihn zu­kam. Sein Ser­geant, der in straf­fer Hal­tung ne­ben ihm stand, be­ob­ach­te­te den Vor­gang. Ein lei­ses Lä­cheln husch­te un­be­merkt über sein dun­kel­brau­nes Ge­sicht.

»Ent­schul­di­gen Sie, Sir!«

Bob­by maß mehr als 1,83 Me­ter. Die Stim­me drang von un­ten zu ihm her­auf, und er blick­te hin­ab. Die fül­li­ge Dame trug einen klei­nen, alt­mo­di­schen Hut und einen mit Per­len ver­zier­ten Um­hang. An ih­rem Aus­schnitt prang­te eine große Ka­meen­bro­sche. Ihr Ge­sicht war von der Hit­ze ge­rötet. Sie hat­te in­tel­li­gen­te Züge. Bob­by be­trach­te­te ihr drei­fa­ches Kinn und die große, männ­li­che Nase.

»Es tut mir leid – hm …«

»Könn­ten Sie mir viel­leicht sa­gen, wo das Grab der Lady Jane Grey liegt?«

Sie sprach mit tiefer Baß­stim­me. Er blin­zel­te sie an, als ob er plötz­lich aus dem Dun­keln in hel­les Licht ge­kom­men wäre.

»Lady –?«

»Lady Jane Grey, Sir.«

Er schau­te hilf­los nach sei­nem Ser­gean­ten hin­über, und sei­ne weiß­be­hand­schuh­ten Hän­de spiel­ten ner­vös mit dem klei­nen Schnurr­bart.

»Ha­ben Sie sich schon auf dem Kirch­hof um­ge­schaut?« frag­te er und hoff­te, sie da­mit los­zu­wer­den.

»Auf wel­chem Kirch­hof, Sir?«

Bob­by sand­te wie­der einen Blick zu sei­nem Ser­gean­ten, aber der blieb stumm.

»Nun – hm – auf ir­gend­ei­nem Kirch­hof! Ken­nen Sie die­se tote Lady, Ser­geant?«

»Ich habe sie bis jetzt noch nicht ge­se­hen.«

Bob­by räus­per­te sich, um den Irr­tum des Ser­gean­ten zu kor­ri­gie­ren.

»Lady – wie hieß doch der Name gleich? Grey?«

Die star­ke Dame kam ihm zu Hil­fe.

»Ihr Grab liegt in der Nähe des Tower«, sag­te sie lei­se.

Bob­by zeig­te mit der Rech­ten auf die Ge­bäu­de.

»Dies al­les ist Tower – das stimmt doch, Ser­geant?« frag­te er et­was ver­är­gert.

Der Ser­geant be­jah­te.

»Sie fra­gen bes­ser einen Bee­fea­ter, einen Auf­se­her, Ma­dam.«

Er woll­te sich ge­gen die Be­lei­di­gung ver­wah­ren, daß man einen Gar­de­of­fi­zier in vol­ler Gala­uni­form mit ei­nem Frem­den­füh­rer ver­wech­sel­te. Das war ihm bis­her noch nicht vor­ge­kom­men. Er war zum ers­ten­mal wach­ha­ben­der Of­fi­zier im Tower, und das war gar nicht so sehr nach sei­nem Ge­schmack. Er ver­fluch­te die Glut­hit­ze des heu­ti­gen Ta­ges und war kei­nes­wegs mit dem eng­an­lie­gen­den feu­er­ro­ten Waf­fen­rock und dem ho­hen Bä­ren­fellt­scha­ko, un­ter dem man so schwitz­te, ein­ver­stan­den. Ganz of­fen ge­sagt, hät­te Leut­nant Ro­bert Long­fel­low im Au­gen­blick al­les an­de­re lie­ber sein mö­gen als ein Su­bal­ter­n­of­fi­zier von Sei­ner Ma­je­stät Ber­wick-Gar­de.

Die star­ke Dame zog wie­der ih­ren Füh­rer zu Rate. »Wo wer­den die Kron­ju­we­len auf­be­wahrt?«

»Im Geld­schrank, Ma­dam!« sag­te Bob­by prompt.

Glück­li­cher­wei­se kam ge­ra­de ein be­rufs­mä­ßi­ger Frem­den­füh­rer dazu und brach­te die Be­su­che­rin zu sei­ner großen Er­leich­te­rung zu dem Wa­ke­field Tower.

»Wie ekel­haft sol­che Aus­fra­ge­rei ist!« sag­te Bob­by. »Was, zum Hen­ker, soll­te ich ihr denn sa­gen, Ser­geant?«

»Nichts«, sag­te der Mann. Bob­by grins­te und ging in die Wach­stu­be und dann nach sei­ner Pri­vat­woh­nung.

Mrs. Ol­lor­by aber sah sich wei­ter die Se­hens­wür­dig­kei­ten des Tower an. In Wirk­lich­keit hat­te sie we­der an den Kron­ju­we­len noch an der un­glück­li­chen Jane In­ter­es­se, die nur ei­ni­ge Me­ter von der Stel­le ent­fernt, wo Mrs. Ol­lor­by ihre un­an­ge­brach­ten Fra­gen ge­stellt hat­te, ent­haup­tet wor­den war.

Eine an­de­re Be­su­che­rin aber nahm an dem­sel­ben Mor­gen großen An­teil an dem tra­gi­schen Ge­schick Ja­nes. Hope Joy­ner stand vor dem klei­nen, vier­e­cki­gen Stein, der durch eine Ei­sen­ket­te ge­si­chert wird, da­mit er nicht von Men­schen­schrit­ten ent­weiht wird. Sie schau­te auf die ein­fa­che In­schrift. Dann schweif­te ihr Blick zu der klei­nen Kir­che, wo die sterb­li­chen Res­te der un­glück­li­chen jun­gen Frau zur letz­ten Ruhe ge­bet­tet wa­ren.

»Arme – arme Jane!« sag­te sie mit wei­cher Stim­me. Ihr Beglei­ter Richard Hal­lo­well fand nicht den Mut, dar­über zu lä­cheln.

Hier be­klag­te Ju­gend das Da­hin­schei­den der Ju­gend. Ein jun­ges Mäd­chen beug­te sich mit­lei­dig über die Stel­le, wo da­mals Ja­nes lan­ges Haar über ihr Haupt ge­schlun­gen wur­de, da­mit das Hen­ker­beil un­ge­hin­dert sei­ne grau­en­vol­le Ar­beit ver­rich­ten konn­te. Er konn­te ihr vollen­det schö­nes Pro­fil se­hen. In die­ser trau­ernd ge­neig­ten Hal­tung sah ihre Ge­stalt noch viel gra­zi­öser aus als sonst. Ihre zar­te, rei­ne Ge­sichts­far­be hob sich wun­der­voll von dem grau­en Hin­ter­grund des al­ten Mau­er­werks ab. Die Tra­gö­die des ehr­gei­zi­gen So­mer­set wirk­te durch die An­we­sen­heit die­ses schö­nen jun­gen Mäd­chens nur noch bit­te­rer und schmerz­li­cher.

»War es nicht schreck­lich? Sie wohn­te in King’s Hou­se … Von dem Fens­ter aus sah sie, wie man ih­ren to­ten Gat­ten fort­trug …«

»Hope, Sie ma­chen den la­chen­den Mor­gen durch sol­che Be­trach­tun­gen tod­trau­rig!«

Sie lä­chel­te ihn schnell an und leg­te ihre Hand auf sei­nen Arm.

»Ja – es ist nicht rich­tig von mir, Dick! Ich will es las­sen. Ist der präch­ti­ge Of­fi­zier dort nicht Bob­by?«

Die lan­ge, schlan­ke Ge­stalt des wach­ha­ben­den Of­fi­ziers er­schi­en un­ter der Ve­ran­da des Wacht­hau­ses.

»Ja, das ist Bob­by. Ges­tern abend kam er vom Ur­laub zu­rück, und heu­te macht er sei­ne ers­te Wa­che.« Dick lach­te lei­se. »Er ist ein ge­bo­re­ner Mü­ßig­gän­ger – ein klein we­nig Tä­tig­keit be­frie­digt ihn voll­kom­men.«

»Das ist das ers­te­mal, daß Sie heu­te ge­lacht ha­ben«, hielt sie ihm vor. Er hät­te ihr gern ge­sagt, daß er an die­sem Mor­gen we­nig Grund zum Fröh­lich­sein hat­te, aber er schwieg.

Dick Hal­lo­well sah in der schwar­zen, ta­del­los sit­zen­den Of­fi­zier­s­uni­form mit der feu­er­ro­ten Bin­de sehr gut aus. Er war einen Kopf grö­ßer als Hope. Sei­ne grau­en Au­gen blick­ten kühn und klar in die Welt. In sei­nem Gang lag die Ge­schmei­dig­keit und Bieg­sam­keit des trai­nier­ten Sport­lers.

»Nun habe ich Ih­nen al­les ge­zeigt«, sag­te er. »Ich hoff­te, es wür­de den gan­zen Tag dau­ern.«

Sie lach­te lei­se.

»Das ist nicht wahr! Sie sind ganz un­ru­hig ge­wor­den und möch­ten mich gern los sein, seit­dem Ihr Bur­sche kam. War­tet je­mand auf Sie?« Be­vor er ant­wor­ten konn­te, fuhr sie fort: »Ich bin eine ge­bo­re­ne Hell­se­he­rin – und au­ßer­dem ken­ne ich den Tower schon sehr gut. Aber ich woll­te zu ger­ne ein­mal se­hen, wie Sie ei­gent­lich in Uni­form aus­se­hen!«

Als sie sprach, kam ihr mit Be­dau­ern zum Be­wußt­sein, daß sie sich erst kur­ze Zeit kann­ten. Vor nicht ganz ei­nem Mo­nat wa­ren sie ein­an­der be­geg­net. Sie hat­te eine Boots­stan­ge im schäu­men­den Kiel­was­ser ei­nes Damp­fers auf der Them­se ver­lo­ren und sich mit ih­rem Boot im Wei­den­ge­strüpp ver­strickt. Er ru­der­te her­bei, um sie zu be­frei­en, und war sehr aus­ge­las­sen. – Jetzt gin­gen sie dem Lö­wen­tor zu. Un­ter ei­nem Tor­bo­gen mach­ten sie halt und schau­ten zu­sam­men auf die düs­te­re Holz­schran­ke, hin­ter der der Fluß lag.

»Das Ver­rä­ter­tor!«

Sie schau­der­te, wuß­te aber nicht, warum.

»Ja – das Ver­rä­ter­tor«, nick­te er, »ein alt­ehr­wür­di­ges Tor heut­zu­ta­ge. Man denkt kaum noch dar­an, daß Kö­ni­gin­nen und Hofleu­te die­se Stu­fen be­tra­ten.«

Sie lach­te wie­der, dann gin­gen sie wei­ter. Die Schild­wa­chen sa­lu­tier­ten. Jetzt er­reich­ten sie die ge­schäf­ti­ge Welt von Tower Hill. Schwe­re, mit Kis­ten hoch­be­la­de­ne Last­wa­gen rat­ter­ten an ih­nen vor­bei. Vom na­hen Bil­lings­ga­te zog Fisch­ge­ruch her­über.

Ho­pes schö­nes Auto hielt am Stra­ßen­rand. Dick öff­ne­te den Schlag.

»Wann wer­de ich Sie wie­der­se­hen?«

Sie lä­chel­te bei sei­ner Fra­ge.

»Wann Sie wol­len. Mein Name steht im Te­le­fon­buch.«

»Was un­ter­neh­men Sie jetzt?«

Sie mach­te kein fro­hes Ge­sicht.

»Ich habe eine un­an­ge­neh­me Un­ter­re­dung vor mir«, sag­te sie.

Er schau­te sie groß an, denn auch ihm stand ähn­li­ches be­vor, aber er sag­te ihr nichts da­von.

Er sah ih­rem Wa­gen nach, bis er au­ßer Sicht war. Dann ging er den Hü­gel hin­un­ter, über die Brücke, die den al­ten Fes­tungs­gra­ben über­spannt. Er lä­chel­te nicht mehr, und nicht ein­mal der stum­me, aber be­red­te Gruß, den Bob­by ihm zu­nick­te, als er durch die Wach­stu­be ging, konn­te die bö­sen Wol­ken von sei­ner Stirn ver­scheu­chen.

*

Am Ein­gang sei­ner Woh­nung war­te­te Brill, sein Bur­sche, und mel­de­te einen Be­su­cher.

»Der Herr bat mich, Sie zu su­chen. Er hät­te eine Verab­re­dung mit Ih­nen.«

Dick Hal­lo­well nick­te lang­sam.

»Ich brau­che Sie in der nächs­ten Vier­tel­stun­de nicht, Brill«, sag­te er. »Sie blei­ben an der Tür, und wenn je­mand kommt, sa­gen Sie, daß ich sehr be­schäf­tigt sei.«

»Ja­wohl, Sir Richard.«

»Und Brill – hat der, hm, Herr et­was ge­sagt – ich mei­ne, über sich selbst?«

Brill zö­ger­te.

»Nein, Sir. Er schi­en üb­ler Lau­ne zu sein und sag­te, daß Sie sehr froh sein müß­ten, eine der­ar­ti­ge Woh­nung zu ha­ben –«

Wie­der zö­ger­te er.

»Hat er sonst noch et­was ge­sagt?«

»Nein, das ist al­les … Er lach­te so höh­nisch. Sonst ist nicht viel los mit ihm, so­weit ich se­hen kann.«

»Ja, Sie ha­ben recht – nichts.«

Dick ging die Stein­trep­pe hin­auf und mach­te vor ei­ner Tür halt. Mit düs­te­rem Ge­sicht stieß er sie auf und ging hin­ein. Am Fens­ter des vor­nehm aus­ge­stat­te­ten Wohn­zim­mers stand ein Mann und schau­te hin­aus. Er schi­en das Ex­er­zie­ren der Sol­da­ten im Hof zu be­ob­ach­ten. Als er sich jetzt zu Dick um­wand­te, sah man ein ha­ge­res und un­zu­frie­de­nes Ge­sicht. Er trug schä­bi­ge Klei­dung, und sei­ne Ab­sät­ze wa­ren ab­ge­tre­ten. Trotz­dem glich er in sei­nen Zü­gen und in sei­ner Hal­tung auf­fäl­lig dem schwei­gen­den Of­fi­zier, der ihn auf­merk­sam be­trach­te­te.

»Hal­lo!«

Er ging Dick ei­ni­ge Schrit­te ent­ge­gen und sah ihn for­schend an. Sein Be­tra­gen war we­der freund­lich noch be­lei­di­gend.

»Hal­lo – Bru­der!«

Dick sag­te nichts. Als sie ein­an­der ge­gen­über­stan­den, konn­te man die Fa­mi­li­en­ähn­lich­keit noch deut­li­cher se­hen, und doch wa­ren bei­de ver­schie­den. Wenn Gra­ham Hal­lo­well nicht so rau ge­spro­chen hät­te, wäre sei­ne Stim­me der sei­nes Bru­ders voll­kom­men gleich ge­we­sen. Aber er hat­te die lie­bens­wür­di­gen Um­gangs­for­men von frü­her ab­ge­streift und hat­te ver­ges­sen, daß er einst die Ru­der­boo­te ei­ner be­rühm­ten Schu­le ge­führt und der Stolz und die Zier­de der Uni­ver­si­tät ge­we­sen war.

Jetzt wuß­te er nur, daß er ein vom Schick­sal hart mit­ge­nom­me­ner Mann war, der nie­mals eine Chan­ce ge­habt hat­te. Er war so ver­bit­tert, daß er sich nur noch an die Not und die bö­sen Er­fah­run­gen sei­nes Le­bens er­in­ner­te.

»Dei­ne Be­grü­ßung ist ge­nau­so be­geis­tert wie im­mer«, sag­te er höh­nisch, »und ich will wet­ten, daß du mich nicht zum Es­sen in die Of­fi­ziers­mes­se ein­lädst! ›Hier ist mein Bru­der – Gra­ham Hal­lo­well, der ges­tern von Dart­moor ent­las­sen wur­de und der Ih­nen in­ter­essan­te Ge­schich­ten aus die­ser Höl­le er­zäh­len kann!‹«

Sei­ne Stim­me wur­de im­mer lau­ter, bis er schließ­lich schrie. Dick merk­te, daß er ge­trun­ken hat­te und in sei­ner bös­ar­tigs­ten Stim­mung war. »Auch dein ver­damm­ter Bur­sche be­han­delt mich, als ob ich ein Aus­sät­zi­ger wäre –«

»Das bist du auch«, sag­te Dick mit lei­ser, aber kla­rer Stim­me. »Ein Aus­sät­zi­ger – das ist die rich­ti­ge Be­zeich­nung für dich, Gra­ham! An dir ist et­was Ver­faul­tes, dem Leu­te, die noch Selb­st­ach­tung ha­ben, aus dem Wege ge­hen. – Und schrei nicht so, wenn du mit mir sprichst, sonst pa­cke ich dich am Kra­gen und wer­fe dich die Trep­pe hin­un­ter. Hast du mich ver­stan­den?«

Der an­de­re ließ sich durch die­se Dro­hung ein­schüch­tern und wur­de aus ei­nem prah­len­den Rauf­bold zu ei­nem jam­mern­den Bett­ler.

»Küm­me­re dich nicht um mich, Dick – ich habe heu­te mor­gen schon zehn Glas ge­trun­ken –, al­ter Jun­ge, stell dir doch vor, wie dir zu­mu­te wäre, wenn du ges­tern aus dem Ge­fäng­nis ent­las­sen wor­den wä­rest! Ver­set­ze dich ein­mal in mei­ne Lage!«

Dick un­ter­brach ihn.

»Ich kann mir beim bes­ten Wil­len nicht vor­stel­len, wie ich mich füh­len wür­de, wenn ich fürs Ge­fäng­nis reif wäre«, sag­te er kühl. »Sol­che Ein­bil­dungs­kraft be­sit­ze ich nicht. Es ist mir ein­fach un­mög­lich, mich an dei­ne Stel­le zu den­ken, als du einen jun­gen, un­er­fah­re­nen Gar­de­of­fi­zier be­täub­test und be­raub­test. Der Mann schenk­te dir sein Ver­trau­en, weil du mein Halb­bru­der bist. Noch un­mög­li­cher er­scheint es mir, mit der Frau ei­nes an­ge­se­he­nen Man­nes durch­zu­bren­nen und sie nach­her in Wien in Hun­ger, Elend und Schan­de sit­zen­zu­las­sen. – Und noch so vie­les an­de­re, des­sen ich nicht fä­hig wäre. Aber ich will lie­ber nichts mehr da­von er­wäh­nen. Wenn ich mich an dei­ne Stel­le set­zen und be­grei­fen könn­te, wie ein Mann so nie­der­träch­tig sein kann wie du – ja, dann wür­de ich dei­ne au­gen­blick­li­chen Ge­füh­le viel­leicht eher tei­len kön­nen. – Was willst du von mir?«

Gra­hams un­ru­hi­ger Blick irr­te zum Fens­ter.

»Mein Le­ben ist ver­pfuscht«, sag­te er ver­drieß­lich. »Ich dach­te dar­an, nach Ame­ri­ka zu ge­hen –«

»Hat die ame­ri­ka­ni­sche Po­li­zei ent­deckt, daß man in Ame­ri­ka drin­gend Ge­sin­del braucht, weil du aus­ge­rech­net dort­hin ge­hen willst?«

»Du bist hart­her­zig wie die Höl­le, Dick.«

Dick Hal­lo­well lach­te – aber es war kein fro­hes La­chen.

»Wie­viel willst du ha­ben?«

»Den Fahr­preis nach New York –«

»Du wirst mit dei­nen Per­so­nal­ak­ten nicht in die Ve­rei­nig­ten Staa­ten kom­men, das weißt du doch ganz ge­nau.«

»Ich könn­te ja einen an­de­ren Na­men an­neh­men –«

»Du wirst nicht fah­ren – du hast ja auch gar nicht die Ab­sicht, das zu tun.« Dick setz­te sich an sei­nen Schreib­tisch, öff­ne­te eine Schub­la­de, nahm ein Scheck­buch her­aus und schrieb.

»Ich habe dir einen Scheck über fünf­zig Pfund aus­ge­schrie­ben, und ich habe ihn so aus­ge­füllt, daß du ihn un­mög­lich auf fünf­hun­dert um­än­dern kannst, wie du es mit mei­nem letz­ten Scheck ge­tan hast. Au­ßer­dem wer­de ich dies­mal mei­ne Bank te­le­fo­nisch von der Höhe der Sum­me ver­stän­di­gen.« Er riß das Blatt aus dem Heft und gab es sei­nem düs­ter drein­schau­en­den Bru­der.

»Das ist das letz­te, was du von mir be­kommst. Wenn du dir ein­bil­dest, daß du mich zwin­gen kannst, dir Geld zu ge­ben, weil du hier­her kommst, dann hast du et­was an­de­res zu er­war­ten. Der Oberst und mei­ne Ka­me­ra­den wis­sen al­les von dir. Der Of­fi­zier, den du da­mals be­schwin­delt hast, ist ge­ra­de auf Wa­che. Wenn du mir ir­gend­wie Schwie­rig­kei­ten machst, las­se ich dich ein­sper­ren. Ver­stan­den?«

Gra­ham Hal­lo­well steck­te den Scheck in die Ta­sche.

»Du bist zu hart«, jam­mer­te er. »Wenn Va­ter das wüß­te –«

»Gott sei Dank ist er tot!« sag­te Dick düs­ter. »Aber er wuß­te ge­nug von dir und starb an ge­bro­che­nem Her­zen. Das tra­ge ich dir nach, Gra­ham.«

Gra­ham at­me­te schwer. Nur die Furcht hielt sei­ne Wut in Schran­ken. Er haß­te sei­nen Halb­bru­der. Er hät­te ihn be­lei­di­gen, de­mü­ti­gen, pei­ni­gen kön­nen, aber es fehl­te ihm der Mut dazu.

»Durch das Fens­ter sah ich, wie du mit ei­nem schö­nen Mäd­chen sprachst.« – »Sei ru­hig!« fuhr Dick auf. »Ich ver­tra­ge es nicht, dich über eine Frau re­den zu hö­ren!«

»Sieh mal an!« Gra­ham ver­fiel wie­der in sei­ne frü­he­re Un­ver­schämt­heit. »Ich woll­te dich nur fra­gen – weiß Dia­na –?«

Dick ging zur Tür und riß sie weit auf.

»Mach, daß du hin­aus­kommst!« sag­te er kurz.

»Dia­na –«

»Dia­na be­deu­tet mir nichts mehr. Erin­ne­re dich ge­fäl­ligst dar­an. Ich lie­be auch ihre Freun­de nicht.«

»Meinst du mich da­mit?«

Dick nick­te.

Gra­ham zuck­te die Ach­seln und ent­fern­te sich hoch­mü­tig.

»Die­ser Platz hier ist wie ein Ge­fäng­nis – aber ich wer­de schon mei­nen Weg hin­aus­fin­den.«

»Der bes­te Aus­weg für dich ist, wenn du wie­der hin­ter Schloß und Rie­gel sitzt.« Richard Hal­lo­well lach­te grim­mig.

»Was ist das?« frag­te Gra­ham un­ten.

»Das Ver­rä­ter­tor«, sag­te Dick und warf den schwe­ren Flü­gel hin­ter ihm zu.

Kapitel 2

Das Te­le­fon läu­te­te schon zum drit­ten­mal. Dia­na Mar­tyn leg­te end­lich den klei­nen, lang­haa­ri­gen Schoß­hund auf ein Kis­sen und nahm nach­läs­sig den Hö­rer ab. Es war na­tür­lich Col­ley, der sie wie im­mer mit Vor­wür­fen quäl­te, weil es zu lan­ge dau­er­te, bis sie sich mel­de­te.

»Wenn wir ge­wußt hät­ten, daß Eure ge­stren­ge Ho­heit am Ap­pa­rat wä­ren, hät­ten wir uns gleich beim ers­ten Läu­ten be­eilt«, sag­te Dia­na iro­nisch.

Col­ley är­ger­te sich über die­sen Ton. Er haß­te sar­kas­ti­sche Frau­en.

»Kannst du mich zum Es­sen bei Ciro tref­fen?« frag­te er.

»Nein, wir kön­nen mit Euch nir­gends spei­sen. Mr. Gra­ham Hal­lo­well wird heu­te bei mir zu Tisch sein.«

An­schei­nend war die Nach­richt eine Über­ra­schung für ihn.

»Hal­lo­well? Ich kann dich nicht deut­lich ver­ste­hen, Dia­na – rauchst du?«

Sie blies eine graue Wol­ke zur De­cke und streif­te dann die Asche ih­rer Zi­ga­ret­te in die Kris­tall­scha­le.

»Nein«, sag­te sie. »Aber ich bin heu­te mor­gen et­was durch­ein­an­der. Die Aus­sicht, mit ei­nem Mann al­lein zu sein, der ge­ra­de aus dem Ge­fäng­nis kommt, ist we­nig ver­lo­ckend. Er sieht im Au­gen­blick nicht eben zum Fo­to­gra­fie­ren aus. Auch war er wirk­lich nicht zu Un­recht ver­ur­teilt –«

»Höre ein­mal, Di –«

»Du sollst mich nicht im­mer Di nen­nen«, un­ter­brach sie ihn är­ger­lich.

»Dia­na, der große Herr möch­te dich spre­chen – in al­len Ehren – er sag­te es mir –«

»Be­stel­le dem großen Herrn, daß ich ihn nicht se­hen will«, ent­geg­ne­te sie ru­hig. »Ein Ver­bre­cher am Tag bringt ge­ra­de ge­nug Är­ger.«

Er schwieg einen Au­gen­blick.

»Sei doch nicht so ko­misch, ich glau­be ja gar nicht, daß du mit Hal­lo­well speist!«

Sie leg­te den Hö­rer auf den Tisch und nahm ihr Buch wie­der auf. Wenn Col­ley War­ring­ton un­ge­zo­gen oder schwie­rig wur­de, leg­te sie un­wei­ger­lich den Hö­rer fort und ließ ihn ru­hig sum­men.

Und Col­ley konn­te sehr un­an­ge­nehm sein. Manch­mal war er in sie ver­liebt; und manch­mal war er ra­send ei­fer­süch­tig. Au­gen­blick­lich war er wie­der ihr Lieb­ha­ber, aber er lang­weil­te sie.

Es wur­de lei­se an die Tür ge­klopft. Dom­bret kam her­ein, ihr Taft­kleid rausch­te. Dia­na klei­de­te ihre Zofe stets in dun­kel­ro­te Taft­sei­de und be­stand auf Tän­del­schür­zen und ho­hen Fri­su­ren, wie sie die Kell­ne­rin­nen in den Cafés tra­gen. Dom­bret war zwan­zig Jah­re alt und sehr hübsch. Die knis­tern­de Sei­de klei­de­te sie gut.

»Wol­len Sie Miss Joy­ner emp­fan­gen, gnä­di­ges Fräu­lein?«

»Miss Joy­ner?« Dia­na starr­te die Zofe an. »Ha­ben Sie rich­tig ge­hört? – Miss Joy­ner?«

»Ja­wohl, gnä­di­ges Fräu­lein. Eine sehr hüb­sche jun­ge Dame.«

Dia­na über­leg­te schnell.

»Bit­ten Sie die Dame, nä­her zu tre­ten.«

Dom­bret ver­ließ das Zim­mer nur einen Au­gen­blick.

»Miss Joy­ner.«

Dia­na ging quer über das Par­kett. Sie streck­te dem Be­such ihre Hand ent­ge­gen. Ein ent­zück­tes Lä­cheln spiel­te auf ih­rem blas­sen Ge­sicht. Sie trat selbst­be­wußt auf, denn sie wuß­te, wie vollen­det die Li­ni­en ih­rer Ge­stalt wa­ren und wie ver­füh­re­risch ihr röt­lich-blon­des Haar glänz­te.

»Es ist sehr lie­bens­wür­dig von Ih­nen, daß Sie kom­men, Miss Joy­ner.«

Hope Joy­ner nahm die Hand. Ihre kla­ren grau­en Au­gen be­geg­ne­ten Dia­nas Blick we­der feind­lich noch arg­wöh­nisch. Sie war drei Jah­re jün­ger als Dia­na und be­fand sich in dem Al­ter, in dem es schwie­rig ist, sich an das Aus­se­hen vor ei­nem Jahr zu er­in­nern.

»Ist Ih­nen mein Be­such auch recht?« frag­te sie.

Das also war Hope Joy­ner. Sie sah lieb­rei­zend aus. Dia­na war sehr kri­tisch, aber hier fand sie nichts aus­zu­set­zen, we­der an ih­rer Fi­gur noch an ih­rer Stim­me, noch am Teint.

»Es ist mir sehr an­ge­nehm – bit­te, neh­men Sie Platz!«

Sie nahm das ver­schla­fe­ne Hünd­chen vom Kis­sen. Durch hef­ti­ges Bel­len pro­tes­tier­te der Klei­ne, bis er durch einen Puff zur Ruhe ge­bracht wur­de. Prü­gel und Lieb­ko­sun­gen wech­sel­ten bei Togo ab, dar­an war er schon ge­wöhnt. Aber Hope blieb ste­hen. Nur ihre wei­ße Hand leg­te sie auf die Pols­ter­leh­ne des Ses­sels.

»Ich habe einen Brief von Ih­nen be­kom­men – einen sehr merk­wür­di­gen Brief«, sag­te sie. »Darf ich ihn noch ein­mal vor­le­sen? Vi­el­leicht ha­ben Sie ver­ges­sen, was Sie ge­schrie­ben ha­ben.«

Dia­na ver­gaß sol­che Din­ge nie, aber sie er­hob kei­nen Wi­der­spruch. Sie be­ob­ach­te­te das Mäd­chen mit be­son­de­rem In­ter­es­se, als sie ihre Hand­ta­sche öff­ne­te. Hope zog einen Um­schlag her­aus und ent­nahm die­sem einen schwe­ren grau­en Bo­gen. Ohne Ein­lei­tung be­gann sie zu le­sen:

»Lie­be Miss Joy­ner, ich hof­fe, Sie wer­den es nicht un­ver­schämt von mir fin­den, daß ich Ih­nen in ei­ner An­ge­le­gen­heit, die mich nahe an­geht, schrei­be. Ich weiß ge­nug von Ih­nen, um zu glau­ben, daß Sie mein Ver­trau­en re­spek­tie­ren wer­den. Kurz ge­sagt, ich bin in ei­ner ver­wir­ren­den Lage. Vor Ihrem Er­schei­nen war ich mit Sir Richard Hal­lo­well ver­lobt. Wir sind durch eine Fa­mi­li­en­an­ge­le­gen­heit, die kein be­son­de­res In­ter­es­se für Sie hat, zur Zeit ent­frem­det. Sie sind mit ihm in der letz­ten Zeit sehr häu­fig ge­se­hen wor­den, und man spricht sehr un­freund­lich von Ih­nen. Man fragt, wer Sie sind, wo­her Sie kom­men, wie es mit Ih­rer Fa­mi­lie steht. Dies geht mich je­doch we­ni­ger an als mei­ne per­sön­li­che Lage. Ich lie­be Dick zärt­lich, und er liebt mich, ob­gleich wir im Au­gen­blick nicht mit­ein­an­der spre­chen. Darf ich mich nun an Ihre Groß­mut wen­den und Sie bit­ten, uns eine Ge­le­gen­heit zu ge­ben, un­se­re Freund­schaft zu er­neu­ern?«

Als sie zu Ende war, steck­te sie den Brief wie­der in ihre Hand­ta­sche und schloß sie lei­se.

»Ich glau­be nicht, daß ich eine un­ver­nünf­ti­ge Bit­te an Sie ge­rich­tet habe«, sag­te Dia­na kühl.

»Ich soll mich selbst un­glück­lich ma­chen?« frag­te Hope mit ru­hi­ger, be­ton­ter Stim­me. »Wa­rum denn? Sie ha­ben doch alle Vor­tei­le auf Ih­rer Sei­te. Neh­men Sie sich nicht et­was viel her­aus?«

Dia­na biß sich ge­dan­ken­voll auf die Lip­pen.

»Es mag sein – es war ein dum­mer Brief, aber ich war et­was ver­wirrt. Aber das macht ja nichts. Sie sind ja nur sei­ne Freun­din und sor­gen sich um ihn –«

Hope schüt­tel­te den Kopf.

»Das mei­ne ich nicht. Ich woll­te Sie fra­gen, ob Sie sich nicht zu­viel her­aus­neh­men, wenn Sie ein so großes Op­fer von mir ver­lan­gen?«

Dia­na kniff die Au­gen zu­sam­men.

»Sie mei­nen – daß Sie ihn lie­ben?«

»Ja, das mei­ne ich«, sag­te sie.

Die­ses Be­kennt­nis nahm Dia­na den Atem, und es dau­er­te ei­ni­ge Zeit, be­vor sie wie­der spre­chen konn­te.

»Wie in­ter­essant!« sag­te sie, aber Hope Joy­ner rea­gier­te auf die höh­ni­sche Be­mer­kung nicht. »Ich muß also an­neh­men, daß mei­ne ver­ständ­li­che Bit­te Sie von Ihrem« – sie mach­te eine wohl­über­leg­te Pau­se – »ehr­gei­zi­gen Plan nicht ab­hält?«

»Ist es denn so ehr­gei­zig«, frag­te Hope mit ver­blüf­fen­der Un­schuld. »Dick Hal­lo­well gern zu ha­ben oder ihn zu lie­ben?«

Dia­na nahm sich zu­sam­men. Sie hat­te nicht er­war­tet, daß ihr der Brief von Nut­zen sein konn­te, sie hat­te ihn nur in ei­ner Lau­ne ge­schrie­ben. Vi­el­leicht be­ab­sich­tig­te sie, Dick Hal­lo­well zu ver­let­zen oder zu är­gern. Und jetzt, da das Mäd­chen mit ih­rem rei­nen, fes­ten Ver­trau­en zur Lie­be vor ihr stand, sah sie eine Her­aus­for­de­rung dar­in, daß sie hier­her­kam und ihr furcht­los in die Au­gen schau­te. Und es war nicht gut, Dia­na her­aus­zu­for­dern.

Es war selt­sam, daß in die­sem Au­gen­blick al­les längst er­stor­be­ne Ge­fühl wie­der in ihr le­ben­dig wur­de und die Glut, die sie vor vier Jah­ren ver­zehrt hat­te, wie­der heiß auf­lo­der­te. Die dunklen Schat­ten frü­he­rer Mög­lich­kei­ten tauch­ten in ihr auf …

Hope sah, wie Dia­na schluck­te und wie sie die Zäh­ne auf­ein­an­der­biß, selbst als sie lä­chel­te.

»Ich will Ih­nen et­was zei­gen.«

Dia­na sprach mit ei­ner ihr selbst frem­den Stim­me. Sie ver­ließ den Raum für ei­ni­ge Se­kun­den. Als sie zu­rück­kam, hielt sie ein klei­nes Le­der­käs­t­chen in der Hand. Sie drück­te den De­ckel auf. Es lag ein Ring mit drei feu­ri­gen Bril­lan­ten dar­in. Sie nahm ihn her­aus und gab ihn Hope, die dar­über nicht ge­ra­de er­freut war.

»Le­sen Sie bit­te die In­schrift.«

Mecha­nisch tat sie es, ob­gleich es ihr un­an­ge­nehm war. Auf der In­nen­sei­te war ein­gra­viert: »Dick sei­ner Dia­na.«

Hope gab den Ring zu­rück.

»Nun?« frag­te Dia­na.

»Ein Ver­lo­bungs­ring?«

Dia­na nick­te, Hope schau­te sie ver­wirrt an.

»Än­dert denn das – et­was an der Lage?« frag­te sie. »Wiegt die­ser Grund schwe­rer als das, was Sie mir be­reits ge­sagt ha­ben? Soll­te ich des­we­gen Dick Hal­lo­well mei­den? Ich weiß, daß Sie mit ihm ver­lobt wa­ren – we­nigs­tens sag­te er mir, daß er frü­her ver­lobt war. Die meis­ten Leu­te sind mehr als ein­mal ver­lobt, nicht wahr? Miss Mar­tyn, er­war­ten Sie im Ernst von mir, daß ich Richard Hal­lo­well nicht wie­der­se­hen soll?«

»Ich er­war­te von Ih­nen, daß Sie tun, was Ih­nen be­liebt.« Dia­nas Stim­me klang bei­na­he streng. Dann zuck­te sie die Schul­tern. »Es ist na­tür­lich eine Sa­che des Ge­schmacks und der gu­ten Er­zie­hung.« Sie schau­te auf Ho­pes Hand­ta­sche. »Vi­el­leicht war es doch zu in­dis­kret, einen sol­chen Brief zu schrei­ben«, sag­te sie und streck­te ihre Hand aus. »Ge­ben Sie ihn mir bit­te zu­rück.«

Wie­der tra­fen sich ihre Au­gen. Dann mach­te Hope ihre Hand­ta­sche auf, nahm den Brief her­aus, riß ihn in vier Stücke und leg­te die Pa­pier­fet­zen auf den Tisch. Mit ei­nem leich­ten Ni­cken ver­ließ sie den Raum so un­er­war­tet, daß die neu­gie­ri­ge Dom­bret, die ihr Ohr ans Schlüs­sel­loch ge­legt hat­te, bei­na­he ins Zim­mer ge­fal­len wäre, als Hope die Tür öff­ne­te.

Dia­na ging zum Fens­ter, um sie noch ein­mal zu se­hen, wenn sie das Haus ver­ließ, aber sie be­kam sie nicht mehr zu Ge­sicht. Wa­rum in al­ler Welt …?

Dia­na Mar­tyn war über sich selbst und über ihre Mo­ti­ve im un­kla­ren. Sie hat­te schon vor Jah­ren alle Ge­dan­ken an Dick Hal­lo­well auf­ge­ge­ben. Er be­deu­te­te ihr kaum noch et­was. Sie ver­such­te, sich zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, warum sie die­sen Brief ge­schrie­ben hat­te. Es war et­was Un­be­re­chen­ba­res in Dia­na Mar­tyn, eine merk­wür­di­ge Bos­heit, die sie schon frü­her in man­che klei­ne – ein­mal so­gar in eine große – Unan­nehm­lich­keit ge­bracht hat­te. Sie moch­te nicht mehr an die­sen Brief den­ken, da er mit Dick Hal­lo­well zu tun hat­te. Sie hat­te ihn bös­wil­li­ger­wei­se ge­schrie­ben, denn sie zwei­fel­te nicht, daß Hope ihm das Schrei­ben zei­gen wür­de, und er­war­te­te dann von ihm einen je­ner wü­ten­den Brie­fe, die er schrei­ben konn­te. Auf kei­nen Fall hat­te sie an­ge­nom­men, daß die­se Hope mit ih­rer ru­hi­gen, auf­rei­zen­den Schön­heit hier in ih­rer ei­ge­nen Woh­nung er­schei­nen wür­de.

Sie ver­such­te ih­rer Er­re­gung Herr zu wer­den, als Dom­bret ein­trat, um einen Be­such an­zu­mel­den, der ihr auf dem Fuß folg­te. Dia­na saß in ei­nem der brei­ten Ses­sel am Fens­ter, das eine gute Über­sicht auf die Cur­zon Street er­mög­lich­te. Ihre Arme wa­ren ge­kreuzt, mit ei­ner Hand stütz­te sie ihr Kinn. Als der Be­su­cher her­ein­kam, be­trach­te­te sie kri­tisch und un­barm­her­zig sei­nen schä­bi­gen An­zug. Er blick­te düs­ter drein und hat­te die Hän­de in die Ho­sen­ta­schen ge­steckt. Sie war­te­te, bis sich die Tür hin­ter Dom­bret ge­schlos­sen hat­te, dann frag­te sie: »Wa­rum?«

»Was willst du mit dem ›Wa­rum‹ sa­gen?« ent­geg­ne­te er rau.

»Wa­rum kommst du so ab­ge­ris­sen?«

Gra­ham Hal­lo­well schau­te an sei­nem schmut­zi­gen An­zug hin­un­ter und grins­te. »Ich ver­gaß, mich um­zu­zie­hen«, sag­te er.

Sie nick­te lang­sam.

»Du hast in die­sem Auf­zug den großen Richard be­sucht– hat dei­ne sicht­li­che Ar­mut kei­nen Ein­druck auf ihn ge­macht?«

Er ließ sich in einen großen Ses­sel fal­len, zog eine Pa­ckung Zi­ga­ret­ten her­vor und zün­de­te eine an, ohne zu ant­wor­ten.

»Hast du einen be­son­de­ren Grund, in der Cur­zon Street als Va­ga­bund auf­zut­au­chen? Mich läßt das ganz kalt.«

»Auch er war nicht sehr er­baut«, sag­te er, in­dem er eine Rauch­wol­ke zur De­cke em­por­blies und war­te­te, bis sie sich auf­lös­te. »Er gab mir schä­bi­ge fünf­zig Pfund – bei­na­he hät­te ich sie ihm an den Kopf ge­wor­fen!«

»Aber du hast es doch blei­ben­las­sen!«

Er ließ sich durch ih­ren höh­ni­schen Ton nicht auf­brin­gen. Das ge­hör­te eben ein­mal zu ihr. Frü­her hat­ten ihn ihre spöt­ti­schen Be­mer­kun­gen wild und ver­rückt ge­macht, aber das war schon sehr lan­ge her.

»Ich ver­mu­te«, sag­te sie ge­dan­ken­voll, »daß du dir ein­bil­dest, er zahlt dir ir­gend­ei­ne Sum­me, die du ihm nennst, nur um dich los­zu­wer­den. Na­tür­lich hat er das nicht ge­tan. Ich woll­te, du kenn­test Dick so ge­nau wie ich.«

»Ich ken­ne ihn nur zu ge­nau«, groll­te er, »die­sen nie­der­träch­ti­gen Pha­ri­sä­er!«

Sie ant­wor­te­te ihm lan­ge nicht. Ihre wei­ßen Zäh­ne preß­ten sich in die Un­ter­lip­pe.

»Nein, Dick ist kein Pha­ri­sä­er.« Nach ei­ner Pau­se fuhr sie fort: »Er hat mich nicht er­wähnt?«

»Er sag­te, daß er von dir nichts mehr hö­ren woll­te. Wenn dir das eine Ge­nug­tu­ung ist –«

Sie nick­te.

»Was so­viel heißt, daß du über mich ge­spro­chen hast.«

»Er hat eine neue Lie­be«, platz­te Gra­ham her­aus. »Und sie ist tat­säch­lich eine Schön­heit; ich sah, wie sie zu­sam­men den Tower be­sich­tig­ten.«

Sie schi­en sich nicht da­für zu in­ter­es­sie­ren. Er schau­te sich prü­fend im Raum um und hät­te ger­ne eine Fra­ge ge­stellt, wenn er den Mut dazu ge­fun­den hät­te. Er emp­fand die­ser Frau ge­gen­über stets eine ge­wis­se Scheu, wenn nicht Furcht.

»Du hast eine herr­li­che Woh­nung, Dia­na. Ich bin nicht ge­ra­de neu­gie­rig, wun­de­re mich aber doch, wie du das ma­chen kannst. Wenn ich mich recht be­sin­ne, be­wohn­test du ein paar mö­blier­te Zim­mer, als ich fort­ging. Ich er­fuhr von dei­nem Woh­nungs­wech­sel – aber die­se Pracht ist wirk­lich ver­blüf­fend.«

Wie er wuß­te, hat­te sie ein Ein­kom­men von ein paar hun­dert Pfund im Jahr, die kaum aus­reich­ten, um die Mie­te für die­se Woh­nung zu be­zah­len. Sie schrift­stel­ler­te ein we­nig und hat­te aus­ge­zeich­ne­te Ver­bin­dun­gen mit Fleet Street. Aber ihre trä­ge Ver­an­la­gung ließ die­se Ein­nah­me­quel­le nicht groß wer­den. Sie lä­chel­te ein we­nig un­zu­frie­den.

»Du fürch­test wohl das Schlimms­te? Das brauchst du nicht, ich bin jetzt sehr tä­tig. Hast du vom Fürs­ten von Kis­h­las­tan ge­hört?«

Er schüt­tel­te den Kopf.

»Du weißt nichts von ihm?« Sie zeig­te mit ih­rer Hand rings­um­her. »Das ver­dan­ke ich al­les sei­ner Güte!«

Sie lach­te über die Be­stür­zung, die sich in sei­nem Ge­sicht zeig­te.

»Ich bin als sei­ne Hof Jour­na­lis­tin tä­tig«, sag­te sie dann kühl. »Das klingt zwar nicht nach ei­ner erst­klas­si­gen An­stel­lung, aber es bringt mir im Jahr vier­tau­send Pfund ein, und ich glau­be, daß ich mein Geld ver­dient habe. Der Fürst be­klagt sich über die Welt im all­ge­mei­nen und über die Re­gie­rung im be­son­de­ren. Col­ley War­ring­ton hat mich ihm vor zwei Jah­ren vor­ge­stellt. Ich glau­be, daß er ver­sucht hat, un­se­ren un­heim­lich rei­chen Freund ein we­nig zur Ader zu las­sen, aber er hat­te wohl kein Glück da­mit und woll­te mich nun ins Ge­schäft brin­gen. Es ge­lang mir schnell, das vol­le Ver­trau­en des Fürs­ten zu er­wer­ben, und es war mir bald mög­lich, mir einen ein­träg­li­chen Pos­ten zu si­chern. – Er hat näm­lich zwei Sa­lut­schüs­se ein­ge­büßt –«

»Was sag­test du eben? Zwei …?« frag­te Gra­ham ver­ständ­nis­los.

»Zwei Sa­lut­schüs­se«, sag­te sie. »Der fran­zö­si­sche Gou­ver­neur bil­lig­te ihm frü­her einen Sa­lut von neun Ka­no­nen­schüs­sen zu, dann hat er aber we­gen ei­ner Skan­dal­ge­schich­te Dif­fe­ren­zen mit der fran­zö­si­schen Re­gie­rung ge­habt, und der Sa­lut des Fürs­ten wur­de auf sie­ben Schüs­se her­ab­ge­setzt. Du kannst dir na­tür­lich nicht vor­stel­len, daß sol­che Din­ge einen er­wach­se­nen Mann be­un­ru­hi­gen kön­nen, aber in In­di­en scheint das eine ver­flucht wich­ti­ge Sa­che zu sein. Ab­ge­se­hen da­von ist er ver­rückt auf kost­ba­re Stei­ne. Er hat die präch­tigs­te Samm­lung in In­di­en.«

»Ist er ver­hei­ra­tet?« frag­te Gra­ham arg­wöh­nisch.

»Neun­mal«, er­wi­der­te sie ru­hig. »Ich habe noch kei­ne sei­ner Frau­en ge­se­hen. Sie wer­den in stren­ger Ab­ge­schie­den­heit ge­hal­ten. Ich bin ihm wirk­lich sehr nütz­lich ge­we­sen – ich habe un­se­ren Ge­sand­ten in Pa­ris für sei­ne Sa­che in­ter­es­siert und habe eine Men­ge Ar­ti­kel über ihn ge­schrie­ben oder an­ge­regt.«

Er schau­te sie noch im­mer miß­trau­isch von der Sei­te an und fuhr mit der Hand über sein Kinn. Sie muß­te la­chen.

»Ich sehe dir an, Gra­ham, daß du jetzt sa­gen willst: ›Ost ist Ost und West ist West.‹ Und ich ver­mu­te auch, daß du mir eine Lek­ti­on über Hal­tung und an­stän­di­ges Be­neh­men ge­ben willst.«

»Es klingt al­les recht selt­sam«, sag­te er und steck­te sich eine Zi­gar­re an.

Ihre Stim­mung ihm ge­gen­über war nicht ge­ra­de freund­lich, das fühl­te er. Plötz­lich warf er die Zi­gar­re mit ei­nem Fluch in den Ka­min.

»Ich wer­de jetzt heim­ge­hen und mich um­zie­hen«, sag­te er miß­mu­tig, als er auf­stand. »Dei­ne Tä­tig­keit als Pres­se­agen­tin ge­fällt mir durch­aus nicht, Dia­na!«

»Das läßt mich kalt«, ant­wor­te­te sie ge­las­sen. »Du weißt doch, daß ich das jähr­li­che Ein­kom­men von vier­hun­dert Pfund, das ich frü­her hat­te, nicht mehr be­sit­ze. In ei­nem ver­rück­ten Au­gen­blick lieh ich das Ka­pi­tal ei­nem jun­gen Gent­le­man, der einen großen Plan hat­te, schnell reich zu wer­den – bei­läu­fig ver­lor ich da­bei auch mei­nen Ver­lob­ten.«

Sie sag­te das al­les leicht­hin, aber es lag eine ge­wis­se Bit­ter­keit in ih­ren Wor­ten. Er dreh­te sich, un­an­ge­nehm be­rührt, um.

»Das wer­de ich dir al­les zu­rück­ge­ben. An mei­nem nächs­ten Ge­burts­tag be­kom­me ich zwan­zig­tau­send Pfund –«

»Das hast du mir frü­her auch er­zählt«, sag­te sie höh­nisch zu ihm, »du hast so­gar das Te­sta­ment dei­ner Mut­ter, um es zu be­wei­sen. Lei­der hast du nur die gan­ze Erb­schaft schon ver­pfän­det, wie ich fest­stell­te, als du ins Ge­fäng­nis kamst.« Aber dann än­der­te sie ih­ren Ton. »Geh jetzt nach Hau­se, zieh an­stän­di­ge Klei­der an und komm um ein Uhr zu­rück.« Sie sah auf ihre ju­we­len­be­setz­te Arm­band­uhr. »Du hast nicht viel Zeit und mußt dich be­ei­len. Ich er­war­te Col­ley bald hier. Wenn er dich nicht hier fin­det, glaubt er, daß ich ihn be­lo­gen habe.«

Sie be­glei­te­te ihn zur Tür und schloß sie hin­ter ihm – ein we­nig zu schnell, so daß es fast wie eine Be­lei­di­gung aus­sah. Sie ver­zog ihr Ge­sicht zu ei­nem spöt­ti­schen Lä­cheln, ging wie­der zur Couch zu­rück und schi­en in einen sen­sa­tio­nel­len Ro­man ver­tieft zu sein, als ihr Col­ley ge­mel­det wur­de.

Col­ley War­ring­ton war ein sehr ha­ge­rer Mann mit ei­nem zu schma­len Kopf. Das spär­li­che gel­be Haar ge­nüg­te kaum, die be­gin­nen­de Glat­ze zu ver­de­cken. Sein lan­ges Ge­sicht war von Fur­chen durch­zo­gen und schi­en vor der Zeit ge­al­tert. Leu­te, die ihn nur ober­fläch­lich kann­ten, mein­ten, daß er aus­schwei­fend leb­te, und wun­der­ten sich, wo er das Geld her­nahm, um sich einen sol­chen Le­bens­wan­del ge­stat­ten zu kön­nen.

Es gibt in Lon­don, in New York, ja, in al­len Zen­tren der Welt stets Men­schen, die sich um al­ler Leu­te Ge­schäf­te küm­mern; be­son­ders um die Ge­schäf­te sol­cher Leu­te, die zu den Spit­zen der Ge­sell­schaft ge­hö­ren.

Col­ley kann­te sie alle – er wuß­te, ohne die Ran­glis­ten zu Rate zu zie­hen, ihre Ti­tel und Ehren und ihre ver­wandt­schaft­li­chen Be­zie­hun­gen bis zu den ent­fern­tes­ten Vet­tern, vor­aus­ge­setzt, daß auch die­se eine Rol­le in der Ge­sell­schaft spiel­ten. Er war im Bild über ihre Ver­mö­gens­ver­hält­nis­se, wuß­te; wie hoch sich ihr Ein­kom­men be­lief, wel­che Be­zie­hun­gen sie hat­ten und wie wert­voll die­se wa­ren. Wenn man mit ihm die Bond Street ent­lang­ging, so er­zähl­te er ei­nem alle Ko­mö­di­en und Tra­gö­di­en, die sich hier in Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart ab­ge­spielt hat­ten.

Er hat­te eine fei­ne Spür­na­se und konn­te auch aus ne­ben­säch­li­chen Din­gen Schlüs­se zie­hen.

»… Lily Be­ner­ley in ih­rem Rolls-Roy­ce – ein Herr von der Ägyp­ti­schen Ge­sandt­schaft schenk­te ihn ihr –, ein ver­schro­be­ner Son­der­ling. Hier kommt die alte Lady Wan­ne­ry, trinkt wie ein Fisch – hat aber eine hal­be Mil­li­on Pfund; ihr Nef­fe Jack Wad­ser erbt ein­mal al­les, wenn sie stirbt – er hei­ra­te­te Mild­red Perslow –, Sie wis­sen doch, die Dame, die mit Leigh Cas­tol nach Ke­n­ya durch­brann­te, er ist der Sohn von Lord Men­sem…«

Nie­der­träch­ti­ge Men­schen ver­mu­te­ten, daß Col­ley aus sei­nem Wis­sen um die­se Skan­dalaf­fä­ren Vor­tei­le zog. ›Mit dem Ver­stand und dem Ge­fühl ei­nes ge­mei­nen Kerls‹, hat­te ein­mal der Lord Chan­cel­lor zu­tref­fend von ihm ge­sagt. Im Pad­dock-Klub hat­te es eine Skan­dalaf­fä­re im Spiel­zim­mer ge­ge­ben. Da­rauf­hin war Col­ley ohne wei­te­res aus­ge­tre­ten. Die Sa­che wur­de mit Still­schwei­gen über­gan­gen. Er war auch in die Tor­kin­ton-Af­fä­re ver­wi­ckelt, wo­bei es sich um Er­pres­sung han­del­te. Er zog es vor, so­lan­ge der Pro­zeß dau­er­te, aus Ge­sund­heits­rück­sich­ten nach Aix-en-Pro­vence zu ge­hen. Sein Name wur­de auch nicht vor Ge­richt er­wähnt. Aber als der Ver­tei­di­ger den An­ge­klag­ten frag­te: »Wie ich ver­mu­te, hat­ten Sie noch eine an­de­re Per­son ins Ver­trau­en ge­zo­gen, als Sie die­se Droh­brie­fe schrie­ben?« wuß­te je­der, wer mit der an­de­ren Per­son ge­meint war.

Das war Col­ley War­ring­ton. Er trat mit ei­nem un­freund­li­chen Ge­sichts­aus­druck in den Empfangs­raum und be­trach­te­te Dia­na düs­ter.

»Hal­lo, Dia­na!«

Von bei­den Sei­ten war die Be­grü­ßung nicht be­geis­tert.

»Nimm Platz und mach kein sol­ches Ge­sicht.«

»Wo ist Gra­ham?« frag­te er.

»Er ist nach Hau­se ge­gan­gen, um sich um­zu­klei­den.«

Er setz­te sich vor­sich­tig auf die Ecke ei­nes Stuhls und zog die ta­del­los ge­bü­gel­ten Bein­klei­der hoch; zu sei­nen glän­zen­den Lack­schu­hen trug er weiß­sei­de­ne St­rümp­fe. »Es ist nicht klug, daß du dich wie­der mit die­sem Gra­ham ein­läßt – du kennst doch sei­nen Ruf.«

»Er kennt den dei­nen auch«, ant­wor­te­te sie halb lä­chelnd. »Ich glau­be, ihr denkt bei­de un­ge­fähr das glei­che von­ein­an­der. Nur ist Gra­ham da­von über­zeugt, daß du zu den Män­nern ge­hörst, mit de­nen sich eine an­stän­di­ge Frau am bes­ten nicht se­hen läßt.«

Col­ley mur­mel­te et­was Un­ver­ständ­li­ches.

»Be­schwe­re dich nicht und sei nicht be­lei­digt. Ich muß dich et­was fra­gen. Du bist doch das reins­te Nach­schla­ge­buch, Col­ley … Ich habe dich bis jetzt mit mei­ner Neu­gier­de nicht ge­plagt, aber jetzt möch­te ich wis­sen: Wer ist Hope Joy­ner?«

Sie hat­te ihn bei sei­ner schwa­chen Sei­te ge­faßt, und er war gleich so in sei­nem Ele­ment, daß er sei­ne schlech­te Stim­mung ganz ver­gaß.

»Hope Joy­ner?« wie­der­hol­te er. »Das ist doch die jun­ge Dame, die eine große Woh­nung in De­v­ons­hi­re Hou­se hat. Sie fährt zwei erst­klas­si­ge Wa­gen, einen Rolls-Roy­ce und einen Buick. Hat große Gel­der. Sie ist sehr eng mit Dick Hal­lo­well be­freun­det.«

»Das weiß ich al­les«, sag­te sie un­ge­dul­dig. »Ich woll­te wis­sen, wo­her sie kommt.«

Er schüt­tel­te den Kopf.

»Das weiß ich nicht. Sie tauch­te hier auf, aber man wuß­te nicht, von wo­her. Sie hat erst­klas­si­ge Schu­len be­sucht; so­viel ich weiß, ei­nes der teu­ren, hoch­mo­der­nen In­sti­tu­te in As­cot, wo Ab­stam­mung durch Reich­tum er­setzt wer­den kann. – Es ist aber merk­wür­dig, daß du dich für sie in­ter­es­sierst. Erst ges­tern sprach ich mit Long­fel­low, dem Gar­de­leut­nant, über sie –«

»Ich wuß­te nicht, daß du mit ihm be­freun­det bist«, un­ter­brach ihn Dia­na schnell.

»Das bin ich auch nicht«, gab er of­fen zu. »Aber man spricht doch auch mit sei­nen Fein­den. – Sie ist eine Wai­se, ihr Va­ter war ein Chi­le­ne, der ihr sein gan­zes Ver­mö­gen ver­macht hat. Es wird von Roke & Mor­ty ver­wal­tet. Wes­halb ge­ra­de die da­mit be­auf­tragt sind, ein der­ar­ti­ges Ver­mö­gen zu ver­wal­ten, mag der Him­mel wis­sen.« Sie zog die Stirn in Fal­ten, als sie das hör­te. Sie kann­te die­se Fir­ma nicht, und Col­ley gab eine nä­he­re Er­klä­rung.