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Ashbury, ein Londoner Distrikt, von der Außenwelt abgeschnitten. Aufregende Kriminalfälle werden vor Gericht meistbietend versteigert. Der Gewinner erwirbt das Privileg, sich zu präsentieren und nebenbei Schuld oder Unschuld der Angeklagten zu beweisen. Der junge Adlige Garth wird vom Mäzen Lord Shoyn zu einem seiner angesagten Gartenfeste eingeladen. Tags darauf ist der Gastgeber tot – ermordet. Hauptverdächtiger ist Garths älterer Halbbruder Tain Shoyn, Lord Shoyns Erbe. Und ausgerechnet der verweigert die Zustimmung zu einer Lesung, die seine Unschuld beweisen könnte. Als Verwandter darf Garth nicht an der Versteigerung seines Falls mitbieten. Ihm bleibt nur wenig Zeit, mit Erro und Flyn den wahren Mörder zu überführen. Denn die Lage spitzt sich zu, als ein zweiter Anschlag auf ein Mitglied des Hauses Shoyn folgt.
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Seitenzahl: 439
Veröffentlichungsjahr: 2024
Alessa de Laar
Der Ränkelord
Erzählungen aus Ashbury 2
Urban-Fantasy-Kriminalroman
Copyright: © 2024 Alessa de Laar
Lektorat: Michael Lohmann – www.worttaten.de
Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Kartenillustration: Melissa Nash / Fiverr: Melissa@mnash884
Das Cover dieses Romans wurde entworfen und gestaltet von Wigge Media. Alle Rechte an der Covergestaltung liegen bei Wigge Media und dürfen ohne deren ausdrückliche Genehmigung nicht reproduziert oder nachgeahmt werden. www.wigge.media
Jede Ähnlichkeit mit realen Personen oder Handlungen wäre rein zufällig
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Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Softcover 978-3-384-45510-9
Hardcover 978-3-384-45511-6
E-Book 978-3-384-45512-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland, [email protected].
Dieses Buch ist meiner Familie und meinen Freunden gewidmet, die nicht müde wurden, mit mir Personen, Handlung und Motivationen zu diskutieren.
Mein Dank gilt auch meinem Lektor Michael Lohmann: Es macht immer Freude, gemeinsam mit ihm einer Erzählung den letzten Schliff zu geben.
Im Gedenken an einen guten Freund, dessen Argumentation das Schicksal eines Schurken von Grund auf veränderte.
Die Autorin
Alessa de Laar ist von Hause aus Bilanzbuchhalterin. Im Berufsleben an kalte Zahlen und Fakten gebunden, taucht sie abends ein in eine Welt aus Morden und Mystik. In ihrer Freizeit liebt sie fantastische Erzählungen und jede Art von Kriminalromanen. Sie lebt mit ihrer Familie und einer Vogelschar im Ruhrgebiet.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Die Autorin
Prolog
Ein zwielichtiger Geselle
Das Gartenfest
Lord Shoyn, ermordet
Der Uhrmacher
Falscher Krokus
Gefühlschaos
Ein missglücktes Attentat
Geheimnisse um Kristalle
Jarells haltlose Anschuldigungen
Schaurige Geschichten
Tiborn ein Mörder?
In die Falle getappt
Spurensuche
List und Heldenmut
Abgründe
Schuld und Sühne
Glossar
Handelnde Personen
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Titelblatt
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Prolog
Schuld und Sühne
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Prolog
Ashbury, ein Londoner Distrikt, von der Außenwelt abgeschnitten. Vor zweihundert Jahren stürzte ein Meteor auf den Distrikt und verwüstete ihn. Ein giftiger Nebel erhob sich, und viele Bewohner erkrankten und starben. Die Überlebenden entwickelten dank eines neuen Organs, der Pahdora, eine Befähigung zur Magie.
Zum Schutz der Bürger wurde eine kuppelförmige Barriere errichtet, die Ashbury vor der Außenwelt verbarg. Als die Rosenkriege entflammten, waren die Bewohner von Ashbury den Machtkämpfen und dem Einflussbereich der sich befehdenden Königshäuser entzogen.
Im siebzehnten Jahrhundert regieren jetzt die Lords der fünf dort beheimateten Adelshäuser Ashbury. Kriminalfälle werden vor Gericht versteigert. Der Gewinner erwirbt das Privileg, sich präsentieren und nebenbei Schuld oder Unschuld des Angeklagten beweisen zu dürfen.
Eines dieser Adelshäuser ist Haus Crafton, und Garth Crafton ist einer der Söhne des derzeitigen Lords. Gemeinsam mit seinem Diener Erro und seinem Leibwächter Flyn hat er vor Kurzem eine Serie von Verbrechen aufgedeckt. Aber die aufgrund der aufsehenerregenden Präsentation gewonnene Popularität sagt dem jungen Adligen wenig zu …
Ein zwielichtiger Geselle
War das, wie es sich anfühlte, wenn man einen Teil seiner selbst begrub, fragte Erro sich insgeheim. Er konnte sich kaum an das Begräbnis seiner Mutter oder das von Nolarra erinnern: Alles war durcheinander und verschwommen.
Ohne zu blinzeln, blickte er auf den Sarg und die Trauernde direkt davor, eine junge Frau: blass, mit kurzen, braunen Locken. Tränen liefen ihre Wangen herunter, und ihre Augen waren rot umrandet: Die Kristallbläserin Cypri, gehüllt in ihre schwarze Arbeitskleidung, bückte sich, um einen dünnen Stoffbeutel in den Sarg zu legen. Erro wusste nur zu gut, welcher kleine, kantige Gegenstand darin ruhte – wenigstens verbarg der undurchsichtige Beutel den ominösen rötlichen Lichtschimmer. Ansonsten hätte er darauf gewettet, dass die Grabstätte nicht einmal für eine Nacht ungestört bleiben würde … Grabräuber, um nur eine Option zu nennen.
Erro senkte seinen Kopf, als der Priester zu einem leisen, anrührenden Gebet ansetzte. Dies ermöglichte es ihm, Blicke in alle Richtungen zu werfen. Zu Garth beispielsweise. Der junge Adlige trug dunkle Kleidung in einem ungewöhnlich einfachen Stil, um nicht aufzufallen und sich bedeckt zu halten.
Vorn neben der Grabstätte richtete Cypri sich auf. Ihre Augen waren auf den Punkt fixiert, an dem der Sarg jetzt in das Grab hinabgelassen wurde. Sie hatte sich Zeit genommen, stumme Zwiesprache zu halten und zu beten. Hinter ihr stand eine kleine Gruppe von Leuten aus ihrem Umkreis; ihre Freunde und Nachbarn, wie er annahm, die darauf warteten, dem unglücklichen Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen.
Der Totengräber Arno begann, das Grab zuzuschaufeln, als der Priester verstummte und sich mit einem abschließenden Wort des Trostes an Cypri verabschiedete. Danach blieb nicht viel Zeit, darum gingen alle innerhalb der nächsten halben Stunde. Alle, außer ihnen natürlich. Erro warf einen Blick zurück und bemerkte Flyn neben einem Baum – er beobachtete die Umgebung.
Als Garth näher zu Cypri trat und wortlos mit ihr ging, folgte Erro den beiden langsam. Dies gab ihm die Gelegenheit, sich den Weg genauer anzusehen: Der Totengräber kniete neben einem älteren Grab, ein jüngerer Gehilfe neben ihm. Einer von ihnen kletterte hinunter und bückte sich, um etwas aufzuheben. Erro verzog das Gesicht, als er einen Totenschädel erkannte. Ein danebenstehender Sarg wurde geöffnet und der Schädel hineingelegt. Erro riskierte einen Blick: Der Sarg war voller Knochen; nicht bloß ein Skelett, sondern mindestens sechs oder sieben.
»Kein hübscher Anblick, Jungspund?«, kommentierte Arno trocken. »Nichts, was ich nicht schon einmal vor langer Zeit getan habe. Aber mit all diesen Leichen, die in der Leichenhalle gestapelt sind, muss ich mich beeilen. In fünf Tagen werden wir beginnen, dreißig dieser armen Teufel zu beerdigen, die sie auf dem Geisterhügel gefunden haben. Also kommen die hier ins Beinhaus, und Niorn hier wird mir helfen, all deren Gräber zuzuschaufeln. Wir haben noch so viel zu tun, da bleibt keine Zeit für lange Gespräche!«
Damit kehrten beide Männer zu ihrer Arbeit zurück. Erro eilte in dieselbe Richtung, in die Flyn Garth folgte. Die Kristallbläserin hatte sich offenbar soeben verabschiedet; er konnte sehen, wie sich ihre dunkel gekleidete Gestalt abwandte.
»Manchmal, wenn ich kurz davor bin, einzuschlafen oder auch nur meine Augen schließe, erwarte ich, ihn zu hören. Zu hören, wie er die Tür unbeholfen aufstößt und Kisten hineinhievt mit dem gewohnten breiten Lächeln auf seinem Gesicht. Und dann öffne ich meine Augen oder schrecke auf, und da ist … nichts. Kein freudestrahlender Bericht darüber, welche Tiere er auf dem Weg gesehen hat, keine heruntergefallene Kleidung neben dem Wäschekorb, keine Tasse Milch, die er immer vergaß, wegzuräumen …« Wehmut und Melancholie klangen in Cypris Stimme mit.
»Ihr seid zusammen aufgewachsen. Er stand Euch so nah wie ein Bruder. Und darf ich wagen, zu behaupten, Ihr habt auf ihn achtgegeben wie eine ältere Schwester, auch wenn er von Euch beiden der Ältere war? Es ist weder überraschend noch unerwartet, dass Ihr ihn vermisst – eher, wenn Ihr ihn nicht vermissen würdest. Er hat eine Leere in Eurem Leben und Eurem Heim hinterlassen«, bemerkte Garth leise.
Die Kristallbläserin sah auf und schloss krampfhaft ihre Augen, um weitere Tränen am Fließen zu hindern. »Es tut weh. Sie haben ihn mir weggenommen – er verdiente das nicht. Keines ihrer Opfer verdiente es, und doch …«
Cypri atmete tief durch. »Gestern hörte ich von Nerys. Sie ist eine ältere Frau und mit einem früheren Schleifer verheiratet. Sie haben endlich eine Antwort erhalten: Die Leichenhalle schickte eine Nachricht, dass ihre Enkeltochter sich unter den Toten befand. Ihr mögt Euch erinnern, sie meldeten sich bei Eurer Präsentation zu Wort.«
Garth erinnerte sich in der Tat an das ältliche Ehepaar. Ihr tiefer Kummer hatte ihn sehr bewegt.
»Ich erinnere mich. Ich hätte ihr nur ein anderes Schicksal gewünscht – und Euch.«
Cypri ergriff seine Hand, ohne nachzudenken. Für einen Moment sprach keiner von ihnen, dann ließ sie plötzlich los.
»Ich muss zurück in meine Werkstatt. Gestern kam eine Nachricht von Lord Crafton: Ein geeigneter Gespaltener wurde ausgewählt und wird morgen zu mir geschickt werden.«
Garth runzelte die Stirn. »Schon? Ich hatte nicht mit einer so schnellen Reaktion gerechnet. Enthielt die Nachricht irgendetwas von Interesse zu dem Gespaltenen?«
Eine Falte bildete sich auf Cypris Stirn. »Nur dass es jemand sei, der eine lebenslange Strafe verbüßt, ein starker Mann in der Blüte seiner Jahre. Sein Name ist Fenn.«
Sie bemerkte, wie Garth sich versteifte. »Das sagt Euch etwas – sein Name, meine ich. Ihr kennt ihn?«
Der junge Erbe nickte langsam. »Das tue ich – und Ihr auch, falls Ihr schon vor meiner Präsentation anwesend wart. Ein Fall wurde präsentiert, von einem meiner Cousins. Dabei ging es um eine alte Frau, die erwürgt wurde, eine Alchemistin namens Elira. Fenn ist der Name des Händlers, der sie betrügen wollte und sie umbrachte, als sie es herausfand.«
Cypri hielt an und richtete ihren Blick auf die Abtei. »Dann werde ich ihn nicht bemitleiden. Und wenn seine Stärke nun dazu dient, meine Werkstatt zu erhalten, werde ich nichts als dankbar sein, dass er seine gerechte Strafe erhielt.«
Sie hatten die Kreuzung erreicht und wandten sich einander zu, unentschlossen, weg von der Mitte der Straße. Flyn holte auf. Seine Hand schoss vorwärts und an Cypri vorbei, die heftig zusammenzuckte. Aber es war Garth, der in dem unbewussten Bestreben, sie zu beschützen, nähertrat – und die magere Gestalt wahrnahm, die sich aus Flyns starkem Griff befreite und in den Schatten verschwand.
»Ein Taschendieb … er wollte in Eure Tasche greifen«, erklärte er mit beruhigender Stimme.
Cypris Hand legte sich auf ihren Mund. »Ich bin noch niemals einem von ihnen ins Visier geraten. Ich meine, seht mich an – sehe ich aus, als ob ich wohlhabend wäre oder kostbare Juwelen besäße? Das ist lachhaft!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging.
Wenigstens war ihre Stimmung umgeschlagen: von bedrückt und niedergeschlagen zu aufgebracht und entgeistert auf einmal, wie Garth mit einem Kopfschütteln bemerkte. In diesem Moment erschien Erro an seiner Seite.
»Was war das?«, erkundigte er sich leise.
»Ein Taschendieb«, erwiderte Garth im Flüsterton.
»Und er wählte sie aus? Sie ist keine passende Wahl als Opfer. Obwohl …« Erro runzelte die Stirn und blickte dorthin, wo der Dieb verschwunden war.
»Obwohl was?«
Der Klient zuckte mit den Schultern. »Ihr saht ziemlich vertraut aus, als ich Euch von Weitem sah. Und da Flyn Euch bewachte, machte sie das zum einfacheren Ziel. Vielleicht dachte der Dieb, sie wäre eine Klientin unterwegs in Eurem Auftrag?«
Er erwähnte nicht den offensichtlicheren Grund: dass der Dieb Cypri für Garths Freundin oder Geliebte gehalten hatte. Als solche hätte sie durchaus Wertgegenstände bei sich haben können. Aber der Adlige war nicht zu dieser logischen Schlussfolgerung gekommen, darum behielt er diesen Gedanken für sich.
»Was hat dich am Friedhof aufgehalten?«, erkundigte sich Garth und ging weiter. Erro hielt mit ihm Schritt.
»Der Totengräber. Er ist ziemlich beschäftigt dieser Tage – er sagt, sie werden damit beginnen, die Toten aus der Leichenhalle in den nächsten Tagen zu beerdigen. Da waren Dutzende leere Gräber nebeneinander freigelegt.«
Garth fing sich, bevor er stolperte, aber änderte spontan seine Richtung. »Ich wollte Meister Stiggin sowieso nach seinen Fortschritten fragen.«
In der Leichenhalle waren mehr Leute als sonst damit beschäftigt, Särge abzuladen und Leichen zu schleppen.
»Falls Ihr nach Meister Stiggin sucht, er ist im zweiten Raum links. Er und sein Assistent sind immer noch mit all den alten Fällen zugange, während wir uns um die derzeitigen Todesfälle kümmern«, verkündete eine ungewöhnlich aufgekratzte Frau, die hinter der breiten Arbeitsplatte stand. Ihr lockiges Haar wurde von einer Art geknotetem Netz zurückgehalten, aber einige rötliche Strähnen hatten sich befreit und ließen sie aussehen, als würde die Sonne hinter ihr untergehen. Während er ihr dankbar zunickte, führte Garth seine Gruppe an ihr vorbei und klopfte an die zweite Tür.
»Einen Moment«, erklang Meister Stiggins Stimme. Erro fühlte eine sanfte Woge von … etwas, die ihn streifte, und eine Gänsehaut überzog seine Unterarme. Dann öffnete der Beschauer die Tür und scheuchte sie hinein.
»Kommt herein, ich bin gerade mit diesem armen Kerl dort fertig geworden.« Unter den Glyphen der Bewahrung war nur eine zusammengeschrumpfte Leiche zu erkennen – alles, was nach beinahe einem Jahrzehnt in einem flachen Grab übrig geblieben war.
»Ich sah die Vielzahl von Gräbern, die vorbereitet wurden, um den Toten ihre letzte Ruhe zu gewähren. Ist es wahr … wart Ihr imstande, diesen Leichen ihre Namen zurückzugeben?«
Meister Stiggin setzte sich auf einen Stuhl und wandte seinen Kopf in Richtung einer langen Reihe von aufgereihten Körpern, alle unverändert dank des Einflusses der Glyphen.
»In den überwiegenden Fällen, ja. Das Konzil sandte uns zwei tatkräftige Schreiber mit Auszügen aus den Journalen dieses skrupellosen Mannes. Dadurch konnten wir den Verstorbenen Zeitpunkte und Beschreibungen zuordnen. Die Thaumaturgen entsandten ebenfalls einige Mitglieder; sicher auch, weil sie ihre kollektive Schuld und Scham beschwichtigen wollten, dass ihr Großmeister teil an all dem hatte. Aber gleichwohl haben sie sorgfältig und gründlich gearbeitet und jede Leiche und jedes Kleidungsstück separat gelesen, soweit es möglich war. Auf diesem Wege konnten sie den Schreibern Beschreibungen und Lebensalter der Verstorbenen diktieren. Sie benutzten außerdem ihre Metrya, um sich die exakten Gesichter ins Gedächtnis zu rufen, und zeichneten sehr akkurate Bilder. Von daher bin ich wirklich überzeugt, dass wir den Körpern, die wir demnächst beerdigen werden, die richtigen Namen zugeordnet haben. Es sind nur noch wenige übrig, und das ist nur, weil wir alle eine Pause brauchten. Morgen werden sie wiederkehren und von vorn beginnen. Und danach wird meine Leichenhalle endlich zum täglichen Leben zurückkehren, wenn Ihr mir den Scherz gestattet.«
Garth schmunzelte ein wenig – Meister Stiggin behandelte alle Leute mit Freundlichkeit und Achtung. Sein leichter Hauch von Humor bewies eindeutig, dass er sich seine Menschlichkeit bewahrt hatte.
»Diejenigen, die Ihr identifiziert habt … ich bezweifle, dass ihre Verwandten oder Freunde mit weltlichen Gütern gesegnet sind …«
Meister Stiggin verstand seinen Hinweis, aber hob seine Hände, um Garths Redefluss zu unterbrechen. »Es besteht keine Veranlassung, auf Eure Großzügigkeit zu setzen, junger Master Crafton. Großmeister Tarex’ Tochter, Rubinia, kam mit ihrem Gatten vorbei. Sie werden alle Ausgaben für die auf dem Geisterhügel Begrabenen tragen. Jede dieser armen Seelen wird ein anständiges Begräbnis erhalten, in einem Grab, mit einem ordentlichen Sarg und einem hölzernen Kreuz mit ihrem Namen darauf. Macht Euch keine Gedanken, man wird sich um sie alle kümmern.«
Garth nickte nur, erleichtert, dass dies bereits erledigt war. Aber soweit er Rubinia kannte, war sie eine eher oberflächliche junge Frau, und ihr Ehemann hatte etwas von einem Wichtigtuer. Es mochte sein, dass sie dies nur angeboten hatten, um ihre Reputation zu verbessern, die unter den Enthüllungen zu Rubinias Vater eingebrochen war. Aber sollte ihn das kümmern? War es wirklich wichtig, warum das junge Paar angeboten hatte, für die Begräbnisse der Opfer zu bezahlen? Am Ende würde es nur für die zurückgebliebenen Verwandten und Freunde von Belang sein, die nun ihre Geliebten endlich betrauern und zur letzten Ruhe betten konnten.
Sobald sie die Leichenhalle verließen, steuerte Garth den großen Markt am Marktplatz an. Es gab nichts, was er tatsächlich hätte besorgen müssen, weswegen er sich entschied, die ausgebreiteten Waren in Augenschein zu nehmen. Er kaufte ein Lederarmband, aber nichts sonst erregte seine Aufmerksamkeit.
»… und zusätzlich zwei Flaschen mit Pflaumensaft.« Eine samtige Stimme neben Flyn. Garth drehte sich überrascht um und wurde von dem anderen Mann begrüßt. Oder vielmehr von dem Paar, denn der Kunde wurde von einer wunderschönen jungen Dame begleitet, deren üppiges, blondes Haar in komplizierten Schlingen und Windungen hochgesteckt war.
»Lord Shoyn, ich hatte nicht erwartet, Euch und Eure Gattin auf dem Marktplatz anzutreffen.« Garth betrieb Konversation.
Lord Moren Shoyn, ein kräftiger Mann, strich über seinen vollen Bart. Der war dunkelbraun, perfekt frisiert, jedoch eher kurz geschnitten.
»Normalerweise hättet Ihr recht, aber wir haben eine kleine Feier heute Nachmittag geplant, ein entzückendes kleines Fest mit einer Handvoll auserwählter Freunde. Hättet Ihr nicht Lust, uns ebenfalls Gesellschaft zu leisten? Ich habe ein paar sehr talentierte, junge Künstler eingeladen, um uns zu unterhalten. Und ich kann die kulinarischen Fertigkeiten meines Haushalts nur in höchsten Tönen preisen.«
Garth hörte überaus interessiert zu. »Ich habe bereits gehört, dass Ihr ein großer Förderer der Künste seid, Lord Shoyn. Natürlich würde ich mich Euch gern anschließen und die künstlerischen Darbietungen bewundern, die präsentiert werden.«
Lord Shoyns Augen verengten sich ein wenig. »Was für ein Zufall, dass Ihr genau dieses Wort verwendet. Denn ich würde liebend gern einige Worte mit Euch wechseln über Eure außergewöhnliche Präsentation. Sagt, wollt Ihr nicht gegen drei Uhr vorbeikommen?«
Garth stimmte dem zu, wobei es ihm gelang, seine schwindende Begeisterung zu verbergen. Während des gesamten Gesprächs hatte Lady Shoyn nicht ein Wort gesagt. Garth sah ihnen nach und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wann sie sich das letzte Mal getroffen hatten. Er konnte sich nicht genau erinnern, obwohl ihn das nicht überraschen sollte: Lord Shoyn war wenigstens zehn Jahre älter als er, auch wenn seine Frau in Garths Alter war. Natürlich hatten sie sich zuvor getroffen, aber sie hatten nur einige Grußworte ausgetauscht oder Small Talk betrieben, je nach Art ihres Zusammentreffens.
»Nun, wenigstens weiß ich, dass das Essen und der Wein bemerkenswert sein werden. Lord Shoyn ist bekannt dafür, überaus wählerisch zu sein, und seine Feste sind in aller Munde. Jetzt brauche ich nur noch ein Gastgeschenk.«
Erro rollte seine Augen, während Garth an den Fingern aufzählte, welche Köstlichkeit als Gastgeschenk geeignet wäre für einen Gastgeber, der wegen seines extravaganten Geschmacks bekannt war.
»Du kennst den Klatsch über Lord Shoyn ebenso gut wie ich. Was denkst du, was er schätzen würde?«
Erro dachte für einen Moment nach, wobei er zur Seite trat, als ein Kürschner sie mit einem Karren voller Pelze passierte. »Ich hörte, er liebt Süßigkeiten trotz seiner weithin bekannten Vorliebe für Pflaumensaft. Warum besorgt Ihr nicht ein Glas von dem schwarzen Honig, den Ihr bevorzugt? Oder vielleicht einige Stücke Marzipan? Ich weiß, dass Tenn sich selbst übertrifft bei der Herstellung dieser Köstlichkeit.«
Garth fiel ein Stein vom Herzen. Ein entferntes Glockenläuten aus dem Norden ließ sie beide aufhorchen.
»Schon Mittag. Nun, wir werden nicht innerhalb der nächsten Stunde nach Crafton House zurückkehren, also sollten wir uns unterwegs etwas zum Mittagessen besorgen.«
Garth steuerte einen Händler an, der Fleisch verkaufte: auf einen Spieß gesteckt und über einer Feuerschale geröstet. Erro sog eine Nase voll von dem anregenden Geruch ein. »Es wurde in Senf und Pfeffer mariniert.« Er verwies auf einen kleinen Stand in einer Ecke. »Das wird perfekt dazu passen.«
Garth folgte Erro gutmütig, aber musste zugeben, dass die gefüllten Paprika den Geschmack des Fleisches unterstrichen.
Sie hielten nur kurz bei einem Händler an, von dem Garth ein eindrucksvolles Glas schwarzen Honigs kaufte. Dann gingen sie weiter in Richtung Tenns Laden. Die Alchemistin war emsig beschäftigt, reife Stachelbeeren mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit zu überziehen. Die trocknenden Beeren wurden dann in gemahlener Schokolade gewälzt.
»Was machst du gerade, Tenn? Bei dem Geruch läuft mir das Wasser im Munde zusammen.«
Die Alchemistin hätte beinahe ihr Handwerkszeug fallen lassen, aber fing sich gerade noch. Mit einem Seufzer legte sie alles beiseite und wandte sich ihnen zu.
»Erro, wieso bin ich überrascht? Und um deine Frage zu beantworten, ich experimentiere. Das sind Stachelbeeren, mit Honig überzogen und dann in feiner Schokolade gewälzt. Ich dachte, die Honignote würde die herbe Note der Beeren gut ergänzen und durch die Süße der Schokolade gut abgerundet. Möchtest du einmal probieren?«
Erro streckte bereits die Hand nach einem weiteren Tablett aus, auf dem schon getrocknete Beeren lagen. Er verkniff sich jeden Laut, aber winkte Garth und Flyn herein. »Ihr müsst die hier versuchen.«
Der Adlige nickte Tenn zu und griff dann selbst nach einer Beere. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, bevor er sich genauer umschaute. »Habt Ihr Euch auch an Johannisbeeren versucht?«, fragte er und folgte ihrem Zeigefinger zum nächsthöheren Tablett.
»Mit allen Arten von Beeren, aber ich denke, die herberen bilden einen besseren Kontrast zur verbleibenden Süße. Nun, was bringt Euch hierher?«
Garth ließ seine Augen über die gesamten Bretter wandern. »Ich wurde zu einem kleinen Fest heute Nachmittag eingeladen und suche nach einem Gastgeschenk. Ich denke, ein kleines Glas dieser so einladend angerichteten Beeren würde vorzüglich passen.«
Tenn überließ ihm die Auswahl aus den aufgereihten Früchten und griff nach einem Glas aus ihrem Bestand. Sorgfältig füllte sie es bis obenhin mit Johannisbeeren und Stachelbeeren und versiegelte dann das Behältnis. Garth überließ es Erro, sie zu bezahlen, während er die Veränderungen in ihrem Laden näher betrachtete.
Als die drei Crafton House betraten, war es schon kurz vor zwei. Daher schickte Garth Erro und Flyn mit seinen Einkäufen zu seiner Kammer. Inzwischen klopfte er an die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters und sah seinen Cousin Vornn für einen Moment zögern, bevor er sie passierte. Als Varesh Crafton ihn einzutreten hieß, tat er das und schloss die Tür.
»Du bist heute ziemlich spät zurück, Garth. Gab es etwas Interessantes, wovon du auf dem Weg erfahren hast? Oder hast du den ganzen Morgen damit verbracht, die trauernde Kristallbläserin zu trösten?«
Garth errötete und schüttelte seinen Kopf. »Nein, das Begräbnis endete schon vor Stunden. Ich wählte den Weg entlang des Marktes und traf dort auf Lord Shoyn und seine Lady. Er lud mich zu seinem Fest ein, das schon heute Nachmittag stattfinden soll, weswegen ich noch ein Gastgeschenk für meinen Gastgeber besorgen musste.«
Lord Crafton nickte. Dieses Gebaren war seinen Kindern von Kindesbeinen an beigebracht worden, bis der Gedanke beinahe von selbst bei der Erwähnung einer Einladung kam.
»Aber zuvor wurde mir etwas Sonderbares zugetragen. Die Kristallbläserin erzählte mir, ihr sei ein geeigneter Gespaltener zugeteilt worden. Nur kenne ich die Umstände des Verurteilten, der ausgewählt wurde, ihr zu dienen; und ich verstehe nicht, wie all das zusammenpasst.«
Sein Vater zog eine Augenbraue hoch und neigte seinen Kopf in stummer Billigung. »Also ist es dir aufgefallen, gut. Ja, ihr wurde der Mörder der alten Alchemistin zugeteilt; und, ja, unter normalen Umständen würde besagter Mörder Haus Azard für den Rest seines Lebens Dienste leisten. Aber dir fehlt eine wichtige Information. Eine, die zum Verhalten deines Cousins passt – seit deiner Präsentation.«
Garth horchte auf, sein Vater wirkte zugleich gereizt und erwartungsvoll.
»Deinem Cousin beliebte es, eine Wette mit Catriona Azard einzugehen. Er wettete, du würdest deine Präsentation mit Bravour vorführen, während die Azard-Erbin an deiner Fähigkeit zweifelte, deine Lesung mit handfesten Beweisen zu untermauern. Und gleichgültig, ob die Erbin die Erlaubnis ihres Lord Vaters hatte oder nicht: Vornn hatte sicherlich nicht meine Zustimmung, den lebenslangen Dienst des nächsten Gespaltenen, der unserem Haus zugeteilt würde, zu verwetten!«
Garth sog scharf die Luft ein: Er konnte nicht glauben, dass Vornn so dumm gewesen war … nein, so versessen, die Erbin zu beeindrucken. So versessen, dass er jede Vorsicht in den Wind geblasen und sich die Vorrechte des Familienoberhaupts angemaßt hatte … obwohl, wenn er länger darüber nachdachte: Natürlich war er so töricht gewesen.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass er seinen Fehler erst einsah, nachdem Ihr ihn ihm auch aufgezeigt hattet?«, fragte er mit verzogenem Gesicht. Varesh Crafton nickte knapp und stand dann abrupt auf.
»Er hat seine Befugnisse überschritten. Trotzdem erlaubte mir besagte Wette, die Verpflichtung gegenüber der Kristallbläserin vorzeitig zu erfüllen. Nicht dass ich ihm diese einzig positive Seite an der ganzen Geschichte mitgeteilt hätte.« Garth lächelte für einen Moment und wartete.
»Du hast Lord Shoyn bisher nie außerhalb von gesellschaftlichen Verpflichtungen getroffen. Mische dich während des Fests unter die Leute, sprich mit seinen Gästen und beobachte das ganze Ereignis. Ich bin an deiner Meinung interessiert.«
Mit diesen Worten war Garth entlassen und verließ das Arbeitszimmer, ohne zu zögern. Auf seinem Weg in die Küche passierte er das Studierzimmer, wo Meister Jorell damit beschäftigt war, Lorinne zu unterweisen. Obwohl sie nicht wesentlich älter war als die Drillinge, hatte Erfahrung gelehrt, dass es besser war, sie getrennt von ihren Cousins zu unterrichten, die nichts als Unfug im Kopf hatten. Es schien, er war gerade rechtzeitig gekommen für eine Lektion in Ashburys Lokalhistorie.
»… warum die westliche Brücke die Schieferbrücke genannt wurde, aber jetzt wenden wir uns der östlichen zu. Seit Langem wird sie die Zunderbrücke genannt. Nenne mir den Grund hierfür.«
Lorinne saß, vornübergeneigt, und betrachtete die Karte von Ashbury, die vor ihr lag. »Der Grund für diese Namenswahl waren die zahllosen Karren, die den Fluss vom Süden her überqueren, um Brennstoff zum Heizen und für die Schmieden zu transportieren. Seit Ashbury gegründet wurde, haben wir große Schwierigkeiten gehabt, uns selbst zu versorgen. Und zu Anfang war es kaum möglich. Aber später wechselten wir zu anderen Brennstoffen, und seit damals werden besagte Brennstoffe über die Zunderbrücke transportiert.«
Jorell beäugte sie scharf. »Du hast es gänzlich vermieden, die genaue Art des benutzten Brennstoffes zu nennen, ebenso seine Produktion. Geschah dies aus Faulheit oder Unkenntnis?«
Lorinne sackte ein wenig in sich zusammen. »Letzteres, Meister Jorell.«
Der Tutor seufzte. »Nun, dann solltest du gehen und die Küche aufsuchen. Ich bin mir sicher, dort kannst du dich mit dem Brennmaterial vertraut machen. Komm anschließend wieder und trödele nicht!«
Lorinne bemerkte Garth, als sie das Studierzimmer verließ. Sein aufmunterndes Lächeln brachte ihm nur ein Schulterzucken ein, dann betraten sie beide die Küche. Carana war gerade dabei, über den Haushalt eines Nachbarn herzuziehen, wobei ihr Kochlöffel ihre weit ausholenden Gesten untermalte. Sie unterbrach sich selbst, um die Geschwister zu grüßen, und Erro erhob sich auf der anderen Seite des Tisches. Er deutete auf die Tür zum Keller und Garth nickte – er neigte dazu, wissen zu wollen, wo sich sein Leibwächter aufhielt, wenn er nicht anwesend war.
»Carana, würdest du mir den Ofen zeigen? Meister Jorell riet mir, ich solle mir genauer ansehen, wie wir heizen und kochen.«
Die Köchin führte Lorinne zu einem steinernen Behälter am anderen Ende der Küche. Er war bis zum Rand mit faustgroßen Stücken unbestimmter Herkunft gefüllt. Sie waren irgendwie schmierig und etwas fettig; weißliche Klumpen durchzogen mit dunkleren Venen.
Lorinne nahm einen davon und verzog das Gesicht dabei. »Es fühlt sich … eklig an.«
Sie legte ihn beiseite und war offensichtlich dankbar, als Carana sie zu einer Schüssel Wasser mit einem einfachen Stück Seife daneben führte.
»Was ist darin enthalten?«
Lorinne sah in die Runde, aber Carana wusste es offenbar nicht. Ihre Augen wanderten zu Garth, blieben dann aber an Erro hängen, als sie ein feines Lächeln um seine Lippen spielen sah. »Du weißt es.« Alle Augen wandten sich dem Klienten zu. Erro nickte und schob das Behältnis zurück in die Ecke.
»Das stimmt. Als ich in Eurem Alter war, war ich mit zwei anderen Jungen befreundet, Tiborn und Teps. Nun, Tiborn war Lehrling bei den Barrierenspringern, aber Teps … Teps wurde ein Schmierer. Ich denke, Ihr habt diese Bezeichnung noch nie gehört? Nun, ein Schmierer ist jemand, der auf der Plantage im Südosten von Ashbury arbeitet. Der Ölbaumplantage. Diese Bäume liefern eine große Anzahl von Nüssen – oder sollten es Früchte sein? Egal, sie werden geerntet, und dann wird das Fett durch eine Presse gesammelt. Es ist sehr ertragreich. Denn das Erzeugnis wird nach Verwendungszweck aufgeteilt. Für die billigeren Varianten wird Talg beigemengt. Zusätzlich werden die Ölbäume gemolken, und der Saft entzündet sich sehr leicht. Ein paar Tropfen werden jedem Kessel beigefügt, danach wird der ganze Inhalt zum Abkühlen in lange Formen gegossen und anschließend in Blöcke geschnitten. Die Überreste werden zu Klumpen wie diesen geformt. Die größeren Blöcke sind dazu gedacht, die Schmieden oder große Öfen anzuheizen. Und die weniger teuren Talkklumpen sind für die übrigen Leute, wer auch immer das Geld hat, sie zu kaufen. Schmierer sind die Leute, welche die Blöcke abfüllen und schneiden und die Klumpen formen. Später laden sie alles auf die Karren, die das Zeug über die Brücke nordwärts zu den Händlern zum Verkauf transportieren.«
Lorinne hörte aufmerksam zu.
»Als ich ein Junge war, erzählte mir meine Mutter eine Geschichte darüber, wie sie von der Brennbarkeit des Safts erfuhren. Die Leute benutzten damals die Früchte des Ölbaums zum Heizen. Aber eines Tages brach ein tollpatschiger Bursche einen Ast von genau dieser Sorte Baum ab, und seine Arbeitskleidung bekam ein paar Tropfen des Safts ab. Auf der Plantage ist Feuer komplett verboten, aber als er nach der Arbeit wegging, wollte er abends in einer Gaststätte essen. Und als er nachher hinausging, passierte er eine Fackel, und seine Kleidung fing Feuer. Es brannte so schnell und heiß, dass er nackt war, als der Gastwirt und die Gäste eimerweise Wasser über ihn schütteten. Natürlich machte die Geschichte die Runde, und ein cleverer Vorarbeiter hatte eine Eingebung, was geschehen sein könnte. Und das ist, warum der Saft nur tropfenweise hinzugefügt wird: damit der Brennstoff nicht zu heiß wird und daher zu schnell verbrennt.«
Lorinne warf ihm ein strahlendes Lächeln zu. »Das war eine faszinierende Geschichte, danke schön. Ich hoffe, Meister Jorell wird mit meiner Wiedergabe zufrieden sein.«
Sie drehte sich um und eilte aus der Küche. Garths Augen folgten ihr, dann wandte er den Kopf. Flyn war aus dem Keller zurückgekehrt und erwartete seine Anweisungen.
»Wir werden in ein paar Minuten gehen, es ist schon zwei durch. Erro, ich habe keine weiteren Aufträge mehr für dich, also kannst du gehen. Bis morgen.« Flyn griff den Korb mit den Geschenken und folgte Garth aus der Küche.
Erro wanderte eine Zeit lang ziellos durch die Straßen von Ashbury. Er passierte die Schieferbrücke und folgte einem schmalen Pfad, als eine Hand aus den Schatten auftauchte und seinen Ellenbogen umfasste.
»Lange nicht gesehen …« Eine schlanke Gestalt wurde in einer Nische sichtbar. Kurzes Haar von tiefroter Farbe umrandete ein schmales Gesicht mit eisblauen Augen und einer spitz zulaufenden Nase.
»Erro ist der Name, den du suchst, Tiborn«, unterbrach Erro ihn.
Der andere Mann schnaubte. »Noch etwas, das sich geändert hat? Zu fein für deinen wahren Namen, genau wie für deine alten Freunde?«
Erro befreite sich. »Nein. Aber ich wurde dazu verurteilt, als Klient zu dienen, und im Haus gibt es einen Gespaltenen mit einem ähnlichen Namen. Er wird nie auf einen anderen Namen hören, also wählte ich diesen. Du weißt, meine Schwester nannte mich Erro.« Die Hand des Rothaarigen senkte sich.
»Ich sah dich heute. Du versuchtest, von der Kristallbläserin zu stehlen. Was ist passiert? Zuletzt warst du ein Lehrling bei den Springern.«
Tiborn drehte seinen Kopf weg. »Das ist lange her. Und es ist ja nicht so, als wärst du da gewesen, um es zu erleben.« Seine Stimme klang bitter. Erro versuchte nicht, sich zu entschuldigen oder Ausflüchte zu machen: Er wartete einfach.
»Melba … du weißt, dass sie seit Jahren krank ist. Mutter war eine Dienstmagd bei diesem reichen Kaufmann, und ihr Verdienst und meiner reichten aus zum Leben. Aber dann wurde sie überfallen und auf den Kopf geschlagen. Sie starb tags darauf. Und mein Meister war nicht allzu verständnisvoll, als ich in die Kasse griff, um Melbas Medizin zu bezahlen. Er schmiss mich hochkant raus, als ich uns beide ernähren musste.« Er presste die Lippen zusammen.
»Aber wie du siehst. Eine Tür schließt sich und anderswo öffnet sich eine andere«, bemerkte Tiborn mit gespielter Heiterkeit. »Ich behielt ja mein Wissen als Springer, und das war sehr nützlich. Cairn wurde auf mich aufmerksam – du hast von ihm gehört?«
Natürlich hatte Erro von Cairn gehört. Er war eine Art Händler, aber die Eingeweihten kannten ihn auch als Hehler und Gauner. Er hatte eine ganze Reihe von Handlangern und sogar ein oder zwei Gespaltene, die natürlich jede Order befolgten, die er ihnen gab. In der Öffentlichkeit gab er den anständigen Geschäftsmann, der seiner hübschen Frau treu ergeben war – der Tochter eines Gastwirts. Und dies war der Mann, für den Tiborn arbeitete?
Der Dieb las die zwiespältigen Gefühle von Erros Gesicht ab und stieß die Luft aus. »Hör damit auf! Es ist nicht so schlimm. Es ist genug, um Melba mitzuernähren und ihre Medizin zu bezahlen. Und ich kann dabei durch ganz Ashbury streifen.«
Erro nickte.
»Und du … ein Klient? Heilige Mutter, für einen dieser versnobten Adligen?«
Erro grinste schief. »Da liegst du richtig. So viel hat sich in so kurzer Zeit verändert. Meine Familie starb, die Verurteilung zum Klienten, ich ganz allein in unserer Kammer … ich konnte dort nicht länger bleiben. An dem Tag, an dem ich mir einen anderen Namen zulegte, zog ich dort weg und ließ meine Geister zurück. Es dauerte eine Weile – und der, dem ich diene, ist besser als der Rest von ihnen. Und ihre Köchin scheint zu denken, ich sei immer noch ein Heranwachsender und müsste gefüttert werden.« Beide grinsten bei dem Gedanken.
»Aber ernsthaft … die Kristallbläserin? Ich bezweifle, dass sie irgendetwas Wertvolles besitzt. Und erzähle mir nicht, du kannst nicht durch Beobachtung erkennen, ob zwei Personen eine Beziehung haben oder nicht.«
Tiborn rieb seinen Hinterkopf. »Mir war langweilig, und ich dachte, ich könnte es zumindest versuchen. Aber du hast recht, sie verhielt sich nicht wie seine Geliebte.« Er zuckte mit den Schultern.
»Was ist mit Melba … wie geht es ihr dieser Tage?«, hakte Erro nach, während sie die Gewerkegasse betraten.
»Sie ist weniger anfällig als früher, aber sie wird niemals als Dienstmagd oder Barfrau arbeiten können. Darmorra kommt oft vorbei, und sie lehrt sie alles übers Nähen, Sticken und Stopfen. Und es macht ihr tatsächlich Spaß, stell dir vor!«
Tiborn hielt abrupt an und glitt dann in den Schatten einer Nische, weg von der Straße. Sekunden später kamen zwei Wächter vorbei, die sich angeregt unterhielten. Erro folgte ihnen mit den Augen, bis sie um die Ecke bogen.
»Ist das dein Leben? Immer auf der Flucht, wenn Wachen auftauchen?«
Tiborn trat neben ihn. »Es ist nicht notwendig. Ich bin nur … vorsichtig. Ich versuche, nicht zu oft gesehen zu werden. Wobei mir einfällt … ich muss los. Ich habe eine Aufgabe zu erledigen, und das Abendessen besorgt sich auch nicht von allein, oder? Wir sehen uns, Erro!«
Damit machte Tiborn auf dem Absatz kehrt und marschierte in Richtung der Barriere. Er drehte sich um, warf einen flüchtigen Blick in alle Richtungen und dann … verschwand er einfach: als eine kleine Welle im Strom, der ihn davontrug, wohin auch immer er gehen wollte.
»Barrierenspringer«, murmelte Erro. Natürlich war Tiborn kein echter Springer, seitdem er entlassen worden war, aber er wusste das anzuwenden, was sie ihn gelehrt hatten. Die Springer, wie sie genannt wurden, waren die niederen Thaumaturgen, deren Aufgabe es war, nach der Barriere zu sehen und ihren Status zu kontrollieren. Außerdem behielten sie die Geschehnisse auf der anderen Seite im Auge, damit kein Missgeschick dazu führen konnte, dass jemand hineinstolperte und Ashbury entdeckte. Und natürlich war dies ein genialer Fluchtweg für Diebe und Einbrecher, da die Springer sich innerhalb der Barriere bewegten, Körper und Geist.
Geistesabwesend wanderte Erro weiter die Straße entlang, wo die Tüftler saßen.
Das Gartenfest
Auf seinem Weg gen Süden in Richtung Shoyn House schlug Garth einen schnellen Schritt an, obwohl er noch Zeit hatte. Aber anstatt den Pfad zu Shoyn House einzuschlagen, ging er daran vorbei und wählte stattdessen einen schmalen Fußweg näher beim Markt. Ein kleines Haus mit einem Hof kam in Sicht, mit einem Vordach, das Teile des Hofes überragte. Darunter waren zwei junge Männer emsig damit beschäftigt, feines Rochenhaar auszubreiten und es mit schweren Kristallkugeln zu beschweren. Zwei junge Frauen, gerade eben erwachsen, begannen, mit weichen Bürsten durch das perlmuttfarbene Haar zu streichen, bis es seidig glänzte. Dann rollten sie die Kugeln zum anderen Ende der Strähnen und kämmten die andere Hälfte.
»Das macht ihr wirklich gut«, ertönte eine Stimme von der Terrasse her. Dort sah ein Mann ihnen zu – oder überwachte er sie? Er war ungefähr Mitte dreißig, und seine dunklen Augen und sonnengebräuntes Gesicht wurden von einem weißen Haarschopf gekrönt. Sein etwas dunklerer Bart aber war ebenfalls mit Weiß durchsetzt.
Die Frauen reagierten nicht auf das Lob, stattdessen gingen sie einfach nach drinnen, um andere Aufgaben zu erledigen. Aber die Männer, die nun das Haar einsammelten, drehten sich um, und Garth sah ihre stumpfen Augen – und ihre Halsbänder.
»Ich vergesse immer, dass sie gespalten sind, wenn ich dich mit ihnen reden höre, Cal«, grüßte er ihn.
Der Mann lächelte breit und stand auf, um ihn mit einem Arm zu umarmen. »Garth … es ist ziemlich lange her. Aber ich wette, du bist nicht hier des Vergnügens meiner fabelhaften Gesellschaft wegen.«
Garth erwiderte das Lächeln und schüttelte leicht den Kopf. Ein Blick in die Runde folgte, um alles in Augenschein zu nehmen und zu sehen, ob sich seit seinem letzten Besuch viel verändert hatte. Nach Lorinnes Geburt hatte er hier eine Menge Zeit verbracht; sein Vater war oft beschäftigt, und er war ein sehr lebhafter sechsjähriger Junge. Rückblickend war er sich sicher, dass jedermann erleichtert war, als er eine Vorliebe gezeigt hatte für die Gesellschaft von Cal: dem jüngeren Bruder seiner Mutter, dem schwarzen Schaf ihrer Familie. Anstatt in seines Vaters Fußstapfen als Händler zu treten, hatte Cal beschlossen, ein Weber zu werden. Er besaß mehrere Webstühle und stellte exquisite Umhänge und Mäntel aus Rochenhaar her und andere delikat gewebte Kleidung. Garth wusste, dass er irgendwie Metrya bei seiner Arbeit einsetzte und dass die Waren keines anderen Webers mit seinen vergleichbar waren.
»Aber du kennst meine Gründe.«
Garth kehrte in die Gegenwart zurück, sobald er Cals Stimme hörte. »Natürlich tue ich das.«
Cals Arbeiter waren Gespaltene, junge Männer und Frauen, die Strafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren zu verbüßen hatten. Alle kamen als ungelernte Arbeiter zu ihm, Menschen, die keinen oder nur wenig Nutzen für das Haus hatten, dem zu dienen sie verurteilt worden waren. Cal hatte Lord Holth mit einem Vorschlag angesprochen, auf den der Adlige dankbar eingegangen war: Er hatte angeboten, die Verantwortung für die Gespaltenen zu übernehmen im Gegenzug für ihre Arbeitskraft. Er ernährte sie und kümmerte sich um sie, wie es Haus Holth hätte tun müssen. Der Lord hatte besagtes Arrangement offenbar erneuert, da Cal jetzt vier Arbeiter beschäftigte. Es brauchte Geduld und viel Erfahrung, aber er hatte sie als Helfer ausgebildet. Er zahlte sogar eine Art von Lohn an ihre Familien. Und wenn ihre Strafen verbüßt waren, konnten sie zu ihrem früheren Leben zurückkehren mit zumindest einer nützlichen Fähigkeit in ihrem Repertoire – oder sie konnten in seinen Diensten bleiben.
»Meister Cal, wir haben …« Eine angenehme Stimme kündigte eine weitere Person an. Eine junge Frau mit feinen Gesichtszügen und seidig braunem Haar brach ab, sowie sie erkannte, dass jemand anderes anwesend war. Cal erhob sich und begrüßte sie mit einer Berührung ihrer Schulter. »Du kennst meinen Neffen Garth, Phera?«
Sie nickte und kehrte ins Innere des Hauses zurück.
»Sie ist sehr schüchtern.«
Garth sagte dazu nichts: Er wusste aus Erfahrung, dass viele Frauen Cal anziehend fanden. Es schien, dass Phera sich seinem Charme ebenfalls nicht entziehen konnte.
»Ich wollte dich nach deiner Meinung zu Lord Shoyn fragen. Er hat mich diesen Nachmittag zu seinem Fest eingeladen, aber … ich kenne ihn nicht wirklich.«
Cal lehnte sich gegen einen der hölzernen Balken, die Träger der Überdachung. »Lord Shoyn. Nun, lass sehen. Er trat seinen Titel nach seines Vaters Tod an … das muss ungefähr fünf Jahre her sein. Er brauchte seine Zeit, um die Lage zu sondieren und vermied es, hohe Wellen zu schlagen. Und er hat sich Zeit genommen, sich niederzulassen: Er hat erst vor zwei Jahren geheiratet. Natürlich hat er in deinem Bruder schon einen Erben, also bestand keine Veranlassung zur Eile, aber trotzdem. Wo war ich? Richtig, er heiratete. Die einzige Tochter eines früheren Richters, der zuvor ein Assistent des Konzils war. Ein hübsches Mädchen, ziemlich still, hört auf den Namen Kessa.«
Cal beugte sich vor und zog einen Flakon heraus, aus dem er einen Schluck nahm. »Er ist ein ziemlicher Langweiler, wenn ich ehrlich bin – viel weniger unterhaltsam als sein Vater. Der alte Lord hatte einen durchtriebenen Sinn für Humor und ließ nichts anbrennen. Sein Sohn kümmert sich um seine Geschäfte. Und er liebt es, alle Arten von Leuten zu seinen Festen einzuladen. Er ist ein freigiebiger Gönner der Künste, aller Arten von Künsten: Maler, Bildhauer, Spielleute, Barden, wirklich alle. Er liebt es besonders, neue Talente ausfindig zu machen und sie einer kleinen Runde auserwählter Gäste vorzustellen. Ich würde sagen, er liebt es, in aller Munde zu sein.«
Garth ließ sich auf den Stufen der Terrasse nieder. »Klingt ziemlich oberflächlich«, kommentierte er.
Cals Augen verengten sich. »Ich würde mir da nicht so sicher sein. Ein oder zwei Mal fiel mir ein Unterton in seiner Stimme auf, der mich zweifeln ließ, ob unser guter Lord so oberflächlich ist, wie er sich gibt. Aber ich habe niemals irgendetwas beobachtet, welches das Gegenteil beweisen würde …« Er hing seinen Worten für einen Moment nach und verschränkte dann seine Arme.
»Weißt du, was? Ich würde gern länger darüber reden, aber wenn ich mich nicht irre, wird das Fest in Kürze beginnen. Komm ein andermal vorbei, um mir davon zu erzählen, ja?«
Garth horchte auf und nun, da er nicht mehr abgelenkt war, konnte er Gesprächsfetzen und das klirrende Geräusch von Gläsern hören. »Du hast recht, Cal. Ich komme bald mal vorbei.«
Tiborns Besuch hatte Erro mehr aus dem Gleichgewicht gebracht, als er sich anfangs eingestehen wollte. Er hatte Erinnerungen geweckt, die er lange verdrängt hatte. Erinnerungen an die Vergangenheit, an seine Familie – und an sein altes Selbst.
Damals hatte er viel Zeit mit seinen Freunden verbracht, Teps und Tiborn. Er hatte auf seine kleine Schwester Nolarra achtgegeben und die Sorge seines Freundes Tiborn geteilt, wenn dessen Schwester Melba wieder krank geworden war. Und abgesehen von Nolarra hatte ihn niemand damals Erro genannt – das war ihr Spitzname für ihn gewesen.
Von Geburt an war er Flyn gerufen worden, und der war er geblieben … bis zu jenem verhängnisvollen Tag. Jenem Tag direkt nach seiner Verurteilung, als er zum ersten Mal in Haus Crafton vorstellig geworden und nach seinem Namen gefragt worden war. Und in jenem Moment hatte er sich entschieden, einen Schlussstrich zu ziehen. In der Kanalisation hatte niemanden interessiert, wie er hieß. Und entgegen dem, was er Tiborn erzählt hatte, war Flyn nicht der Grund für den Namenswechsel gewesen. Immerhin hatte der Gespaltene damals noch nicht existiert …
Der Vorfall, der zu Flyns Entstehung geführt hatte, hatte sich erst zwei Wochen später abgespielt. Als Erro eines Abends einem Gefangenen in Begleitung seiner Wächter und eines Bundbrechers begegnet war und der Verurteilte zu fliehen versucht hatte. Was genau sich währenddessen tatsächlich zugetragen hatte, hatte Erro erst im Nachhinein erfahren oder verstanden: dass Erro und der Gefangene gleichermaßen, wenn auch unabsichtlich, gespalten worden waren.
Die Wächter wie auch der Bundbrecher waren tot, und Erro hatte sich mit seinem eigenen Körper konfrontiert gesehen, sich quasi selbst gegenübergestanden. Erst im Lauf der Ermittlungen mit Garth Crafton hatte Erro mehr erfahren: Cypris Bruder Cydon war Zeuge von Großmeister Tarex’ Experimenten geworden und selbst einem solchen zum Opfer gefallen. Hierdurch war er zum Wandler geworden; dem Wandler, der damals von den Wachen eskortiert wurde. Seine Seele war jahrelang in seinem roten Kristall von Quine behütet und letztendlich in dem Edelstein begraben worden. Während des Fluchtversuchs war durch das panische Eingreifen des Bundbrechers aus dem Wandler ein Gespaltener geworden – und auch Erro war in Mitleidenschaft gezogen worden. Nur so war es möglich, dass der größte Teil von Erros Seele in Cydons Wandlerkörper transferiert worden war – wodurch Erros eigene leibliche Hülle zu einem Gespaltenen geworden war. Jenem Gespaltenen, den er unter dem Namen Flyn in Haus Crafton eingeschleust hatte.
Im Nachhinein war sich Erro nicht sicher, ob er – ob sie – damals Glück gehabt hatten oder ob Varesh Crafton heimlich nachgeholfen hatte, damit sie in seiner Schuld standen. Nein, besser: Ob der Wandler, der irgendwann nach Lorinnes Geburt die Identität von Lord Varesh Crafton angenommen hatte, heimlich nachgeholfen hatte: durch die Akzeptanz eines Gespaltenen, für den ja nirgendwo Akten oder ein Urteil existiert hatten. Die Tatsache, dass niemand sie bei der Beseitigung der Leichen gesehen oder diese später gefunden hatte … der einzige Beweis für den Vorfall war der grüne Kristall in Erros Unterkunft. Der giftgrüne Kristall, in dem das Bewusstsein des Wandlers weiterhin gefangen war und sicherlich tobte …
Er erhob sich und schritt zu dem Pfad, der nach Shoyn House führte. Nach nur wenigen Metern verbreiterte sich der Weg, flankiert von üppigen grünen Wiesen. Kleine Gruppen von Leuten standen auf beiden Seiten, Diener servierten Gläser und Becher. In einer Ecke bereitete eine Gruppe von Musikern ihre Instrumente vor. Und im Mittelpunkt war Lord Shoyn, der sich emsig von einem zum nächsten begab, Dienern Anweisungen erteilte und Gäste begrüßte. Als seine Augen auf Garth fielen, zögerte er nur einen Moment lang, bevor er ihn herzlich willkommen hieß. Garth war sich ziemlich sicher, dass er ihn zuerst nicht erkannt hatte.
»Mein guter Master Crafton, Ihr erinnert Euch natürlich an meine geliebte Ehefrau Kessa.« Hinter ihm lag ein kleiner Hügel, der von einem gewaltigen Walnussbaum überschattet wurde. Und unter besagtem Baum hatte man einen breiten Quilt oder ein Laken auf dem Boden ausgebreitet und mit Kissen und leichteren Decken übersät. Lady Shoyn saß hier, ihre Tasse neben sich auf einer hölzernen Bank, und neigte ihren Kopf, um Garth zu begrüßen. Der junge Erbe lächelte und überreichte sein Gastgeschenk, wodurch seine mangelnde Konversation nicht auffiel.
Lord Shoyn machte ein großes Aufhebens um den Honig und die Beeren und kostete letztere, bevor er sich seiner Umstände wieder vergegenwärtigte und den Korb seiner Frau reichte. Lady Kessa wählte eine kleine Kostprobe für sich, aber ihr Mangel an Begeisterung zeigte klar, dass sie nur aus Höflichkeit handelte.
Weitere Gäste trafen ein, und Garth nahm die Gelegenheit wahr, um seine Gastgeber zu verlassen und sich ein wenig unter die Gäste zu mischen, mit einem Glas in der Hand. Die Musik war nicht laut genug, um die Gespräche zu übertönen. Aber sie war doch ausreichend dafür, dass man nur die Worte seines eigenen Gesprächspartners hören konnte. Es schien ein idealer Weg zu sein, private Unterhaltungen zu führen oder heikle Informationen auszutauschen – oder einfach über jemanden in der Nähe zu tratschen, ohne dass der etwas davon mitbekam.
Schließlich verstummte die Musik, und Lord Shoyn deutete den Dienern an, auf den Tischen an einer Seite das erwartete Essen aufzutragen. Garths Augen wanderten umher, und er bemerkte einen schwarzhaarigen Mann in einem dunkelblauen Wams, der sich vor Lady Shoyn verbeugte, bevor er ihr einen kleinen Korb voller Kekse reichte. Es schien Garth sonderbar, dass er sie nicht dem Gastgeber übergab. Aber dann rief der Mann Lord Shoyn einige Grußworte zu, und Garth erkannte seinen älteren Halbbruder Tain – Lord Shoyns Cousin und Erben. Der Lord grüßte zurück und bat dann seine Gäste, sich von der rechten Wiese zu entfernen.
Was nun folgte, waren verschiedene Arten von Unterhaltungsformen: Zwei Barden rezitierten eine lustige Szene: Es war absurd und amüsant zugleich, und von allen Seiten klang Gelächter über die Wiesen. Dann folgte eine Gruppe von Tänzern, zu deren Vorstellung auch Jonglieren und akrobatische Einlagen gehörten.
Und schließlich kündigte Lord Shoyn den finalen Akt an: Eine Gruppe von Künstlern trat vor, sie trugen mit größter Vorsicht gewebte Körbe und setzten sie behutsam ab. Dann sorgten sie dafür, dass flache Schüsseln mit etwas Saft darin überall verteilt wurden. Anschließend wurden die Körbe geöffnet, und innerhalb von Minuten erhob sich eine Vielzahl von Schmetterlingen in die Lüfte. Farbenfrohe Falter, die ein wortgewandter Poet mit fliegenden Juwelen und Edelsteinen verglich, mit Flügeln von samtigem Blau, tiefem Schwarz, cremigem Gelb und intensivem Rot.
Das Spektakel war überwältigend, vor allem, als die Falter urplötzlich aufhörten, ziellos herumzufliegen, und stattdessen bei den Schalen mit Saft landeten, bevor sie sich wieder erhoben. Sie formten aufeinander abgestimmte Formen in der Luft: Kreise, Dreiecke, und schließlich, als Lord Shoyn in die Mitte trat, war er mit der Sonne vergleichbar, als die Schmetterlinge von ihm ausgehende Linien bildeten, die an Sonnenstrahlen erinnerten.
Ein großer Erfolg, die Gäste applaudierten frenetisch. Der Lord verbeugte sich, und Garth hielt ein Schnauben gerade noch zurück: Er benahm sich, als sei all dies auf seine eigenen Anstrengungen zurückzuführen. Um seine Reaktion zu verbergen, wanderte er den Hügel hinauf und bemerkte, dass Lady Shoyn vor einer Weile mit Tain gegangen war. Ein Krümel auf der Bank verschwand in seinem Mund, und Garth leckte sich die Lippen – er hatte eine Vorliebe für Ingwer.
Lord Shoyn stolzierte den Pfad entlang, winkte einem Diener und orderte ein Glas Pflaumensaft für sich selbst. Er schien sehr von sich angetan und begann eine angeregte Unterhaltung mit einem angesagten Poeten. Garth zog sich zu den Tischen voller Nahrung und Getränke zurück und war zufrieden, den Gesprächen einiger Gäste zu lauschen.
Ein hochgewachsener Mann erhob sein Glas, als er Lord Shoyn erblickte, und zog damit die Aufmerksamkeit aller auf sich. »Ein Hoch auf unseren großzügigen Gastgeber und auf einen höchst erbaulichen Nachmittag voll delikatem Essen und außerordentlich talentierter Künstler, die uns alle aufs Angenehmste unterhalten haben. Ein Hoch auf Lord Shoyn!«
Nicht lange danach gingen die ersten Gäste, Garth nicht. Dennoch war er erpicht darauf, nach Hause zu kommen, weshalb er nicht