4,99 €
Die Liebe liegt manchmal näher, als man denkt ...
England, 1813. Der reiche und gut aussehende Whittaker Cole, Earl of Thurston, ist der Traum jeder Frau Englands. Nur Miss Mirabelle Browning scheint seinem Charme gegenüber immun zu sein. Die beiden liegen seit ihrer Kindheit in ständigem Streit miteinander. Doch während einer Hausgesellschaft auf dem Anwesen der Thurstons müssen die beiden Streithähne sich auf Wunsch von Whits Mutter ausnahmsweise am Riemen reißen.
Höfliche Konversation mit ihrem Erzfeind zu betreiben erscheint Mirabelle geradezu absurd. Fast gegen ihren Willen muss sie jedoch feststellen, dass Whits Nähe ihr ganz unerwartet Schmetterlinge im Bauch beschert. Und Whit zweifelt bald an seinem Verstand, als er bemerkt, dass Mirabelle seine Fantasie auf eine Weise beflügelt, die alles andere als gesellschaftsfähig ist. Aber es bedürfte für beide schon einer Pistole auf der Brust, um zuzugeben, dass sie sich genauso leidenschaftlich lieben könnten, wie sie sich immer gestritten haben ...
Prickelnde Leidenschaft und Romantik pur - die Providence-Reihe von Alissa Johnson:
Band 1: Wie es dem Glück beliebt
Band 2: Ein Erzfeind zum Verlieben
Band 3: Das Versprechen der Liebe
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 462
Veröffentlichungsjahr: 2024
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Prolog
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
Epilog
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Hat es Dir gefallen?
Impressum
Liebe Leserin, lieber Leser,
herzlichen Dank, dass du dich für ein Buch von beHEARTBEAT entschieden hast. Die Bücher in unserem Programm haben wir mit viel Liebe ausgewählt und mit Leidenschaft lektoriert. Denn wir möchten, dass du bei jedem beHEARTBEAT-Buch dieses unbeschreibliche Herzklopfen verspürst.
Wir freuen uns, wenn du Teil der beHEARTBEAT-Community werden möchtest und deine Liebe fürs Lesen mit uns und anderen Leserinnen und Lesern teilst. Du findest uns unter be-heartbeat.de oder auf Instagram und Facebook.
Du möchtest nie wieder neue Bücher aus unserem Programm, Gewinnspiele und Preis-Aktionen verpassen? Dann melde dich für unseren kostenlosen Newsletter an:
be-heartbeat.de/newsletter
Viel Freude beim Lesen und Verlieben!
Dein beHEARTBEAT-Team
Melde dich hier für unseren Newsletter an:
England, 1813. Der reiche und gut aussehende Whittaker Cole, Earl of Thurston, ist der Traum jeder Frau Englands. Nur Miss Mirabelle Browning scheint seinem Charme gegenüber immun zu sein. Die beiden liegen seit ihrer Kindheit in ständigem Streit miteinander. Doch während einer Hausgesellschaft auf dem Anwesen der Thurstons müssen die beiden Streithähne sich auf Wunsch von Whits Mutter ausnahmsweise am Riemen reißen.
Höfliche Konversation mit ihrem Erzfeind zu betreiben erscheint Mirabelle geradezu absurd. Fast gegen ihren Willen muss sie jedoch feststellen, dass Whits Nähe ihr ganz unerwartet Schmetterlinge im Bauch beschert. Und Whit zweifelt bald an seinem Verstand, als er bemerkt, dass Mirabelle seine Fantasie auf eine Weise beflügelt, die alles andere als gesellschaftsfähig ist. Aber es bedürfte für beide schon einer Pistole auf der Brust, um zuzugeben, dass sie sich genauso leidenschaftlich lieben könnten, wie sie sich immer gestritten haben …
ALISSA JOHNSON
Ein Erzfeind zum Verlieben
Aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Link
Für Ty Johnson und Brandon Hudson,
weil ihr ein Jahr lang fast alles gekocht habt,
was ich gegessen habe. Mampf. Hab euch lieb.
1796
Kein Bote ist so unwillkommen wie der Überbringer einer Todesnachricht.
William Fletcher hätte das eigentlich wissen müssen. Schließlich hatte er bislang mehr als ein Dutzend solcher Botschaften überbracht.
Doch in Haldon Hall gab man ihm nicht das Gefühl, unwillkommen zu sein. Im Gegenteil, bei seiner Ankunft teilte die Gräfin ihm mit, der Graf sei ausgegangen – was beinahe unweigerlich immer der Fall war –, bot ihm einen Stuhl an, schenkte ihm Tee mit einem großzügigen Schuss Whisky ein und wandte höflich den Kopf ab, als seine junge Stimme vor Trauer brach.
Es war nicht nur der Tod eines Mistreiters, den er heute verkündete, sondern der Tod eines Freundes.
»Wollen Sie mit dem Jungen sprechen, oder soll ich es tun?«, fragte die Gräfin, die ans Fenster getreten war.
Er wusste, was oder vielmehr wen sie beobachtete – ihren Sohn, Whittaker Cole, Erben des Grafen von Thurston. Whit stellte gerade zusammen mit Alex Durmant – dem jüngst verwaisten Herzog von Rockeforte – Zinnsoldaten auf dem Rasen auf.
»Ich würde es vorziehen …« Er räusperte sich. »Das heißt, es wäre mir sehr lieb, wenn ich selbst mit Alex sprechen könnte, falls Sie es mir erlauben wollen.«
Über die Schulter warf sie ihm einen verärgerten Blick zu. »Sie gehören ebenso zur Familie wie ich, William.«
»Ich … ich hätte schneller sein sollen. Ich hätte …«
»Papperlapapp. Dem Herzog waren die Risiken der Arbeit für das Kriegsministerium bekannt, so wie sie jedem Rockeforte bekannt waren« – sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Kinder draußen – »und bekannt sein werden. Haben Sie die Absicht, seine letzten Wünsche zu erfüllen?«
»Ja. Ich habe mein Wort gegeben.«
»Wissen Sie, es ist lächerlich, wenn ein erwachsener Mann den Ehestifter spielt.« Sie durchquerte den Raum und setzte sich neben ihn.
»Das ist mir bewusst«, brummte er. »Und ich versichere Ihnen, ihm war es ebenfalls bewusst.«
Sie verzog die Lippen zu einem zärtlichen Lächeln. »Er war ein ausgemachter Spaßvogel. Es scheint passend, dass er mit einem Scherz auf den Lippen starb. Eine Kleinigkeit hat er jedoch außer Acht gelassen.«
»Und was wäre das?« Falls seine Stimme eine gewisse Hoffnung verriet, von einem äußerst lästigen Gelübde entbunden zu werden, so war dies nicht zu ändern.
»Zwei dieser Kinder haben eine Mutter … die selbst klare Vorstellungen hat.«
William blieb eine Antwort erspart, als die Haustür aufschwang und draußen ein Streit zu hören war.
»Du hast sie kaputt gemacht, Kobold!«
»Nun, du hättest sie eben nicht einfach so im Gras herumliegen lassen dürfen, Kretin!«
»Sie lagen nicht einfach so herum. Sie waren in Stellung gebracht!«
»In Stellung wofür?«
»Für den Angriff, du …!«
»Whittaker Vincent!«
Bei dem überraschend lauten Ausruf der Gräfin verstummten die Stimmen, und die Schritte der Streitenden entfernten sich durch die Eingangshalle.
Sie räusperte sich geziert, hob die Tasse an die Lippen und nippte an ihrem Tee.
»Wie ich schon sagte, ich habe meine eigenen Pläne.«
1813
Was die Ursprünge der langjährigen und erbitterten Fehde zwischen Miss Mirabelle Browning und Whittaker Cole, dem Grafen von Thurston anging, war man sich nicht ganz einig.
Die betreffende Dame war der Ansicht, der Streit habe seinen Anfang genommen, als der Gentleman – und sie verwendete diesen Ausdruck höchst allgemein – zum ersten Mal den Mund zu öffnen geruhte und sich dadurch als Esel offenbarte.
Der Gentleman – der sich nur ungern übertrumpfen ließ – hielt dagegen, die Abneigung sei schon auf den ersten Blick vorhanden gewesen, was eindeutig auf Schicksal hinweise. Und da die Vorsehung die Angelegenheit des himmlischen Vaters selbst sei, stelle jedwedes unziemliche Verhalten seiner Person Miss Browning gegenüber einen klaren Hinweis auf das Missfallen des Allmächtigen an der Dame dar, und er selbst sei lediglich ein Instrument des göttlichen Zornes.
Nach Meinung der Dame sprach diese Ansicht sehr dafür, dass der Gentleman ein Esel war.
Manche sagten, alles habe angefangen, als ein Streit der kleinen Mirabelle mit dem nur wenig älteren Whit dazu führte, dass er vor den Augen der reizenden Miss Wilheim kopfüber aus einem Ruderboot ins Wasser fiel, worauf Miss Wilheim prompt selbst ausrutschte und über Bord ging, wodurch diese kurze, aber stürmische Romanze ein abruptes Ende fand. Andere behaupteten, die ganze Angelegenheit habe begonnen, als der durchtriebene Whit Mirabelle während eines Musikabends einen großen Käfer hinten in das Kleid steckte, was dazu führte, dass das Mädchen aufsprang, schrie, wild um sich schlug und die umsitzenden Menschen ebenfalls in Gefahr brachte.
Wieder andere beteuerten, es sei ihnen wirklich gleichgültig, wann oder wie alles angefangen habe, und sie wünschten nur, es möge ein Ende nehmen. Alle waren sich jedoch einig, dass die beiden schlicht und ergreifend nicht miteinander auskamen.
Ihre Rivalität war so berüchtigt, dass ein Beobachter der beiden, die sich gerade auf dem Rasen hinter Haldon Hall, dem Sitz der Thurstons, über eine Laufmaschine hinweg zornig anstarrten, resigniert geseufzt und sich vernünftigerweise schleunigst durch einen Rückzug in Sicherheit gebracht hätte.
Zum Glück für die Gesellschaft jedoch, die gerade im Haus stattfand, standen Whit und Mirabelle allein da, jeder mit einer Hand auf der neumodischen, fahrbaren Erfindung. Und ganz wie zwei Kinder, die sich um ein Spielzeug zanken, waren beide gleichermaßen entschlossen, es für sich allein zu beanspruchen.
Als vernünftige und – unter normalen Umständen – wohlerzogene junge Dame war Mirabelle sich der Lächerlichkeit und Banalität der Situation vollkommen bewusst. Aufrichtig, wie sie war, konnte sie sich eingestehen, dass kaum etwas so gut zu ihrer gegenwärtigen Stimmung passte wie das Lächerliche und Banale.
Ein heftiger Streit war genau, was sie brauchte. Wie immer tat Whit ihr nur zu gern diesen Gefallen.
»Lass los, Kobold.«
Wie stets, wenn er sich wirklich ärgerte, biss Whit beim Sprechen die Zähne zusammen. Mirabelle wies ihn oft darauf hin, dass das daraus resultierende undeutliche Nuscheln die Wirkung merklich schmälerte. Doch im Moment fühlte sie sich eher störrisch als zum Sticheln aufgelegt.
»Dafür sehe ich keinen Grund«, gab sie zurück und reckte das Kinn.
»Den würdest du wahrscheinlich selbst dann nicht sehen, wenn er auf deiner Nasenspitze säße.« Er zog an der Maschine, was nur dazu führte, dass sie diese umso störrischer festhielt. »Du weißt nicht mal, wie man damit umgeht.«
»Und ob ich das weiß. Man setzt sich dort zwischen die beiden Räder, hält sich an den Stangen fest und stößt sich mit den Füßen ab. Ich zeige es dir …«
»Nein. Du fährst nicht damit.«
Keine zehn Minuten zuvor hatte sie nicht einen Gedanken darauf verschwendet, das vermaledeite Ding zu fahren. Sie war nur neugierig gewesen. Aber während sie dort in der warmen Sonne gestanden und sich die Zeit damit vertrieben hatte, die Maschine bald in diese, bald in jene Richtung zu drehen, um herauszufinden, wie das alles zusammengesetzt war, war Whit um das Haus herumgekommen und hatte ihr verboten, ihr verboten, die Maschine zu besteigen.
Sie hatte ihn eingehend betrachtet, mit seinem windzerzausten hellbraunen Haar, den blitzenden eisblauen Augen und seinen aristokratischen Zügen, die sich in grimmige Falten gelegt hatten. Jeder Zoll seiner langen, hochgewachsenen Gestalt drückte Macht aus, begründet durch Reichtum, Titel und Ländereien und den schieren Zufall, als Mann geboren worden zu sein. Die gleiche Art von Macht, mit der ihr Onkel sie unter seiner Knute hielt.
Und sie beschloss, dass sie doch mit dem vermaledeiten Ding fahren würde.
»Du hast gesagt, es sei für die Gäste, Kretin«, hielt sie ihm entgegen.
»Du bist auf Haldon Hall kein Gast.«
Sie ließ los und trat zurück, völlig perplex über die sieben Wörter, die ihr mehr bedeuteten, als er ahnen konnte. »Ich … das ist das Netteste …«
»Du bist eine Heimsuchung«, stellte er klar und hob das Gefährt hoch. »Wie Hausschwamm.«
Sie sprang vor und packte den Sitz mit beiden Händen.
Es folgte ein kurzes Tauziehen. Whit war natürlich stärker, aber er konnte die Maschine ihrem festen Griff schwerlich entwinden, ohne sie dabei womöglich zu verletzen. Und obwohl Mirabelle ihn für einen fehlerbehafteten Menschen hielt – einen äußerst fehlerbehafteten –, wusste sie, dass er nicht das Risiko eingehen würde, einer Frau körperliches Leid zuzufügen. Dass er sich wahrscheinlich gerade über diesen speziellen Ehrenkodex ärgerte, gab ihr eine gewisse Befriedigung.
Sie hatte sich gerade damit abgefunden, dass sie ihm die Maschine nicht entreißen konnte, und erwog flüchtig, einfach so fest wie möglich daran zu ziehen und dann abrupt loszulassen, in der Hoffnung, dass er hart auf sein Hinterteil fallen würde. Doch als sich hinter Whit eine Tür öffnete und Mirabelle einen Blick auf bronzefarbene Seide und graues Haar erhaschte, entschied sie sich für etwas anderes.
Etwas Gemeines, Kindisches und entsetzlich Ungerechtes.
Etwas einfach Perfektes.
Sie ließ los, trat einen Schritt zurück und hob die Hände. »Das könnte ich unmöglich tun, Whit. Bitte, es ist bestimmt nicht sicher.«
»Was zum Teufel willst du …?«
»Whittaker Vincent! Ermutigst du etwa gerade Mira, mit dieser schauerlichen Maschine zu fahren?«
Beim Klang der Stimme seiner Mutter, die ihn – was nie etwas Gutes verhieß – mit seinen beiden Vornamen ansprach, erbleichte und errötete Whit, kniff die Augen zusammen und starrte Mirabelle zornig an.
»Das wirst du teuer bezahlen«, zischte er.
Durchaus wahrscheinlich, gestand sie sich ein. Aber das war es wert.
Whit drehte sich um und schenkte seiner Mutter ein Lächeln. Sie war eine kleine Frau mit ebenso blauen Augen wie ihre Kinder und dem rundlichen Gesicht, das sie von ihrem eigenen Vater geerbt hatte. Sittsam gekleidet, mit rosigen Wangen und sanfter Stimme, erinnerte sie an eine gütige Tante oder auch die jüngere Ausgabe ihrer lieben Großmama. Der Schein täuschte, was Lady Thurston schon vor langer Zeit weidlich auszunutzen gelernt hatte.
Whit schluckte. »Natürlich nicht. Ich habe …«
»Willst du damit andeuten, ich sei alt?«, fragte Lady Thurston.
»Ich …« Verwirrt und auf der Hut nahm Whit seine Zuflucht zu Schmeicheleien. »Du bist der Inbegriff der Jugend, Mutter.«
»Sehr hübsch ausgedrückt. Aber bist du dir sicher? Mein Gehör ist also nicht geschwächt? Meine Augen?«
Eine Pause entstand, als er die List durchschaute, und dann eine weitere, als er begriff, dass er wohl oder übel in die Falle gehen musste. Mirabelle hatte ihre liebe Not, nicht laut aufzulachen.
»Keineswegs, dessen bin ich mir sicher«, brachte er schließlich heraus.
»Ich bin erleichtert, das zu hören. Einen Moment lang dachte ich, du würdest mir womöglich sagen, ich hätte die Situation falsch eingeschätzt. Das kann nämlich vorkommen, wenn man alt wird und die Sinne stumpf werden. So etwas muss äußerst verstörend sein.«
»In der Tat«, murmelte Whit.
»Da wir dieses Missverständnis nun aufgeklärt haben, entschuldige dich bei Mira, Whit, und schaff dieses Ding fort. Ich dulde es nicht, dass sich einer meiner Gäste den Kopf aufschlägt.«
Mirabelle, die in diesem Moment mit Lady Thurston ungemein zufrieden war, steckte den Kopf hinter Whits Schulter hervor.
»Was ist, wenn Miss Willory eine Fahrt unternehmen möchte?«, erkundigte sie sich mit Unschuldsmiene.
Lady Thurston schien einen Moment lang darüber nachzusinnen. »Nein, Kopfverletzungen bluten heftig. Und meine Teppiche sind mir lieb und teuer.«
Mirabelle lachte und sah Lady Thurston nach, die in einem Wirbel bronzefarbener Röcke davonrauschte. »Ich warte, Whittaker Vincent.«
Whit fuhr zu ihr herum. »Worauf?«, blaffte er.
»Natürlich auf deine Entschuldigung.«
»Schön. Dann warte weiter.«
Sie lachte, wandte sich zum Gehen und malte sich zufrieden aus, wie er ihr zornig hinterherstarren würde, bis sie außer Sichtweite war.
Ein Ruck durchfuhr sie, als er sie am Arm packte und zu sich herumwirbelte.
»Oh, wir sind hier noch nicht ganz fertig, Kobold.«
Geh einfach. Lass es sein.
Whit wusste, dass dies das Beste war, aber obgleich die kleine Stimme der Vernunft ihn dazu drängte, verlangte die lautere und unendlich verlockendere Stimme des Stolzes nach Rache. Damit einher ging der süße und verführerische Gedanke, dass er diese Rache ebenso gut genießen könnte.
Mirabelle war an diesem Nachmittag nicht die Einzige auf Haldon Hall, die sich mit schlechter Laune herumschlug.
Whit hatte die vergangenen drei Tage auf einem seiner kleineren Güter verbracht und einen Streit geschlichtet, in dem es um zwei Pachtbauern, einen zerbrochenen Zaun, eine Milchkuh, einen unfähigen Aufseher und – wenn er sich nicht sehr täuschte – ein gewisses hübsches Schankmädchen ging, das mit dem Streit wahrscheinlich mehr zu tun hatte als der Zaun, die Kuh oder der Aufseher.
Während des ganzen Vorgangs hatte er sein Temperament gezügelt, und das hatte er erneut getan, als er in der vergangenen Nacht sehr spät nach Hause zurückgekehrt war, um zum wiederholten Male festzustellen, dass seine Schwester noch auf war und sich in ihrem Zimmer zu schaffen machte, ohne eine annehmbare Erklärung für ihr nächtliches Treiben zu liefern.
Auch hatte er eine bemerkenswerte Selbstbeherrschung an den Tag gelegt, als er früh am Morgen vom Lärm zweier Hausmädchen geweckt worden war, die sich aufgebracht wegen eines heruntergefallenen Tabletts gestritten hatten. Und als er in den Stall gegangen war, um festzustellen, dass sein Lieblingspferd lahmte. Und genauso, als seine zweite Wahl nach einem einstündigen Ritt ein Hufeisen verloren hatte, was einen langen Marsch von den Feldern zurück zu den Ställen notwendig gemacht hatte.
Er war gerade von dort zurückgekehrt, brummend, fluchend, entrüstet darüber, dass er das Mittagessen versäumt hatte, und betrachtete den Tag inzwischen durchaus nicht mehr als angenehm, als er Mirabelle aus der Ferne erblickt hatte.
Zuerst hatte er wie gewohnt reagiert – mit einem wohligen Aufwallen des Blutes, instinktiver Anspannung der Muskeln, einem langsamen und unwillkürlichen Lächeln. Ein lebhafter Streit war genau, was er brauchte.
Mirabelle war herrlich leicht zu ködern – sie ließ keine Bemerkung unerwidert und schreckte vor keiner Herausforderung zurück. Dies war wirklich die beste Eigenschaft des jungen Dings, und es gab kaum etwas, das er so genoss, wie sie zu quälen, bis sie zornig aufbrauste.
Nun gut, die Konsequenzen waren für ihn manchmal unangenehm, mitunter sogar katastrophal – man denke nur an die demütigende Episode mit seiner Mutter, die sich soeben ereignet hatte –, aber es hatte etwas ungemein Befriedigendes, zu beobachten, wie ihre Augen schmal wurden, ihr Gesicht sich rötete … und wie aus ihrem Mund die erstaunlichsten Worte kamen. Sie erheiterte ihn immer, selbst wenn er manchmal zu zornig – oder sogar gekränkt – war, um es zu genießen.
Es glich ein wenig dem Spiel mit dem Feuer, dachte er – höchst unklug, aber unwiderstehlich.
Langsam stellte er die Laufmaschine hin. Zum Teil, um in aller Ruhe über seinen Angriffsplan nachzudenken, zum Teil, um sein Gemüt zu beruhigen, und zum Teil einfach, um sich daran zu erfreuen, wie Mirabelle sich wand. Und sie wand sich tatsächlich, drehte den Arm umsonst hin und her, in dem vergeblichen Bemühen, sich aus seinem Griff zu befreien.
»Sollen wir den ganzen Tag hier herumstehen?«, fragte sie schließlich schnaubend und gab den Kampf auf.
»Das wäre eine Möglichkeit«, sagte er. »Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Du wirst dich gleich ebenso langweilen wie ich.«
»Oh, das bezweifle ich. Es gibt so viel Interessantes, worüber ich nachdenken kann.«
»Ah, er bemüht sich zu denken.« Sie nickte übertrieben verständnisvoll. »Das würde die Verzögerung erklären.«
»Rache ist eine Angelegenheit von großer Bedeutung. Sie erfordert eine gewisse Überlegung.«
»Sie erfordert Intelligenz und ein Mindestmaß an Einfallsreichtum.« Sie klopfte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden. »Vielleicht möchtest du dich ja setzen?«
Er lächelte träge und ließ ihren Arm los. »Nicht nötig. Ich glaube, mir ist gerade genau das Richtige eingefallen.«
Theatralisch verdrehte sie die Augen, machte aber keine Anstalten zu gehen. »Nun, was denn? Willst du mich an den Haaren ziehen? Mich vor aller Welt beleidigen? Mir ein Reptil ins Kleid stecken?«
»Dein Kleid würde dadurch nur gewinnen, aber mir schwebt etwas anderes vor.«
»Nun, heraus damit. Ich brenne darauf, deinen schlauen Plan zu hören.«
»Das denke ich nicht.« Er lächelte bedrohlich. »Du wirst einfach abwarten müssen.«
Sie kräuselte die Stirn. »Wie meinst du das, ich werde warten müssen?«
»So, wie ich es sage. Du wirst warten müssen.«
»Das ist also deine Rache?«, fragte sie und ballte die Hände auf den Hüften zu Fäusten. »Ich soll darüber grübeln, welch abscheulichen Streich du mir womöglich spielen wirst.«
»Ein willkommener Nebeneffekt.«
Nachdenklich schürzte sie die Lippen. »Keine schlechte Strategie, zumindest wenn du in der Lage wärst, mehr als zwei Gedanken gleichzeitig im Kopf zu behalten. Bis zum Abendessen wirst du es vergessen haben.«
»Woher willst du wissen, dass ich meinen gerissenen Plan nicht schon vor dem Abendessen in die Tat umsetze?«
»Ich …« Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte er. »Oder bist du vor Angst verstummt?«
Sie schnaubte geringschätzig und wirbelte auf dem Absatz herum, um zu gehen. Hinter einer Wolke brach die Sonne hervor und tauchte sie für einen kurzen Moment in ein weiches, bernsteinfarbenes Licht. Das Mädchen wirkte auf einmal leuchtender – anders. Er blinzelte verdutzt. Warum zum Teufel sollte sie anders aussehen?
»Einen Moment noch.« Wieder hielt er sie am Arm fest.
Sie seufzte, ließ sich jedoch herumdrehen. »Was ist los, Kretin, hat ein dritter Gedanke die ersten beiden so schnell vertrieben? Es überrascht mich, dass du in so kurzer Zeit so viele gehabt hast. Wenn du sie vielleicht von jemandem für dich aufschreiben ließest …«
Er hörte nicht mehr zu, sondern sah sie an. Es war unzweifelhaft der Kobold: durchschnittliche Größe und Gestalt, dieselben braunen Haare und braunen Augen, schmale Nase, ovales Gesicht. Sie sah ziemlich unscheinbar aus, wie gewöhnlich, aber irgendetwas stimmte nicht – etwas war anders oder fehlte. Er schien nur nicht recht den Finger darauf legen zu können, was dieses Etwas war.
War es ihre Haut? War sie blasser, brauner, gelber? Wohl kaum, aber er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, da er in der Vergangenheit selten auf ihre Haut geachtet hatte.
»Irgendetwas ist anders an dir«, murmelte er und sprach dabei mehr mit sich selbst, doch er sah, dass sie kurz blinzelte, bevor ihre Augen vor Überraschung und Skepsis groß wurden.
Also war tatsächlich etwas anders. Was zum Teufel war es? Ihr Haaransatz war so spitz und die Wangenknochen so hoch wie eh und je. Hatte sie immer schon dieses kleine Muttermal über der Lippe gehabt? Er konnte sich nicht erinnern, bezweifelte jedoch, dass es über Nacht gekommen war. Ihr Teint war freilich ein wenig kräftiger als noch vor einer Minute, aber das war es nicht, was ihn jetzt verwirrte.
»Kobold, es ist mir völlig unerklärlich. Ich bin offenbar nicht in der Lage, …«
Er neigte den Kopf in die andere Richtung und ignorierte ihre erzürnte Miene. Er kam einfach nicht darauf, was sich an dem Mädchen verändert hatte. Es hatte sich etwas verändert, das wusste er, und auch, dass es ihm aus irgendeinem Grund nicht gefiel. Die Veränderung bereitete ihm ein gewisses Unbehagen. Und daher schien es vollkommen natürlich, dass er sich straffte und fragte: »Warst du vielleicht krank?«
Mirabelles Ausflug um das Haus herum war weniger ein Spaziergang als vielmehr ein ausgedehnter Wutanfall.
Warst du vielleicht krank?, also wirklich.
Es wäre klüger gewesen, einfach die Hintertür zu benutzen, aber dann hätte sie an Whit vorbeigehen müssen. Und ein Abgang war erst dann richtig dramatisch, wenn man auf dem Absatz kehrtmachen und in die entgegengesetzte Richtung davonstürmen konnte, und genau das hatte sie getan, nachdem Whit seine überaus törichte Frage gestellt hatte.
Warst du vielleicht krank?
Sie trat gegen einen kleinen Stein und sah zu, wie er durch das Gras kullerte. Vielleicht … möglicherweise … hätte sie ihm gegenüber nicht ganz so eigensinnig sein sollen. Aber sie war den ganzen Tag schon übler Laune gewesen. Seit sie beim Frühstück diesen verwünschten Brief von ihrem Onkel erhalten hatte.
Zweimal im Jahr, in jedem vermaledeiten Jahr, war sie gezwungen, sich zum zwei Meilen weit entfernten Haus ihres Onkels auf eine seiner Jagdgesellschaften zu begeben. Und jedes Jahr sandte er im Vorfeld dieses Ereignisses ein Schreiben, um sie daran zu erinnern. Und in jedem einzelnen Jahr, wie sehr sie auch dagegen ankämpfte, befiel sie daraufhin ein leichtes Grauen, das sie die ganze Woche nicht mehr verließ.
Sie verachtete ihren Onkel, verabscheute seine Gesellschaften und hasste nahezu jeden der zügellosen, ausschweifenden und verkommenen Säufer, die dorthin kamen.
Viel lieber wäre sie hier in Haldon geblieben. Einen Moment lang blieb sie stehen, um das große steinerne Haus zu betrachten. Als sie es zum ersten Mal gesehen hatte, war sie noch ein Kind gewesen. Ein kleines Mädchen, das seine Eltern während einer Grippeepidemie verloren hatte und erst seit einem Monat bei seinem Onkel lebte. Verstört angesichts der Umwälzungen in ihrem Leben und in ihrem neuen Heim unerwünscht, hatte sie in Haldon schon bald sowohl eine Zuflucht als auch ein verzaubertes Schloss gesehen. Es war eine wilde Mischung aus Altem und Neuem. Hier gab es riesige Räume, enge Flure, gewundene Treppen und geheime Korridore, vergoldete Decken in einem Raum, Holzgebälk in einem anderen – ein seltsam liebenswertes Sammelsurium aus Geschmäckern und Lebensstilen der letzten acht Grafen. Man konnte sich in dem Gewirr der Gänge und Räume verlaufen, und gelegentlich geschah das auch. Wenn sie sich nur, dachte sie, verirren könnte, um nie wieder hinauszufinden.
Nun, sie konnte es nicht, rief sie sich ins Gedächtnis, und setzte ihren Weg fort.
Sie sollte für ihren Onkel die Gastgeberin spielen, und daran ließ sich nichts ändern. Außer dass sie sich natürlich auf das vorbereiten musste, was unweigerlich kommen würde. Sie hatte sich diesmal größte Mühe gegeben, sich davon ihren Aufenthalt in Haldon nicht verderben zu lassen – sie war sogar so weit gegangen, sich ein neues Kleid machen zu lassen.
Sie hatte kein neues Kleid mehr angezogen seit … es schien eine Ewigkeit her zu sein. Das bisschen Nadelgeld, das ihr Onkel ihr gab, erlaubte keine extravaganten Einkäufe. Es reichte kaum für das Nötigste.
Rückblickend hätte sie vielleicht ihre Ersparnisse nicht angreifen sollen, aber nach dem Eintreffen des Briefes war sie direkt auf ihr Zimmer gegangen und hatte ihr neues Kleid angezogen. Es war wirklich töricht, um wie viel besser sie sich darin gefühlt hatte … beinahe hübsch. Sie hatte fast damit gerechnet, dass jemand eine Bemerkung darüber machen würde.
Warst du vielleicht krank?
Sie fand den Stein wieder und trat so fest dagegen, dass ihr Zeh schmerzte.
Wirklich, Whit war ungefähr so scharfsichtig wie ein … nun, sie wusste es nicht genau. Etwas Blindes und Taubes. Zu dumm, dass er nicht obendrein auch noch stumm war.
Mirabelle blieb stehen, um tief durchzuatmen und sich zu beruhigen. Es war zwecklos, sich wegen einer kleinen Bemerkung derart aufzuregen. Vor allem, wenn besagte Bemerkung von Whit kam. Es war nicht annähernd die schlimmste Beleidigung, mit der er sie je bedacht hatte, und dass sie sich wegen einer so kleinen Kränkung so ärgerte, führte nur dazu, dass sie sich … nun, noch mehr ärgerte.
Sie drehte sich um und trat durch eine Nebentür ins Haus, machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer und versuchte, ihre verworrenen Gefühle zu ergründen. Es war nicht nur Ärger, begriff sie. Da waren auch Gekränktheit und Enttäuschung. Er hatte einfach nur dagestanden, mit diesem typischen, schiefen, unbekümmerten Grinsen, dessentwegen die Hälfte der vornehmen Welt in ihn verliebt war, und für einen Moment hatte sie tatsächlich geglaubt, er würde etwas Freundliches sagen. Aus Gründen, die sie lieber keiner genaueren Betrachtung unterzog, hatte sie sich sogar gewünscht, er würde etwas Freundliches sagen. Etwas wie: »Oh, Mirabelle …«
»Oh, Mirabelle, was für ein hübsches Kleid!«
Mirabelle wirbelte herum und sah Evie Cole hinter sich aus einem Raum treten. Evie war eine üppige junge Frau mit hellbraunem Haar und dunklen Augen, und man hätte ihre Erscheinung als reizend beschreiben können, wäre da nicht das leichte Hinken gewesen und die lange, dünne Narbe, die sich von der Schläfe bis zum Kinn zog, beides Spuren eines Kutschenunfalls in ihrer Kindheit.
Zwar war es außerhalb der Familie nicht bekannt, doch es war eben dieser Unfall, der Evie nach Haldon Hall geführt hatte. Ihr Vater – Whits Onkel – war in jener Nacht gestorben, und ihre Mutter – die dem Vernehmen nach ihrem Kind gegenüber ohnehin nicht sonderlich aufmerksam war –, hatte beschlossen, in Trauer zu versinken, anstatt sich um das Wohl ihrer Tochter zu kümmern. Evie zufolge hatte Mrs Cole Lady Thurstons Angebot, Evie auf Haldon großzuziehen, nur allzu bereitwillig angenommen.
Nach Jahren der Vernachlässigung war es kaum überraschend, dass Evie bei ihrer Ankunft ein sehr schüchternes Kind war. Es hatte Monate gedauert, sie aus ihrem Schneckenhaus zu locken. Als das endlich gelungen war, hatte Mirabelle zu ihrem Erstaunen kein sittsames und bescheidenes kleines Mädchen vorgefunden, sondern einen eigensinnigen Blaustrumpf. Evie hatte eine unglaubliche mathematische Begabung und außerdem das gegenwärtig noch geheime Ziel, die weibliche Bevölkerung der Welt – oder zumindest Englands – von der Unterdrückung durch die Unterart zu befreien, als die sie das männliche Geschlecht bezeichnete. Kurzum, sie war eine Radikale.
Außerdem war sie unbeirrbar loyal, von listiger Klugheit und seltsamerweise auch modebewusst. Es war kaum wahrscheinlich, dass Evie ein hübsches neues Kleid an einer Freundin übersehen hätte.
Unwillkürlich strahlte Mirabelle über das ganze Gesicht.
»Heißt das, dein Onkel hat sich endlich einmal großzügig gezeigt?«, erkundigte sich Evie und zupfte an dem lavendelfarbenen Ärmel.
»Wo denkst du hin«, sagte Mirabelle verächtlich. »Nicht einmal im Tod würde dieser Mann sein Geld loslassen.«
Evie sah sie fragend an, und Mirabelle nahm sie bei der Hand und führte sie in einen kleinen Salon am Ende des Flurs. »Komm, ich erkläre es dir, wenn Kate von ihrem Ausritt zurückkehrt. Läute unterdessen nach Tee und diesen köstlichen Keksen, die die Köchin backt. Ich weiß, es ist noch früh, aber ich bin vollkommen ausgehungert. Und nun, da du mir nicht entwischen kannst, bestehe ich darauf, dass du mir endlich alles über deine Reise nach Bath im vergangenen Monat erzählst.«
»Du hast immer Hunger«, murmelte Evie, nachdem sie an dem Klingelzug gezogen und das Hausmädchen, das darauf erschienen war, nach Erfrischungen geschickt hatte. »Und ich habe dir bereits gesagt, Bath war eben Bath. Eine stattliche Anzahl hässlicher Menschen in schönen Kleidern, die schmutziges Wasser tranken. Ich habe dir gewissenhaft geschrieben«, beendete sie ihren Bericht und nahm Platz.
»Du hast einen einzigen Brief geschickt, und sein gesamter Inhalt drehte sich um einen schrecklichen Musikabend bei den Watlingtons, den du besuchen musstest. Ich möchte die Höhepunkte hören.«
»Das war der Höhepunkt«, beharrte Evie. »Miss Mary Willory ist über den Saum ihres Rockes gestolpert und hat den Cellisten zu Fall gebracht, bevor ihr Kopf heftig auf der Rückenlehne seines Stuhles aufschlug, und um das einmal klarzustellen, ein Brief ist gewissenhafte Korrespondenz, soweit es mich betrifft.«
»Ich weiß«, lachte Mirabelle. »Es ist ein Glück, dass andere gern Briefe schreiben, sonst würde ich nie erfahren, was bei deinen Abenteuern geschieht.«
»Bei meinen Abenteuern geschieht gar nichts, deshalb schreibe ich auch so wenig. Es kostet mich eine halbe Woche meiner Zeit, genügend Material für eine Seite zu sammeln, und um ehrlich zu sein, ein Großteil davon ist Übertreibung – der Dramatik zuliebe, du verstehst.«
»Natürlich. Auch der Zwischenfall mit Miss Willory?«
Evie grinste boshaft. »Oh nein, mein Bericht über dieses Ereignis entsprach der Wahrheit bis zum letzten wundervollen Detail. Gott weiß, dass ich mir diese Szene so gut als möglich eingeprägt habe. Von dieser Erinnerung werde ich noch Jahre zehren.«
Mirabelle unterdrückte ein Lächeln, was ihr nicht recht gelang. »Wir machen uns wohl selbst kaum Ehre, wenn wir uns auf ihr Niveau der Schadenfreude herablassen. Außerdem hätte sie verletzt werden können.«
»Oh, aber das wurde sie ja«, erwiderte Evie fröhlich und ohne jede Reue. »Sie hatte auf der Stirn eine Beule von der Größe eines Hühnereis.« Die Erinnerung daran ließ sie sehnsüchtig lächeln. »Sie war herrlich – ganz schwarz und blau und rot an den Rändern.«
»Gott, das klingt schmerzhaft.«
»Das will ich hoffen. Und nach einigen Tagen nahm sie einen spektakulären Grünton an. Etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen. Ich war in Versuchung, Miss Willory zur Schneiderin mitzunehmen, um mir zu diesem Anlass ein Kleid in genau diesem Farbton anfertigen zu lassen, aber ich hätte ihre Gesellschaft wohl nicht so lange ertragen.«
Die Tür ging auf, und das Erscheinen einer jungen Frau schnitt Mirabelle das Wort ab.
»Kate!«, riefen beide Mädchen aus, teils erfreut über ihr Kommen, teils entsetzt über ihren Zustand.
Lady Kate Cole war unter besseren Umständen eine Schönheit – groß genug, um die gegenwärtige hochtaillierte Mode ohne Weiteres tragen zu können, aber doch so schlank, dass sie gleichzeitig zart wirkte – und zugleich mit so vielen weiblichen Kurven gesegnet, dass die Augen und Gedanken der Männer sich erst gar nicht mit derlei Betrachtungen aufhielten. Die Natur hatte ihr zu ihrem Glück das hellblonde Haar und die sanften blauen Augen geschenkt, von der die feine Gesellschaft gegenwärtig schwärmte, außerdem hatte sie eine gerade Nase, ein reizendes kleines Kinn und einen perfekten Rosenknospenmund. Normalerweise war sie eine Augenweide. Im Moment jedoch hatte sich ihr Haar halb aus seinen Nadeln gelöst und hing ihr in feuchten Strähnen um den Hals. Ihr Kleid war zerrissen und vorne über und über mit Schlamm bespritzt.
»Oh, Kate«, seufzte Evie und stand auf, um die Hand ihrer Cousine zu ergreifen. »Was ist denn passiert?«
Kate blies sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. »Ich bin vom Pferd gefallen.«
Mirabelle und Evie gaben überraschte Laute von sich. Kates Missgeschicke waren nichts Ungewöhnliches, aber meist harmlos.
»Du bist was?«
»Bist du verletzt? Sollen wir nach einem Arzt schicken?«
»Weiß deine Mutter Bescheid?«
»Du solltest dich hinsetzen. Sofort.«
Kate ließ sich zu einem Stuhl führen und nahm mit einem verdrießlichen Seufzer Platz. »Ich bin zwar vom Pferd gefallen, aber völlig wohlauf, keine Sorge. Ich brauche weder einen Arzt noch meine Mutter. Hat jemand nach Tee geläutet, ich möchte unbedingt …«
»Ja, ja«, rief Mirabelle ungeduldig, »aber bist du auch ganz gewiss nicht verletzt? Von einem Pferd abgeworfen zu werden ist keine Kleinigkeit, Kate. Vielleicht sollten wir …«
Mirabelle brach ab, als sie sah, wie Kate schuldbewusst das Gesicht verzog.
»Daisy hat mich nicht abgeworfen«, gestand Kate widerstrebend. »Ich bin aus dem Sattel gefallen.«
Betretenes Schweigen entstand, dann zog Evie die Augenbrauen hoch und sagte: »Nun, ich muss zugeben, dass das etwas anderes ist.«
Kate nickte und bedeutete ihren Freundinnen, wieder Platz zu nehmen. »Ich war auf der Ostweide und hielt an, um mir eine kleine Blume anzusehen, die gerade mitten im Nirgendwo aufblühte, und noch dazu so früh. Ich dachte, wenn ich herausfinden könnte, was das für eine Blume ist, könnte ich ein paar davon hinten in dem ummauerten Garten pflanzen, wo so wenig Sonne hinkommt. Ihr wisst schon, wo außer stachligem Unkraut anscheinend nichts wächst, und …«
»Kate«, tadelte Mirabelle ihre Freundin sanft.
»Richtig, nun … ich habe mich vorgebeugt, um sie näher zu betrachten, und mein Kleid, oder vielleicht war es mein Absatz …« Sie hielt inne, um einen fragenden Blick auf ihre Füße zu werfen. »Jedenfalls bin ich an irgendetwas hängen geblieben, und dann lag ich auch schon mit dem Gesicht im Schlamm. Daisy stand ganz ruhig da.«
Evie und Mirabelle sahen sie mitfühlend an. Mirabelle konnte nicht umhin, sie noch einmal nach ihrem Befinden zu fragen.
»Ich fühle mich vollkommen wohl. Wirklich«, antwortete Kate. »Nichts hat Schaden genommen außer meinem Reitgewand, das sich ersetzen lässt, und meinem Stolz – der im Laufe der Jahre eine gesunde Hornhaut entwickelt hat und sich bis zum Abend zweifellos vollständig erholt haben wird. Oh, und die Blume. Ich bin auf sie gefallen.«
»Ein Jammer«, bemerkte Evie.
»Wie wahr. Jetzt werde ich nie erfahren, was für eine Blume es war.«
»Gewiss gibt es noch mehr davon«, meinte Mirabelle. »Du solltest dich umziehen, bevor du dich erkältest.«
»Oh nein, das ist nicht notwendig. Unter all dem Schlamm bin ich vollkommen trocken. Da wir gerade von Kleidern sprechen, du siehst heute ganz reizend aus, Mira. Ist das ein neues Kleid?«
»Ja.« Sie zupfte an den Röcken. »Mein Onkel hat heute Morgen seinen Brief geschickt. Ich dachte, das Kleid könnte mich vielleicht aufheitern.«
Kate beugte sich vor und nahm ihre Hand. »Du brauchst nicht hinzugehen, weißt du. Sag nur Mutter, dass du bleiben willst, sie wird sich darum kümmern.«
Mirabelle drückte ihrer Freundin die Hand. Ohne Zweifel würde Lady Thurston sich darum bemühen. Doch unglücklicherweise erhielt Mirabelles Vormund gemäß den Bedingungen im Testament ihrer Eltern jährlich die Summe von dreihundert Pfund, bis Mirabelle das Alter von siebenundzwanzig Jahren erreicht hatte, vorausgesetzt, sie verbrachte jedes Jahr mindestens sechs Wochen unter seinem Dach. Nach Mirabelles Vermutung war dies eine Vorsichtsmaßnahme, die sicherstellen sollte, dass man sie nicht einfach ins Armenhaus steckte. Ein wohlmeinender Gedanke, der mehr geschadet als genützt hatte.
»Ich weiß, aber mein Onkel würde es so schwer machen, und ich möchte nicht, dass euer Heim durch solche Streitereien vergiftet wird.«
»Wie lange dauert es noch, bis das Testament seine Gültigkeit verliert und du endgültig zu uns gehörst?«, fragte Evie.
»Nicht mehr lange, keine zwei Jahre mehr.«
Dieses Wissen hatte entscheidend dazu beigetragen, dass sie sich ein neues Kleid gekauft hatte. Nach ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag würde sie ihre dürftigen Ersparnisse von achtzig Pfund nicht länger brauchen. Ihre Eltern hatten augenscheinlich entschieden, dass, wenn es ihr bis zu diesem Alter nicht gelungen war, einen Ehemann zu finden, es unwahrscheinlich war, dass das je geschah, und dann würde ihr Erbe von fünftausend Pfund – gegenwärtig eine Mitgift – ihr gehören, und sie konnte darüber nach ihrem Belieben verfügen.
Es würde ihr sehr gefallen, dachte sie, ihr eigenes Haus zu haben – wo die Leute zur Abwechslung einmal sie besuchen würden.
Sie wurde aus ihren Überlegungen gerissen, als Thompson, der Butler, den Raum betrat.
»Der Herzog und die Herzogin von Rockeforte sind eingetroffen«, teilte er ihnen mit, bevor er klugerweise beiseitetrat. Die drei Frauen eilten zur Tür.
Der Herzog und die Herzogin – ihren engen Freunden besser bekannt als Alex und Sophie – waren in Mirabelles Augen das reizendste Paar in ganz England. Sie sah, wie die beiden aus der Kutsche stiegen – ein ausgesprochen gut aussehender Mann, der einer schönen und unübersehbar schwangeren jungen Frau beim Aussteigen half.
Mirabelle kannte Alex seit ihrer Kindheit. Seine Mutter war zeit ihres Lebens mit Lady Thurston befreundet gewesen, und als der junge Alex als Waise zurückgeblieben war, hatte Lady Thurston ihm ihr Haus und ihr Herz geöffnet und war ihm gewissermaßen eine zweite Mutter geworden. Er war so groß wie Whit, aber breitschultriger. Sein Haar hatte die Farbe von kräftigem Kaffee, und seine graugrünen Augen, die früher einmal so skeptisch geblickt hatten, waren jetzt voller Heiterkeit.
Mirabelle hatte Sophies Bekanntschaft erst vor weniger als zwei Jahren gemacht, aber schon nach wenigen Tagen waren sie beste Freundinnen geworden. Sophie war eine faszinierende Frau, die vor ihrer Heirat mit Alex jahrelang die Welt bereist und in dieser Zeit unzählige aufregende Abenteuer erlebt hatte. Ihr Haar war von einem dunklen Mahagoniton, und ihre strahlend blauen Augen blickten für gewöhnlich freundlich wie die ihres Mannes. Doch im Moment lag Gereiztheit darin.
»Taubheit in den Händen ist zwar gewiss unter Frauen in meinen Umständen ein weitverbreitetes Leiden«, sagte sie in unüberhörbar sarkastischem Tonfall, »aber ich bleibe auf wunderbare Weise davon verschont. Reich mir bitte meinen Ridikül.«
»Nein.«
Mirabelle mochte zwar die Sprache, in der Sophie antwortete, nicht verstehen, doch der Inhalt ließ sich leicht erraten. Flüche erkannte man am Tonfall.
Sophie brach ab, als sie ihre Freundinnen vor dem Haus erblickte. Was folgte, war nicht die in den feinen Kreisen übliche steife Begrüßungszeremonie. Es hatte nichts Förmliches an sich, wie die Frauen lachten, einander umarmten und aufgekratzt durcheinanderredeten. Sie verhielten sich, dachte Mirabelle, wie eine Familie – von Schwestern und Brüdern.
Die Neuankömmlinge wurden unter großem Aufheben ins Haus geleitet. Schachteln und Koffer mussten von der Kutsche in die Halle gebracht und ein Hausmädchen gerufen werden, das Mäntel und Hüte entgegennahm und im Salon für Erfrischungen sorgte.
»Alex würde seinen Tee sicher lieber mit Whit trinken«, warf Sophie ein, bevor Alex etwas sagen konnte.
»Das würde ich tatsächlich, aber nur wenn du versprichst, dich beim Tee zu setzen.« Alex lächelte seine Frau an und drückte ihr einen kurzen, sanften Kuss auf die Wange. Es war eine unbefangene Geste der Zuneigung, die er sich nach Mirabelles Vermutung mehrmals am Tag erlaubte, aber es lag so viel Verliebtheit darin, dass sie – wie schon ein- oder zweimal in der Vergangenheit – überlegte, wie es wohl wäre, diese Art von Liebe zu kennen. Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Liebe war den Schönen, den Glücklichen und den unheilbar Romantischen vorbehalten. Sie war nicht im Entferntesten dafür qualifiziert.
Sophie schürzte die Lippen und sah ihren Mann an. »Tee nimmt man üblicherweise immer im Sitzen ein.«
»Sehr richtig, doch da du so selten etwas auf die übliche Weise tust …«
»Ich werde mich setzen«, unterbrach Sophie ihn zähneknirschend.
»Ausgezeichnet. Ist Whit im Studierzimmer?«, fragte Alex den Butler.
»Ja, Euer Gnaden.«
Sophie verdrehte die Augen, als sie Alex nachsah, ging dann in den Salon und setzte sich tatsächlich wie versprochen in einen dick gepolsterten Sessel.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte Evie, während Kate Tee einschenkte.
Sophie stöhnte und presste sich eine Hand auf den Leib. »Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht.«
Mirabelle war angesichts des gequälten Gesichtsausdrucks ihrer Freundin leicht alarmiert. »Ist dir nicht wohl? Stimmt etwas nicht?«
»Ich erfreue mich bester Gesundheit«, versicherte Sophie ihr. »Es ist nur so, dass ich in den letzten sechs Monaten mehr gegessen habe als in meinem ganzen Leben. Es ist Alex. Der Mann stopft mich unaufhörlich mit Essen voll, so als litte er an einer schrecklichen Krankheit. ›Nimm etwas Eintopf, Sophie. Noch ein paar Möhren, Sophie. Nur noch ein Häppchen Fisch, Sophie, noch ein Stück Toast, eine Scheibe …‹« Sie richtete sich in ihrem Sessel auf. »Sind das Zitronentörtchen?«
»Äh … ja.«
»Gott sei Dank.« Sophie schnappte sich eins, biss hinein und sprach mit vollem Mund weiter. »Wenn er mir solche Speisen aufnötigen würde, wäre ich weniger geneigt, mich zu beschweren, aber bei ihm sind es keine Desserts. Es sind Unmengen – geradezu Tonnen – von Brot und Fleisch und Gemüse. Heilige Muttergottes, das Gemüse. Der Mann ist so schrecklich besorgt. Habt ihr eine Ahnung, wie lange wir gebraucht haben, um hierherzukommen?«
Drei Köpfe wurden geschüttelt.
»Vier Tage«, teilte Sophie ihnen mit und nahm noch einen Bissen. »Vier endlose Tage, dabei leben wir keine vierzig Meilen von Haldon entfernt. Er hat unseren Fahrer alle zwei Stunden anhalten lassen, damit ich mich ausruhen konnte. Habt ihr je etwas so Albernes gehört? Und ich kann euch sagen, er war ein grässlicher Reisegefährte. Bei dem geringsten Anlass veranstaltete er einen großen Wirbel um mich und rief unserem Kutscher zu, er solle auf die Spurrillen in der Straße achten. Nicht, dass da irgendwelche Rillen gewesen wären, wohlgemerkt, oder dass wir so schnell gefahren wären, um sie zu spüren, wenn da welche gewesen wären. Der Mann hat schlicht den Verstand verloren.«
»Es überrascht mich, dass er dir überhaupt erlaubt hat zu kommen«, meinte Evie.
»Oh, zuerst war er dagegen. Es gab eine … Debatte.« Sophies Gesichtsausdruck wechselte von Gereiztheit zu Ärger, und sie legte den Rest des Törtchens auf den Teller zurück. »Gütiger Gott, wie ich rede. Er hat mich zum Zetern gebracht. So geht es nicht. Ich muss weg von ihm, zumindest für einige Stunden. Ich flehe euch an, helft mir.«
»Wie wäre es, wenn wir nach Benton fahren würden, um ein wenig einzukaufen?«, schlug Evie vor. »Mirabelle braucht eine Haube und Handschuhe zu ihrem neuen Kleid – außerdem einen passenden Ridikül, wenn einer zu finden ist.«
»Das alles brauche ich ganz gewiss nicht«, wandte Mirabelle lachend ein. Sie hob die Hand, bevor Evie protestieren konnte. »Aber ich bin nicht abgeneigt, etwas Kleines zu kaufen. Etwas Kleines, Hübsches und Nutzloses.« Sie ergriff ein Törtchen und biss hinein. »Mir ist danach, mich etwas zu verwöhnen.«
»Ausnahmsweise einmal«, bemerkte Evie.
»Alex wird uns begleiten wollen«, wandte Sophie ein.
»Nun, wir werden einfach eine Ausrede finden müssen, um uns von ihm zu trennen«, sagte Evie. »Nimm ihn zwischendurch beiseite und sag ihm, du müsstest einige Kleidungsstücke von peinlich weiblicher Natur kaufen.«
»Oh, dann wird er darauf bestehen, sich mir anzuschließen.«
»Nun, dann sag ihm, ich müsse einige Kleidungsstücke von peinlich weiblicher Natur erwerben.«
»Damit, denke ich, sollte es gelingen«, stimmte Sophie lächelnd zu, und Kate und Mirabelle lachten. »Brauchst du sie denn wirklich?«
Evie zuckte nur die Achseln. »Man kann nie zu viel Unterwäsche haben, also ist es keine richtige Lüge.«
Sie lachten immer noch, als Whit den Kopf ins Zimmer steckte. »Meine Damen … Kobold … Alex und ich wollen nach …«
»Benton«, unterbrach Kate ihn und warf einen verstohlenen Blick in Sophies Richtung. »Sophie hat Interesse an Mrs Gages Kuchen bekundet. Du hast doch nichts dagegen, oder, Whit?«
Whit betrachtete stirnrunzelnd die Speisen, die die Diener hereingebracht hatten. Er öffnete den Mund, aber Sophie – verschlagenes, kluges Mädchen, das sie war – schnitt jede Widerrede ab, indem sie die Hand hob und sanft über ihren ausladenden Bauch strich.
»Ich möchte ja niemandem zur Last fallen«, sagte sie mit sanfter Stimme und engelsgleichem Lächeln. »Aber ich habe einfach schrecklichen Appetit auf etwas …« Sie ließ den Blick über die Teller im Raum gleiten. »Schokolade. Hier scheint es keine zu geben.«
»Du fällst niemandem zur Last«, erwiderte Whit. Wie alle Männer, die nur wenig Erfahrung mit werdenden Müttern haben, war er sehr darauf bedacht, ihr ins Gesicht oder über die Schulter zu schauen, überallhin, nur nicht auf die unübersehbare Wölbung unter ihrem Kleid. »Wenn du Mrs Gages Kuchen möchtest, sollst du ihn haben. Alex und ich werden in die Stadt reiten …«
»Oh, aber ich weiß nicht genau, welche Sorte ich möchte, und ich würde liebend gern etwas Zeit mit meinen Freundinnen verbringen und einkaufen, bevor all die …« Sie wedelte schwach mit der Hand. »Bevor all die Gesellschaft mit ihrer Aufregung und ihrem Lärm beginnt. Aber wenn es dir zu viel Mühe macht, können wir zu Fuß gehen.«
»Zu Fuß gehen?«
»Aber gewiss doch.« Sie machte Anstalten, sich aus ihrem Sessel zu hieven, mit der ganzen Kraft und Anmut einer Frau, die in ihrem Totenbett liegt. »Es sind nur drei Meilen, und ich bin ja nicht krank.«
Im Nu war Whit im Zimmer und drückte sie sanft zurück in den Sessel. Mirabelle konnte gerade noch ihr Gelächter unterdrücken. Oh, was war Sophie doch für ein verschlagenes Geschöpf, dachte sie. Schon unverhohlene Schwäche weckte in einem Mann wie Whit den Beschützerinstinkt, stille Tapferkeit war sein Untergang.
»Setz dich, Sophie, bitte. Du brauchst nicht zu Fuß zu gehen, um Himmels willen. Alex und ich werden euch in die Stadt bringen.«
»Nun, wenn du sicher bist …«
»Natürlich. Natürlich bin ich mir sicher. Du sollst allen Kuchen bekommen, den du möchtest.«
»Die Kutsche ist gleich bereit, meine Damen«, bemerkte Whit etwas später. »Wir müssen nur noch den Kobold zu den Pferden spannen.«
Mirabelle warf ihm ein spöttisches Lächeln zu und stieg hinter Kate ein, die nun saubere Kleider trug. »Sei versichert, Kretin, wenn ich mich plötzlich als Pferd wiederfände, würde ich als Erstes dir einen Tritt verpassen, und zwar an …«
»Wir sind jetzt bereit zum Aufbruch!«, unterbrach Sophie sie fröhlich, stieg in die Kutsche und setzte sich neben Mirabelle, wobei sie auch für Kate und Evie Platz machte.
»… den Kopf«, rief Mirabelle ihm nach, bevor sie sich mit gerunzelter Stirn an Sophie wandte. »Was dachtest du denn, das ich sagen würde?«
»Ähm … etwas anderes. Etwas …« Kate wedelte mit der Hand und deutete auf ihre untere Körperhälfte.
In Mirabelles Gesicht dämmerte Begreifen und zugleich ein entzücktes Grinsen. »Oh! Oh, das ist sehr gut!« Sie steckte den Kopf wieder aus dem Fenster, um ihre frühere Drohung zu korrigieren, stellte aber fest, dass Whit bereits fort war. »Zu spät.«
In ganz Benton gab es nur ein einziges Bekleidungsgeschäft, aber da dieses Geschäft von Madame Duvalle betrieben wurde, genügte es vollkommen. Sie war eine Londoner Damenschneiderin, die im vergangenen Jahrzehnt einige Bedeutung erlangt hatte, und war teils wegen der Wankelmütigkeit der feinen Gesellschaft aus der Mode gekommen, teils wegen ihrer mangelnden Bereitschaft, ihre Arbeit durch die Wünsche törichter junger Mädchen zu kompromittieren – doch Lady Thurston zufolge sprach das nur zu ihren Gunsten.
Sie hatte den kurzen Umzug nach Benton auf Lady Thurstons Drängen hin auf sich genommen, und das Geschäft ging gut, da sie die Coles und ihre regelmäßigen Gäste sowie den Landadel der näheren Umgebung belieferte.
Madame Duvalle hatte auch die ungewöhnliche Eigenschaft, eine gebürtige Französin zu sein, da sie aus Paris kam und dort in ihrer Kunst unterwiesen worden war. Und für die Mädchen war es vollkommen klar: Was Madame Duvalle schuf, war Kunst.
Der Laden lag wie die anderen vornehmen Geschäfte im Herzen der Stadt. Eine junge Frau begrüßte sie mit freundlichem Lächeln an der Tür und verschwand dann im Hinterzimmer, um Madame diskret davon in Kenntnis zu setzen, dass ihre angesehensten Kundinnen eingetroffen seien. Bevor Mirabelle Gelegenheit hatte, einen Blick auf die neuen Stoffe zu werfen, rauschte eine große und ziemlich rundliche Frau durch die Tür, durch die die junge Frau zuvor entschwunden war. Unvermittelt blieb sie stehen, stieß einen gewaltigen Seufzer aus und griff sich ans Herz.
»Mes chéries!«
Es war ein Auftritt, an den die jungen Frauen sich schon längst gewöhnt hatten, aber da er ebenso aufrichtig wie theatralisch war, erwiderten sie die Begrüßung mit einem Lächeln.
»Sie sehen reizend aus, mes belles«, gurrte Madame Duvalle. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir mit ihren Kleidern solche Mühe machen sollte. Bei ihnen würde selbst ein drapiertes Laken wie ein Meisterwerk aus Nadel und Faden wirken. Aber ich bin überaus entzückt, Sie alle zu sehen … bis auf Sie«, ließ sie Mirabelle mit einem Naserümpfen und einem Augenzwinkern wissen. »Sie sind zu starrsinnig.«
Mirabelle lachte und konnte nicht widerstehen – sie beugte sich vor und küsste Madame auf die Wange. »Sie haben mich überzeugt, das lavendelfarbene Kleid statt des braunen zu wählen«, rief sie ihr ins Gedächtnis.
»Ja, aber ich wollte, dass Sie das elfenbeinfarbene bekommen.«
Und sie hatte selbst das elfenbeinfarbene haben wollen, erinnerte sich Mirabelle, aber es war zu teuer gewesen und sehr viel unpraktischer als das dunklere, lavendelfarbene, auf dem Flecken nicht so auffallen würden.
»Ich bin zum zweiten Mal in zwei Wochen hier, um etwas zu kaufen, das muss doch zählen.«
»Oui, gewiss zählt es.« Sie bedachte Mirabelle mit einem hoffnungsvollen Lächeln. »Das elfenbeinfarbene diesmal?«
»Ich fürchte, es ist etwas Kleineres. Wir brauchen Unterwäsche.«
»Ah.« Madame Duvalle blickte zu einigen Neuankömmlingen hinüber, die den Laden betreten hatten. »Sie kennen ja den Weg. Ich gebe Ihnen Zeit, um sich umzuschauen, während ich mich um diese Damen kümmere, ja?«
Anders als die Stoffballen und die Konfektionsware wurden Stücke von intimerer Natur in einem separaten, fensterlosen Raum ausgestellt.
»Weißt du schon, was du möchtest?«, fragte Kate Evie, während die Frauen sich die ausgestellten Stücke ansahen.
»Nein, doch ich gebe zu, dass ich hiervon ganz angetan bin.«
Mirabelle, die ein Modekupfer studiert hatte, blickte auf, um zu sehen, dass Evie auf ein … ein Etwas zeigte, das an einer Schneiderpuppe ausgestellt war. Hellblauer Satin, der für ein Kleid viel zu schlicht geschnitten war, schmiegte sich um die Puppe, statt locker herabzufallen.
»Oh, um Himmels willen«, lachte Mirabelle. »Was ist der Sinn eines solchen Kleidungsstücks?«
»Ich weiß es nicht«, sagten Kate und Evie.
»Sich himmlisch zu fühlen«, war Sophies Antwort. Drei Köpfe wirbelten unverzüglich zu ihr herum. Sie zuckte die Achseln, und ihre Wangen färbten sich leicht rosig. »Vielleicht muss man verheiratet sein, um seine Schönheit zu würdigen.«
»Oder man muss etwas Hübsches und Nutzloses suchen«, fügte Evie mit einem vielsagenden Blick in Mirabelles Richtung hinzu.
»Das ist absurd, Evie«, lachte Mirabelle. »Wir wissen nicht einmal, was es ist.«
»Sophie offenbar schon.«
»Eigentlich nicht«, gestand Sophie. »Ich finde es einfach nur schön. Vielleicht ist es ein Unterkleid.«
»Es ist zu lang«, wandte Mirabelle ein. »Es würde fast bis zu den Knöcheln reichen. Und es ist das falsche Material.«
Unterkleider wurden aus robustem Stoff gemacht, der häufiges Waschen überstand. Der Stoff vor ihr sah aus, als würde er sich schon bei einem Regenguss auflösen. Sie strich mit einem Finger darüber. Und verliebte sich sofort in das Kleid.
»Meine Güte«, hauchte sie. »Habt ihr jemals etwas so Weiches gefühlt?«
»Ah, ich sehe, Sie haben mein kleines Experiment gefunden.«
Beim Klang von Madame Duvalles Stimme zog Mirabelle schuldbewusst die Hand zurück. »Ich bitte um Verzeihung, ich hätte nicht …«
»Pfft! Wenn ich nicht wollte, dass man es bewundert, hätte ich es nicht ausgestellt. Was halten Sie davon?«
»Es ist göttlich«, flüsterte Mirabelle, und vier Augenpaare blinzelten sie erstaunt an. »Nun, das ist es doch«, verteidigte sie sich. »Es fühlt sich an wie … wie Wasser. Wozu ist es gedacht?«
»Es ist ein Unterkleid.«
»Aber …«
»Aber es ist sehr unpraktisch, ja. Wie mir jede vermögende Frau mitgeteilt hat.« Sie schnaubte ärgerlich. »Ist es nicht seltsam, dass nicht einmal die sorglosesten Frauen sich auf diese Weise verwöhnen wollen?«
»Weil sie es nicht vorführen können, sodass andere es sehen und sie darum beneiden könnten«, murmelte Evie.
»Genau das ist es, mein kluges Mädchen.«
»Eine Frau mit einem Ehemann könnte das durchaus«, warf Sophie nachdenklich ein.
»Das ist wahr«, lachte Madame Duvalle. »Aber dieses Stück ist nicht für Sie, jeune mère. Es ist für Miss Browning.«
Mirabelle hätte nicht verblüffter sein können, wenn man ihr die Besitzurkunde für den Laden angeboten hätte. Wahrscheinlich bemerkte sie deshalb nicht, wie Madame Duvalle mit Kate einen verständnisvollen Blick wechselte.
»Für mich? Aber das könnte ich nicht. Ich könnte unmöglich. Ich …« Ihre Stimme verlor sich. »Könnte nicht« fasste ihre Lage ihrem Gefühl nach recht gut zusammen. Sie konnte es sich nicht leisten, konnte es nicht tragen. Konnte alles Mögliche nicht.
Ihre Einwände stießen auf taube Ohren. »Ich bestehe darauf. Ich möchte, dass meine Schöpfung gewürdigt wird und nicht in diesem Raum verstaubt.« Madame Duvalle zog das Kleid von der Schneiderpuppe. »Ich verlange drei Schilling und werde es ohne Aufpreis ändern, ja?«
Drei Schilling? Das war ein lächerlich niedriger Preis.
»Drei Schilling? Das ist absurd. Allein das Material …«
»Es kostet Sie drei Schilling, Sie stures Mädchen, und außerdem noch Klatsch. Ich möchte alles über die Gäste hören.« Sie hielt Mirabelle den Stoff an und kniff die Augen zusammen. »Wir haben Glück. Es sind wohl keine Änderungen nötig.«
»Ein hoher Preis«, mischte Evie sich ein, ehe Mirabelle weitere Einwände erheben konnte. »Aber sie nimmt es. Welchen Klatsch möchten Sie denn zuerst hören?«
Überstimmt, überlistet und gar nicht so sehr daran interessiert, ihren Willen durchzusetzen, wenn sie ehrlich war, griff Mirabelle in ihren Ridikül und nahm die drei Schilling heraus. »Ich werde gut darauf achtgeben«, versprach sie. »Vielen Dank.«
»Natürlich werden Sie das.« Madame Duvalle ging in den vorderen Teil des Ladens, der – zu Mirabelles ungeheurer Erleichterung – wieder leer war. »Also, erzählen Sie mir, was Sie von diesem Mr Hunter halten, der zu Besuch gekommen ist.«
Kate zuckte die Achseln. »Er hat geschäftlich mit Whit zu tun. Wir haben ihn noch nicht kennengelernt.«
»Ich bin ihm in London begegnet«, berichtete Sophie. »Er scheint recht nett zu sein.«
»Ja, ein sehr netter Mann«, sagte Madame Duvalle, während sie das Unterkleid auf einen Tisch legte und in Seidenpapier einschlug. »Das sagen auch die Londoner Schauspielerinnen und Opernsängerinnen über ihn, wie ich höre – ein überaus freundlicher Gentleman.«
»Ach du lieber Gott!« Mirabelle und Kate machten missbilligende Gesichter, Sophie und Evie wirkten erheitert, und Madame Duvalle deutete beide Reaktionen bereitwillig als Ermutigung.
»Seine Eroberungen sind ziemlich legendär, aber es heißt, dass er nicht mit den Unschuldigen oder den Verheirateten anbandelt, wozu sich so viele junge Männer veranlasst fühlen, und das spricht doch für ihn, nicht wahr?«
Evie stieß ein spöttisches Lachen aus. »Dann ist also nichts dagegen einzuwenden, dass er reihenweise Frauen verführt, solange sie Schauspielerinnen und Kurtisanen sind?«
Madame Duvalle zuckte auf sehr französische Art die Achseln und legte das Unterkleid in eine Schachtel. »Man kann schließlich nicht erwarten, dass er wie ein Mönch lebt.«
»Warum nicht?«, begehrte Evie auf. »Von Frauen wird erwartet, dass sie wie Nonnen leben. Es ist höchst ungerecht.«
»C’est vrais, ma petite, aber so war es immer für Frauen, nicht wahr? Wenn das Leben gerecht wäre, würde ich für immer jung und schön bleiben und hätte einen reizenden jungen Mann, der mich von früh bis spät bedient, und all meine Kunden würden mir so viel Vergnügen bereiten wie Sie vier.«
»Ich denke, Madame Duvalle«, meldete Sophie sich zu Wort, »es wäre uns gegenüber höchst ungerecht, wenn Sie für immer jung und schön blieben.«
Madame Duvalle lächelte durchtrieben. »Seien Sie nicht töricht. Ich würde Ihnen meinen jungen Mann doch ausleihen.«
Mirabelle fühlte sich ein wenig unbehaglich bei der Vorstellung, mit einer Schachtel, die ein so unkonventionelles Wäschestück enthielt, durch Benton zu schlendern. Von daher hielt sie es für das Beste, ihre Erwerbung zur Kutsche zu bringen, während die anderen zum Buchhändler vorgingen.
Wenn sie allerdings gewusst hätte, dass sie auf dem Gehsteig Whit über den Weg laufen würde, hätte sie die Schachtel klaglos quer durch die ganze Stadt getragen. Schließlich gab es verschiedene Grade des Unbehagens.
»Whit, hallo. Ist heute nicht ein schöner Tag? Die anderen sind zum Buchhändler gegangen. Wo ist Alex?«
Sie redete zu viel. Sie wusste, dass sie zu viel redete, konnte sich aber anscheinend nicht bremsen. Es war erstaunlich, dass sie überhaupt etwas herausbrachte, während sich in ihrem Kopf ein völlig anderes – und völlig unfreiwilliges – Gespräch abspielte.
Whit,hallo.IchhabeeinblauesUnterkleidindieserSchachtel.Ichglaube,esistauseinerArtSatin.Istesnichtzauberhaft?
Sie spähte über seine Schulter zur Kutsche hinüber und fragte sich, ob sie sich wohl unauffällig an ihm vorbeischleichen könnte. Vermutlich nicht. Gewiss nicht, wenn er sie wie jetzt auf einmal aufmerksam musterte.
Sie spürte, wie ihr die Hitze aus der Brust den Hals hinauf und in die Wangen stieg. Sie errötete. Fünfundzwanzig Jahre alt, und sie errötete. Es war lächerlich. Und gefährlich. Whit beobachtete sie amüsiert und neugierig, und seine blauen Augen verengten sich mit beängstigendem Interesse.
»Alex ist in Mavers Wirtshaus. Was versteckst du da, Kobold?«