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Ashbury, ein Londoner Distrikt, von der Außenwelt abgeschnitten. Aufregende Kriminalfälle werden vor Gericht meistbietend versteigert. Der Gewinner erwirbt das Privileg, sich zu präsentieren und nebenbei Schuld oder Unschuld der Angeklagten zu beweisen. Dabei unerlässlich: die Pahdora, Quell seiner Magie. Die Strafe eines Verbrechers besteht in der temporären Spaltung seiner Seele: Der stumme Gespaltene muss seinem Opfer oder dessen Familie dienen, während sein Bewusstsein in Kristall versiegelt ist. Nach dem erfolgreichen Gebot auf einen Mordfall versagt die Pahdora des achtzehnjährigen Adligen Garth. Er sieht sich gezwungen, in den Gassen von Ashbury sowohl den Mörder als auch ein Heilmittel für sich selbst zu finden. Hilfe erhält er dabei von seinen Dienern: dem gewieften Erro und dem gespaltenen Leibwächter Flyn.
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2023
Alessa de Laar
Das Versagen der Pahdora
Erzählungen aus Ashbury 1
Urban-Fantasy-Kriminalroman
Copyright: © 2023 Alessa de Laar
Lektorat: Michael Lohmann – www.worttaten.de
Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
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Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Softcover 978-3-384-07476-8
Hardcover 978-3-384-07477-5
E-Book 978-3-384-07478-2
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Dieses Buch ist meiner Mutter Myrl gewidmet, die mich immer wieder aufgebaut hat, wenn ich den Mut zu verlieren drohte, und unzählige Male mein Manuskript gegenlas.
Mein Dank gilt auch meinem Bruder Yogi und meinen Freunden Nopi und Jo, die immer wieder mit konstruktiver Kritik und Feedback aufwarteten, und meinem Lektor Michael Lohmann, der mich mit Kompetenz und Humor bis zur Veröffentlichung begleitete.
Die Autorin
Alessa de Laar ist von Hause aus Bilanzbuchhalterin. Im Berufsleben an kalte Zahlen und Fakten gebunden, taucht sie abends ein in eine Welt aus Morden und Mystik. In ihrer Freizeit liebt sie fantastische Erzählungen und jede Art von Kriminalromanen. Sie lebt mit ihrer Familie und einer Vogelschar im Ruhrgebiet.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Du solltest dich besser beeilen!
Unfall oder Mord?
… ein furchtbares Verbrechen ist geschehen
Finstere Absichten
Der alte Mouldwarp
Ein Mord, eine Verfolgung und ein Verhör
Die Bestrafung einer Giftmörderin
Der Kristall der verbrannten Leiche
Ein Hoffnungsschimmer?
Ich wache nachts auf, schreiend …
Du wirst nicht mehr gebraucht, Storrem
Das Refugium der Kerzenzieher
Wandler-Lehre
Der Friedhof der Opfer
Ein Mörder, ein Messer und ein Maulwurf
Lagebesprechung
Habt Geduld! Dies ist bloß der Anfang.
Die offizielle Version
Glossar
Handelnde Personen
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Du solltest dich besser beeilen!
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Du solltest dich besser beeilen!
Ashbury stank … das war immer der erste Gedanke, der durch Erros Kopf schoss, sobald er die Banne seiner Wohnnische hinter sich ließ. Der faulig-modrige Gestank – nachts nicht weniger intensiv – verließ die Kanalisation niemals ganz. Die Dimensionen der Abwasserrohre überraschten stets aufs Neue: Was von außen ein normaler Abwasserkanal zu sein schien, glich im Inneren einem vielgeschossigen Gebäude.
Erro eilte vorbei an den Holzhütten und niedrigen Steinmauern, die das gewaltige Abflussrohr unterteilten, und griff nach einer Strickleiter, um zur nächsten Etage zu klettern. Er hätte die metallenen Trittsprossen benutzen können, um seine Behausung zu verlassen; sie waren in die Wand eingelassen und hinter einer Illusion von Ziegeln verborgen. Aber dieser Fluchtweg war für Notfälle vorgesehen, nicht für plötzlich gebotene Eile aufgrund von Faulheit oder weil er verschlafen hatte.
Die magischen Glyphen, die überall in die Wände eingeätzt waren, vergrößerten die früheren Abwasserrohre in jeder Dimension. Die Leute hatten vor Jahrhunderten damit begonnen, die Kanalisation zu besiedeln. Und als der Wohnraum oberhalb knapper wurde, hatten sie gänzlich neue Stockwerke über den schon bestehenden angelegt, indem sie Steinplatten eingezogen und verankert hatten.
Erro zählte sechs Etagen von seiner eigenen aus, bevor er das oberste Level direkt unterhalb von Ashbury erreichte. Eine Gruppe von Gnomen diskutierte hier, und er war sicher, dass in den nächsten Tagen eine siebte Etage entstehen würde. Der Raum bis zur Oberkante des Rohrs reichte völlig aus, um vielen gnomischen Familien Platz zu bieten.
Nachdem er den Kanal verlassen hatte, verharrte Erro für einen Moment im Schatten eines Torbogens und nahm im schwachen Morgenlicht den Anblick in sich auf: Die vereinzelten Kerzenstummel, die hier und da noch gebrannt hatten, wurden jetzt gelöscht, soweit sie nicht mehr benötigt wurden. An der Stelle, an der er die Kanalisation verlassen hatte, tauchte die aufsteigende Sonne den Kerzenweg in ein goldenes Licht – ebenso den Markt, in den die uneben gepflasterte Straße mündete. Überall herrschte geschäftiges Treiben: Kaufleute, Händler, Handwerker und Kunsthandwerker boten ihre Waren feil und hofften darauf, die ersten Kunden des Tages anzulocken.
Im Vorbeigehen ließ Erro ein Brötchen vom Stand eines Bäckers mitgehen und horchte auf – von Norden her ertönte die Glocke der Margarethenkirche, schon zum zweiten Mal an diesem Morgen. Er musste sich beeilen; also rannte er durch die engen, verwinkelten Gassen. Seine Füße trugen ihn über Katzenköpfe, die in den breiteren Straßen ordentlichen Pflastersteinen wichen, und vorbei an Hütten und Baracken, die von Häusern und prunkvollen Gebäuden mit Gärten abgelöst wurden. Eines davon war sein Ziel: ein großes Haus mit einer eindrucksvollen schwarzen Tür, umgeben von Marmorsäulen: das Anwesen von Haus Crafton.
Aber dies war nicht der Eingang, den er anvisierte – ihn zog es zur Rückseite des Hauses, einige Schritte weiter. Hier zog er am Seil der Türklingel und wartete, bis der Pförtner öffnete. Dessen abgespanntes Gesicht war ein Spiegelbild seiner Stimmung.
»Er erwartet dich bereits – morgen findet eine Auktion statt. Du solltest dich besser beeilen.«
Garth legte seine Feder beiseite und trocknete die purpurfarbene Tinte mit etwas Sand. Purpur – er fand Gefallen an der Farbe. Sie war kühner als die blaue, die sein Cousin bevorzugte und nicht so aufdringlich wie die grüne, die Catriona Azard zu nutzen pflegte. In der letzten Woche hatte er eine Einladung von ihr in dieser grässlichen Farbe erhalten. Er würde einen größeren Vorrat an Purpur besorgen, um seine Wahl zu unterstreichen und bevor sich Nachahmer einstellten …
Eine Strähne schwarzen Haars fiel ihm in die Augen, und er strich sie zurück. Sein Blick fiel auf seinen Leibwächter Flyn, der ein Tablett mit Brötchen, Saft, Honig und Früchten absetzte.
»Ist kein schwarzer Honig mehr übrig?« Garth seufzte, als der stumme Wächter mit dem Kopf schüttelte. »Sorge dafür, dass Erro hierherkommt – ich habe eine Reihe von Dingen, die er erledigen soll.«
Als dritter Sohn – und eines von insgesamt fünf Kindern des Familienoberhaupts – war Garths Stellung keinesfalls gefestigt. Sicher, seine Studien schritten zufriedenstellend voran, und er hatte schon eine gewisse Reputation durch einige kleinere Auktionen gewonnen. Aber er brauchte eine Gelegenheit, eine Chance, sich zu profilieren: einen großen Fall, um nicht zu denen zu gehören, die von Geschwistern oder nahen Verwandten übertrumpft wurden und es zu nichts brachten. Nur die Gunst und Anerkennung des Familienoberhaupts vermochte es, ihm seinen Weg zu ebnen.
Während er sich setzte und ein Glas Saft einschüttete, blätterte er durch die ersten Seiten einer Einführung in die Geschichte fortgeschrittener Thaumaturgie, auch bekannt als Magie. Es war ein Wälzer, den er aus der Bibliothek des Konklaves geliehen hatte, dem Zusammenschluss der fünf Gilden magischer Berufsstände: Thaumaturgen, Alchemisten, Mediziner, Glyphenschreiber und Bundbrecher.
Das umfangreiche Werk erwähnte einige der Leistungen, die frühere Magier vollbracht hatten. Als die bei Weitem wichtigste wurde die Erforschung der Pelluziden genannt, der farblosen Kristalle, die man dazu verwendete, den Verstand von kranken Magiern oder dem Tode nahen Gelehrten aufzunehmen. Die blau verfärbten Pelluzide wurden wahlweise in den privaten Bibliotheken der Familien aufbewahrt oder im Domizil des Konklaves. Die Entscheidung über den Aufbewahrungsort oblag dem Betroffenen. Daher standen viele gebildete und umsichtige Männer und Frauen selbst nach ihrem vermeintlichen Tod weiterhin ihrer Familie als Berater oder Tutoren zur Verfügung.
Garth selbst war ebenfalls von solch einem erfahrenen Tutor unterrichtet worden. Jorell, der jüngere Bruder des damaligen Familienoberhaupts, hatte es vor achtzig Jahren bis zur Spitze der Gilde der Thaumaturgie gebracht. Nach seinem Tod war er mithilfe eines Pelluzids zum Familiensitz zurückgekehrt, um sicherzustellen, dass seine Nachfahren weiterhin die Elite der Gesellschaft von Ashbury bildeten – sei es Wissen, Einfluss oder Wohlstand betreffend.
Bekanntermaßen war Jorell ein Miesepeter ohne jeglichen Sinn für Humor. Garths älterer Bruder Tain hatte einmal die Vermutung geäußert, der Humor sei im Transfer verloren gegangen. Garth selbst bezweifelte das; Jorell hatte von Anfang an keinen Sinn für Humor gehabt, davon war er überzeugt.
Die ermüdende Abhandlung schien unendlich weiterzugehen, und Garth überschlug etliche Seiten, bis er gegen Ende ein Kapitel erreichte, das die Barriere um Ashbury behandelte …
… der Stern zerstörte unseren Distrikt. Erst danach erhielt er die Bezeichnung Ashbury, denn soweit das Auge zu sehen vermochte, war alles unter Schutt und Asche begraben. Die Themse floss weiterhin durch unser Viertel, wenn auch in einem veränderten Flussbett. Der Fluss nahm eine bläuliche Färbung an, und fremdartige Kristalle sprossen überall, wo Wasser mit der Asche in Kontakt kam. Ein dichter Nebel legte sich über das ganze Viertel, ein Nebel, der jahrelang anhielt. Zahllose Menschen erkrankten und viele starben. Erst Jahrzehnte später lernten wir, dass es jenen genauso erging, die versuchten, Ashbury von außen zu betreten und sich bei diesen Versuchen den Nebelschwaden aussetzten. Unsere Leute gewöhnten sich mit der Zeit an die Veränderungen, und als der Nebel endlich nachließ, gesundeten auch die letzten Erkrankten. Aber all dies führte letztendlich zu unserer fortwährenden Isolation …
Mit einem Schnaufer lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Jorell hatte ihm erklärt, dass das Konzil regelmäßig Leute aussandte, um die Barriere von beiden Seiten zu überprüfen. Die Berichte sagten aus, dass die Bevölkerung außerhalb heutzutage nicht einmal von Ashbury wusste.
Jemand betrat einen Torbogen, und sobald er die Barriere ungesehen berührte, verließ er einen Torbogen auf der gegenüberliegenden Seite von Ashbury, ohne es überhaupt zu wissen. Er umrundete das ganze Viertel mit einem Schritt. Das war der Zweck der Barriere: Niemand von außerhalb konnte Ashbury überhaupt jemals betreten.
Es funktionierte genauso, aber in wesentlich größerem Umfang, mit der Themse: mit dem durch Glyphen in jeder Hinsicht erweiterten Flussabschnitt, der kontinuierlich durch Ashbury floss, vollkommen isoliert von seiner Quelle oder dem weiteren Flussverlauf. Das war auch der Grund, warum Ashbury eine florierende Fischindustrie hatte und das Flussbett als Anbaugebiet für Getreide verwendet werden konnte. Sie verdankten es der Themse, dass sie niemals eine Lebensmittelknappheit gehabt hatten …
Garth gähnte vor Langweile. Er blätterte einige Seiten vor in der Hoffnung, endlich zum interessanten Teil zu kommen. Oder was immer ein Thaumaturg als interessant bezeichnen würde …
Es war Orchell der Große, der das Konklave gründete. Er war es, der zuerst Hinweise fand, dass die Pelluziden dafür benutzt werden konnten, Licht und Wärme zu spenden. Auch fand er heraus, wie sie angebaut werden konnten, damit sie nachwuchsen. Sie enthielten eine immense Kraft, die man nicht ungenutzt ließ. Und nach Jahren des Studiums rief Orchell das Konklave zusammen und …
Es war eine ermüdende Lektüre. Nur ein Historiker konnte ein zwei Inch dickes Buch schreiben, das trotz des fesselnden Themas dem Leser jegliches Interesse raubte. Mit einem Seufzer blätterte er weiter.
… das Kanalsystem, das nach dem Vorbild der römischen Kanäle angelegt war, wurde von der Außenwelt abgetrennt und im Anschluss trockengelegt. Umfassende Banne erweiterten die Dimensionen des Kanals und stellten sicher, dass die ärmeren Teile unserer Bevölkerung eine Unterkunft fanden.
Hierbei wurden nach und nach mehr Etagen eingezogen. Als Resultat hieraus stand mehr Fläche an der Oberfläche zur Verfügung für Handwerker, Farmer und die ständig wachsende Anzahl von Leuten, die neue Anwendungen für die Asche und die Pelluziden erforschten und begründeten.
Anwendungen und Veränderungen. Garth grübelte. Soweit er sich erinnerte, war Ashbury damals nur eines von Londons heruntergekommenen Stadtvierteln, bestehend aus Hütten und Baracken und überwiegend einfachen Leuten. Und nun bauten sie Pflanzen auf dem Boden des Flussbetts an und ernteten sie. Pflanzen, die es früher so nicht gegeben hatte. Er war sich außerdem ziemlich sicher, dass sich einige Tiere heutzutage deutlich von denen unterschieden, die seine Vorfahren gekannt hatten. Aber manche Dinge waren einfach erstaunlich, zum Beispiel der schwarze Honig, den er bevorzugte …
»Garth?«
Er kehrte in die Gegenwart zurück und fand sich Angesicht zu Angesicht mit Lorinne, seiner jüngsten Schwester. Die zierliche Blondine saß auf dem Stuhl auf der anderen Seite seines Tisches und ließ ihre Füße hin- und herbaumeln.
»Vater erwartet dich in seinem Arbeitszimmer. Er bekam gestern einen Brief vom Oberhaupt des Konklaves und hat schon angeordnet, dass du sowohl Erro als auch Flyn mitnimmst, wenn du heute ausgehst. Offenbar hat er Pläne für dich.«
Innerlich stöhnte Garth auf, aber er verzehrte rasch sein Brötchen mit einem Bissen und leerte sein Glas, bevor er aufstand. »Wie ist seine Stimmung?«
Lorinne kicherte, wurde dann aber wieder ernst. »Angespannt. Irgendwie … erwartungsvoll … aber eher so, als hätte er eine Vorahnung. Und nicht unbedingt eine gute.«
Ihr Bruder warf ihr einen skeptischen Blick zu und verließ seinen Raum, um das Arbeitszimmer den Gang hinunter aufzusuchen.
Was für eine Art von Nachricht konnte Varesh Crafton nur erhalten haben?
Eine Auktion. Während er die Stufen zur nächsten Etage immer zwei auf einmal nahm, versuchte Erro, sich zu erinnern, was seine Mutter ihm als Kind beigebracht hatte. Wenn ein einfacher Bürger oder Bettler einer Straftat angeklagt wurde, konnte er nur hoffen, das Interesse eines Adligen zu erwecken. Die gebildeten Söhne und Töchter aus den vornehmen Häusern hörten sich die Beschreibung des Verbrechens an, und dann folgte die Abgabe der Gebote. Derjenige, der die Auktion gewann, würde vortreten und die wahren Hintergründe über die Ereignisse präsentieren – und so nebenbei Schuld oder Unschuld des Angeklagten beweisen.
Die reine Wahrheit war bitter. Die verwöhnten Adligen, die ohne jegliche Sorge durchs Leben stolzierten, waren schlicht gelangweilt und arrogant. Abgesehen von ihren Studien und ihren Festen vertrieben sie sich die Zeit damit, einander auszustechen und sich gegenseitig in Sachen Redegewandtheit und Darbietung zu übertreffen. Fesselnde Gesten und witzige Wortspiele waren ihr Arsenal in einem Wettstreit vor den Augen der anderen Adligen und vor allem vor ihrem jeweiligen Familienoberhaupt.
Wenn eine Auktion zum Ende kam, wurde dem Gewinner ein Glas Wein für einen Trinkspruch gereicht. Im Anschluss daran folgte dann die Präsentation. Durch den Einsatz seiner Pahdora empfing der Betreffende eine Vision; entweder vom Opfer oder dem Angeklagten oder gar von einem leblosen Objekt, das mit dem Verbrechen in Verbindung stand. Hierauf war es dann Aufgabe des Höchstbietenden, sein Wissen als Redner einzusetzen, um den Fall auf möglichst fesselnde Art darzulegen.
Der Ausgang der Auktion an sich: irrelevant. Der Triumph lag keineswegs in dem Prestigegewinn aufgrund des Zuschlags. Es zählte allein, was hierauf folgte, das Resultat: die Gelegenheit, sich selbst zu präsentieren. Alles drehte sich um Stolz, Ansehen und Kompetenz. Die Tatsache, dass die Unschuld eines Hilfsbedürftigen bewiesen werden könnte, erwies sich als reine Nebensache.
Etwa fünf Jahre zuvor hatte Erro sich in einer ähnlichen Lage befunden. Als Heranwachsender hatte er einen reichen Kaufmann verärgert, über dessen zerbrechliche Waren er gestolpert war. Sein Missgeschick hatte sein Leben grundlegend verändert. Ohne einen Fürsprecher war er dazu verurteilt worden, dem Haus Crafton als Klient zu dienen. Wenigstens bedeutete es, dass die Adligen ihn verköstigten, während er seine Arbeit verrichtete.
An jedem Werktag betrat er den Wohnsitz und wartete auf seine Anweisungen. An den meisten Tagen wurde er ausgesandt, um Besorgungen zu erledigen, Briefe auszuliefern oder Handwerker aufzusuchen, die Reparaturen erledigt hatten. Er erhielt üblicherweise ein spätes Mittagessen und durfte am Nachmittag gehen. Somit blieb ihm der Rest des Tages, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Erro hatte keine Berufung oder besondere Begabung. Er war nicht übermäßig kräftig gebaut; darum hatte er niemals versucht, als Kristallschürfer zu arbeiten. Aber er war geschickt mit der Sichel und darin, Seeweizen zu ernten. Zu anderen Zeiten besuchte er Kimmer auf der Themse und half ihm, Fallen auszulegen, um Flusshasen zu fangen. Die waren sehr schmackhaft und sowohl ihr Fleisch als auch ihr Fell verkauften sich gut. Und Kimmer war der beste Kürschner entlang der Themse …
Ein Schatten fiel über ihn, und der Grauäugige zuckte zusammen. Dann aber erkannte er Flyn. Der stumme Wächter trug seine übliche Kleidung aus dunklem Leder und winkte, ihm zu folgen.
Im Vorbeigehen griff Erro nach einem leeren Korb und nahm die Treppe nach oben. Durch die hölzerne Tür konnte er hören, wie Varesh Crafton Anweisungen erteilte, seine Stimme klar und scharf wie gewöhnlich. Es erinnerte ihn an eine Standpauke, die er bekommen hatte, als er das erste Mal hergekommen war. Lord Varesh hatte ihn damals durch Zufall gestreift und ihm die Leviten gelesen über seine Einstellung. Er hatte ihn mit scharfen Worten darüber aufgeklärt, wie sich das jetzige Rechtssystem entwickelt hatte. Wie die Bevölkerung vor mehr als hundert Jahren aufbegehrt und gefordert hatte, alle Geschulten sollten ihre Metrya zum Wohle des Volkes einsetzen. Der Kontakt mit Untrainierten hatte häufig Visionen ausgelöst, die die Angeklagten zusätzlich belasteten – oder die Advokaten waren bei der Lesung zu Schaden gekommen. Beide Seiten hatten sich nach zahlreichen Fehlschlägen auf das derzeitige System geeinigt.
Varesh Crafton hatte ihn angestarrt mit seinen fahlen Augen. »Es mag beschämend sein für einen Bürger, aber diejenigen, die in einer Auktion mitbieten, sind gut ausgebildet und versuchen ihr Möglichstes, klare und gut verständliche Visionen herbeizuführen. Sie mögen es für Prestige tun anstatt aus einem Bestreben, einen Unschuldigen zu verteidigen. Aber dieses System minimierte das Risiko für beide Seiten und stoppte den brodelnden Konflikt. Denk darüber nach, Erro, Sohn der Kerzenzieherin.«
Es hatte Monate gedauert, sogar Jahre. Das System war nicht fair, aber es funktionierte … irgendwie. Er war immer noch etwas verbittert über seine Verurteilung, aber er hatte einen positiven Aspekt gefunden – es hätte schlimmer sein können. Er wusste von einem Schuster, der Haus Cridden zugeteilt worden war. Der arme Kerl war seitdem um zehn Jahre gealtert. Er wurde wie ein Knecht behandelt, erhielt nur kümmerliche Reste zu den Mahlzeiten und konnte kaum sein Handwerk in den verbleibenden Stunden ausüben. Tenn hatte ihn letzte Woche gesehen und ihre Besorgnis geäußert … und Erro hatte beobachtet, wie sie eine kleine Phiole mit Stärkungstinktur in den Korb des Schusters hatte gleiten lassen, als der nicht hingesehen hatte.
Erro zog seine zerknitterte Tunika gerade und klopfte an die hölzerne Tür.
»Flyn, schließ die Tür!«
Er drehte sich um und befolgte die Anweisung, dann trat er beiseite. Er stellte den Korb auf den Boden und wartete auf neue Befehle.
Der Lord wandte sich an den Sohn, den er hatte rufen lassen, und den Laufburschen – Burschen … war er noch ein Bursche? … aus dem Kerzenweg?
»Ich habe eine Aufgabe für dich, Garth. Du wirst dich zur Barriere begeben. Unter der westlichen Brücke wurde gestern eine Leiche gefunden. Sie wird entgegen der üblichen Regelung morgen auf der Liste der Auktionen sein – aber mehr dazu später. Der Körper zeigte Spuren von alchemistischem Feuer, Teile der Brücke wurden schwer beschädigt. Mehrere Thaumaturgen und Alchemisten sind bereits dort, um den Schaden zu begutachten. Aber ich möchte, dass jemand unvoreingenommen einen Blick darauf wirft. Ich will wissen, ob der Ort zufällig ausgewählt wurde. Oder ob der Schaden nur davon ablenken sollte, dass das Opfer woanders getötet wurde. Oder … ob es ein fehlgeschlagener Versuch war, die Barriere zu beschädigen. Ja, ich weiß, du hast nur theoretisches Wissen um die höheren Klassen der Magie, aber du hast ein scharfes Auge. Und deine Loyalität gilt zuerst der Familie, nicht dem Konklave.«
Der hochgewachsene Mann wandte seinen Kopf. »Ihr zwei werdet ihn begleiten. Lasst es so aussehen, als kämt ihr vorbei, während ihr irgendwelche Einkäufe erledigt. Flyn, du wirst Garth beschützen.«
Er nickte sofort.
»Erro, jegliches Wissen deinerseits über alchemistisches Feuer wäre von Nutzen. Und vielleicht hat jemand aus der Umgebung etwas oder jemanden gesehen. So jemand würde wohl kaum einem Magier oder einem Adligen davon erzählen, aber dir …«
Erro schien zu verstehen.
Das Familienoberhaupt setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Zwei Karten, einige Briefe und eine Schale mit durchsichtigen Sandkörnern belegten einen Teil der Arbeitsplatte mit Beschlag.
»Erro, frag den Pförtner nach einer Liste der weniger alltäglichen Vorräte, die zur Neige gehen. Warte danach unten!«
Der Klient verließ den Raum.
Flyns Blick kehrte zurück zu dem Adligen, der seinen Sohn ansprach.
»Das nächste Treffen des Konzils wird morgen stattfinden. Danach ist wie üblich eine Auktion angesetzt: einige kleine Fälle von Diebstahl, Einbruch und Ähnlichem. Außerdem eine Frau, die angeklagt ist, ihren adligen Liebhaber vergiftet zu haben – ein überaus delikater Fall. Aber ich wünsche, dass du auf den letzten Fall bietest, das Brandopfer. Er wird eine Menge Aufmerksamkeit erregen, allein schon aufgrund des Fundortes und der mysteriösen Umstände. Du musst …« Er betonte ›musst‹. »… die Auktion gewinnen. Und dann …«
Der Jüngere beugte sich vor, um ihn besser zu verstehen.
»Was auch immer du in deiner Vision siehst, du musst es für dich behalten. Erfinde etwas, behaupte, das Opfer starb im Schlaf und bekam nichts mit, was auch immer. Aber es ist von größter Wichtigkeit, dass niemand erfährt, was wirklich geschehen ist, bevor ich … bevor das Konzil Gelegenheit hatte, die Hintergründe näher zu untersuchen!«
Unten in der Küche warf die untersetzte Köchin Erro ein Lächeln zu, während sie ihm ein kleines Stück Flutauflauf reichte.
»Ihr seid ein Goldstück, Carana«, murmelte er und sah, wie der Pförtner Paran die Augen rollte.
»Du verwöhnst den Burschen wieder, Schwester«, stellte der mit einem Seufzen fest und warf einen Blick in die Vorratskammer.
»Flyn wies mich darauf hin, dass Master Garth schwarzen Honig vermisst, also setz den ebenfalls auf die Liste. Und wir brauchen mehr Fluteier, ich habe die letzten beim Frühstück aufgebraucht.«
Paran schrieb dies ebenfalls auf. »Das ist eine ganz schöne Liste, die du da hast. Warum sind uns die Eier noch mal ausgegangen?«
Erro ließ sich auf einem Küchenstuhl nieder. »Weil … als Ihr mich das letzte Mal losgeschickt habt, um welche zu besorgen, ein Minenarbeiter vergessen hatte, die Minen nachts zu fluten. Das Gesicht seines Aufsehers habe ich bis heute nicht vergessen. Er verfärbte sich beinahe purpur während seiner Tirade. Stellt Euch das vor: die Ausbeute eines ganzen Tages an nachgewachsenen Kristallen. Und zudem noch der finanzielle Verlust aus dem Verkauf der Eier, die von den Eidechsen jede Nacht während der Überflutung in den Höhlen abgelegt werden. Ich kann Euch nicht sagen, wie froh ich war, dass ich nicht anstelle des Minenarbeiters war, da könnt Ihr Euch sicher sein!«
Carana nickte und fuhr ihm dann durch sein braunes Haar. »Trotzdem, versuche diesmal, einige zu bekommen. Lord Crafton mag seine Aufläufe, auch wenn man es nicht vermuten würde.«
Erro nahm die Liste und stöhnte innerlich. Das würde Stunden dauern!
Er sah hoch und verkniff sich ein Lächeln, als er bemerkte, wie Carana ihn nachsichtig ansah – sie sah in ihm immer noch den Jungen, der er gewesen war, als er zum ersten Mal hergekommen war. Er plante nicht, ihre Illusion zu zerstören. Die Gunst der Köchin und des Pförtners waren ihr Körpergewicht in Gold oder Kristallen wert. Und ihre Einsicht in den Haushalt und örtlichen Tratsch waren auch etwas, das man nicht übersehen sollte …
Flyn betrat die Küche, und Erro stand auf. »Sind sie fertig?«
Der ernst aussehende Wächter nickte kurz, und Erro nahm die Liste und den Korb. Paran folgte ihm in die Eingangshalle und gab ihm eine Geldbörse voller Münzen aus dem Haushaltsbudget.
»Erro hat die Liste, es steht diesmal ziemlich viel darauf. Vielleicht wäre es angebracht, für die Lieferung zu zahlen, wenn es zu viel zum Tragen wird.«
Garth warf ihm einen abfälligen Blick zu. »Ich habe vier kräftige Arme dabei, die alles tragen können, was wir brauchen.«
Erro drehte sich weg, als er mit den Augen rollte. Natürlich würde sich Garth nicht dazu herablassen, seinen Anteil selbst zu tragen.
Außerhalb des stattlichen Hauses warf Garth einen Blick auf die Liste und führte sie dann zum ersten Händler, dem örtlichen Imker. Erro schüttelte seinen Kopf; er kannte mehrere Händler in den ärmlicheren Teilen von Ashbury, die dem Adligen den so begehrten Honig für einen Bruchteil des Preises überlassen hätten, den er ausgehandelt hatte. Aber Garth schien wirklich zufrieden zu sein mit seinem Handel, also verkniff er sich jeden Kommentar. Es ging ihn nichts an. Er mochte in den Diensten von Haus Crafton stehen, aber das war es dann auch.
Nachdem Garth einen Tüftler wegen der Reparatur einer beschädigten Uhr aufgesucht hatte, sprach er als Nächstes bei einem wohlbekannten Schneider für eine maßgeschneiderte Weste vor. Dann lenkte er schließlich ihre Schritte zu einem Laden nahe der Flussallee, wo Briefpapier, Federn und Tinten jeglicher Art verkauft wurden. Die leuchtend purpurfarbene Tinte wurde sorgfältig verschlossen seitlich in den Korb geklemmt, damit nichts verschüttet werden konnte.
Schließlich erbat sich Erro die Liste und hielt an einer Ecke an. »Wenn wir die Echseneier für Carana besorgen wollen, müssen wir den Fluss entweder an der Schieferbrücke überqueren oder wir müssen einen Bootsmann anheuern, der uns rüberrudert. Auf jeden Fall kämen wir nahe heran an die Höhlen an der westlichen Barriere.«
Garth nickte, seine Augen verengten sich. »Wenn sie den Schaden immer noch begutachten, könnte die Brücke für Passanten geschlossen sein. Wir versuchen unser Glück besser mit einem Bootsführer in der Nähe der Höhlen.«
Er forderte die Liste zurück.
»Und mein Vater hat mich daran erinnert, dass ich mehr Pelluzid-Sand für den Vorratsschrank im Trainingsraum besorgen soll. Es scheint, Lorinne hat eine ziemliche Sauerei während ihrer letzten Vorlesung verursacht …« Mit einer Grimasse wandte er sich in Richtung Fluss.
Erro verbarg sein Grinsen. Er hatte dank Paran von dieser Sauerei gehört. Der Pförtner und Kammerdiener, sonst durch nichts aus der Fassung zu bringen, war zu lautem Fluchen verleitet worden. Einige von den Wörtern waren so obszön, dass Erro sie nicht einmal gekannt hatte. Carana hatte Paran schließlich mit ihrem Nudelholz gedroht, wenn er nicht aufhörte, so unflätig zu fluchen.
Auf ihrem Weg zur Themse behielt Erro ihre Umgebung im Auge. Daher war er nicht übermäßig überrascht, ein kurzes Aufblitzen zu ihrer Linken zu sehen, gefolgt von einem triumphalen Aufschrei. Ein hagerer Mann mit grau gesprenkeltem Haar tauchte unter und erschien erst wieder am Ufer neben einem Karren voller Flusshasen.
»Was war das?«, fragte Garth aus dem Mundwinkel heraus.
»Kimmer ist ein Kürschner und Gerber, hauptsächlich für Flusshasen. Er hat eine Lizenz für diesen Teil des Flusses und jagt mit Portalfallen, wie Ihr gesehen habt. Er schleicht sich an die Hasen an, jagt sie entweder auf dem Fluss oder unter Wasser und scheucht sie in die Portalfallen, die sie paralysieren und zu seinem Karren befördern. Ich bin mir sicher, Ihr habt schon gerösteten Flusshasen gegessen.«
Garth nickte stumm. »Ich habe nur noch nie jemanden beobachtet, wie er sie fängt. Es ist wirklich eindrucksvoll.«
Erro war außerstande, sich ein Lächeln zu verkneifen. Garth verhielt sich zum ersten Mal seinem Alter entsprechend – und er klang ehrlich. Seine offene Bewunderung für Kimmer erinnerte Erro daran, warum er diesen Adligen besser leiden mochte als den Rest seiner Klasse. Er war zwar verwöhnt und ein wenig oberflächlich, aber ihm fehlte die Boshaftigkeit und Hinterlist, die Erro von seinesgleichen gewohnt war.
Am südlichen Ufer zuckte Garth zusammen, als Erro sich herüberlehnte. Aber er machte ihn bloß auf eine alte Frau vor dem Eingang einer Höhle aufmerksam.
»Das ist Perculla. Sie verkauft hier Echseneier, seit ihr Ehemann in einer Höhle ertrank … nur weil sein Aufseher ein fauler Sack war. Daher kümmerte es auch kaum jemanden, als er kurz darauf einen … Unfall in einer Kristallmine hatte.«
Garth zog eine Augenbraue hoch. Hatte er da etwas in Erros Worte hineininterpretiert oder hatte sein Begleiter tatsächlich angedeutet …? Er wagte nicht nachzufragen, aber bemerkte ein Glitzern in den fahlen Augen, bei dem sich seine Nackenhaare aufstellten.
»Du klingst, als würdest du sie kennen, Erro. Wenn sie schon so lange hier ist, würde sie doch sicher bemerkt haben, wenn etwas Ungewöhnliches geschehen wäre …?«
Erro nickte und winkte Flyn näher.
»Ihr nehmt Flyn besser mit, wenn Ihr mit dem Schleifer sprecht. Er ist der Vorarbeiter für alle Minen südlich des Flusses, also ist es unwahrscheinlich, dass er hier war in der Zeit zwischen dem Eintreten des Todes und der Entdeckung der Leiche. Aber Ihr werdet Flyn und den Karren brauchen, allein schon für den Kristallsand.«
Garth seufzte. »Pelluzid-Sand, Erro.«
Erro zuckte mit den Schultern. »Was auch immer. Es ist nicht so, als müsste ich den Unterschied wirklich kennen.«
Sie trennten sich. Garth sah Erro die ältliche Witwe grüßen, was ein zahnloses Lächeln auf ihrem Gesicht hervorzauberte.
Ein untersetzter Mann mit einem dunklen Bart richtete seine Augen auf ihn. Sein Verhalten zeigte deutlich, dass er Garths Rang angesichts seiner Kleidung und seines Auftretens erkannt hatte.
»Ich bin Byom. Kann ich Euch behilflich sein, Herr?«
Mit einer Geste zu den schweren Säcken hinter ihm nickte Garth. »Mein Vater, Lord Crafton, benötigt zwei große Säcke mit Pelluzid-Sand, also suchte ich Euch auf, welchen zu besorgen. Ich war mir nur nicht sicher, ob Ihr weiterhin Kundschaft empfangt mit all dem Wirbel wegen der Alchemisten.«
Der Vorarbeiter drehte sich nach links. »Ich habe absolut keine Ahnung, warum sie den Boden, die Wände und sogar die Höhlen untersuchen müssen. Sie waren hier sogar bevor Marross kam, und er ist immer der Erste in seiner Schicht. Man bedenke, das bedeutet, dass sie schon seit über vier Stunden hier sind – und es ist noch immer kein Ende in Sicht.«
Garth sah ihn skeptisch an. »Wenn sie hier waren, bevor Euer erster Minenarbeiter eintraf – wer hat sie dann überhaupt informiert? Ich würde gedacht haben, einer von Euren Leuten hätte sie alarmiert …«
Der Mann kratzte seinen Bart. »Nein, wie ich bereits sagte, waren sie schon vorher hier. Vielleicht hat einer der Bauern den Körper gefunden. Oder ein Bootsführer. Was auch immer … zwei Säcke Sand, sagtet Ihr?«
Garth nickte und wies Flyn an, sie auf den Karren zu laden. Nachdem er für seinen Kauf bezahlt hatte, landete ein Schatten neben seinem.
»Perculla weiß nicht genau, wer die Wachen gerufen hat. Aber sie denkt, es war jemand, der eigentlich nicht hätte hier sein dürfen. Auf jeden Fall war sie sich sicher, dass derjenige nichts damit zu tun hatte. Ich vermute, sie hat ein Kind im Verdacht oder jemand, der außerstande ist … natürlich.«
Erro schüttelte den Kopf. »Oder jemand mit einem verwirrten Geist. Es gibt mehrere solcher Leute, die in der Nähe leben, und sie alle gleichen kleinen Kindern. Es wäre grausam, sie zu erschrecken. Die meisten würden vor Angst erstarren, wenn ein Adliger oder eine Wache sie befragen würde.«
Garth seufzte. »Der Vorarbeiter weiß nur, dass es keiner seiner Arbeiter war. Die Alchemisten waren bereits hier, als ihre Schicht begann.«
Er nahm eine aufrechtere Haltung ein und ging geradewegs auf die Höhle zu. Drei Alchemisten in silbrigen Roben waren dabei, die Wände zu untersuchen. Einer von ihnen riss den Kopf ruckartig herum.
»Kommt nicht näher, Ihr werdet die Rückstände verunreinigen!«
Garth blieb wie angewurzelt stehen; der Tonfall versetzte ihn zurück in die Anfangszeit seiner Studien mit Jorell.
»Natürlich, Meister …«
Der hochgewachsene, kahle Mann verließ die Höhle, und Garth betete, dass Erro sein Lachen zu unterdrücken vermochte. Der Alchemist hatte eine vollständige Glatze, aber ein tiefroter Schnurrbart hing schlaff in zwei Strähnen von der Oberlippe bis zum Kinn hinab.
»Meister Storrem. Ich bin erleichtert, dass Ihr verständig genug seid, um unseren Vorgaben Folge zu leisten. Wir haben immer noch viel zu tun, daher … was ist der Grund für Euren Besuch?«
Seine Augen wanderten von Garth zu Erro und dann weiter zu Flyn mit dem Karren, was ihm Aufschluss über den gesellschaftlichen Rang seines Gegenübers gab.
»Ich gebe zu, ich wurde neugierig. Es ist in ganz Ashbury bekannt, dass hier letzte Nacht etwas vorgefallen ist. Und als ich meine Besorgungen machte und nicht einen, sondern gleich drei Alchemisten sah, die – wie Ihr sagt – seit Stunden unermüdlich arbeiten … Ihr müsst zugeben, das alles klingt außergewöhnlich.«
Der Appell an seinen Berufsstolz wirkte, denn Meister Storrem nickte. Durch die Art, wie er seinen Schnurrbart entlangstrich, schien er seine Überlegenheit demonstrieren zu wollen.
»Das ist zutreffend. Aber es ist eine außergewöhnliche Situation … obwohl Ihr ungewöhnlich kenntnisreich seid für einen Novizen. Aber Ihr wärt sicher eher imstande, die Umstände zu verstehen, denen wir uns gegenübersehen … anders als Eure Begleiter.«
Ein giftiger Blick ließ Erro einen Schritt zurückweichen, wobei er den Vorwurf mit erhobenen Händen abstritt.
»Wenn Ihr mir freundlicherweise folgen würdet …?«
Garth neigte sich zu Erro hinüber. »Wirf einen Blick auf die Barriere, während sie mich herumführen.« Er umrundete die verbrannte Stelle und folgte den Alchemisten nach drinnen.
Erro fluchte mit unterdrückter Stimme. »Heilige Mutter …« Er wandte seinen Kopf. »Du bleibst hier und hältst Wache. Wenn du irgendetwas hörst, das auf Schwierigkeiten hinweist, bringst du ihn von hier weg, hörst du mich?« Die dunklen Augen des Wächters trafen seine, dann er konzentrierte sich auf den Eingang der Höhle.
Mit einem Blick zurück wanderte Erro hinüber zur Brücke und betrachtete die durchscheinende Barriere, die sich darüberlegte wie eine fettige Schicht. Sie pulsierte und vibrierte, wie sie es getan hatte, wann immer er sie in der Vergangenheit sah.
Unfall oder Mord?
Erros Mutter hatte ihm von der Barriere erzählt. Er sah sie immer noch vor sich, wie sie am Tisch saß. In ihren braunen Augen spiegelte sich das dämmrige Kerzenlicht wider.
»Die Barriere, Erro? Sie entstand vor Jahrhunderten. Ein schrecklicher Krieg war gerade vorbeigegangen, sie nannten ihn den Hundertjährigen Krieg. Die Leute waren arm und hungrig, Plünderer durchstreiften Londons Straßen, um alles Essbare oder Wertvolle zu stehlen. Als der Stern einschlug, blieben nur Schutt und Asche zurück und zahllose verbrannte Körper. Danach stieg ein Nebel auf, der ganz Ashbury einhüllte. Viele wurden krank, und die Schwächsten starben daran.«
Er erinnerte sich an den unruhigen Blick in ihren Augen, während sie sich die alten Geschichten ins Gedächtnis rief.
»Ich lernte von meinem Großvater, dass wir damals darauf warteten, jemand aus den übrigen Stadtteilen Londons würde uns zu Hilfe kommen. Wir benötigten dringend Hilfe – aber niemand kam. Groll und Widerwille wuchsen, und wir lernten, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen konnten.«
Der Unterton der Kapitulation klang immer noch in seinen Ohren.
»Wir gehörten zum gemeinen Volk, mein kleiner Kerzendocht. Das sind wir immer gewesen. Was wussten wir schon von Gesetzen, von Steuern? Über die Menge von Nahrungsmitteln, die gebraucht wird, um Not und Elend abzuwenden? Oder wie man die Lage von Straßen und Häusern plant? Wir sind immer den Anweisungen gefolgt, die uns die Adligen gaben, und in dieser Situation taten unsere Vorfahren dasselbe. Es gab fünf adlige Familien in dem Umkreis, der später Ashbury wurde. Sie formten das Konzil. Sie waren es gewohnt zu führen und Geschicke zu leiten – und das taten sie.«
Eine imaginäre Hand strich durch sein zerzaustes Haar.
»Langsam passten wir uns an. Das Konzil sandte Boten aus, durch den Nebel, um die Lage zu erkunden. So viel war geschehen, von dem niemand hier gehört hatte. Der König war schwer erkrankt, unfähig, seine eigenen Geschäfte zu leiten. Bis zu seiner Genesung hatte ein Lord Protector seine Geschäfte übernommen. Wir erfuhren nur, dass ein großes Konzil hätte zusammenkommen sollen und dass stattdessen eine Schlacht stattgefunden hatte, nur dreißig Meilen von London entfernt. Der Konflikt mündete im offenen Krieg in den folgenden Jahren, und ganz Ashbury war entsetzt … wir hatten so viele Leute verloren, wir hatten nur mit Mühe überlebt. Wir konnten keinen weiteren Krieg überstehen.«
Seine Mutter hatte ihren Kopf geschüttelt, ohne jegliche Sympathie für die Umstände von Königen und Adligen angesichts der Notlage, in der sich ihre Vorfahren befunden hatten.
»Und so wandte sich das Konzil an das Konklave. Zusammen erschufen die Magier die Barriere, um uns zu beschützen. Ashbury wurde beinahe unsichtbar und blieb unberührt vom Krieg in den folgenden Jahren. Jeder noch so patriotische Einwohner von Ashbury änderte seine Meinung und war dankbar für die Chance, unser Leben und unser Viertel in Frieden wiederaufbauen zu können.«
Eine Barriere, um ihr Viertel zu beschützen … Erro trat näher heran. Sie schien unberührt; keine Spur von Sabotage oder Versagen war auszumachen. Der Tod war nicht hier eingetreten, sondern entweder bei den Höhlen oder anderswo. Die Kraft strömte und ebbte im Einklang mit der Themse, ein steter Kreislauf …
»Erro, jetzt ist keine Zeit zum Tagträumen. Vater wies mich an, nicht mit unseren Einkäufen zu bummeln. Wenn irgendetwas verderben sollte, wird die Köchin dir das Fell gerben.«
Garth erschien hinter ihm. Sein scharfer Tonfall berührte Erro nicht. Ihm war bewusst, dass es keine derartige Order gegeben hatte. Und Carana würde es nicht kümmern, zu welcher Zeit sie zurückkehrten. Aber er nickte mit eingeschüchtertem Blick und folgte Garth und Flyn über die Schieferbrücke zurück nach Crafton House.
Dort überließen es Garth und Erro dem treuen Flyn, ihre Einkäufe abzuladen, und warteten darauf, dass Varesh Crafton sie zu sich rufen ließ. Er stand nicht in seinem Arbeitszimmer, sondern in der Bibliothek und ließ Paran sie dorthin führen.
Garth hatte sich hier früher häufig aufgehalten, hauptsächlich nach seiner Kinderzeit. Ein Tischler hatte riesige Bücherregale aus dunklen Holz hergestellt, und sie reichten bis zur Decke. Zahllose Bücher standen Seite an Seite oder sogar Rücken an Rücken, erleuchtet von Pelluzid-Leuchtern. Essen und Trinken war hier nicht erlaubt, ebenso herrschte ein strenges Verbot, Pelluzid-Sand zu benutzen oder aufzubewahren; dafür war der Trainingsraum eine Etage höher vorgesehen. Schwere Vorhänge rahmten die großen Fenster ein, und ein langer Tisch stand in einer Ecke. Darauf ausgerollt lag eine Karte von Ashbury.
»Nun, was könnt ihr mir berichten?«, fragte der Lord von Haus Crafton.
Garth erwiderte seinen Blick ohne Zögern. »Die Minenarbeiter wissen nicht, wer die Wachen gerufen hat. Drei Alchemisten waren bereits vor Ort, als die Arbeiter ihre Schicht begannen – und sie sind immer noch dort und untersuchen die Szene. Derjenige, der das Sagen hat, heißt Meister Storrem, ein großer, glatzköpfiger Mann mit einem auffälligen roten Schnurrbart. Ich bin ihm um den Bart gestrichen, und er hat mir erlaubt, einen näheren Blick auf die Spuren zu werfen.«
Mit einer Geste ermunterte Lord Crafton ihn, fortzufahren.
»Es war wirklich alchemistisches Feuer, aber ich bin mir sicher, dass der Tod anderswo eingetreten ist. Als sie die Leiche bewegten, war der Boden darunter ebenfalls verbrannt. Wenn eine Person dort durch Feuer den Tod gefunden hätte, hätte die Leiche den Boden abgeschirmt. Also würde ich sagen, der Boden wurde nachträglich präpariert, um die Tatsache zu verschleiern, dass die Leiche erst im Nachhinein dorthin geschafft wurde. Es dürfte unmöglich sein, festzustellen, wessen Überreste es waren – die Leiche war einfach zu entstellt. Aber … es war keine besonders große Person. Möglicherweise ein Heranwachsender oder sogar … ein Kind.«
Lord Craftons Augenbrauen wanderten nach oben. »Also könnte es ein Fall von Nachlässigkeit und unterlassener Aufsicht sein? Ein Vater, der nicht der neugierigen Natur seines Kindes Rechnung trug?«
Als Garth mit den Schultern zuckte, kniff Erro die Augen zusammen. »Höchst unwahrscheinlich.«
Beide Adligen wandten sich ihm zu. »Erkläre deinen Gedankengang.«
Erro atmete tief durch. »Erstens … alchemistisches Feuer ist selbst dann gefährlich, wenn es inaktiv ist. Alle Zutaten sind leicht entzündlich, und wenn sie nicht sachgerecht gelagert werden, könnte eine ganze Nachbarschaft in Flammen aufgehen. Die einzelnen Bestandteile sind nicht gerade billig und werden in speziell angefertigten und abgeschirmten Truhen gelagert, meistens in Kellern oder in anderen Räumen, die weit von jeder Feuerstelle entfernt sind.«
Lord Crafton hörte zu.
»Es brennt mit einer intensiven, grünen Flamme, und es entstehen beißende Dämpfe. Selbst wenn niemand das Feuer gesehen hätte, der Geruch würde jeden innerhalb einer halben Meile alarmiert haben. Und außerdem … warum den Körper so zur Schau stellen?«
Garth biss sich auf die Lippen. »Was meinst du?«
Sein schlaksiges Gegenüber neigte den Kopf zur Seite. »Unfall oder Mord … viele Leute würden das vertuschen wollen. Selbst wenn man wollte, dass der Körper gefunden wird, damit die Angehörigen ihren Frieden zu finden – wie hätte das geschehen können? Der Körper war zu verbrannt, als dass irgendjemand darin sein Kind, Bruder oder Schwester wiedererkennen könnte. Und die Spuren von alchemistischem Feuer wurden hinterlassen, weil der Körper verbrannt war. Damit es zusammenpasst, sozusagen. Und mit der Barriere so nahe dabei würde jedermann die entsprechenden Schlüsse ziehen.«
Varesh Crafton nickte langsam. »Also denkst du, es hat nichts mit der Barriere zu tun?«
Erro verneinte das entschieden. »Die Barriere zeigte keine Anzeichen von Sabotage, ihre Kraft fließt regelmäßig und ebenmäßig wie eh und je. Die Glyphen waren unangetastet. Also, nein, ich denke nicht, dass die Barriere das wahre Ziel war.«
Hoch aufgerichtet ließ Lord Crafton seinen Blick über beide schweifen. »Dann behaltet das im Hinterkopf … und für euch. Erro, ich erwarte dich morgen früh vor der Auktion.«
Erro beugte seinen Kopf und verließ die Bibliothek.
In der Küche stand Carana lächelnd am Kochtopf. »Setz dich hin, ich habe einen herzhaften Eintopf auf dem Herd.« Sie füllte eine Schüssel für ihn und bedeutete Flyn und Paran, sich ebenfalls hinzusetzen. Es war ein schweigsames, aber gemütliches Mahl. Erro leckte seine Schale leer. Carana drohte ihm mit dem Finger und rief dann nach dem Küchenmädchen, um die Teller zu waschen.
Außerhalb des Hauses bemerkte Erro, dass es nicht so spät war, wie er gefürchtet hatte. Er hatte fast einen halben Tag zur freien Verfügung – und schon einige Ideen, wie er die nächsten Stunden verbringen würde. Seine Füße trugen ihn vom Crafton Square durch eine schmale Seitenstraße zu einem engen Tunnel. Dort folgte er einem versteckten Kanal bis zu einem Aufstieg hinter einem Vorhang von Ranken. Ein kleiner Marktplatz kam in Sicht, begrenzt von drei verwinkelten Straßen. Und in einer Ecke führten fünf unebene Stufen zu einer schmalen Türöffnung, deren Tür nur angelehnt war.
»Dipple, bist du hier irgendwo?« Er streckte seinen Kopf hinein.
Aus dem Hinterraum ertönte ein Geräusch, dann stürzte etwas zu Boden und jemand fluchte. »Ich bin hier – ich komme.«
Ein winziger Mann mit flinken blauen Augen und einer Brille auf seinem Kopf trat hinter einem Vorhang hervor und legte einen speziellen Hammer zur Seite: Dipple, der Tüftler.
»Erro, ich hatte dich noch nicht erwartet. Schon fertig für heute?«
Erro nickte. »Alles erledigt bis morgen. Kimmer erzählte mir letzte Woche, dass die Anzahl der Hasen überhandnimmt. Und sie bringen gutes Geld, also … hast du einige Fallen, die du ausleihen würdest?«
Dipple holte eine kleine Kiste, die mit flachen blauen Scheiben gefüllt war. »Ich kann dir fünf Fallen geben. Wie wäre es damit? Bring mir sieben Hasen, und du kannst die Fallen behalten, bis sie wieder aufgeladen werden müssen.«
Erro überlegte nicht lange – das war ein fairer Deal. Aber warum …?
»Ich brauche ein neues Paar Hosen, und Kimmer hat bereits eine Vielzahl von regelmäßig wiederkehrenden Kunden, die seine Zeit in Anspruch nehmen. Ich würde mir lieber keine Erkältung durch fadenscheinige Kleidung einfangen.«
Das konnte Erro aus eigener Erfahrung nachvollziehen. Im letzten Winter hatte er versehentlich seine Jacke zerrissen, und die Kälte war unerträglich gewesen. Wenn er nicht … schnell lenkte er seine Gedanken zurück zu der Konversation mit dem Tüftler.
»Wir sind im Geschäft. Ich werde nur schnell Tenn einen Besuch abstatten für eine Phiole ›Atem der Themse‹.«
Dipple nickte. »Würdest du unserer bezaubernden Alchemistin meine besten Wünsche ausrichten?« Erro sah ihn stirnrunzelnd an und schob die Kiste unter seinen Arm.
Es war nur ein kurzer Weg von Dipples Werkstatt zu dem Erker mit dem Laden der Alchemistin. Büschel getrockneter Kräuter hingen an Schnüren von Wand zu Wand. Körbe mit Beeren unter der Decke, Pulver und Flüssigkeiten standen aufgereiht auf einer langen Arbeitsplatte aus Granit unter dem niedrigen Fenster. Im hinteren Teil des Labors brannte ein kleines Feuer, und darüber blubberte ein Kessel vor sich hin.
»Ein Stärkungselixier, meine Meisterin des Mysteriösen? Oder vielleicht eine Tinktur, um einen hartnäckigen Husten zu kurieren?«
Die zierliche junge Frau, die über den Kessel gebeugt stand, richtete sich auf und drehte sich im selben Zug herum, ihre goldenen Augen vor Freude geweitet. »Ich dachte nicht, dass du heute kommen würdest, Erro.«
Er akzeptierte ihre Umarmung und roch eine Kombination aus Beeren und Gewürzen, genau wie immer. Dann zog er einen Holzklotz unter den Regalen hervor und ließ sich darauf nieder.
»Und um deine Frage zu beantworten … nein, es ist mein Abendessen.« Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. »Aber du bist nicht gekommen, um mich das zu fragen, oder?«
Erro war außerstande, sich ein kurzes Grinsen zu verkneifen. »Nein, nicht deshalb, Tenn.«
Seine Augen wanderten zu ihrem Markenzeichen: Tenn hatte ihren Meistertitel in Alchemie für die Kreation eines exotischen Elixiers erhalten, das sie an sich selbst ausprobiert hatte. Ob es permanente Wirkung entfaltet hatte oder sie es regelmäßig auffrischte, war unklar. Aber seitdem war ihr Kopf nicht länger von Haaren gekrönt, sondern von einer üppigen Pracht roter und goldener Federn, die ihr in Kombination mit ihren goldenen Augen ein zerbrechliches, exotisches Aussehen gaben.
»Ich bin auf dem Weg zum Fluss, um ein paar Hasen zu fangen. Dipple hat mir ein faires Angebot für die Fallen gemacht, also werde ich diese Routine einige Tage beibehalten. Mein Vorrat an ›Atem der Themse‹ wird knapp, also lass uns handeln.«
Tenn lachte und schritt zu einem Regal. Sie reckte sich, bis sie ein Brett erreichte und eine kleine Flasche mit rötlichem Inhalt zu fassen bekam, die sie ihm reichte.
»Ich hätte liebend gern etwas Fleisch für meine Suppe, also … warum bringst du mir nicht etwas für heute Abend vorbei?«
Erro erwiderte ihr Lächeln. Er kannte Tenn seit Jahren, seitdem er in seine Wohnnische im Kanal gezogen war.
»Das ist nur fair. Mal sehen, wie viele ich für dich erwische.«
Er schob den Klotz unter das Regal zurück und legte im Vorbeigehen auf dem Weg zur Tür einen kleinen Beutel auf die Theke. »Hier, mir fiel auf, dass deine Vorräte knapp werden«, entschlüpfte es ihm.
Tenn wandte sich dem unverhofften Geschenk zu, und Erro floh.
»Mandeln? Erro, das ist zu viel …« Der Rest wurde von den Geräuschen auf der offenen Straße verschluckt.
»Stelle sicher, dass Flyn einen Sack Pelluzid-Sand in den Trainingsraum bringt, und informiere Jorell, dass unsere Vorräte aufgestockt wurden. Er hat mehrere Übungen für deine Schwester und die Drillinge vorgesehen, die alle den Einsatz von Metrya erfordern.«
Garth lief ein Schauder über den Rücken. »Im Namen von allem, was heilig ist …«
Sein Vater zog eine Augenbraue hoch, was Garth dazu veranlasste, seine unbedachten Worte näher auszuführen. »Sie sind … nervtötend.«
Kein widersprechender Kommentar kam vonseiten seines Vaters; sogar Lord Crafton war oft verärgert über die Streiche der drei zwölfjährigen Söhne, die sein jüngerer Bruder gezeugt hatte.
»Wenigstens läuft Jorell nicht Gefahr, Kopfschmerzen zu bekommen«, bemerkte Garth leichthin und verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung.
Er fand Flyn im Vorratskeller, wo er die Menge an Vorräten notierte, die Paran ihm zurief.
»Mein Vater wünscht einen Sack von Pelluzid-Sand, um den Bestand im Trainingsraum aufzustocken.«
Paran winkte dem größeren Mann, an ihm vorbeizugehen, und nahm die Liste. »Komm hinterher wieder, wir sind noch lange nicht fertig«, rief er ihm nach.
Garth schüttelte seinen Kopf. Flyn befolgte jede Anweisung, die von einem Mitglied seines Hauses kam. Sicher, das lag an seiner Verurteilung, aber Paran sollte es inzwischen besser wissen. Wie lange war es her, dass Flyn zu ihnen gekommen war, vier Jahre … fünf …?
Garth hielt an, als er merkte, dass er ziellos umhergegangen war, und rief sich seine Absicht zurück ins Gedächtnis. Seine Füße trugen ihn zu der Tür aus hellem Holz, und er schlüpfte unbemerkt hinein.
»… hatte eigentlich vor, dir die Wichtigkeit der Pelluzid-Kristalle näherzubringen. Aber mir scheint, du benötigst eine Vertiefung in lokaler Politik. Lorinne, nenne die Namen der fünf adligen Häuser in Ashbury.«
Seine kleine Schwester hob den Kopf, ihren Blick fokussiert auf den blauen Kristall des Tutors, der an einem verzierten Ständer an der Wand befestigt war. »Crafton, Cridden, Azard, Holth und Shoyn, Meister Jorell.«
Der körperlose Tutor weiter: »Und du weißt, dass jedes Haus die Schirmherrschaft über bestimmte Gewerke, Händler und Konzepte hat. Gib mir einen kurzen Überblick und fasse das originale Manifest des Konzils anschließend in einem Aufsatz zusammen.«
Lorinne brauchte einen Moment, um ihre Notizen durchzusehen. »Unser Haus hat die Aufsicht über alle Gewerke und Händler im Zusammenhang mit Pelluzid-Kristallen. Dazu gehören Minenarbeiter, die Herstellung von Kristallstaub durch Schleifer oder die Kristallbläser, die Kristalle für Spaltungen und die Schaffung von Tutoren veredeln.«
»Fahr fort!«
Sie holte tief Luft. »Wir sind auch die Patrone von Kunsthandwerkern. Außerdem trainiert unser Haus die jungen Gelehrten, die Tutoren werden wollen. Diese Tutoren unterrichten den adligen Nachwuchs des Hauses, dem sie dienen, in der Anwendung seiner Pahdora.«
Jorells Bildnis flackerte. »Pahdora und Metrya und ihre Abhängigkeit voneinander werden wir abhandeln, wenn deine Studien weiter fortgeschritten sind.«
Garth stimmte dem gedanklich zu. Lorinne war nicht alt genug, um die Komplexität der Pahdora an sich zu verstehen. Sie war einfach noch nicht so weit. Er trat hinter der Säule hervor und wandte sich mit einem knappen Nicken an Jorell.
»Mein Vater hat dafür gesorgt, dass der Pelluzid-Sand im Trainingsraum aufgestockt wird.«
Der Tutor akzeptierte dies wortlos und konzentrierte sich wieder auf Lorinne. »Und nun die übrigen vier Häuser und ihre Zuständigkeiten.«
Mit einem kleinen Seufzer vertiefte sie sich erneut in ihre Notizen. »Haus Shoyn hat die Aufsicht über alle nicht magischen Handwerke oder Gewerke, sofern sie nicht einem anderen Haus vorrangig zugeordnet sind. Und Haus Azard ist zuständig für alle magischen Gelehrten und Gewerke so wie Alchemisten, Bundbrecher, Glyphenschreiber und so weiter.«