4,99 €
Sie hat sich vorgenommen, nie zu heiraten. Bis sie auf ihn trifft ...
England, Anfang des 19. Jahrhunderts. Evie Cole ist sich nicht zu schade, ab und zu an Türen zu lauschen. Schließlich ist es immer von Vorteil, sich auf dem Laufenden zu halten. Daher weiß sie, dass ihre Verwandten vorhaben, sie endlich unter die Haube zu bringen, notfalls auch mit ungewöhnlichen Mitteln. Als Evie kurz darauf einen Drohbrief erhält, ist sie daher nicht wirklich besorgt, entspricht dies doch exakt dem Plan, den sie belauscht hat. Um ihre Familie nicht vor den Kopf zu stoßen, lässt sie sich darauf ein, von James McAlistair in »Sicherheit« gebracht zu werden - auch wenn sie keineswegs die Absicht hat, zu heiraten.
Als ihre Kutsche ein Rad verliert, findet sich Evie allein mit dem ruppigen und wortkargen McAlistair auf einem abenteuerlichen Ritt durch die Wildnis wieder. Langsam dämmert ihr, dass sie wohl einem Irrtum aufgesessen ist. Nicht mal ihre exzentrische Familie würde sie einer so skandalösen Situation aussetzen, nur um sie zur Heirat zu bewegen. Was bedeutet, dass die Gefahr real ist - ebenso real wie das Verlangen, das McAlistairs Nähe in ihr auslöst ...
Prickelnde Leidenschaft und Romantik pur - die Providence-Reihe von Alissa Johnson:
Band 1: Wie es dem Glück beliebt
Band 2: Ein Erzfeind zum Verlieben
Band 3: Das Versprechen der Liebe
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 470
Veröffentlichungsjahr: 2024
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Hat es Dir gefallen?
Impressum
Liebe Leserin, lieber Leser,
herzlichen Dank, dass du dich für ein Buch von beHEARTBEAT entschieden hast. Die Bücher in unserem Programm haben wir mit viel Liebe ausgewählt und mit Leidenschaft lektoriert. Denn wir möchten, dass du bei jedem beHEARTBEAT-Buch dieses unbeschreibliche Herzklopfen verspürst.
Wir freuen uns, wenn du Teil der beHEARTBEAT-Community werden möchtest und deine Liebe fürs Lesen mit uns und anderen Leserinnen und Lesern teilst. Du findest uns unter be-heartbeat.de oder auf Instagram und Facebook.
Du möchtest nie wieder neue Bücher aus unserem Programm, Gewinnspiele und Preis-Aktionen verpassen? Dann melde dich für unseren kostenlosen Newsletter an:
be-heartbeat.de/newsletter
Viel Freude beim Lesen und Verlieben!
Dein beHEARTBEAT-Team
Melde dich hier für unseren Newsletter an:
England, Anfang des 19. Jahrhunderts. Evie Cole ist sich nicht zu schade, ab und zu an Türen zu lauschen. Schließlich ist es immer von Vorteil, sich auf dem Laufenden zu halten. Daher weiß sie, dass ihre Verwandten vorhaben, sie endlich unter die Haube zu bringen, notfalls auch mit ungewöhnlichen Mitteln. Als Evie kurz darauf einen Drohbrief erhält, ist sie daher nicht wirklich besorgt, entspricht dies doch exakt dem Plan, den sie belauscht hat. Um ihre Familie nicht vor den Kopf zu stoßen, lässt sie sich darauf ein, von James McAlistair in »Sicherheit« gebracht zu werden – auch wenn sie keineswegs die Absicht hat, zu heiraten.
Als ihre Kutsche ein Rad verliert, findet sich Evie allein mit dem ruppigen und wortkargen McAlistair auf einem abenteuerlichen Ritt durch die Wildnis wieder. Langsam dämmert ihr, dass sie wohl einem Irrtum aufgesessen ist. Nicht mal ihre exzentrische Familie würde sie einer so skandalösen Situation aussetzen, nur um sie zur Heirat zu bewegen. Was bedeutet, dass die Gefahr real ist – ebenso real wie das Verlangen, das McAlistairs Nähe in ihr auslöst …
ALISSA JOHNSON
Das Versprechen der Liebe
Aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Link
Für Jo, Sondi und Tracey, weil ihr immer an meiner Seite steht, selbst wenn ihr nicht ganz sicher seid, wo ich bin.
Miss Evie Cole war schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass die Unwissenden entgegen allgemeiner Auffassung nicht selig waren.
Denn schließlich gab es viele unglückliche Narren auf der Welt.
Außerdem war sie schließlich eine vollkommen glückliche junge Frau, und niemand, der sie kannte, hätte sie jemals der Unwissenheit bezichtigt. Sie wusste immer Bescheid.
Darauf war sie stets bedacht.
Auch jetzt, als sie vor den dicken Wurzelholztüren der Bibliothek von Haldon Hall kauerte, das Gewicht auf ihr gutes Bein verlagert, und mit einem dunkelbraunen Auge durch das Schlüsselloch spähte. Sie hätte wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen haben müssen, weil sie ein privates Gespräch belauschte. Aber da sie festgestellt hatte, dass sie der Gegenstand dieses Gespräches war, verspürte sie keine Schuld, sondern Faszination, Erheiterung – und nicht wenig Ärger darüber, dass sie zu spät gekommen war, um auch am Anfang der Unterhaltung teilzuhaben.
Aber auch so verstand sie gut genug, dass ihre Tante, die verwitwete Lady Thurston, und zwei Freunde der Familie, Mr William Fletcher und Mrs Mary Summers, auf der anderen Seite dieser schönen alten Türen saßen und darüber sprachen, wie man die starrsinnige Evie Cole am besten unter die Haube bringen könne.
Es war fast so erheiternd wie beleidigend. Fast.
Mr Fletcher, der auf einem kleinen Sofa in der Mitte des Raumes saß, beugte sich vor und sprach mit einiger Erregung. »Welchen besseren Weg gibt es, das Herz einer Dame zu gewinnen, als sie aus einer Gefahr zu retten? Ich kann nächste Woche in London einen Drohbrief aufsetzen und an Evie schicken lassen, und einen Tag später kann ihr junger Mann hier sein, um sie zu beschützen. Es ist schnell, einfach und effektiv.«
Sichtlich weder von Mr Fletchers Plan noch von seiner Begeisterung beeindruckt, gab Lady Thurston einen wohlbemessenen Schluck Milch in eine Tasse Tee und reichte sie gelassen Mrs Summers. »Das wird nicht funktionieren, William.«
Der untersetzte Mann lehnte sich in die Kissen zurück. »Haben Sie einen besseren Plan?«
»Der Plan ist, wiewohl ich ihn nicht billige, nicht das Problem.« Sie schenkte sich selbst ein. »Das Problem ist das Ziel selbst – es ist einfach nicht zu erreichen.«
»Man kann niemanden zwingen, sich zu verlieben«, bemerkte Mrs Summers und straffte die spindeldürren Schultern.
»Am allerwenigsten diese zwei«, fügte Lady Thurston hinzu. »Ich bin mir keinesfalls sicher, dass sie gut zusammenpassen. Und außerdem hat Evie sich kategorisch geweigert zu heiraten.«
»Das kann ich nicht akzeptieren.« Mr Fletcher fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. »Ich habe einem Mann auf dem Totenbett ein Versprechen gegeben.«
Mrs Summers warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Du wurdest dazu überlistet, ein Versprechen einem Mann zu geben, der – wenn er noch leben würde – der Erste wäre, dich dafür zu tadeln, dass du diese Kuppelei so ernst nimmst. Der verstorbene Herzog von Rockeforte war trotz seiner Neigung zu Scherzen ein vernünftiger Mann. Er hätte wohl kaum damit gerechnet, dass es dir gelingen würde, fünf Kinder zu verheiraten.«
»Als es darum ging, deine Sophie zu verkuppeln, warst du nicht so abweisend. Oder Sie«, antwortete er und drehte sich zu Lady Thurston um, »als es um Whit und Mirabelle ging.«
»Ja, aber das waren Sophie, Whit und Mirabelle«, erwiderte Lady Thurston ruhig. »Nicht Evie.«
»Wie dem auch sei, das Versprechen wurde gegeben, und ich habe vor, es zu halten.« Mr Fletcher hielt das folgende Schweigen geschlagene dreißig Sekunden aus – in Evies Augen eine beeindruckende Zurschaustellung von Standhaftigkeit. Sie war selbst schon diesem vielsagenden Schweigen der geschätzten Lady Thurston ausgesetzt gewesen. Es war einschüchternd.
»Ich habe die Absicht, es zumindest zu versuchen«, fügte Mr Fletcher schließlich hinzu.
Lady Thurston zuckte geziert mit den Schultern. »Wenn Sie das unbedingt müssen.«
»Durchaus. Ich werde beginnen, indem …«
Evie erfuhr nie, wie Mr Fletcher genau zu beginnen beabsichtigte, denn Gelächter und sich nähernde Schritte machten ihren sofortigen Rückzug in den kleinen Salon auf der anderen Seite des Flurs notwendig. Die hereinkommenden Dienstboten würden sie zwar vermutlich nicht verpetzen, aber es war besser, kein Risiko einzugehen.
Aber das machte nichts. Sie hatte die wichtigsten Teile des Gesprächs gehört oder zumindest so viel, um ziemlich sicher zu sein, dass sie wieder einmal bestens Bescheid wusste.
Während Evie durch die Seitentür des Salons schlüpfte, hörten Lady Thurston und Mrs Summers geduldig zu, wie William noch einmal seinen Plan darlegte.
Lady Thurston strich die blassgrüne Seide ihres Kleides glatt. Sie war eine zierliche Frau mit leiser Stimme und runden, rosigen Wangen, und jene, die sie nicht gut kannten, hielten sie manchmal für ein sanftes Wesen, auf das man vielleicht ein wenig aufpassen musste.
Ein irriger Eindruck, der stets von kurzer Dauer war.
»Ihr Plan ist durchaus … detailliert«, räumte sie ein, als William fertig war. »Bedauerlicherweise ist er auch schlecht erdacht. So etwas würde Evie nur verschrecken. Ich werde es nicht zulassen. Und ich werde nicht einwilligen, ihre Arbeit mit misshandelten Frauen als Grund ihrer vorgeblichen Bedrohung zu verwenden. Es kommt der Wahrheit zu nahe.«
»Aber …«
»Sie hat ganz recht«, warf Mrs Summers ein. »Bei ihrer Arbeit ist Evie sehr realer Gefahr ausgesetzt. Eine erfundene Drohung hinzuzufügen wäre gewissenlos.«
William erbleichte. »Gewissenlos erscheint mir ein wenig …«
»Habe ich Ihnen erzählt, was Mrs Kirkland im vergangenen Sommer zugestoßen ist?«, fragte Lady Thurston und wandte sich an Mrs Summers.
Mrs Summers nickte bekümmert. »Bloßgestellt von der Frau, der sie helfen wollte.«
»Und am nächsten Tag wurde ihr Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Sie hatte Glück, dass sie entkommen ist.«
Mrs Summers nippte an ihrem Tee. »Die Behörden gehen davon aus, dass es ein Unfall war.«
Lady Thurston rümpfte vornehm die Nase. »Schändlich.«
»Das ist höchst bedauerlich.« William versuchte es noch einmal. »Aber ich habe kaum die Absicht, Brände zu legen oder …«
Mrs Summers schüttelte den Kopf. »Es nützt nichts, William. Nicht nur geht Ihr Plan zu weit, auch die Strategie selbst ist mangelhaft. Damit die List funktioniert, würde Evie an die Bedrohung glauben müssen. Wenn sie an die Bedrohung glaubt, wird sie zu beschäftigt sein, um die Aufmerksamkeiten eines jungen Mannes zu bemerken. Keine vernünftige junge Frau würde an Liebe denken, wenn ihr Leben in Gefahr ist.«
»Sophie schon«, stellte er schnell fest, ziemlich überrascht, dass es ihm gelungen war, ein Wort einzuwerfen.
Mrs Summers schürzte nachdenklich die Lippen. »Das stimmt, aber Sophie ist, sosehr ich sie auch liebe, nicht immer die Vernünftigste.«
Lady Thurston nickte in freundlicher Zustimmung.
William runzelte die Stirn. »Sind Sie sich absolut sicher, dass Evie eine vernünftige junge Frau ist?«
»Ja«, antworteten beide Frauen wie aus einem Mund.
»Verdammt.« Er runzelte noch etwas länger die Stirn, bevor er seufzte und schließlich nach seiner Tasse griff. »Nun, ich halte es immer noch für eine kluge Idee.«
Mrs Summers lächelte ihren alten Freund voller Zuneigung an, wenn auch ein wenig herablassend. »Außerordentlich klug. Aber du wirst dir etwas anderes einfallen lassen müssen.«
Zwei Wochen später
Es war durchaus möglich, dass Mr James McAlistair vor zehn Jahren laut über die Vorstellung gelacht hätte, er könne sich eines Tages verlieben. Leichter vorstellbar war hingegen, dass er lediglich einen Mundwinkel mit jenem gelassenen und unergründlichen Ausdruck hochgezogen hätte, wie ihn nur ein tiefsinniger Dichter oder ein begabter Attentäter zustande bringt.
Jeder, der ihn nun sah – wie er auf dem Gelände von Haldon Hall stand, die dunklen Augen undurchdringlich und die hohe Gestalt schlank und muskulös wie ein Panther –, hätte ihn wohl kaum mit Ersterem verwechselt.
Bedauerlicherweise.
Denn ungeachtet der Frage, wie seine Reaktion vor zehn Jahren ausgefallen wäre oder auch nicht, hatte McAlistair sich tatsächlich verliebt. Und ein verliebter Mann konnte die Gaben eines Dichters immer gut gebrauchen.
Vor allem, wenn die Sünden eines Mörders auf ihm lasteten. Während er jetzt über diese Sünden nachsann, ließ er die Schultern in einer seltenen, wenn auch kaum wahrnehmbaren Zurschaustellung von Nervosität kreisen.
Er sollte nicht hier sein.
Doch wenn Evie Cole in Gefahr war, konnte er unmöglich irgendwo anders sein. Er ließ den Blick über den Rasen schweifen und steckte im Geist seinen Weg ab, bevor er einen Schritt tat. »Handle in Eile, bereue mit Weile«, hatte seine liebe, verstorbene und zweifellos oft reuige Mutter gern gesagt. Ein interessanter Ratschlag von einer Frau, die sechs Bastarde zur Welt gebracht hatte.
Er bewegte sich lautlos und hielt sich an die langen Schatten im abendlichen Licht. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, die er mehr aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit ergriff. Er hatte das Grundstück und den Wald in unmittelbarer Nähe des Hauses bereits auf Anzeichen eines Eindringlings untersucht. Alles war so, wie es sein sollte. Und er wusste bis zu dem kleinsten Zweig genau, wie es sein sollte. Dieser Wald war schließlich seit Jahren sein bescheidenes Heim. Lange Jahre der Entbehrungen und der Einsamkeit, während er versuchte, für die schwere Last seiner Erinnerungen zu büßen oder sie vielleicht auch einfach zu vergessen.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre der Wald immer noch sein Zuhause, aber William Fletcher, sein einstiger Arbeitgeber und gegenwärtiger Stachel im Fleisch, hatte ihn im Laufe der letzten paar Monate immer weiter in die Welt zurückgetrieben.
Irgendwann hatte McAlistair kapituliert und die vergessene alte Jagdhütte verlassen, die er bei schlechtem Wetter bewohnt hatte, und eine ebenso alte, aber etwas weniger abgelegene Hütte an der Grundstücksgrenze von Haldon gekauft. Er benutzte das Geld, das er beim Kriegsministerium verdient hatte. Geld, von dem er gedacht hatte, er würde es niemals anrühren. Er hatte einen Schrank voller Kleider, wie sie ein Gentleman trug. Er besaß eine schöne, graue Stute, die er gerade in die Haldonschen Ställe geschmuggelt hatte. Aber weiter wollte er sich nicht in das Reich der Gesellschaft hineinwagen. Er wollte allein gelassen werden, wollte so leben, wie es ihm gefiel. Und das würde er auch … sobald diese Angelegenheit mit Evie geklärt war.
Um die ärgerliche Sitte zu vermeiden, angemeldet zu werden, und um die lästige Formalität des Anklopfens zu umgehen, betrat er Haldon Hall durch eine selten benutzte Nebentür. Er musste das Schloss aufbrechen, aber das war ein unwichtiges Detail, mit dem er schon gerechnet hatte. Whittacker Cole, Graf von Thurston, war kein Narr und ging keine Risiken ein, wenn es um die Sicherheit seiner Familie ging.
Sobald McAlistair im Haus war, warf er einen kurzen Blick zur Decke, durch die Whits gedämpfte Stimme aus dem Arbeitszimmer herunterdrang. Die Stimme wurde abwechselnd leiser und lauter, während McAlistair durch die gewundenen Flure und Treppenhäuser von Haldon ging und hier und da einen Umweg nahm, um Dienstboten zu entgehen. Er bewegte sich lautlos – diese Fähigkeit war in seiner früheren Laufbahn von entscheidender Bedeutung gewesen.
Er erreichte die offenen Türen des Arbeitszimmers, ohne entdeckt worden zu sein – worüber er später mit Whit reden würde –, schlüpfte leise hinein und positionierte sich im dunklen Schatten eines Bücherregals.
Es fand gerade eine Auseinandersetzung statt. Whit und Lady Thurston wollten Evie auf Haldon behalten, während William Fletcher, Mrs Summers und Evie selbst der Meinung waren, dass eine Reise an die Küste in ihrem besten Interesse sei. McAlistair schwieg, blieb im Schatten verborgen und beobachtete.
Er war ans Beobachten und Warten gewohnt. Und in den letzten Jahren auch an das Begehren.
Nicht gewohnt hingegen war er es, in einem Haus zu sein, eingepfercht zwischen Mauern und umgeben von Lärm und Bewegung. Das Stimmengewirr, das Schlurfen von Füßen und das Knarren und Knallen eines lebendigen Haushalts zerrten an seinen Nerven.
Aber das war nichts, gar nichts, im Vergleich zu der Folter, Evie Cole so nahe zu sein. Sie war keine drei Schritte entfernt und wandte ihm den Rücken zu, und er konnte jede einzelne weiche, braune Locke auf ihrem Kopf sehen, den sauberen Duft ihrer Seife riechen und jeden Atemzug hören, den sie tat. Er erinnerte sich recht deutlich daran, wie es war, dieses Haar mit den Fingerspitzen zu liebkosen und diesen Atem an seinem Mund zu spüren.
Er erinnerte sich lebhaft – und sehr viel häufiger, als angenehm war –, dass sie nach Zitronen und Pfefferminze geschmeckt hatte.
Am liebsten hätte er wieder die Schultern kreisen lassen.
Er sollte wirklich nicht hier sein.
Schließlich riss er den Blick von Evie los und betrachtete den Rest der Gruppe. Die Auseinandersetzung schien sich in einem Patt zu befinden, und keine der beiden Seiten war in der Lage, den Sieg für sich zu beanspruchen, oder bereit, eine Niederlage zu akzeptieren. Die Sinnlosigkeit des Ganzen ärgerte ihn und stellte seine bereits angespannte Geduld auf eine harte Probe. Sie verschwendeten Zeit. Es juckte ihn in den Fingern, Evie zu packen, sie sich über die Schulter zu werfen und in den Wald zu tragen – in seinen Wald, wo er jeden Pfad kannte, jedes Geräusch und jedes Versteck. In seinen Wald, wo er sie beschützen konnte … vor allem, außer vor sich selbst.
Unwillkürlich wanderte sein Blick zurück zu Evie und die gerade Linie ihres Rückens empor, über die sahnige Haut ihrer schmalen Schultern, die zarte Wölbung ihres Halses. Sie war ein so kleines Ding, reichte ihm kaum bis zu den Schultern. Zu klein, um sich gegen die Gewalt eines Wahnsinnigen zu verteidigen. Und sicher vernünftig genug, um das auch zu begreifen.
Verdammt, sie musste schreckliche Angst haben.
Evie amüsierte sich blendend.
Sie betrachtete das Bild, das sich ihr bot, und kam zu dem Schluss, dass es fraglos die absurdeste List war, die sie je erlebt hatte. Was für ein Haufen glänzender Lügner sie doch alle waren, dachte sie voller Zuneigung. Wer hätte gedacht, dass ihre Freunde und Verwandten eine solche Neigung zur Theatralik hatten?
Und wer hätte gedacht, dass sie darin so gut sein würden?
Lady Thurston war buchstäblich bleich. Bleich. Wie brachte man so etwas zustande? Mrs Summers saß schmallippig und kerzengerade da, die Hände im Schoß verkrampft. Whit, der vor seinem Schreibtisch auf und ab ging, sah aus, als wollte er sich die Haare raufen. Und Mr Fletcher gab mit seiner gefurchten Stirn und dem gelösten Halstuch das perfekte Bild des besorgten Freundes der Familie ab.
Sie selbst war natürlich jeder Zoll der tapfere kleine Soldat und hielt trotz ihrer schrecklich verzweifelten Lage das Kinn erhoben und die Schultern durchgedrückt. Als sie den Drohbrief erhalten hatte, hatte sie kurz überlegt, etwas noch Dramatischeres zu tun – einen Anflug von Panik vorzutäuschen, vielleicht sogar eine Ohnmacht –, aber die Vorstellung, sich länger als eine oder zwei Minuten so aufzuführen, war wenig reizvoll. Außerdem war sie noch nie in ihrem Leben ohnmächtig geworden und wusste nicht genau, wie man es anging. Solche Dinge sollte man vorher ein- oder zweimal im stillen Kämmerlein üben.
Sie hatte sich stattdessen für Stoizismus entschieden und dachte – auf die Gefahr hin, selbstgefällig zu werden –, dass sie ihre Sache doch recht ordentlich machte. Sie alle spielten ihre Rollen gut – ihre Darbietungen verdienten stehenden Applaus und Zugaben.
Sie sollten zum Theater gehen, jeder Einzelne von ihnen.
Anfangs war sie zugegebenermaßen ein wenig überrascht gewesen, als Mr Fletcher vorgeschlagen hatte, sie solle mit einer kleinen Gruppe bewaffneter Wachen an die Küste fahren. Doch in der Überzeugung, dass sie unmöglich vorhaben konnten, sie an einen Ort zu schicken, der sich so gänzlich außerhalb ihrer Reichweite befand, entschied sie sich dafür, der Reise zuzustimmen. Aus keinem anderen Grund, als ein bisschen Ärger zu machen. Sie mochte zwar bereit sein, mitzuspielen, um dieser dummen Kuppelei ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, aber deswegen brauchte man es diesen Intriganten, die sich in alles einmischen mussten, ja nicht leicht zu machen.
»Ich werde sie nicht durchs halbe Land schicken«, blaffte Whit. Hochgewachsen, gut aussehend und mit einer tiefen Stimme gesegnet, die für Autorität wie geschaffen war, war Evie ihr Cousin stets wie der Inbegriff eines Gutsherrn erschienen. Nicht dass sie sich dieser Autorität unterworfen hätte; ihr gefiel nur das Bild.
Mr Fletcher massierte sich den Rücken seiner Knollennase. »Norfolk ist wohl kaum das halbe Land. Es ist lediglich eine Reise von zwei Tagen.«
»Zwei Tage zu weit von ihrer Familie entfernt«, hielt Lady Thurston dagegen.
»Es ist das Beste so«, warf Evie ein, und wie edel sie klang! »Meine Anwesenheit hier bringt alle anderen in Gefahr. Und wenn Mirabelle und Kate nächste Woche von den Rockefortes zurückkehren, wird alles nur …«
Bei der Erwähnung seiner Ehefrau, die gerade ihr erstes Kind erwartete, und seiner jüngeren Schwester unterbrach Whit sie mit einer knappen Handbewegung. »Ich kann ihren Aufenthalt dort ohne Weiteres verlängern.«
»Sie würden sicher gerne noch bleiben«, stimmte Evie zu. Sie war aufrichtig enttäuscht gewesen, als eine Kopfgrippe sie daran gehindert hatte, an dem Besuch bei Alex und Sophie teilzunehmen, dem Herzog und der Herzogin von Rockeforte und ihrem drei Monate alten Sohn Henry. »Zumindest, bis sie die Nachricht über diese Angelegenheit erreicht – und sie wird sie bestimmt erreichen –, dann werden sie darauf bestehen, zurückzukommen.«
Kate, Mirabelle und Sophie würden ganz gewiss kommen, entweder um die Verschwörung zu genießen oder um ihr in einer Zeit der Not beizustehen. Als ihre Cousine war Kate die einzige Blutsverwandte der drei, aber im Herzen waren sie alle Schwestern. Sie würden in einer solchen Situation unbedingt dabei sein wollen.
»Ich habe Alex bereits eine Nachricht geschickt«, sagte Mr Fletcher. »Er wird vermutlich noch heute hier sein.«
Evie nickte. »Sophie sicherlich auch, und Kate und Mirabelle werden sie begleiten.«
Whit fluchte leise, aber mit Nachdruck. Da Lady Thurston kaum mehr tat, als angesichts der Wortwahl ihres Sohnes missbilligend die Nase zu rümpfen, wertete Evie dies als Beweis dafür, wie wichtig ihr dieses Ränkespiel war.
»Dieses Gespräch führt zu nichts«, erklärte Lady Thurston.
»Wir brauchen eine objektive Meinung«, stimmte Mr Fletcher mit einem Nicken zu, bevor er sich in Evies Richtung wandte. »Was denken Sie, McAlistair?«
Diese einfache Frage, offensichtlich an jemanden gerichtet, der unmittelbar hinter ihr stand, machte Evies Vergnügen an dem Geschehen sofort zunichte. Ihr Herz hörte auf zu schlagen – ein unbehagliches Gefühl, gelinde gesagt –, und sie drehte sich langsam um, fest davon überzeugt, sich verhört zu haben. Und unsicher, ob sie eher hoffte oder fürchtete, es nicht getan zu haben.
Sie hatte sich nicht verhört.
Der fragliche Mann stand keine drei Schritte von ihr entfernt im Schatten eines Bücherregals – eine Tatsache, die ihr Herz mit einem großen, schmerzhaften Schlag wieder in Gang setzte.
Lieber Gott, da war er … McAlistair, der Einsiedler von Haldon Hall.
Nur dass er im Moment nicht sehr wie ein Eremit aussah, stellte sie fest, als er ins Licht trat. Sie kniff die Augen zusammen und traute angesichts dieser Verwandlung kaum ihren Augen. Das letzte Mal hatte sie McAlistair in den Wäldern von Haldon gesehen. Er hatte die praktische Kleidung eines Bauern getragen. Sein Haar war lang und wild gewesen, beinahe so wild wie seine dunklen Augen. Und er hatte ein ziemlich großes Messer bei sich gehabt.
Jetzt war er gekleidet wie ein Gentleman – mit einer gut geschneiderten, grünen Weste, braunen Kniehosen, Reitstiefeln und einem perfekt geknoteten Halstuch. Er hatte sich das dichte, braune Haar gestutzt und zu einem sauberen, wenn auch unmodernen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sein Kinn war glatt rasiert, seine Hände sauber geschrubbt, und es war keine Waffe zu sehen. Er sah höchst respektabel aus.
Und in gewisser Weise doppelt so gefährlich.
Evie betrachtete die scharfe Wölbung der Augenbrauen, die kantige Form des Kinns und die Nase, die mehr als einmal gebrochen worden war. Sie bemerkte – und errötete dabei – seine muskulösen Beine, die breiten Schultern und die drahtige Stärke seiner Arme. McAlistair war kein Londoner Dandy, der zu Besuch gekommen war. Ein Wolf im Schafspelz, dachte sie, das war er, oder vielleicht eine Raubkatze mit einem Kragen um den Hals. Er mochte harmlos aussehen oder gezähmt, aber man brauchte ihm nur tiefer in die Augen zu schauen, um die Lüge zu sehen. Sie waren immer noch genauso wild.
Sie hatte einmal in diese Augen geblickt – hatte sich in ihnen verloren –, unmittelbar, bevor sie sich an einem wunderlichen Abend im Wald in seinem Kuss verloren hatte. Und seitdem hatte sie jeden Tag, wie sie es ihm versprochen hatte, an ihn gedacht.
Fünf verdammte Monate lang.
Sie kniff die Augen noch weiter zusammen, und die Hitze in ihrem Gesicht wich der Zornesröte. Er hatte ihr gesagt, dass er fort sein werde, und keine Versprechungen gemacht, zurückzukehren, aber wirklich, wäre es denn so schwer für den Mann gewesen, einen verwünschten Brief zu schreiben? Selbst sie hätte das fertiggebracht – wenn sie gewusst hätte, wo er war –, und sie war eine furchtbar schlechte Briefschreiberin.
Whit ging um sie herum, um McAlistair ermutigend auf die Schulter zu klopfen und ihn weiter in den Raum hineinzuziehen. »McAlistair, gut, Sie zu sehen. Wir könnten eine weitere Stimme der Vernunft gebrauchen. Ich glaube, Sie kennen alle hier, außer unserer Evie.«
McAlistair richtete den Blick seiner dunklen Augen auf sie, und für einen schrecklichen Moment hatte sie Angst, er könne ihr Geheimnis verraten. Als er nichts weiter tat, als sie unverwandt anzusehen, als wäre er von ihr wie gebannt, verwandelte ihre Furcht sich in Verlegenheit.
Unsicher, wie man auf einen langen, wissenden Blick eines Mannes reagieren sollte, den man angeblich gar nicht kannte, machte sie einen kurzen und unbeholfenen Knicks. »M-M…« Sie biss sich auf die Zunge, um sich zusammenzureißen. Sie hasste es, dass sie stotterte, wenn sie nervös war. »Mr McAlistair.«
»Miss Cole.« Er verbeugte sich, eine beredte Neigung aus der Taille heraus, die mit seiner Erscheinung in perfektem Einklang stand und so gar nicht zu dem Bild des wilden Eremiten passte, das sie noch im Kopf hatte. Als Nächstes wandte er sich Lady Thurston zu und verbeugte sich zum Zeichen des aufrichtigen Respekts noch tiefer. »Lady Thurston. Es ist mir eine Ehre.«
Seine Stimme war immer noch rau, bemerkte Evie, immer noch heiser, als wäre er es nicht gewohnt, sie zu gebrauchen. Sie wünschte, sie fände ihren Klang nicht gar so reizvoll.
Lady Thurston neigte den Kopf zum Gruß. »Es war freundlich von Ihnen zu kommen. Ich nehme an, Mr Fletcher hat Sie über den Inhalt des Briefes, den Evie erhalten hat, in Kenntnis gesetzt?«
»Zum Teil.« McAlistair schaute zu Whit hinüber, bevor er mit dem Kinn auf einen Beistelltisch deutete, auf dem ein Blatt Papier und ein Umschlag lagen. »Ist er das?«
»Ja.« Whit machte eine einladende Geste zum Tisch hin.
Während Evie immer noch der Kopf schwirrte – was um alles in der Welt tat der Mann hier? – und ihr Herz immer noch raste – Himmel, sah er gut aus –, beobachtete sie ihn, wie er den Raum durchquerte und nach dem Papier griff. Er war also kein Analphabet, dachte sie ein wenig bedauernd. Das war tatsächlich ihre letzte Hoffnung gewesen, sich sein Schweigen zu erklären.
Sie verkniff es sich mit knapper Not, ihm eine unfreundliche Grimasse zu schneiden, während er den Brief auseinanderfaltete und las. Er zeigte keine Reaktion auf die Nachricht, die das Schreiben enthielt. Ein wenig beunruhigend. Selbst sie war angesichts des Inhalts erschaudert, dabei hatte sie gewusst, dass er nicht zutraf.
Der Brief enthielt eine Reihe schmutziger Beleidigungen und Drohungen – sehr viel schmutziger und bedrohlicher, als sie persönlich es für nötig gehalten hätte, aber er war jedenfalls deutlich. Er stellte unmissverständlich Bestrafung für ihre Sünden in Aussicht.
McAlistair sah sie an. »Was für Sünden?«
Welche Sünden wäre korrekter gewesen, aber sie bezweifelte, dass er an einer Liste interessiert war. Es spielte ohnehin kaum eine Rolle. Sie vermutete, dass der Verfasser des Briefes ganz bestimmte Sünden im Sinn hatte. Zumindest hoffte sie das. Die Vorstellung, dass Mr Fletcher über all ihre Missetaten in Kenntnis gesetzt worden war, einschließlich der Tatsache, dass sie im Wald einen fremden Eremiten geküsst hatte, gefiel ihr ganz und gar nicht.
Lady Thurston antwortete für sie. »Evie war mit meiner Erlaubnis in aller Stille für mehrere wohltätige Frauenorganisationen tätig – Organisationen mit Aufgaben, die manch einer für radikal und daher für sündhaft halten könnte. Wir nehmen an, dass dies der Stein des Anstoßes für den Schreiber ist, angesichts der Natur seiner Beleidigungen … und der Tatsache, dass Evie sich ansonsten recht vorbildlich verhält.«
Evie lächelte ihre Tante an und konzentrierte sich darauf, geziemend unschuldig auszusehen – und McAlistair überhaupt nicht anzusehen. Vorbildlich, in der Tat.
McAlistair legte den Brief hin. »Verdächtige?«
»Bis jetzt noch keine«, antwortete Mr Fletcher.
Whit zog an seinem Halstuch. »Wir gehen davon aus, dass die Drohung von einem Familienmitglied oder Arbeitgeber einer der Frauen kommt, denen Evie helfen wollte.«
Mrs Summers schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. »Im Laufe der Jahre hat sie einer Reihe von misshandelten Frauen geholfen, unbemerkt das Land zu verlassen. Frauen gewalttätiger Ehemänner. Unzüchtigen Frauen, die ihren ausbeuterischen Arbeitgebern entfliehen wollten.«
»Diese Frauen haben eine große Zahl zorniger Ehemänner und Bordellwirtinnen zurückgelassen«, fügte Mr Fletcher hinzu. »Obwohl wir erst noch ermitteln müssen, wie sie von Evies Mitwirkung erfahren haben. Und bis dahin wäre es wohl das Beste, wenn sie irgendwo unterkommen könnte. Irgendwo, wo man sie nicht aufspüren kann.«
»Unbedingt«, stimmte Mrs Summers zu.
»Keineswegs«, blaffte Lady Thurston gleichzeitig.
»Er hat recht«, sagte McAlistair, was ihm unfreundliche Blicke von Whit und Lady Thurston eintrug. »Zu viele Türen hier. Zu viele Verstecke.«
»Das Personal ist angewiesen worden …« Whit brach mit einem finsteren Stirnrunzeln ab. »Wer hat Sie hereingelassen?«
McAlistair schüttelte den Kopf.
»Verdammt. Hat irgendjemand Sie gesehen?«
Ein weiteres Kopfschütteln von McAlistair und eine leise Flut von Kraftausdrücken von Whit.
Er drehte sich zu Evie um. »Pack deine Sachen. Morgen früh reist du ab.«
Tat sie das? »Tue ich das?«
»Das möchtest du doch, oder?«
Eigentlich nicht. »Ja, ja, natürlich.«
Whit nickte sehr entschieden und sehr unzufrieden. »Halte dich bei Tagesanbruch bereit.«
Bei Tagesanbruch? Sie hatten wirklich vor, sie wegzuschicken? Wie zum Henker war es dazu gekommen?
»Heute Abend wäre besser«, wandte Mr Fletcher ein.
»Ich werde nicht zulassen, dass sie nachts auf der Straße ist.« Und mit diesem Schlusswort empfahl sich Whit.
Mr Fletcher, der ein wenig besorgt aussah, setzte eine geschäftige Miene auf, schenkte Evie ein Lächeln, das er offenbar für ermutigend hielt, und folgte Whit. Lady Thurston und Mrs Summers, die erregt miteinander flüsterten, erhoben sich von ihren Plätzen, drückten Evie beruhigende Küsse auf die Wange und verschwanden ebenfalls.
Evie war so verblüfft über die Neuigkeit, dass sie Haldon tatsächlich verlassen würde, dass sie eine Minute brauchte, um zu begreifen, dass man sie lediglich mit McAlistair als Gesellschaft im Raum alleingelassen hatte.
Und er starrte sie schon wieder an.
Verzweifelt suchte sie nach etwas, das sie sagen konnte. Vorzugsweise nach etwas, das ihn zumindest zum Blinzeln bringen würde. Es war zermürbend, wie er seinen dunklen Blick auf sie gerichtet hatte – beinahe so zermürbend wie ihre eigene Reaktion. Sie hätte schwören können, dass sie tatsächlich spürte, wie ihr das Herz aus der Brust springen wollte.
»Ich … Sie …« Sie schluckte hörbar. »Es i-ist Ihnen gut ergangen, hoffe ich?«
Er deutete ein Nicken an und fragte nicht, wie sie nicht umhin konnte zu bemerken, nach ihrem eigenen Befinden. Der Schuft.
»Nun, das freut mich zu hören«, brachte sie heraus und wollte an ihm vorbeigehen.
Er hielt sie am Arm fest. »Sie sind wütend.«
Sie war sogar fuchsteufelswild, aber immer noch vernünftig genug, um zu begreifen, dass ein Teil dieses Ärgers vielleicht unbegründet sein mochte. Sie öffnete den Mund, doch bevor sie versuchen konnte, etwas zu erklären oder zu irgendeiner Art von Einverständnis zwischen ihnen zu gelangen, ließ er ihren Arm los und nickte wieder leicht.
»Gut.«
Sie blinzelte ihn in maßlosem Erstaunen an. »Gut?« Das war seine Reaktion, wenn er sich mit der Möglichkeit ihres Zorns konfrontiert sah? Gut? »Sie wollen, dass ich Ihnen b-böse bin?«
»Ist besser so.«
»Nun, es liegt mir fern, einen Gast zu enttäuschen«, fauchte sie und schob sich an ihm vorbei zur Tür hinaus.
Das Problem am Hinken war, dass es einem damit fast unmöglich war, ordentlich mit dem Fuß aufzustampfen. Das war natürlich nicht das einzige Problem, aber es war die Unannehmlichkeit, die Evie momentan am meisten ärgerte.
Zähneknirschend ging sie den Flur mit den kurzen, langsamen Schritten entlang, die ihr einen gleichmäßigen Gang erlaubten. Weil sie sich ihr Bein bei einem Kutschenunfall schwer verletzt hatte, würde sie nie wieder geschmeidig gehen können. Aber wer nicht bewusst auf ihre etwas schiefe Haltung oder auf das kurze Nachziehen des Fußes achtete, dem fiel ihr Hinken meist gar nicht auf. Das war alles gut und schön, aber kurze, langsame Schritte und ein, wenn auch nur leicht, nachgezogener Fuß machten es außerordentlich schwierig für sie, mit der hochmütigen Geringschätzung davonzustürmen, die die Situation eindeutig erforderte.
Gut, also wirklich.
Sie riss die Tür zu ihrem Zimmer auf, trat ein und knallte die Tür hinter sich zu. Der daraus resultierende Lärm schenkte ihr ein gewisses Maß an Befriedigung.
Während sie ganz allgemein in die Richtung des Studierzimmers funkelte, versuchte sie mit allen Mitteln, ihre verworrenen Gefühle zu ordnen. Sie kochte vor Wut, das verstand sich von selbst, aber dieser Ärger richtete sich nicht nur gegen McAlistair. Ein guter Teil davon galt ihrem eigenen, törichten Verhalten.
Was zum Teufel hatte sie in all diesen Monaten nur gedacht? Dass McAlistair mit einem Strauß Blumen und einem Gedichtband, aus dem er rezitierte, nach Haldon zurückkehren würde? Hatte sie Worte der Liebe erwartet, öffentliche Werbung, vielleicht gar einen Heiratsantrag? Sie richtete ihren wütenden Blick auf die Tür und überlegte kurz, wie weh es wohl tun würde, wenn sie dagegentrat. Zu weh, befand sie und durchquerte den Raum, um sich in einen dick gepolsterten Sessel fallen zu lassen.
Sie wollte nicht heiraten, rief sie sich ins Gedächtnis. Und es war nur ein Kuss gewesen. Ein einziger Kuss von einem Mann, den sie kaum kannte. Offenbar sah er das ebenso und erkannte wahrscheinlich, dass sie irrtümlicherweise mehr daraus gemacht hatte. Also suchte er ihren Ärger, statt sich ihrer Verliebtheit zu stellen.
Wie ganz und gar demütigend.
Er hätte doch versuchen können, ein wenig diplomatisch zu sein, dachte sie niedergeschlagen, aber schließlich war er ein Eremit, kein Anwalt. Und es war kaum McAlistairs Schuld, dass sie ihre kurze Begegnung im Wald zu einem Märchen umgedichtet hatte. Gewiss traf ihn keine Schuld an der Faszination, die sie seit dem Tag hegte, an dem sie ihn vor Jahren das erste Mal entdeckt hatte; er hatte auf einem Felsvorsprung gesessen und schweigend ein Kaninchen gehäutet. Bis zu diesem Moment war er für sie kaum mehr als ein Mythos gewesen – eine Geschichte, die Whit ausgeheckt hatte, um die jungen Damen von Haldon zu erschrecken und zu unterhalten. Ein geheimnisvoller ehemaliger Soldat, der durch den Wald von Haldon streifte. Ein wilder Mann, dunkel und gefährlich, der sich vor der Welt versteckte. Sie sollten ihn nicht fürchten, hatte man ihnen erklärt, aber sie sollten gebührenden Abstand halten, falls sie seinen Weg kreuzten.
Da sie das einzige der Mädchen war, das gerne zu den merkwürdigsten Zeiten im Wald spazieren ging, und die Wege mied, solange es noch hell war, hatte Whit ihr gegenüber in regelmäßigen Abständen seine Warnung wiederholt.
Sie hatte kein Wort davon geglaubt … bis sie McAlistair an jenem Tag auf den Felsen gesehen hatte, als das sterbende Licht der Sonne seine schlanke Gestalt in Gold umrahmt hatte. Er hatte nur eine Sekunde gebraucht, um ihren Blick zu bemerken, dann war er fort gewesen, im Wald verschwunden. Sie hatte ihm lange nachgeschaut und das Gefühl gehabt, einen Blick auf etwas Unwirkliches, etwas Magisches geworfen zu haben. Etwas Wundervolles. Wann immer sie danach in den Wald gegangen war, war es in der Hoffnung geschehen, noch einmal einen Blick auf diese Magie zu erhaschen.
Was, dachte sie jetzt, eine vollkommen lächerliche Reaktion war – goldenes Licht und magische Sichtungen. Wirklich! Seit wann war sie so überspannt? Und warum zum Kuckuck war ihr das nicht schon früher aufgefallen? Sie hätte ihren Freundinnen von ihrer Begegnung mit ihm erzählen sollen, anstatt sie all die Jahre für sich zu behalten. Sie hätten gelacht und geschwatzt und spekuliert und auch sonst die ganze Angelegenheit zu dem gemacht, was sie wirklich war – etwas Dummem und Bedeutungslosem.
Es war nicht besonders wichtig, redete Evie sich ein. Es war noch nicht einmal ihr erster Kuss gewesen. Sie fragte sich, was McAlistair dazu sagen würde. Gar nichts, befand sie mit einem verärgerten Schnauben. Wahrscheinlich würde er sie einfach mit diesem verwirrenden Blick bedenken – dem Blick, der ihr Herz rasen und ihre Haut kribbeln ließ.
Sie sah ihr aufgewühltes Gesicht in dem Spiegel des Frisiertisches und stöhnte. Als sie ihr schlichtes, elfenbeinfarbenes Kleid bemerkte, stöhnte sie erneut. Wenn sie gewusst hätte, dass McAlistair kommen würde, hätte sie sich umgezogen – hätte etwas getragen, das vielleicht etwas unbequemer und etwas schmeichelhafter gewesen wäre. Nicht dass das Kleid nicht hübsch gewesen wäre; das war es durchaus, aber Lady Thurston hatte ihr beigebracht, dass es hübsch und außerdem hübsch gab. Und obwohl sie dem Kuss vielleicht zu viel Bedeutung beigemessen hatte, bedeutete das nicht, dass sie nicht ihr Bestes tun konnte, um McAlistair daran zu erinnern, warum er sie geküsst hatte. Da sie bemerkt hatte, dass Männer dazu neigten, den Blick von ihrem Gesicht nach unten wandern zu lassen, wenn sie länger als ein paar Sekunden in ihrer Gesellschaft waren, vermutete sie, dass einer der Gründe dafür ihr üppiger Busen war.
Sie stand auf und trat näher an den Spiegel heran, um ihr Gesicht zu mustern. Es war hübsch genug, dachte sie ohne Eitelkeit – herzförmig mit großen braunen Augen, einer schmalen Nase und vollen Lippen –, aber es war nicht schön. Sie würde niemals schön sein. Mit dem Finger zeichnete sie die lange, dünne Narbe nach, die von der Schläfe zum Kinn lief, eine weitere Folge des Kutschenunfalls in ihrer Kindheit.
Als kleines Mädchen war sie wegen des Makels schrecklich befangen gewesen, vielleicht weil es so lange gedauert hatte, bis die Verletzung verheilt war. Selbst Monate, nachdem die Wunde sich geschlossen hatte, war die Narbe rot und wulstig gewesen. Und mit ihrem verunstalteten Gesicht und dem deutlichen Hinken war sie sich sicher gewesen, dass sie wie das reinste Ungeheuer aussah.
Dass ihre eigene Mutter bei ihrem bloßen Anblick erbleicht war, hatte nicht gerade geholfen.
Evie hatte es sich angewöhnt, sich vor den Blicken anderer zu verstecken und zu stottern, wenn ihre Blicke sich nicht vermeiden ließen. Erst als Lady Thurston sie nach Haldon geholt hatte (ein Angebot, das Mrs Cole mit großer Erleichterung angenommen hatte), hatte sich die schlimmste Schüchternheit zu legen begonnen. Sie war so schnell akzeptiert worden, wurde von ihrer Tante und ihren Cousinen so unverhohlen geliebt, dass sie mit der Zeit einen Teil des verlorenen Selbstbewusstseins wiederfand. Jetzt wurde sie nur noch dann nervös und stotterte, wenn sie dem Blick eines Menschen ausgesetzt war, den sie nicht gut kannte … jemand wie McAlistair.
»Du drehst dich im Kreis, Mädchen«, schalt sie sich selbst.
Und weil sie das wirklich tat, war es wahrscheinlich das Beste, dass ihre Überlegungen durch den Knall der Verbindungstür zu ihrem Zimmer unterbrochen wurden. Lizzy, die Zofe, die sie sich mit Kate teilte, kam atemlos und aufgeregt hereingestürzt.
»Ist es wahr, Miss? Ist er wirklich hier?«
Evie wandte sich vom Spiegel ab und nahm wieder im Sessel Platz. »Ich nehme an, du sprichst von Mr McAlistair?«
Lizzy verdrehte die Augen. »Nein, vom Schmied. Ich bin immer so aus dem Häuschen, wenn er kommt. Ja, natürlich meine ich McAlistair.«
Evie musste trotz ihrer schlechten Laune lachen. Lizzy war gewiss die vorlauteste Zofe in ganz England – eine Eigenschaft, die Evie zu schätzen wusste und in der sie sie bestärkte.
»Mr McAlistair hat uns tatsächlich mit seiner Anwesenheit beehrt.«
»Er heißt jetzt also Mister?« Lizzy zog komisch die Augenbrauen hoch. Von durchschnittlicher Größe und durchschnittlichem Körperbau, mit einer langen Nase und einem runden Gesicht, war sie eine Frau, die manch einer reizlos genannt hätte. Aber Evie hatte stets gefunden, dass Lizzys dramatisch ausdrucksvolles Gesicht sie auf ganz eigene Weise anziehend machte. Es war unmöglich, in ihrer Gegenwart nicht zu lächeln. »Ist er plötzlich ein Gentleman?«
»Er war wie einer angezogen.«
»Oh.« Lizzy machte ein langes Gesicht. »Ich hatte gehofft, ihn in seiner ganzen Einsiedlerpracht zu sehen.«
»Das Leben ist voller Enttäuschungen.«
»Offensichtlich.« Lizzy nahm ihr gegenüber Platz. »Wie ist er denn so als Gentleman? Sieht er gut aus? Oder hat das jahrelange Leben als Wilder seinen Tribut gefordert?«
»Er ist attraktiv genug.« Genug, damit ihr die Luft wegblieb.
»Aber wie sieht er aus? Ist er groß, klein, blauäugig oder …?«
»Groß, dunkelhaarig und dunkeläugig. Du wirst ihn bald genug selbst sehen, denke ich.«
»Ja, aber ich wüsste gern, was mich erwartet.« Lizzy beugte sich auf ihrem Stuhl vor. »Ist er schrecklich furchterregend? Knurrt und brummt er, wenn man mit ihm zu sprechen versucht?«
»Nein, er ist einfach … wortkarg.«
Lizzy schürzte die Lippen und stand auf. »Da ist er nicht der Einzige.«
»Nun, ich habe derzeit andere Dinge im Kopf.«
»Den Brief meinen Sie?« Lizzy runzelte die Stirn. »Allzu viel Aufhebens um ein kleines Schreiben, finde ich. Lord Thurston wird es nicht zulassen, dass Ihnen etwas geschieht.«
Evie presste die Lippen zusammen. »Deswegen hat er vor, mich nach Norfolk zu schicken. Ich soll gleich morgen früh aufbrechen, unter bewaffnetem Schutz.«
Lizzy erschrak sichtlich. »Nach Norfolk?«
»Unter bewaffnetem Schutz«, wiederholte sie.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Whit ist es völlig ernst.« Sie stieß einen langen Atemzug aus. »Ich muss packen.«
Das Packen wurde mit wenig Eile und noch weniger Begeisterung erledigt. Es wurde nicht besser davon, dass Lizzy alle zehn Minuten mit Ausreden nach unten lief, die vom Praktischen: »Lady Thurston weiß vielleicht, wie viele Tage Sie fort sein werden«, bis zum Absurden reichten: »Ich frage mich, ob die Köchin daran gedacht hat, die Zwiebeln dünn zu schneiden, so wie Mrs Summers es mag.«
»Hast du ihn schon gesehen?«, erkundigte Evie sich, nachdem Lizzy von ihrem siebten Ausflug zurückkam.
»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.« Lizzy setzte eine Unschuldsmiene auf und begann die letzten der ausgesuchten Kleider in eine Truhe zu falten.
Evie schmunzelte und hüllte ein Häubchen sorgfältig in Seidenpapier. »Dann war dieses ganze Auf und Ab also kein Versuch, einen Blick auf Mr McAlistair zu erhaschen?«
Lizzy sah finster drein. »Der Mann ist schrecklich schwer zu Gesicht zu bekommen.«
»Er hat ziemlich viel Übung darin, wie du dich erinnern wirst«, sagte Evie mit einem Lachen.
»Und er macht reichlich davon Gebrauch. Ich habe John Herbert gefragt, ob er es geschafft hat, ihn zu sehen. Hat er nicht, dabei weiß John immer, was in Haldon los ist.«
»John Herbert? Der neue Diener?«
»Er ist schon fast sieben Monate hier, Miss. Ich würde ihn nicht als neu bezeichnen.«
»Das liegt daran, dass du ihn als schrecklich gut aussehend bezeichnest«, neckte Evie sie.
»Das ist er.« Lizzy seufzte dramatisch.
Da Evie ein Gespräch über John Herberts unverschämt gutes Aussehen möglichst vermeiden wollte, das unausweichlich von einem Monolog über Robert Kleins ungeheure körperliche Stärke gefolgt werden würde, an das sich mit Sicherheit ein ausführlicher Vortrag über Calvin Bradleys teuflischen Charme anschließen würde, fragte sie: »Ist sonst noch jemand angekommen?«
»Mr Hunter«, erwiderte Lizzy und griff nach einem weiteren Kleid, »vor einer Stunde. Und gerade hat ein Sonderkurier eine Nachricht von Lord Rockeforte gebracht. Er wurde aufgehalten, offenbar, weil er sich im Schutz der Dunkelheit aus dem Haus schleichen musste oder so ähnlich.«
Evie grinste bei dem Gedanken, dass der stolze und mächtige Herzog von Rockeforte es für notwendig hielt, sich heimlich aus seinem eigenen Haus zu schleichen, um seiner Frau und ihren Freundinnen aus dem Weg zu gehen. »Woher weißt du, was der Herzog zu sagen hatte? Du hast gelauscht, hm?«
»Diesmal nicht«, antwortete Lizzy ohne den geringsten Anflug von Scham. »Mr Fletcher hat Mr Hunter den Brief laut vorgelesen. Ich war zufällig gerade im Salon.«
»Das traf sich ja gut.«
»Ja, in der Tat.« Lizzy betrachtete geistesabwesend den Inhalt der Truhe. »Kommt er Ihnen bekannt vor?«
»Mr Hunter?« Evie legte ihre Arbeit beiseite. »Kate fragt mich das jedes Mal, wenn wir den Mann sehen.«
Lizzy nickte. »Er hat so etwas an sich, das mich dunkel an etwas erinnert. Und er hat irgendwie immer diesen Gesichtsausdruck, als wüsste er genau, woran das liegen könne, wolle es aber nicht sagen.«
»War er unfreundlich zu dir? Ist er …«
»Oh nein, Miss, nichts in der Art.« Lizzy schüttelte den Kopf. »Er verhält sich dem Personal gegenüber wie ein Gentleman – meiner Meinung nach noch mehr als einige, die in die Position hineingeboren worden sind. Ich glaube, er hat ein Geheimnis, das ist alles.«
»Vielleicht kann ich es beim Dinner für dich herausfinden.«
Lizzy schreckte zusammen. »Dinner. Oh je, das habe ich ganz vergessen. Lady Thurston sagt, Sie sollen das Dinner heute Abend auf Ihrem Zimmer einnehmen.«
Evie blinzelte angesichts der Neuigkeit. »Hat sie auch gesagt, warum?«
»Nicht zu mir, aber ich habe gehört, wie sie zu Mrs Summers meinte, ihr sei bei dem Gedanken nicht wohl, dass Sie spätabends unten sind.«
»Wiederum praktischerweise im Salon?«
»Nein, ich habe gelauscht.«
Evie lachte auf. »Nun, es ist eine absurde Idee. Sie kann es unmöglich ernst meinen.«
Ein Klopfen an der Tür und das Eintreten eines Hausmädchens mit einem Essenstablett belehrte Evie, dass Lady Thurston es durchaus ernst meinte. Sie wusste nicht recht, ob sie erheitert oder verärgert darüber sein sollte, zum Abendessen auf ihr Zimmer verbannt worden zu sein, und ließ sich das Tablett auf das Bett stellen. Nachdem sie das Mädchen zur Tür begleitet hatte, setzte sie sich und griff nach einem Brötchen.
»Noch einmal, das ist absurd.«
»In diesem Haus gibt es schrecklich viele Türen und Fenster«, bemerkte Lizzy.
»Ich dachte, du hättest gesagt, um diese Sache werde zu viel Aufhebens gemacht.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es so schlimm fände, wenn man mir das Essen ans Bett servieren würde.«
Evie wollte das Brötchen gerade zum Mund führen und hielt inne. »Das ist ein Argument.«
Ein ausgezeichnetes Argument, räumte Evie im Stillen ein. Und jetzt, da sie darüber nachdachte, gefiel ihr die Idee nicht besonders, zum Dinner nach unten zu gehen. Wenn Gäste im Haus waren, tat sie das nie. Gäste bei Tisch bedeuteten Blicke und Redezwang. Mit McAlistair als einem dieser Gäste würden die Blicke und der Zwang noch unendlich viel schlimmer sein. Jedenfalls die Blicke.
Sie fragte sich, ob es sie zu einem Feigling machte, dass sie erleichtert darüber war, ihn nicht über den Esstisch hinweg ansehen zu müssen. Sie biss in ihr Brötchen, dachte darüber nach und befand, dass es ihr egal war. Sie war, wer sie war. Vielleicht war sie in mancher Hinsicht alles andere als mutig, aber das machte sie mit Tapferkeit auf anderen Gebieten wieder wett.
»Ich denke, hier ist alles fertig.«
Evie schluckte den Bissen hinunter und riss sich aus ihren Träumereien, dann schaute sie auf und sah Lizzy vor zwei geschlossenen Truhen stehen. »Wie bitte?«
»Es ist alles gepackt«, wiederholte Lizzy. »Es sei denn, wir haben etwas vergessen.«
Evie ging im Geiste alles durch, was sie in die Truhen gelegt hatten. »Ich habe genug, denke ich. Ich werde nicht länger als vierzehn Tage fort sein.«
Lizzy nickte anerkennend. »Das ist die richtige Einstellung. Noch ehe Sie auf halbem Weg nach Norfolk sind, wird Lord Thurston diese Angelegenheit regeln.«
Evie murmelte irgendetwas Nichtssagendes. Ob diese lächerliche Angelegenheit nun geregelt war oder nicht, nach Ablauf der vierzehn Tage würde sie nach Haldon zurückkehren.
Ihr Programm für die nächsten Tage stand fest, aber in zwei Wochen würde Mrs Nancy Yard aus London erwarten, dass sich jemand hinter Mavers Wirtshaus in dem nahen Dorf Benton mit ihr traf. Es war Evies Aufgabe, dieser Jemand zu sein – und dafür zu sorgen, dass die Frau Anweisungen und Mittel für den nächsten Abschnitt ihrer Reise bekam. Wenn alles gut ging, würde Mrs Yard ein neues Leben in Irland beginnen, von den gewalttätigen Launen ihres Ehemannes befreit.
William Fletcher hatte vierzehn Tage, um sein Gewissen zu beruhigen, und keinen Tag mehr.
Lizzy schaute sich in dem aufgeräumten Raum um. »Nun, wenn das alles wäre, Miss, dann gehe ich zu meinem Abendessen hinunter und früh ins Bett.«
Evie nickte und versuchte, ein gewisses Interesse für ihre Mahlzeit aufzubringen, während Lizzy die Verbindungstüren zwischen ihren Zimmern schloss. Sie war nicht besonders hungrig, aber das Essen war da, und sie hatte sonst nicht viel, um sich zu beschäftigen. Sie schaffte noch einen Bissen von ihrem Brötchen, stocherte in dem Huhn, spießte eine Möhre auf und verwandelte so ihr Essen in eine unappetitliche Pampe. Schließlich gab sie es auf, stellte das Tablett auf die Kommode, und nachdem sie beschlossen hatte, Lizzy nicht noch einmal zu bemühen, gelang es ihr, sich allein für die Nacht umzuziehen.
Wenn sie schon nicht essen konnte, dann würde sie eben schlafen. Nun gut, es war erst kurz nach neun, aber nach einem langen Tag und vor einem schrecklich frühen Morgen schien es klug zu sein, früh zu Bett zu gehen. Alles, was sie von einem bestimmten Hausgast ablenkte, schien klug zu sein.
Sie kroch unter die Decken und zwang ihren Verstand, sich zu leeren. Sie würde nicht an ihn denken. Auf gar keinen Fall. Kein einziger Gedanke würde an den gut aussehenden und geheimnisvollen Mr McAlistair verschwendet werden. Sie würde nicht an den Kuss denken, an die Art, wie er vollkommen stillgestanden hatte, während sein Mund sanft ihren eroberte. Sie würde nicht daran denken, wie ihr Herz gerast hatte und wie ihr der Atem gestockt hatte, als er sie mit diesen dunklen, intensiven Augen angesehen hatte. Sie würde nicht daran denken, wo er heute Nacht schlafen würde oder was er jetzt gerade tat oder …
»Oh, verflixt und zugenäht, verflucht, verflucht noch mal.«
Sie rollte sich herum, setzte sich auf und schlug einige Male mit der Faust auf das Kissen ein, dann warf sie sich schließlich mit einem frustrierten Stöhnen wieder hin. Es würde eine schrecklich lange Nacht werden.
Irgendwie gelang es Evie, einzuschlafen – für volle zwei Stunden. Vielleicht hätte sie sogar die ganze Nacht geschlafen, aber zum zweiten Mal an diesem Tag stolperte Lizzy durch die Verbindungstür. Ihre Augen waren so weit aufgerissen wie beim ersten Mal, aber jetzt trug sie ein Nachthemd und drückte einen Stapel Bettzeug an die Brust.
Evie schoss hoch, sofort hellwach, wenn auch noch nicht ganz klar im Kopf. »Was ist los? Was ist passiert?«
»Er ist in meinem Zimmer. Er hat mich aus meinem eigenen Zimmer geworfen.«
Evie sprang aus dem Bett. »Er? Er wer?«
»Der Eremit«, hauchte Lizzy. »McAlistair.«
»In deinem Zimmer?« Evie warf sich einen Überwurf über ihr Nachthemd.
Lizzy nickte und schluckte. »Ist einfach reingekommen, äußerst höflich – nun, er hat schon vorher angeklopft«, räumte sie ein. »Aber dann ist er einfach hereingekommen und hat mir gesagt, ich solle meine Sachen nehmen und bei Ihnen schlafen.«
»Ich kann es nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass er einfach in dein Zimmer platzt.«
Glaubte der Mann wirklich, er könne Lizzy behandeln, wie es ihm gefiel, nur weil sie als Bedienstete angestellt war?
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass er echt ist«, flüsterte Lizzy. »All diese Zeit habe ich nach ihm Ausschau gehalten, und plötzlich …«
»Stürmt er in dein Zimmer«, beendete Evie den Satz für sie. Energisch raffte sie das Umschlagtuch über der Brust zusammen. »Das werden wir ja sehen.«
»Sollten wir nicht nach Lord Thurston schicken oder …«
»Ich kann mit solchen wie McAlistair allein fertig werden.« Sie ging zur Tür, in der Absicht, genau das zu tun.
Evie hatte sich nie für prüde gehalten. Ganz im Gegenteil. Mit vierzehn war sie die Erste ihrer Freundinnen gewesen, die von einem Jungen geküsst worden war. Mit neunzehn hatte sie ihre erste Prostituierte kennengelernt, und mit zwanzig waren ihr unsittliche Anträge von einer Hurenwirtin, einem Zuhälter und einer Handvoll betrunkener Seeleute gemacht worden. So war es eben um die Aufgeklärtheit einer Frau bestellt, die gelegentlich in einigen der zwielichtigen Viertel Londons unterwegs war.
Nach den Maßstäben ihres Standes war sie eine skandalös aufgeschlossene junge Frau – zumindest würde man sie dafür halten, wenn diese Maßstabsetzer jemals von ihren Verfehlungen erfahren sollten. Doch trotz ihrer überdurchschnittlich umfassenden Bildung war sie nicht ganz auf den Anblick vorbereitet, der sie auf der anderen Seite der Verbindungstür erwartete.
Nicht, wenn dieser Anblick der halb entkleidete McAlistair war. Nun, eher ein Viertel entkleidet, wenn man es ganz genau nehmen wollte. Der springende Punkt war, dass es sich um McAlistair handelte, und zwar in dem Raum, der unmittelbar mit ihren eigenen Gemächern verbunden war, und er war nicht vollständig bekleidet. Er stand in Hemdsärmeln da, und dieses Hemd war bis zum Nabel aufgeknöpft und entblößte glatte Haut und Muskeln. Mein Gott, diese Muskeln. Der Mann war so durchtrainiert und kräftig wie die Raubkatze, mit der sie ihn früher im Stillen verglichen hatte.
»W-w…« Oh, verflixt. Sie biss sich auf die Zungenspitze, dann wandte sie den Blick ab und verdrängte die plötzliche Hitze, die sie überall verspürte, dann versuchte sie es noch einmal. »Was t-tun Sie da?«
Er schwieg verständlicherweise, da es ziemlich offensichtlich war, was er da tat. Sie spürte, wie ihre Wangen brannten. Warum zum Teufel hatte sie nicht daran gedacht zu klopfen?
»Sie hatten kein Recht, Lizzy aus ihrem eigenen Z-zimmer zu vertreiben.«
Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er sich das Hemd wieder zuknöpfte. »Zu ihrer eigenen Sicherheit.«
Völlige Verblüffung ersetzte vorübergehend die Verlegenheit. »Ihrer eigenen Sicherheit?«
Er zeigte auf die großen Fenster. »Wenn ich es auf Sie abgesehen hätte, würde ich durch die hier kommen.«
Sie betrachtete Lizzys Fenster, dann trat sie zurück und blickte durch die Verbindungstür zu den breiteren Fenstern in ihrem eigenen Zimmer. »Warum sollte er nicht durch meine eigenen Fenster kommen?«
»Zu gut bewacht.«
»Nun, warum dann nicht u-unten ins Haus kommen oder durch die Fenster eines unbenutzten Raumes?« Davon gab es auf Haldon weiß Gott genug.
»Die hier sind näher.«
Irgendetwas war seltsam an seiner Begründung – abgesehen von der Tatsache, dass die Gefahr eines Eindringlings bei jedem der Fenster in Haldon gering war – aber sie konnte den Finger nicht darauf legen, was genau es war.
Da sie das nicht konnte, sah sie ihn direkt an – was jetzt, da er sein Hemd fertig zugeknöpft hatte, sehr viel einfacher zu bewerkstelligen war – und fragte: »Sind Sie ein Experte in diesen Dingen?«
Es folgte eine sehr, sehr lange Pause, bevor er nickte.
»Ich … oh.« Wie konnte ein zu einem Eremiten gewordener Soldat um solche Dinge wissen? Und überhaupt, warum sollte ein normaler, gebildeter Soldat von wahrscheinlich guter Herkunft sich für ein Einsiedlerdasein entscheiden? Sie legte den Kopf schief und musterte ihn. »Wer sind Sie?«
Kuss hin oder her, er würde ihr doch sicher die Höflichkeit erweisen, diese Frage zu beantworten.
Ein ausgedehntes Schweigen verriet ihr, dass er das keineswegs tun würde.
Sie kämpfte den Kloß zurück, der sich vor Enttäuschung und Verletztheit in ihrer Kehle bildete. Es war lächerlich. Der Kuss, das Ränkespiel, seine Verschlossenheit – all das war absurd und daher kein Grund für sie, plötzlich undicht zu werden wie ein Sieb. Sie war eine erfahrene Frau von sechsundzwanzig, rief sie sich ins Gedächtnis, kein dummes Mädchen frisch aus dem Kinderzimmer, das wegen des Desinteresses eines Mannes die Fassung verlor.
»Dann behalten Sie eben Ihre Geheimnisse«, murmelte sie und drehte sich zur Tür um.
»Evie.«
Sie sollte nicht stehen bleiben. Sie wusste, dass sie es nicht sollte, aber sie tat es.
Er wartete, bis er ihren Blick auffing. »Ich wollte Sie nicht kränken«, sagte er leise. »Keine von Ihnen.«
Sie zögerte. Sie wusste, dass sie nicht fragen sollte. Wusste, dass sie das Thema nicht zur Sprache bringen sollte. Aber sie schien sich nicht bremsen zu können. »Warum … in dieser Nacht im Wald … warum …« Als er den Kopf schüttelte, brach sie ab.
»Ich hätte das nicht tun sollen. Sie sind nicht für mich bestimmt.«
Argwohn, hässlich und so schmerzhaft wie sein früheres Schweigen, machte sich in ihr breit. »Und für wen b-bin ich dann bestimmt, Mr McAlistair?«
»Jemand … anderen«, antwortete er leise. »Einen anderen.«
Der Argwohn löste sich so schnell auf, wie er gekommen war. McAlistair sprach nicht von einem bestimmten Mann für sie, sondern nur von einem Mann, der nicht er war. Dann war er also nicht eingeweiht. Vermutlich.
»Ich bin für den bestimmt, für den ich eben bestimmt bin«, gab sie zurück. »Sie haben mir nicht die Zukunft weiszusagen.«
Zufrieden mit ihrer Antwort und erleichtert, dass sie sie ohne ein einziges Stottern hervorgebracht hatte, drehte sie sich um, ging hinaus und schloss hinter sich die Tür.
Lizzy stand immer noch mitten im Zimmer und drückte ihr Bettzeug an die Brust.
»Nun, was hat er gesagt?«, fragte Lizzy.
»Dass er es für eine zu große Versuchung für die Mörder hält, die auf dem Grundstück herumschleichen.«
Lizzy blieb der Mund offen stehen. »Sie könnten durch meine Fenster kommen?«
Evie verspürte ein stechendes Schuldgefühl. Es war durchaus möglich, dass Lizzy nicht in die Verschwörung eingeweiht war, wenn auch unwahrscheinlich, denn Verkupplungspläne waren für sie unwiderstehlich.
»Natürlich nicht. Er hat überreagiert, das ist alles. Hast du nicht selbst gesagt, Lord Thurston würde es nicht zulassen, dass uns etwas geschieht?«
»Dass Ihnen etwas geschieht«, korrigierte Lizzy sie und erntete einen bösen Blick von Evie. »Also gut, uns beiden. Soll ich dann auf dem Fußboden schlafen, Miss?«
»Sei nicht dumm. Es gibt ein Dutzend anderer Betten im Haus. Was ist mit deinem alten Zimmer neben dem von Kate? »
»Das könnte ich nicht.« Lizzy schauderte theatralisch. »Diese Räume sind riesig. Ich wäre viel zu ängstlich, um dort zu schlafen, jetzt, wo Lady Kate fort ist.«
Evie hätte beinahe gelacht. Gerade Kates nächtliches Komponieren war der Grund gewesen, aus dem Lizzy kürzlich das Zimmer nebenan bezogen hatte. Man konnte nur schwer schlafen, wenn die Herrin die halbe Nacht Kerzen brennen ließ, vor sich hinsummte und die Neigung hatte, über Möbel zu stolpern.
Unglücklicherweise war Gelächter unter den gegebenen Umständen keine geziemende Reaktion. Sie durfte nicht erheitert sein, rief Evie sich ins Gedächtnis. Sie musste Angst haben. Schreckliche Angst – und sie musste im Angesicht der Angst schrecklich tapfer sein.
»Dann schlaf eben hier. Das Bett ist groß genug für uns beide.«
Eine weitere Einladung brauchte Lizzy nicht. Sie warf ihr Bündel auf einen Stuhl und kletterte in das Himmelbett. »Vielen Dank, Miss. Ich werde viel besser schlafen, wenn noch jemand im Zimmer ist.«
Da Lizzy zum Schnarchen neigte, bezweifelte Evie, dass sie das Gleiche von sich sagen konnte.
Sie bekam keine Gelegenheit, sich zu beklagen. Ein leises Klopfen an der Tür zum Flur kündigte die Ankunft von Mrs Summers an, die ein Nachthemd mit Rüschen und eine Haube mit noch mehr Rüschen trug.
Evie blinzelte sie völlig verwirrt an. »Mrs Summers?«
»Guten Abend, Evie.« Sie rauschte an ihr vorbei zum Bett. »Lizzy, Liebes, rutsch ein Stückchen. Ich schlafe lieber an der Außenseite.«
Evie starrte sie an. »An der Außen …«