Das Versprechen - Tino Keller - E-Book

Das Versprechen E-Book

Tino Keller

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Beschreibung

Eine Geschichte um die Flucht zweier Kinder, skrupellosen Schleppern, Menschenhandel, Prostitution, schockierenden Ereignissen und von einem starken Mädchen, das sich nicht unterkriegen lässt. Eine Geschichte von Ferien die nicht wunschgemäss verlaufen, einem Dieb der Essen stiehlt, und einem Versprechen, das zur tödlichen Gefahr wird.

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Tino Keller

 

 

 

 

 

Das Versprechen

 

 

Wenn ein Versprechen zur tödlichen Gefahr wird!

 

 

 

 

 

 

Ω

 

 

 

 

 

Ich widme dieses Buch

Regula,

die sich im Kampf mit Corona

geschlagen geben musste!

 

 

Alicia und Nuri

Als der Lieferwagen anhielt, wusste sie, was kommen würde. Sie hatte das bei dem Mädchen erlebt, das unterwegs abgegeben wurde. Sie hatte Angst.

Durch das Heckfenster konnte sie Bäume sehen, sie war in einem Wald. Ihr zehnjähriger Bruder schlief auf dem harten Boden der Ladefläche, er war an Händen und Füssen gefesselt, mit zugeklebtem Mund, wie sie.

Sie, bald fünfzehn, aber jünger aussehend, sass im vorderen Teil der Ladefläche. Ihr war es egal, dass sie noch so jung aussah. Aber ihre Mutter sagte immer: ›Hab Geduld Alicia, bald bist du eine gut aussehende Frau‹. Im Moment hoffte sie sogar, dass ihr junges Aussehen sie für den Typen uninteressant machen würde.

Seit zwei Tagen fuhren sie mit zwei zwielichtigen Männern, die ihnen versprochen hatten, sie gegen Bezahlung nach Deutschland zu bringen. Das war ihr Wunschziel. Sie waren froh mitgenommen zu werden. Die türkische Polizei suchte sie, darum mussten sie so schnell wie möglich das Land verlassen. Am Anfang schien auch alles wunschgemäss zu verlaufen, doch plötzlich fesselten die Männer sie und ihren Bruder, beschlagnahmten ihr weniges Gepäck und das ganze Geld. Zur Sicherheit, wie die Typen betonten. Doch sie wusste in diesem Moment, sie würden ihr Ziel nie erreichen.

Die Wagentüren wurden geöffnet, die Männer stiegen aus. Sie hörte, wie sich beide erleichterten und dabei Witze rissen. Die Sprache, die sie sprachen, war ihr fremd.

Die seitliche Schiebetür wurde aufgestossen. Der eine Mann blickte hinein. Auf den ersten Blick wirkte er sehr seriös, gut gekämmt, mit kurzen braunen Haaren und einem sauberen Kinnbart. Aber sie wusste, was für ein schrecklicher Mensch er war.

»Come on!«, befahl er ihr in schlechtem Englisch. Sie versuchte aufzustehen, aber es gelang ihr erst, als er sie von den Fesseln befreite. Ihrem Bruder wurden die Fesseln ebenfalls abgenommen. Er weinte nicht mehr, es schien, als hätte er all seine Tränen aufgebraucht. Jetzt konnten auch sie sich vor dem Wagen erleichtern, aber der schreckliche Typ blieb vor ihr stehen und schaute mit unverhohlenem Interesse lüstern zu. Der andere bewachte diskret ihren Bruder. Durch den peinlichen Gaffer wurde das Pinkeln für sie sehr anstrengend, ihr Körper weigerte sich, das Wasser frei zu geben. Sie sagte nichts, versuchte sich abzulenken, stellte sich vor am Meer zu sein, die Wellen rauschen zu hören, so klappte es endlich.

»Back in the car!«, schrie der Schreckliche, als sie fertig waren.

Die Männer klebten ihre Hände und die ihres Bruders am Rücken wieder mit Klebeband zusammen und beide mussten zurück zum Lieferwagen. Ziemlich brutal warf der Schreckliche den Jungen in den Wagen, fesselte noch seine Füsse und grinste gemein. Mit dem Mädchen machte er das Gleiche, nur, dass er bei ihr im Wagen blieb.

Etwas abseits des Wagens wartete sein Kollege und rauchte.

Sie wusste, was er wollte, aber nur schon bei der Vorstellung, wurde ihr schlecht. Der Typ stellte sich vor ihr auf und liess die Hose herunter. In Unterhosen ging er über ihr in die Knie und kam langsam näher. Dann zog er sie brutal an den langen braunen Haaren zu sich und riss ihr mit der rechten Hand das Klebeband vom Mund.

»I want to hear you cry«, flüsterte er ihr zu und fuhr mit seinen schmutzigen Händen über ihr Gesicht, dann schob er ihr zwei Finger in den Mund. Sie aber biss so stark sie konnte zu. Im gleichen Moment liess sie ihre Knie in die Höhe schnellen und traf mit voller Kraft seine Hoden. Der Typ schrie und fluchte. Blut tropfte von seinen Fingern. Zitternd vor Wut, mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob er sich und zog sich an. Seine Rache kam sofort. Zuerst schlug er sie mit den Händen, dann deckte er ihren Körper mit Fusstritten ein.

Wütend verliess er die Ladefläche, dabei schrie er: »Bitch, fucking bitch!« Und schleuderte die Schiebetür zu.

Noch als er in den Wagen stieg, hörten sie ihn toben, bis der Motorenlärm ihn übertönte und sie weiterfuhren.

Sie lag am Boden und weinte. Ihre Nase und die Lippen bluteten. Die Schmerzen waren stark, aber sie hatte die intimen Berührungen dieses Schweins verhindern können. Der Junge rutschte neben sie und versuchte sie zu trösten.

 

 

 

Es dauerte lange, bis sie wieder etwas unternehmen konnte. Den ersten Übergriff hatte sie abgewehrt, aber weitere würden folgen und seine Wut dürfte alles noch verschlimmern.

Durch seinen wütenden Abgang hatte der Typ vergessen, ihr den Mund zuzukleben. Da der Lieferwagen laut und die Ladefläche vom Fahrerteil abgetrennt war, konnte sie gefahrlos mit ihrem Bruder reden.

»Nuri komm, ich reiss dir jetzt das Klebeband vom Mund«, sagte sie auf Türkisch.

Der Junge nickte und hielt sein Gesicht an ihren Mund. Mit den Zähnen bekam sie das Klebeband zu fassen und riss es weg. Er schaute sie gross an, sagte aber nichts.

»Und jetzt versuch meine Handfesseln durchzubeissen.«

Wieder nickte der Junge.

Obwohl er erst zehn Jahre zählte, war er mutig. Er hätte alles für seine Schwester getan. Mit den Zähnen begann er das Klebeband zu bearbeiten. Er biss viele kleine Stücke heraus, bis sie es zerreissen konnte. Dann befreite sie ihre Füsse und danach ihren Bruder.

Langsam wurde es dunkler. Wie die vorigen Nächte mussten sie auf dem Boden der Ladefläche schlafen. Ob es etwas zu essen geben würde, wussten sie nicht. Sie hatten schon lange nichts mehr bekommen, vermutlich war das die Strafe.

Alicia erklärte ihrem Bruder, wie ihr Plan aussah.

Der Lieferwagen hielt. Sofort stellten sich beide schlafend.

Nur kurz öffnete der Schreckliche die seitliche Schiebetür und sagte leise: »You fucking bitch. No food today. You damn bitch.« Und er schmetterte die Tür zornig wieder zu.

Nachdem er verschwunden war, wartete Alicia kurz, dann öffnete sie leise die Tür. Sie waren auf dem Parkplatz einer Tankstelle. Die Männer waren verschwunden. Sie nahm ihren Bruder an die Hand und lief im Schutz der Dunkelheit zu einem nahen Wald.

Die beiden Männer, die im Tankstellenrestaurant assen, bemerkten ihre Flucht nicht.

Alicia rannte mit ihrem Bruder durch den Wald. Aber Nuri kam bald an seine Grenzen. Er weinte, aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Sie durften nicht stehen bleiben, sie mussten sich in Sicherheit bringen, darum zog sie ihn weiter, bis ein Zaun ihre Flucht beendete. Jetzt weinte auch sie.

Etwas später gingen auf dem Parkplatz Autotüren auf, kurz darauf hörten sie ein Gefluche, ihre Flucht war bemerkt worden. Eine Taschenlampe leuchtete am Waldrand auf. Alicia musste sich etwas einfallen lassen. Mit Nuri an der Hand rannten sie dem Zaun entlang. Durch die Bäume sahen sie schwach die Lichter des Parkplatzes und die näherkommenden, mit der Taschenlampe im Wald herumleuchtenden Männer, wobei der Schreckliche immer rief: »Bitch, we will get you!«

Bei einem Haufen Ästen stoppte Alicia und verlangte von Nuri, sich daneben auf den Boden zu legen. Dann deckte sie ihn mit den Ästen zu. Sie selbst kletterte nahe von ihm auf einen Baum und hoffte, die Dunkelheit würde auf ihrer Seite sein.

Die Männer kamen näher. Ihre Taschenlampe war schwach, sodass nur die nächsten Bäume hell wurden.

»We will get you!«, schrie der Schreckliche wieder. »I kill your brother when we get him.«

Auch sie folgten dem Zaun und blieben genau vor den Ästen bei Nuri stehen. Zum Glück war es dunkel, so bemerkten sie sein Zittern nicht. Wieder schrie der Schreckliche und leuchtete in die Höhe.

Bewegungslos verharrte Alicia zwischen den Ästen, sie traute kaum zu atmen. Kurz streifte sie der schwache Lichtstrahl, dann drehten die Männer um und gingen laut diskutierend und sich gegenseitig anschreiend zurück zum Lieferwagen. Doch sie fuhren nicht los, sie warteten. Es vergingen nochmals zwei Stunden, bis sie endlich den Rastplatz verliessen.

Immer noch misstrauisch kletterte Alicia vom Baum und ging zu Nuri, der unter den Ästen eingeschlafen war. So bemerkte er die Ameisen nicht, die sich auf seinem Körper verteilten. Sanft weckte sie ihn auf.

»Ich glaube, wir haben es geschafft«, flüsterte sie. »Jetzt müssen wir irgendwie weiter.« Diesmal sprach sie deutsch mit ihm, die Sprache ihrer Mutter.

Alicia hielt ihren Bruder fest an der Hand, als sie auf die Lichter des Parkplatzes zugingen. Noch traute sie dem Frieden nicht, vielleicht sind sie nur bis zum Ausgang gefahren und warten dort irgendwo. Alicia hatte grosse Angst, dazu musste sie dringend auf die Toilette.

»Warte hier, ich will zuerst sehen, ob sie wirklich weggefahren sind. Dann gehe ich aufs Klo.«

Nuri nickte, er war müde. Angst hatte er eigentlich nicht, er vertraute seiner Schwester. Sie war knapp fünf Jahre älter und er bewunderte sie. Sie wusste alles, war stark und fand für jedes Problem eine Lösung.

Alicia trat vorsichtig auf den Parkplatz. Anstelle des Lieferwagens stand dort jetzt ein Lastwagen. Zuerst versteckte sie sich dahinter, dann ging sie langsam und gebückt um den Lastwagen herum und spähte auf den Parkplatz. Bei einigen Büschen nahe der Tankstelle, entdeckte sie eine Bewegung. Sie wollte sich schon wieder zurückziehen, da sah sie eine Dame mit ihrem Hund, der schnuppernd jeden Strauch begutachtete. Sonst war niemand unterwegs. Nochmals blickte sie über den Platz, dann fasste sie den Mut zur Tankstelle zu gehen. Dort gab es Toiletten ausserhalb, sie wollte nicht in den Shop, vielleicht warteten sie dort. Ihr Misstrauen war gross, sie befürchtete, dass sie plötzlich grinsend aus irgendeiner Ecke auftauchen und ihre Flucht beenden würde.

Als sie aus der Toilette kam, sah sie zwei Männer über den Parkplatz gehen. Ihr Herz schlug höher, sie zitterte, dachte an Nuri, wie konnte sie ihn nur allein zurücklassen. Sie stellte sich das Schlimmste vor. Nächstens würden sie ihn aus dem Wald zerren, ihn dann so lange bearbeiten, bis er alles erzählen würde. Doch kurz vor Nuris Warteplatz stiegen sie in ein geparktes Auto und fuhren davon. Ihre Erleichterung war unbeschreiblich. Sie rannte zum Wald.

»Nuri, alles in Ordnung?«, rief sie leise auf Türkisch. Doch es kam keine Antwort. »Nuri«, rief sie nochmals, und schon kam langsam wieder Panik auf. »Nuri, wo bist du?« Sie begann sich erneut schlimme Vorwürfe zu machen. Sie hätte bei ihm bleiben sollen, hätte ihn nie allein lassen dürfen. Nochmals rief sie ihm, da schälte sich die kleine Gestalt aus dem Unterholz.

»Warum schreist du so? Ich musste mal.«

Sie fiel ihm um den Hals. Nuri begriff nicht warum, liess es einfach geschehen.

»Komm Nuri, wir müssen weiter, schnell! Sie werden uns suchen und bald finden, wenn wir nicht weg sind.«

Nuri nickte. Alicia nahm ihn an die Hand und sie liefen auf den Parkplatz. Bei der Tankstelle ging die Tür auf, Stimmen waren zu hören. Kurz entschlossen zog sie Nuri zurück zum Wald, stoppte und änderte die Richtung zum Lastwagen, ein Pritschenwagen, dessen Ladefläche mit einer Plane überdacht war.

»Schau, ob wer kommt«, sagte sie leise und begann die hintere Plane von der Ladefläche zu lösen.

»Ich glaub, es kommt jemand«, flüsterte Nuri aufgeregt.

»Komm«, und sie half ihm auf die Ladefläche, und zwängte sich selbst durch die schmale Öffnung. Keine fünf Minuten später startete der Motor und sie fuhren los.

 

 

 

Auf der Ladefläche lag nur ein Stapel Wolldecken. Obwohl es rüttelte und der Boden hart war, war die Fahrt dank diesen Decken, richtig luxuriös. Sie sassen weich und zugedeckt an der Wand zur Fahrerkabine. Nuri schlief schnell ein, während Alicia versuchte, wach zu bleiben. Es gelang ihr nur mässig, immer wieder fiel auch sie in einen kurzen Schlaf.

Es wurde langsam hell, als Alicia aus einer ihrer Schlafphasen erwachte. Der Lastwagen fuhr bergauf mit vielen Kurven. Auch Nuri blickte auf. Bald wurde der Lastwagen langsamer, bis er stehen blieb und der Motor abgestellt wurde. Sie hörten, wie die Fahrer den Wagen verliessen.

Nun mussten sie schnell handeln. Sie kletterten durch die Plane und liessen sich auf den Boden hinunter. Der Parkplatz gehörte zu einem schönen Haus, mit Giebeldach, dessen weisse Wände am Rand mit eigenartigen Mustern verziert waren und einer oben abgerundeten Eingangstür. Auf der Hauswand stand in grosser Schrift Munt Fallun. Vermutlich ein Hotel. Sie wunderten sich über den eigenartigen Namen, in was für einem Land waren sie? Nach dem Hotel begann offenes, zum Teil steiles Gelände, mit einem Weg, der durch Wiesen und Felder führte. Überall waren hohe Berge, wie sie es noch nie gesehen hatten. Die Fahrer waren nicht zu sehen, sie mussten ins Hotel gegangen sein.

»Irgendwo müssen wir einen Platz zum Bleiben finden«, sagte Alicia. »Ich denke, hier werden sie uns kaum suchen. Hier sind wir sicher. Und wir brauchen auch etwas zu essen.«

Um diese Zeit waren nur wenige Leute unterwegs, es war noch früh. Die Fahrer vom Lastwagen kamen mit einer Maschine aus dem Hotel, und staunten über die verstreuten Wolldecken auf der Ladefläche. Die zwei Kinder beachteten sie nicht. Alicia und Nuri gingen ruhig den Weg hinunter, sie wollten möglichst nicht auffallen. Sie glaubten, zwei schmutzige Kinder, ohne Eltern, seien hier eher ungewöhnlich. Doch die Leute, die ihnen entgegenkamen, grüssten sie freundlich und kümmerten sich nicht weiter.

Schon beim ersten Haus versuchte Alicia ins Untergeschoss zu gelangen, das bei vielen Häusern von aussen zugänglich war, aber die Tür war abgeschlossen. Beim nächsten Haus rief eine Frau in einer fremden Sprache aus dem Fenster, sie sollen verschwinden. Auch ohne es zu verstehen, wusste Alicia, was gemeint war. Sie stotterte eine Entschuldigung und sie machten sich davon. Weit gingen sie nicht, schon nachdem sie in die nächste Strasse eingebogen waren, kamen sie zu einem unverschlossenen Keller, vollgestopft mit Gerümpel. Dort suchten sie einen Platz, um sich ohne Angst etwas erholen zu können. Auf ein paar alten Jutesäcken schliefen sie ein.

Es war Nachmittag, als sie erwachten und Alicia beschloss, etwas Essbares zu organisieren. Nuri blieb im Versteck. Eine Ecke benützten sie als Toilette und deckten sie mit alten Zeitungen zu, von denen viele herumlagen.

Während Alicia unterwegs war, sah sich Nuri im Keller um. Er schien seit Langem nicht mehr benutzt worden zu sein, alles war staubig und viele der alten Maschinen rosteten vor sich hin. Aber gerade diese fremden Maschinen interessierten ihn. Es waren solche, die er noch nie gesehen hatte, und die wahrscheinlich auch niemand mehr brauchen würde. Die meisten waren für den Ackerbau, aber es gab auch einige, bei denen er keine Vorstellung hatte, für was die einmal gebraucht wurden.

Ein Lieferwagen fuhr am Haus vorbei, Nuri sah ihn nur kurz durch die offene Tür, aber schon das genügte, Panik bei ihm auszulösen. Der Lieferwagen sah genau so aus, wie der ihrer Peiniger. Ganz sicher war er nicht. Mit Atemnot und zitternd verkroch er sich in die hinterste Ecke. Als Schritte näherkamen, deckte er sich mit den alten Jutesäcken zu.

»Nuri?», sagte eine Stimme. »Nuri, wo bist du?« Es war Alicia.

Er schälte sich aus seinem Versteck.

»Ich habe den Lieferwagen gesehen.«

»Der…«

»Ja, ganz sicher bin ich nicht. Er könnte auch nur ähnlich ausgesehen haben.«

»Wenn sie es sind, sind sie sicher zum Hotel gefahren. Warte hier, ich sehe nach.«

Und Alicia verliess ihn. Ängstlich verdrückte er sich wieder hinter den Pflug und wartete.

Keine zehn Minuten später kam Alicia zurück.

»Sie sind es, aber wie können sie wissen, wo wir sind? Das begreif ich nicht. Hier sind wir im Moment sicher, wir dürfen nicht übereilt handeln, wir müssen versuchen ruhig zu bleiben.« Alicia setzte sich neben Nuri und begann die Esswaren auszupacken. »Viel ist es nicht, beinahe hätten sie mich dabei erwischt.«

Nuri nahm sich ein Brötchen. »Vielleicht wegen dem Ding«, sagte er mit vollem Mund, »welches sie uns am Bein angebracht haben.«

»Vermutlich hast du recht. Das würde heissen, wo immer wir hingehen, sie würden uns finden. Abnehmen geht nicht, dazu bräuchten wir ein scharfes Messer oder eine Zange.«

Nuri überlegte: »Es ist sicher ähnlich wie ein Smartphone, wir müssen einen Ort finden, wo kein Empfang ist. Hier zum Beispiel.«

»Stimmt, aber hier können wir nicht bleiben, sie werden uns hier bald suchen, wir brauchen ein neues Versteck. Aber nicht im Dorf.«

 

 

 

In der Dämmerung machten sie sich auf den Weg. Alicia hatte eine genaue Vorstellung, wohin sie gehen mussten. Schon von Weitem hatte sie die Hochspannungsleitungen gesehen, die ausserhalb des Dorfes über die Felder gingen. Ob die wirklich ein Lokalisieren ihrer Kistchen verhindern würden, wussten sie nicht.

Sie schlichen zwischen den Häusern hinunter, dann durch einen Garten und liefen geduckt unter dem Hotel vorbei, dabei hofften sie, die Typen würden nicht aus dem Hotelzimmerfenster schauen. Ihr Ziel war das offene Gelände und danach der Weg bis zu den Hochspannungsleitungen. Es war ein riskanter Abschnitt, darum warteten sie bis zum Eindunkeln. Doch ihre Flucht wurde jäh unterbrochen: Auf dem Hotelparkplatz stand rauchend einer der Typen und blickte ins Tal hinunter. Alicia und Nuri versteckten sich hinter einem Zaun und warteten. Es war der mit dem Pferdeschwanz, der Ruhigere der beiden. Der Typ stand lange dort, es schien, als wolle er die halbe Nacht dort verbringen. Da tauchte der Schreckliche auf. Sie sprachen kurz etwas, stiegen in den Lieferwagen und fuhren davon. Kaum waren sie verschwunden, zog Alicia Nuri am Ärmel und sie rannten über die Wiese und hinauf auf den Weg. Auch dann gingen sie noch geduckt weiter, erst als sie eine kleine Schlucht erreichten, trauten sie sich normal und nicht mehr so gehetzt weiterzugehen. Die Hochspannungsleitungen führten nach der Schlucht über den Weg. Vor einem Haus folgten sie den Leitungen durch eine steile Wiese, überquerten einen Weg und gingen weiter hinauf, bis zu einer Baumgruppe. Nach kurzem Suchen fanden sie dort einen alten Schuppen, der aussah, als würde er bald zusammenfallen, doch es war besser als nichts. Er war leer, nur Zeitungen und einige Heftchen, die nichts für ihre Augen waren, lagen herum. Erschöpft liessen sie sich nieder.

»Glaubst du, wir sind hier sicher?«, fragte Nuri.

»Ja, hier sind wir sicher«, antwortete sie, obwohl sie es selbst nicht glaubte.

»Und, wie kommen wir zum Essen? Viel ist nicht mehr übrig, auch nur noch eine Wasserflasche.«

Alicia zuckte die Schultern. »Vielleicht ist jemand im Haus, unten wo wir eingestiegen sind. Ich kann versuchen dort etwas zu organisieren.«

Für sie gab es das Wort ›stehlen‹ nicht, es war immer ein Organisieren. Ihr war bewusst, es würde sehr schwierig werden, und wenn das Haus unbewohnt ist, müsste sie es im Dorf versuchen, was sehr gefährlich war. Aber im Moment waren sie froh, in vermeintlicher Sicherheit zu sein.

 

 

 

Am nächsten Morgen machte sich Alicia auf den Weg zum Haus. Nuri blieb im Schuppen. Sie hatte ihn beschworen, den nicht zu verlassen, und erklärte ihm, es könne länger dauern, er brauche sich nicht zu ängstigen. Nuri nickte, er hatte es begriffen, aber wohl war ihm dabei nicht. Als sie ging, schaute er ihr lange nach.

Auch Alicia hatte ein schlechtes Gefühl, aber es war an ihr, Essen und Trinken zu besorgen. Das Wetter war noch gut, aber über den Bergen gab es schon die ersten dunklen Wolken. Zuerst beobachtete sie im Gras liegend das Haus. Es schien niemand dort zu sein. Das war die Gelegenheit. Sie musste es vorsichtig angehen, sie wollte nicht gesehen werden, und es waren schon viele Wanderer unterwegs. Als Erstes ging sie zum Brunnen vor dem Haus und trank. Auch hatte sie grossen Hunger, aber das musste noch warten. Bald merkte sie, dass es im Untergeschoss nur leere Ställe gab. Sie ging ums Haus, tunlichst darauf achtend, unsichtbar zu bleiben, und suchte eine andere Möglichkeit, hineinzukommen. Aber alle Fenster waren zu und die Eingangstür abgeschlossen. Wieder beim Stall versuchte sie es nochmals dort, möglicherweise gab es eine Treppe in den Wohnteil. Nach langem Suchen fand sie zwar keine Treppe, aber in einem Nebenraum war an der Decke über einem alten Schrank eine Klappe, die in den oberen Stock führen könnte. So wie es aussah, war sie ewig nicht mehr benutzt worden. Sie kletterte hinauf und hoffte, sie sei nicht versperrt. Mit aller Kraft drückte sie dagegen. Sie liess sich tatsächlich öffnen, dann zwängte sie sich durch den schmalen Spalt und kam in einen dunklen Raum ohne Fenster. Um den Ausgang zu finden, tastete sie sich der Wand entlang. Bald berührte sie eine Tür und fand auch einen Lichtschalter. Der Raum war gerade so breit, dass man sich noch drehen konnte und vielleicht zwei Meter lang. Im vorderen Teil hingen Besen an der Wand und darunter standen Putzeimer. Gegenüber hatte es ein halb leeres Regal mit Putzmitteln und schön zusammengelegten Putzlappen. Wieso es diese Klappe gab, war nicht ersichtlich.

Alicia machte das Licht aus, öffnete vorsichtig die Tür und trat in einen Flur. Es war düster, nur das Fenster in der Haustür brachte ein wenig Licht. Die erste Tür auf der rechten Seite war offen, sie blickte in ein gemütliches Wohnzimmer. Hier gab es vermutlich nichts zu essen. In der Küche auf der anderen Seite sah es aber nicht besser aus, der Kühlschrank war leer und es stand nichts Essbares herum. Im oberen Stock waren Schlafzimmer, da schaute sie nur kurz hinein und verliess das Haus wieder. Ohne Essen machte sie sich auf den Rückweg. Der Gedanke, es im Dorf versuchen zu müssen, beunruhigte sie sehr. Schon einmal wäre sie fast erwischt worden. Die Leute dort kannten jetzt das stehlende Mädchen, dazu wurde sie von ihren Peinigern gesucht, die sich auch dort aufhielten. Sie war noch nicht weit, da sah sie ein Auto kommen und auf dem Parkplatz vor dem Haus parken. Eine Frau stieg aus. Vermutlich ging sie ins Haus, das konnte sie nicht sehen. Lange geschah nichts, dann kam ein zweites, etwas kleineres, blaues Auto. Auch dieses parkte, ein Mann stieg aus. Die Frau kam dazu und sie begrüssten sich und gingen zum Haus. Alicia wartete, ihre Hoffnung etwas zu finden, wuchs. Eine halbe Stunde später fuhr die Frau wieder weg.

 

 

Maja und Gummimann

Als Martin Gummimann mit seinem blauen Peugeot beim Ferienhaus in Ftan eintraf, wartete Frau Filli schon auf dem Parkplatz vor dem Haus. Die kleine, etwas mollige Frau kam ihm lachend entgegen.

»Sie sind bestimmt Herr Gummimann! Ich bin Frau Filli, wir haben miteinander telefoniert. Ich dachte, Sie kommen zu zweit.«

»Hallo Frau Filli«, er reichte ihr die Hand. »Frau Brodmann kommt etwas später, ich werde sie beim Bus abholen.«

Das war also das Haus, welches er für zwei Wochen etwas ausserhalb von Ftan gemietet hatte. Ein altes, fast schwarzes Holzhaus, mit mehreren kleinen Sprossenfenstern und Giebeldach. Rechts davon war ein eingezäunter Garten und auf der anderen Seite neben Bäumen ein Kiesweg, zu einem Platz hinter dem Haus. Es könnte einst ein Bauernhaus gewesen sein. Einzig was störte, waren die Hochspannungsleitungen, die ganz in der Nähe vorbeigingen.

»Ich hoffe, es gefällt Ihnen«, sagte Frau Filli, sie war die Vermieterin.

»Von Hochspannungsleitungen haben Sie nichts gesagt.«

»Ja, aber die gehen nicht direkt über das Haus.«

Ganz zufrieden war Gummimann nicht, er nahm sich vor, das nächste Mal zuerst auf Google-Maps das Haus und die Umgebung genauer anzusehen.

Frau Filli schritt auf einem kurzen Weg und über eine kleine Treppe zum Eingang, öffnete die Tür und bat Gummimann hinein. Der Flur war schmal und gerade hoch genug, dass man noch stehen konnte, einzig bei den Türen musste man den Kopf etwas einziehen. Alles war aus Holz und roch leicht nach Landwirtschaft. Links war die Tür zur Wohnstube, rechts gings zur geräumigen Küche, mit einem grossen Esstisch. Daneben waren ein fensterloser Lagerraum und eine schmale Treppe zu den Schlafzimmern im oberen Stock. Das Badezimmer mit Dusche, Lavabo und Toilette am Ende des Flurs war zwar klein, aber gut eingerichtet. Die Stufen knarrten, als sie in den oberen Stock zu den Schlafzimmern stiegen. Das grosse Zimmer mit einem Doppelbett hatte eine Dachschräge und ein Fenster zum Weg, das zweite, kleinere, war das Kinder- oder Gästezimmer, mit Bett und Dachfenster.

»Vor vier Jahren wurde das Haus elektrifiziert und wir konnten eine neue Küche und ein vernünftiges Badezimmer einbauen. Bis dahin musste man noch mit Holz anfeuern und kochen. Telefon gibt es hier nicht, aber ich denke, Sie haben ein Handy. Die Zimmer sind nicht sehr hoch, aber das macht es erst gemütlich. Früher lebte hier eine Bauernfamilie mit Kind. Das waren noch harte Zeiten, aber schon damals hatten sie das Wasser von der gleichen Quelle bezogen, wie wir heute. Das Wasser ist frisch, ein Genuss zum Trinken.«

Nachdem sie ihn durchs ganze Haus geführt hatte, zeigte sie ihm auf der Hausrückseite noch die leeren Stallungen und meinte, die Kühe seien auf der Alp.

»Hier meine Telefonnummer, sollten Sie noch etwas brauchen.« Dazu gab sie ihm eine kleine Broschüre. »Es sind die besten Wanderungen aufgeführt, die Einkaufsmöglichkeiten, die Busfahrzeiten, die Nummern von Ärzten und des Spitals in Scuol. Ich wünsche ihnen einen guten Aufenthalt.«

Als sie gegangen war, setzte er sich ins Wohnzimmer und liess alles zuerst einmal auf sich wirken. Das Zimmer war wegen den beiden Sprossenfenstern etwas dunkel, aber heimelig. In der Mitte des Raumes gab es einen grossen Tisch, darüber eine alte Deckenlampe, vor dem Fenster zum Weg standen zwei Polsterstühle und ein kleines Tischchen. Dem Eingang gegenüber war eine alte Kommode mit Spiegel und vielen kleinen Schubladen. Alles im Zimmer wirkte antik, aber gemütlich. Es erinnerte ihn an seine Grosseltern, die ähnlich wohnten.

Er studierte die Bücher, die in einem Bücherregal neben dem Eingang standen, doch keines sagte ihm zu, alle waren alt und ihm unbekannt, ausser die Wandervorschläge von Scuol und Umgebung. Kurz blätterte er darin, legte es aber wieder zurück. Dann holte er das Gepäck aus dem Auto.

Maja sollte am späteren Nachmittag mit dem Bus kommen. Vorher wollte er noch für das Abendessen einkaufen und einen kleinen Vorrat für die nächsten paar Tage anlegen. Sie hatten vereinbart, das Auto nur für Notfälle und Einkäufe zu benutzen.

Seit dem Brunch im Restaurant Weinlaube, bei dem Sir Clearwater, ein Freud und Chef des Geheimdienstes Nordwest, Maja eingeladen hatte, war zwischen Maja und ihm eine grossartige Freundschaft entstanden. Sie trafen sich regelmässig, besuchten Museen, machten Wanderungen und verbrachten viel Zeit zusammen. Er war ganz aufgeregt, waren es doch die ersten gemeinsamen Ferien. Drei Wochen mit Maja! Es würde eine superschöne, aufregende Zeit werden, schon der Gedanke daran, liess sein Herz höherschlagen. Maja war Polizistin in Kommissär Meierhans’ Team in Basel. Eine grossartige Frau, die er das erste Mal im ›Hair for You‹ in Dornach kennengelernt hatte, und seither träumte von ihr. Jetzt machten sie gemeinsame Ferien, ein Traum ging in Erfüllung.

Er stellte seines und Majas Gepäck im Schlafzimmer aufs Bett und ging vors Haus. Da er noch Zeit hatte, wollte er sich die Stallungen und die nähere Umgebung ansehen, wollte wissen, wo er überhaupt war.

In die Stallungen schaute er nur kurz hinein, testete aber das Wasser am Brunnen davor. Wie Frau Filli gesagt hatte, war es frisch und sauber. Um das Haus hatte es grösstenteils Wiesen, die auf der einen Seite steil hinauf, zur Mittelstation Motta Naluns und auf der anderen ins Tal nach Scuol gingen. Ein ideales Gebiet für schöne Wanderungen. Auch das Schloss Tarasp und Ardez waren auf seiner Vorschlagsliste, mal sehen, zu was sich Maja überreden liess.

Langsam ging er zurück, dabei sah er viele Wanderer am Haus vorbeigehen, es war ein Wanderweg. Nur dank einer Spezialerlaubnis, die er von Frau Filli bekommen hatte, durfte er mit seinem Auto den Weg benutzen. Er holte eine Einkaufstasche.

 

 

 

Alicia wartete geduldig oberhalb des Hauses und beobachtete den Mann, wie er ums Haus ging, vom Brunnen trank und dann vermutlich zum Dorf fuhr.

Nochmals ging sie ins Haus, aber auch jetzt fand sie, ausser zwei Wasserflaschen, weder in der Küche noch im oberen Stock etwas Essbares. Im Schlafzimmer setzte sie sich seufzend und enttäuscht aufs Bett neben das Gepäck. Sie überlegte noch, ob sie es durchsuchen sollte, machte es aber nicht. Wann kommt er wieder zurück, wird er einkaufen? Hätte sie dann noch die Gelegenheit, ins Haus zu kommen? Vielleicht war es ein Typ, wie die beiden Schlepper, einer der sich sofort auf sie stürzen würde.

Dann schaute sie noch in den leeren Schrank und in die Schubladen der Nachttischchen. In einer lag eine Taschenlampe. Ohne zu zögern, steckte sie die ein. Im unteren Stock nahm sie auf der Toilette noch eine Rolle Toilettenpapier mit und kletterte durch den Stall wieder ins Freie. Sie beschloss, Nuri das Wasser zu bringen.

Dieser wartete schon sehnlichst auf sie, war aber enttäuscht, nur Wasser und Toilettenpapier zu bekommen. Alicia versuchte ihn zu trösten und versprach, es später nochmals zu versuchen.

 

 

 

Für die Fahrt nach Ftan brauchte Gummimann Geduld. Da an diesem Samstag viele Wanderer unterwegs waren, kam er nur langsam vorwärts. Er zweifelte sogar, hier ruhige Ferien verbringen zu können.

In Ftan Pitschen, gab es in einem typischen Engadinerhaus einen kleinen Laden. Dort bekam er alles, was sie für die nächsten paar Tage brauchen würden. Danach fuhr er zur Post nach Ftan und wartete auf das Postauto.

Ftan war ein schönes Dorf mit vielen alten, renovierten Engadinerhäusern und engen Gassen, bei denen ein Kreuzen mit dem Auto oft fast unmöglich war. Es gab auch mehrere Hotels und etwas ausserhalb ein Institut. Ein Bergdorf, wie man es sich in der Schweiz vorstellt.

Noch schöner und ursprünglicher war Guarda, ein paar Dörfer weiter. Dort soll sich übrigens die Geschichte vom Schellenursli abgespielt haben.

Schon beim Aussteigen hörte er das unverkennbare Horn des Postautos. Kurz darauf sah er es die Strasse herauffahren. Die baldige Ankunft von Maja liess sein Herz höherschlagen. Noch immer war er aufgeregt. Eigentlich dachte er, das würde sich mit der Zeit legen, aber bis jetzt war das nicht der Fall. Maja, seine Traumfrau!

Wie es sich gehörte, hielt das Postauto vor der Post. Hier war Endstation, alle Passagiere stiegen aus. Maja winkte Gummimann zu, als sie ihn entdeckte.

Noch immer war er fasziniert von ihr: Ihre langen schwarzen Haare, ihr sportlicher Körper, ihr Lächeln. Wenn man verliebt ist, sieht man alles durch eine rosarote Brille, das wusste er, aber ihm gefiel sie so. Sie trug elegante Jeans, ein leichtes, hellgrünes Jäckchen, schwarze Turnschuhe und ihren kleinen, roten Rucksack, den sie meistens dabeihatte.

Gummimann ging ihr entgegen, umarmte sie, und sie gaben sich drei Küsse auf die Wangen.

»Mit dem Zug und Bus ist es eine lange Fahrt«, sagte sie zur Begrüssung. »Hallo Martin, schön, die Ferien mit dir zu verbringen! Wir hatten noch eine Besprechung heute Morgen, die wirklich wichtig war. Aber gegen halb neun konnte ich mich davonstehlen. Und, hast du das Haus schon übernommen?«

Er nahm ihr das wenige Gepäck ab. Das meiste hatte er schon mit dem Auto mitgenommen.

»Ja, alles hat geklappt! Obwohl ganz begeistert vom Haus bin ich nicht.« Sie gingen zum Auto, er legte das Gepäck auf den Rücksitz und stiegen ein. »Das Haus liegt nahe an einer Hochspannungsleitung und ist direkt neben einem belebten Wanderweg. Aber sonst ist es schön.« Er startete den Motor, und sie fuhren los. »Leider gibt es keinen Fernseher und kein Telefon, doch ich denke, wir werden uns schon zu beschäftigen wissen. Ach ja, eingekauft habe ich auch schon.«

Maja schaute durch die Frontscheibe zum Himmel, der sich mehr und mehr mit dunklen Wolken füllte.

»Jetzt muss nur noch das Wetter mitmachen.«

»Möglich, dass es ein Gewitter gibt. Aber hier in den Bergen dauern die meist nicht sehr lange.«

Als sie das Haus erreichten, fing es schon an zu tröpfeln. Kaum hatten sie dann die Eingangstür geschlossen, begann es wie aus Kübeln zu giessen, begleitet von Blitz und Donner.

»Das war Timing!«, sagte Gummimann lachend.

»Ja, wir sind gut«, meinte Maja und begann sich im Haus umzusehen.

Gummimann brachte das Essen in die Küche und ging anschliessend mit Maja nach oben. Sie richteten sich ein, assen etwas, begutachteten das Haus und schauten dem Regen zu.

Als sich das Gewitter verzogen hatte, machten sie einen kurzen Rundgang in der Umgebung, um den Ort ihrer Ferien kennenzulernen. Dabei versuchten sie die unschönen Hochspannungsleitungen und ihr Knistern einfach zu ignorieren.

 

 

 

Kurz nachdem sie Nuri das Wasser gebracht hatte, ging sie wieder zurück zum Haus. Es war schon späterer Nachmittag, als der blaue Peugeot wieder vor dem Haus parkte. Jetzt waren sie zu zweit, der Mann war jetzt in Begleitung einer Frau. Es begann zu regnen, ein Gewitter braute sich zusammen. Obwohl es riskant war, versteckte sich Alicia im Stall. Bald regnete es, als hätte Petrus sämtliche Hähne aufgedreht. Sie dachte an ihren Bruder, sie wusste, er hatte Angst vor Gewittern und dieses war wirklich stark. Und weil die Berge den Donner als Echo zurückwarfen, wurde es noch unheimlicher. Nachdem sich das Wetter wieder beruhigt hatte, verliessen der Mann und die Frau das Haus und besuchten zuerst den Stall, betraten ihn aber nicht. Dann gingen sie über die Wiesen und bald waren sie nicht mehr zu sehen.

Alicia kletterte wieder in den Wohnbereich. Diesmal fand sie in der Küche einen Laib Brot und im Kühlschrank Wurstscheiben. Sie versorgte sie in einer Papiertüte, die sie in einer Schublade fand, und war glücklich, für heute hatten sie zu essen. Ihr Magen knurrte schon nur vom Duft des frischen Brotes und sie beeilte sich, wieder zu Nuri zu kommen.

Als sie dort ankam, war der Schuppen leer, ihr Bruder verschwunden.

Alicia bekam Panik: Hatten ihn die Männer gefunden und geholt? Sie machte sich Vorwürfe, ihn allein gelassen zu haben. Aber wie hätte sie es machen sollen? Sie musste doch Essen und zu trinken besorgen! Die Tüte mit dem Brot und der Wurst versteckte sie unter Zeitungen im Schuppen und begann ihn zu suchen. Zuerst suchte sie ihn erfolglos in ihrer Baumgruppe. Den Mut zu rufen hatte sie nicht. Ihre Angst wuchs mit jedem Schritt, überall glaubte sie ein Rascheln oder jemanden flüstern zu hören, jeder Schatten liess sie zusammenfahren. Die Männer konnten ihr überall auflauern.

Die Vorstellung, wie sie ihren Bruder mitgenommen hatten, und was er erleiden musste, weil ihre Peiniger die ganze Wut über sie an ihm auslassen würden, liess sie erschaudern.

Bald kam sie wieder auf ein freies Feld und ging bis zur nächsten Baumgruppe unter den Hochspannungsleitungen weiter. Danach hatte sie noch ein Feld und einen Hochspannungsmast vor sich, bis dorthin wollte sie noch gehen. Würde sie ihn auch dort nicht finden, dann wüsste sie, dass die Männer ihn verschleppt hatten. Sie ging so schnell, wie es in diesem Gelände möglich war. Durch den kurzen, aber starken Regen war es rutschiger geworden. Ihre Angst wuchs. Was würde sie tun, wenn er nicht dort war, sie konnte ihren Bruder doch nicht den Typen überlassen! Sie erreichte den Mast. Zuerst schien niemand hier zu sein, doch dann bemerkte sie eine Bewegung. Vielleicht war es Nuri oder ein Tier. Dann entdeckte sie, hinter hohem Gras versteckt, ihren Bruder. Er sass am ganzen Körper zitternd, die Beine angezogen und sie umklammernd vor dem Betonsockel des Mastes. Sie duckte sich auf seine Höhe und sah ihn vorwurfsvoll, aber unendlich erleichtert an.

»Nuri, weshalb bist du hier? Du bist ja ganz nass! Ich hatte solche Angst. Ich dachte schon, sie hätten dich gefunden!«

Sie hatten nur noch die Sommerjacken, die Regenjacken war im Gepäck, das die Schlepper ihnen abgenommen hatte.

Nuri fiel ihr um den Hals und heulte los: »Ich glaubte, die Männer dort oben auf dem Weg zu sehen.« Und er zeigte in die Höhe. »Ich dachte, sie finden mich, aber dann sind sie weiter zum Dorf gegangen. Ich hoffte, wenn ich sehr nahe beim Mast warte, funktioniert das Kästchen nicht. Aber den Mut zurückzugehen, hatte ich nicht. Dann begann es zu regnen. Aber ich bin schon fast wieder trocken.«

In guten Situationen sprachen sie deutsch, in schlimmen türkisch, manchmal auch ein Gemisch von beidem, ganz nach ihren Gefühlen.

»Hier können wir nicht bleiben, es wird langsam dunkel, wir müssen zurück in unseren Schuppen. Ich habe Brot und Wurst mitgebracht.«

»Und dieses Fleisch dürfen wir essen?«

»Wir essen, was wir haben!«, sagte sie bestimmt.

»Ich bin sehr hungrig.«

»Ich auch.«

Ob es wirklich die Männer waren, wusste Alicia nicht. Aber sie befürchtete, die suchen sie auch hier. Ins Tal hinunterzugehen, war keine Alternative, wegen diesen Kästchen würden sie sie immer finden. Vermutlich war unter den Leitungen im Moment der sicherste Ort. Irgendwann, so hoffte sie, würden die Batterien leer sein, aber sie hatte keine Ahnung, ob das Tage, oder Wochen dauerte.

Auf dem Weg zurück, beobachteten beide die Gegend ganz genau. Wieder im Schuppen riss Alicia ein grosses Stück vom Brotlaib für Nuri und eines für sich ab und Nuri entfernte die Verpackung der Wurst. Damit sie morgen noch etwas hatten, assen sie nur die Hälfte, obschon der Hunger noch nicht gestillt war.

Alicia zeigte Nuri die Taschenlampe und sie beschlossen, sie nur im Notfall zu benützen.

Zum Einschlafen erzählte sie Nuri eine Geschichte, die von zwei Kindern handelte, die in einem Märchenland eine goldene Spindel finden mussten. Sie würden damit ihr Heimatland von einer bösen Macht befreien, die alle Menschen dort mit einem schrecklichen Fluch verzaubert hat. Die Kinder in der Geschichte erlebten die wildesten Abenteuer und konnten dank ihrem Mut alle bewältigen. Das beruhigte Nuri und auch Alicia. Einfach in Gedanken in einer anderen Welt leben, so konnten sie für einen kurzen Moment ihre Sorgen und Ängste vergessen.

 

 

 

 

Nach dem Abendessen und dem Abwasch begaben sie sich ins Wohnzimmer. Maja durchsuchte die Bücher und Gummimann überlegte, wann er ihr sein gut behütetes Geheimnis offenbaren wollte. Es machte ihm Angst! Wie würde sie reagieren, würde sie ihn überhaupt ernst nehmen, würde das ihre Beziehung beeinflussen?

»Dieses Buch ist interessant«, sagte sie plötzlich, darum verschob er seine Beichte auf später. »Es ist ein altes Tagebuch.« Sie zeigte es ihm. »Jemand von den ehemaligen Bewohnern muss es geschrieben haben.«

Gummimann schaute hinein. »Das ist ja eine Uraltschrift, kannst du die lesen?«

»Ja, so schwer ist das nicht. Als ich noch zur Schule ging, habe ich mich damit beschäftigt. Es ist erstaunlicherweise in einem alten Deutsch geschrieben. In dieser Gegend sprach man meistens Vallader, eine bündnerromanische Sprache.«

»Was du alles weisst …«

»Immer, wenn ich Ferien mache, erkundige ich mich vorher genau über die Sprache, die Bräuche und die geografische Lage. Ftan, zum Beispiel gehört wie Ardez, Guarda, Sent und Tarasp zur Gemeinde Scuol.«

Beeindruckt über ihr Wissen, gab er ihr das Buch zurück, das hatte er nicht erwartet.

»Ich bin überrascht, dann weisst du bestimmt auch, welche Ausflüge möglich sind?«

»Richtig, die habe ich auch studiert.«

Nach einer kurzen Pause sagte er fast widerwillig: »Ich muss dir etwas gestehen.« Er glaubte, der richtige Zeitpunkt sei gekommen.

Sie sah ihm an, er fühlte sich unwohl.

Maja war gespannt: »Gestehen? Gibt es Geheimnisse?«

Sie setzte sich zu ihm an den Tisch.

Er nickte: »Gibt es. Es ist vielleicht etwas Eigenartiges.« Er räusperte sich. »Ich habe eine Fähigkeit, die kein anderer Mensch hat.«

»Sicher, du bist ein guter Detektiv, aber diese Fähigkeit hast nicht nur du.«

»Ich weiss, aber das meine ich auch nicht. Ich kann meine Körpergrösse verändern.« Jetzt war es gesagt.

»Was, wie?«, sie lachte laut. »Du machst Witze?«

»Nein! Ich kann mich tatsächlich klein, gross, dick und dünn machen! Ich muss es nur wollen, und es geschieht.«

Schmunzelnd stellte sie sich hinter ihn, umarmte ihn und drückte ihr Gesicht an seines.

»Du hast Angst, ich könnte deine Witze nicht verstehen, stimmt’s?«

»Nein, es ist kein Witz, es ist wirklich so!«

Etwas misstrauisch stellte sich Maja vor ihm auf und hielt dabei eine Hand in Denkerhaltung ans Kinn.

»Ich kann mich eine Zeit lang so klein wie eine Maus machen oder bis ungefähr drei Meter gross, auch sehr schlank oder ziemlich korpulent! Vieles auch gleichzeitig, aber je mehr ich mich verändere, umso anstrengender wird es, und umso weniger lang kann ich durchhalten. Es fühlt sich an, wie wenn ich aufs Klo müsste, aber nicht kann. Dazu kommt, dass der- oder diejenige, die es wissen, es nicht weitererzählen dürfen. Macht man es trotzdem, verliert man das Wissen davon, ähnlich einem Traum, den man schon kurz nach dem Erwachen vergessen hat. Ich wollte dir das mitteilen! Nicht dass du erschrickst, wenn du es mal sehen solltest.«

Maja brachte nur »Wow« hervor und setzte sich. Dann schwiegen beide.

»Das ist es also, was dich zu einem so speziellen Detektiv macht«, beendete sie das Schweigen. »Und deine Kollegen und Sir Clearwater wissen davon?«

Gummimann nickte.

»Du hattest Angst, ich könnte dich auslachen oder unsere Freundschaft beenden. Aber glaube mir, an unserer Beziehung wird sich nichts ändern, es macht sie sogar spannender. Und, hast du noch mehr solche Überraschungen?«

»Ja, vielleicht mein Ibiskus, mein gläserner Schmetterling! Das ist mein Talisman, der mir immer zur Seite steht, der hilft mir manchmal fremde Sprachen zu verstehen. Ich habe ihn bei einer Reise in ein entferntes Land bekommen, ich kann dir bei Gelegenheit davon erzählen.«

Maja lächelte, so wirklich glaubte sie nicht an die Fähigkeiten des Talismans. Aber es wurde ein guter Abend, sie lachten viel. Gummimann erzählte einige komische Geschichten, die er erlebt hatte. Und gegen Mitternacht gingen sie hinauf ins Schlafzimmer.

 

 

 

Die Glocken der Kühe, die an diesem Morgen auf die Weide getrieben wurden, hatten sie geweckt. Hatte Frau Filli nicht gesagt, sie seien auf der Alp? Gähnend schaute Gummimann aus dem Fenster und beobachtete die Tiere und die ersten Wanderer, die von Scuol nach Ftan unterwegs waren. Es war kurz vor acht. Ganz verstehen konnte er die frühen Ausflügler nicht, sie waren sicher auch in den Ferien und hätten ausschlafen können.

Maja gähnte und streckte sich.

»Schon wach?«, fragte Gummimann. »Du hast leicht geschnarcht, aber es war auszuhalten.« Er lachte. »Was haben wir heute vor? Gehen wir nach Motta Naluns?«

Sie gähnte nochmals und zwang sich aus dem Bett.

»Können wir, aber zuerst gibt es ein gutes Frühstück.«

Gummimann schmunzelte, eigentlich wollte er das vorschlagen, aber Maja kam ihm zuvor.

Nach dem Besuch im Bad zog sich Maja an und ging in die Küche. Als Erstes setzte sie Kaffee auf, dann suchte sie das Brot und den Aufschnitt.

»Wo hast du das Brot und den Aufschnitt hingetan?«, rief sie.

»Das Brot ist auf der Ablage und der Aufschnitt im Kühlschrank«, rief er aus dem Badezimmer.

»Da ist nichts!«

Gummimann kam in die Küche mit der Zahnbürste im Mund.

»Was? Ich habe es dorthin getan, es muss dort sein.«

»Aber da ist nichts! Vielleicht haben wir es im Auto liegen gelassen. Ich sehe nach.«

»Das begreif ich nicht, ich hätte schwören können, ich hätte es mit hineingenommen. Aber sieh’ bitte nach, die Autoschlüssel liegen beim Eingang.«

Während Maja zum Auto ging, spuckte er im Bad die Zahnpaste aus. Wie konnte er das im Auto vergessen? Gut, es könnte die Aufregung über Majas Ankunft gewesen sein, aber so richtig glaubte er das nicht. Nachdenklich ging er Maja entgegen, die mit leeren Händen wieder zurückkam.

»Nein, auch im Auto ist nichts. Entweder du hast es im Laden vergessen, oder es wurde gestohlen!«

Sie legte den Schlüssel zurück.

»Vergessen im Laden, das ist unmöglich. Ich bin zu hundert Prozent sicher, es mitgenommen zu haben! Ich nervte mich noch wegen des Plastiksacks, in den die Verkäuferin alles eingepackt hatte. Jetzt weiss ich es wieder, den Plastiksack habe ich in der Küche im Obstregal ins unterste Fach gelegt.«

»Sehen wir nach«, meinte Maja und sie gingen in die Küche.

Der Plastiksack war da und auch die restlichen Esswaren, aber Brot und Aufschnitt fehlten. Maja machte den Backofen an, dafür gab es jetzt Aufbackbrötchen mit Butter und Konfitüre zum Frühstück. War auch gut.

Noch während ihrer Wanderung zur Mittelstation studierte Gummimann dem seltsamen Ereignis nach. Hatte er es wirklich im Laden vergessen? Wer würde schon Brot und Aufschnitt stehlen? Und überhaupt, wie käme derjenige ins Haus? Es war ja abgeschlossen, glaubte er zumindest.

 

 

 

Es war eine schöne, aber anstrengende Wanderung. Auf der Karte sah die Strecke nicht sehr weit aus, aber sie hatten die Steigung nicht einberechnet. Im Restaurant in Motta Naluns assen sie zu Mittag, ruhten sich dort noch eine knappe Stunde aus und machten sich der Gondelbahn entlang auf den Heimweg. Auch dieser Weg war steil mit vielen Kurven und gegen 16.00 Uhr kamen sie ziemlich geschafft im Haus an. Als erste Wanderung war sie nicht glücklich gewählt. Das nächste Mal würden sie es gemütlicher angehen.

Gummimann wollte gerade die Haustür aufschliessen, als zwei Wanderer mittleren Alters anhielten. Der eine war gut gekleidet, zum Wandern eher ungewöhnlich, mit kurzem Bart, der andere, etwas Jüngere, in Jeans, mit langen, zu einem Pferdeschwanz zusammen gebundenen Haaren. Ihre Schuhe waren mehr für einen Stadtrundgang und nicht für eine Wanderungen in den Bergen geeignet.

Der gut gekleidete sprach sie in dürftigem Englisch an: »You live nice here.«

»Hollidays«, erwiderte Maja.

»Aha, I understand«, sprach er in seinem schlechten Englisch weiter. Dann wollte er wissen, ob es noch Kühe im Stall gäbe, ob schon Besuch gekommen sei und Vieles mehr.

So grosse Neugier machten Gummimann und Maja misstrauisch, darum verabschiedeten sich, ohne gross zu antworten, und gingen ins Haus. Sie taten so, als hätten sie nur sehr bescheidene Englischkenntnisse.

»Was sollte die Fragerei?«, fragte Gummimann, als sie im Haus waren. »Was kann ein Wanderer interessieren, ob es noch Kühe im Stall gibt, und ob wir Besuch bekommen hätten? Dazu sprach er ein miserables Englisch.«

»Ja, schon ein wenig eigenartig.« Maja schaute durch das Küchenfenster. »Sie sind abgezogen, vielleicht wollten sie nur mit Einheimischen ins Gespräch kommen.«

Gummimann nickte: »Möglich.« Er zog die Wanderschuhe aus. »Machen wir uns frisch, dann koch ich ein gutes Abendessen. Morgen ist Montag, da sollte der Laden wieder geöffnet haben und wir können Brot zum Frühstück holen.« Etwas leiser sagte er zu sich: »Einfach verschwunden, ich begreife es noch immer nicht.«

Maja hatte es gehört. »Das verschwundene Brot lässt dich nicht los.« Sie legte ihm den Arm um die Schultern. »Vielleicht hast du nicht alles eingepackt oder verloren. Das wird sich klären. Vergiss es.«

»Ja, wahrscheinlich eine beginnende Demenz!«

Beide lachten.

 

 

 

Am Abend machten sie noch einen kurzen Spaziergang, nicht weit, aber sie genossen die Stille, Wanderer gab es keine mehr. Nur vereinzelt hörten sie noch Kuhglocken, aber die gehörten zu diesen Gegenden.

Wieder zuhause las Maja in dem alten Tagebuch und Gummimann behandelte seine Blase am rechten Fuss.

»Das Tagebuch scheint sehr interessant zu sein«, bemerkte er.

»Ist es. Es müssen harte Zeiten gewesen sein, mit viel Verzicht und Krankheiten. Sie lebten wirklich gerade nur mit dem Nötigsten. Im Vergleich zu jetzt leben wir geradezu herrschaftlich. Zum Heizen drückt man auf einen Knopf und in der Küche und im Bad gibt es warmes Wasser. Das war früher nicht so, auch einen Arzt gab es nicht. Im Moment lese ich vom Geist des Hauses. Geist Adular. Oft hörten sie laute Geräusche in der Nacht und Sachen verschwanden.«

»Brot, Aufschnitt?«, Gummimann lachte.

»Was, steht hier nicht. Aber die Leute hatten Angst. Sie behaupteten sogar, er hätte ihre Kinder geholt.«

»Zum Glück haben wir keine Kinder«, er schüttelte den Kopf. »Aberglaube, wir hatten im Geisterseminar in Grubenberg darüber gesprochen. Alles, was sich damals nicht erklären liess, wurde Übersinnlichem zugeschrieben.« Er klebte ein Pflaster auf die Blase. »Geister, Erscheinungen und vieles mehr. Damals waren die Menschen noch nicht so aufgeklärt. Heute suchen wir nach den Ursachen und finden die meistens.«

»Wie beim verschwundenen Brot?«, fragte sie schmunzelnd.

»Ja genau, wir werden es herausfinden.«

»Der Hausgeist scheint ein hungriger Geist zu sein.«

»Richtig«, Gummimann lachte, »darum glaube ich nicht an Geister. Ich mach uns einen Tee oder bevorzugst du Kaffee?«

»Nein, Tee ist okay. Schwarztee, bitte.«

Gummimann ging in die Küche und summte ein Lied. Er war zufrieden und glücklich, wie nie zuvor.

 

 

 

So ein schöner Tag, wie der von Gummimann und Maja war er für Alicia und Nuri wirklich nicht. Am Morgen teilte Alicia den Aufschnitt und die Hälfte des restlichen Brotes mit Nuri. Das allerletzte Stück Brot legte sie zurück in die Papiertüte, damit sie auch durch den Tag etwas hatten. Als Nuri sich erleichtern wollte, kam er nach ein paar Minuten aufgeregt und zitternd zurück.

»Sie kommen!«, rief er leise türkisch in den Schuppen.

Sprach er türkisch, hiess das, es eilt und ist kritisch, Gefahr in Verzug. Sofort kam Alicia aus dem Schuppen und sah zwei Personen auf dem Weg näherkommen. Nur, der Weg war kein Wanderweg und endete bei den Feldern. Auch sie war überzeugt, bei den Männern konnte es sich nur um ihre Peiniger handeln.

»Komm Nuri, schnell, wir gehen weiter hinunter. Wir müssen ein anderes Versteck finden!«

Nuri nickte, man sah, er zitterte am ganzen Leib.

Unterhalb des Schuppens stiegen sie in das steile Gelände, eine Mischung aus hohen Sträuchern und Bäumen. Sie rutschten und kletterten geduckt hinunter. Dann legten sie sich hinter hohen Büschen auf den Boden und warteten.

Tatsächlich verliessen die Männer den Weg und kamen zum Schuppen. Alicia überlegte, ob sie irgendwelche Spuren hinterlassen hätten. Aber sie glaubte, alles, was Rückschlüsse auf sie geben könnte, mitgenommen zu haben.

Es waren ihre Peiniger. Sie konnten beobachten, wie sie das Gelände um den Schuppen absuchten. Langsam kamen sie näher. Alicia hörte, wie sie miteinander sprachen, während Nuri sich die Ohren zuhielt und die Augen verschloss. Auch die Männer kletterten das Gelände herunter.

Der eine rief: »We will find you, come on, don’t be silly!«

Sie hörten ihre Schritte, wie dürre Äste brachen, wie sie fluchten. Noch zehn Meter und sie würden sie entdecken. Auch Alicia vergrub ihren Kopf in den Armen, den Mut aufzublicken hatte sie nicht mehr. Doch plötzlich gaben die Typen das Suchen auf und kletterten zurück zum Weg. Lange liefen sie dort umher, manchmal gingen sie kurz zum Feld, dann suchten sie oberhalb des Schuppens weiter. Erst gegen Mittag zogen sie wieder ab.

Alicia und Nuri blieben noch lange dort liegen, sie trauten dem Frieden nicht. Nach gut einer Stunde suchten sie ein Versteck, bei dem sie auch gegen Wind und Regen besser geschützt waren. In der nächsten Baumgruppe fanden sie unter einem kleinen Felsen einen Unterschlupf. Der war gerade so hoch, um im Sitzen den Kopf nicht anzuschlagen. Dort blieben sie, bis es langsam dunkel wurde. Erst dann hatten sie wieder den Mut, in den Schuppen zurückzukehren.

Damit sie sicher nicht den Männern begegnete, machte sich Alicia diesmal ziemlich spät in der Nacht auf den Weg zum Haus. Dabei liess sie die Taschenlampe nur kurz zur Orientierung aufleuchten.

Beim Haus brannte kein Licht, es war ruhig. Entweder waren die beiden nicht da, oder sie schliefen. Zuerst füllte sie die Wasserflaschen und liess sie auf dem Brunnenrand stehen. Dann kletterte sie wieder durch den Stall ins Haus. In der Küche suchte sie im Licht der Taschenlampe nach etwas Essbarem, fand aber nur ein paar Brötchen und im Kühlschrank eine angeschnittene Salami.

Plötzlich hörte sie Stimmen und Schritte aus dem Schlafzimmer, sie hatten sie bemerkt. Jetzt musste alles schnell gehen, sie kletterte zu den Stallungen hinunter, holte am Brunnen das Wasser und versteckte sich im Stall.

 

 

 

Mehrmalige Stupser weckten Gummimann. Zuerst dachte er, sie gehörten zu seinem Traum, dann aber merkte er, dass sie echt waren. Träge drehte er sich zu Maja um. Ihre Nachttischlampe brannte.

»Es ist jemand im Haus, ich habe Geräusche gehört«, flüsterte sie.

Gummimann gähnte. »Bist du sicher, nicht geträumt zu haben? Du solltest abends keine Geistergeschichten mehr lesen.«

»Das Tagebuch ist keine Geistergeschichte, und ich habe die Geräusche nicht geträumt. Hör selbst!«

Gummimann setzte sich auf.

»Ich höre nichts!«

Doch fast im gleichen Moment hörte man die Kühlschranktür. Jetzt war auch er wach. Er kletterte aus dem Bett, zog seine Hausschuhe an, fischte aus seiner Jacke die Taschenlampe, die er immer bei sich hatte und schlich zur Tür. Maja machte das Licht aus und folgte ihm. Oben an der Treppe blieben sie stehen und konzentrierten sich auf Geräusche und Bewegungen. Aber sie hörten und sahen nichts. Vorsichtig gingen sie die Treppe hinunter.

»Hallo, ist da wer?«, rief Gummimann und öffnete die Küchentür.

Es war dunkel, auf den ersten Blick deutete nichts auf fremde Besucher hin. Er liess das Licht der Taschenlampe durch den Raum gleiten, dann machte Maja das Küchenlicht an. Auch mit Licht schien alles so, wie sie sie verlassen hatten.

Dann ein Rumpeln, es kam aus dem kleinen Lagerraum neben der Küche. Sofort rannte Maja dorthin, machte das Licht an, aber er war leer. Nur die nackte Lampe, die von der Decke hing, schwankte ein wenig.

»Auch hier, nichts. Aber es war deutlich zu hören, jemand war hier«, erklärte sie.

Da er es selbst gehört hatte, zweifelte er nicht an ihrer Aussage.

»Vielleicht war es im Stall. Komm, wir sehen nach«, sagte er.

Sie wechselten kurz die Schuhe und ohne sie zu binden, schlichen sie um das Haus zu den Ställen. Einige Kühe auf der Weide waren zu hören, sie mussten aufgescheucht worden sein. Es war Leermond, also von ihm konnten sie keine Hilfe erwarten. Kurz leuchtete Gummimann über die Wiese, aber wirklich weit reichte das Licht nicht. Dann suchten sie im Stall, doch auch hier nichts.

Wieder in der Küche schauten sie nach, ob etwas fehlte. Zuerst entdeckten sie nichts, dann aber erinnerte sich Maja an die restlichen Frischbackbrötchen, die sie gestern zum Frühstück gebacken hatte. Die waren verschwunden. Auch stellten sie fest, dass die Salami fehlte.

»Immer unser Frühstück, schon gestern mussten wir improvisieren, es wird Zeit einkaufen zu gehen«, meinte Maja.

»Aber es ist schon eigenartig, wieso verschwinden nur Esswaren?« Gummimann schüttelte den Kopf. »Einbrecher würden doch anderes mitnehmen. Okay, die Wertsachen haben wir im Schlafzimmer und am Tag nehmen wir sie mit. Wirklich gefährlich dürfte er oder sie nicht sein, vielleicht ein Flüchtling, oder jemand, der von Zuhause ausgerissen ist. Ich denke, wir fahren heute nach dem Einkaufen noch zu Frau Filli, vielleicht weiss sie mehr. Komm Maja, wir gehen zurück ins Bett, der Morgen kommt schneller, als uns lieb ist.«

 

 

 

Alicia wartete, bis die Leute zurück im Haus waren und sie ihre Schritte im oberen Stock hören konnte. Sie waren nahe an ihr vorbeigegangen, aber hatten sie nicht entdeckt. Langsam besass sie Übung, wie sie sich in solchen Situationen verhalten musste. Leise schlich sie aus dem Stall und machte sich auf den Rückweg.

Wieder bei Nuri, erzählte sie ihm, was vorgefallen war. Die Ausbeute war etwas dürftig, aber besser als nichts.

»Wir müssen die Kästchen loswerden, damit wir weiterkönnen«, meinte Nuri.

Alicia nickte: »Ich weiss, ich wollte schon heute ein Messer mitnehmen, aber als ich sie hörte, musste ich mich so beeilen, dass ich es vergessen habe. Ich werde es morgen nochmals versuchen. Aber ich habe Angst, dass sie die Esswaren ins Schlafzimmer nehmen, dann werde ich ins Dorf müssen.«

 

 

 

Am nächsten Morgen fuhren Maja und Gummimann nach Ftan einkaufen. Damit sie nicht jeden Tag auf Brot und Fleisch verzichten müssen, kauften sie Vieles doppelt ein. Das wollten sie am Abend für den Dieb bereitstellen. Sogar Obst und Gemüse zum roh essen, waren dabei. Sollte niemand kommen, würden sie es für sich nehmen.

Dann gingen sie zu Frau Fillis Haus und klopften. Niemand öffnete. Sie klopften ein weiteres Mal, doch weil auch diesmal sich niemand meldete, wollten sie wieder umkehren.

Doch da rief eine Stimme aus einem offenen Fenster im Untergeschoss: »Wer ist da?«

»Wir sind es«, antwortete Gummimann, »Frau Brodmann und ich hätten ein paar Fragen.«

»Ich bin in der Waschküche, nur einen Moment, ich komme.«

Während sie auf sie warteten, stiess Maja Gummimann an: »Sieh mal die zwei Typen dort, sind das nicht die neugierigen, die sich vor unserem Haus mit uns unterhalten wollten?«

Gummimann sah sich um. »Wo? Ich sehe sie nicht.«

Sie zeigte die Strasse hinunter. Man sah sie nur von hinten.

»Ja, du hast recht, das sind sie. Eigenartige Typen, die passen überhaupt nicht hierher. Aber vielleicht machen sie Urlaub hier, so wie wir, man kann man es ihnen nicht verbieten.«

»So, da bin ich, was wollen sie wissen, worum geht es?« Frau Filli stand in der Tür und die Männer waren vergessen.

»Guten Morgen Frau Filli. Brodmann«, stellte sich Maja vor. »Es geht darum: Bei uns kommt jede Nacht jemand und stiehlt Esswaren aus der Küche. Wir wollten Sie fragen, ob das schon früher vorgekommen ist, und ob Sie eine Ahnung haben, wer das sein könnte?«

Gummimann hörte zu und nickte zustimmend.

»Kommen Sie herein.« In ihrer Stimme lag Unsicherheit.

Sie führte sie durch das schöne alte Engadinerhaus ins Wohnzimmer.

»Möchten Sie einen Kaffee?«

Aber Maja und Gummimann lehnten dankend ab.

»Nun«, begann sie, »ich weiss nicht, ob Sie das Tagebuch gefunden haben.«

»Doch«, meinte Maja, »ich lese darin.«

»Dann haben Sie sicher von Adular gelesen, einem Hausbewohner, der vor Urzeiten dort lebte.«

»Das ist der, der plötzlich verschwunden ist?«

»Genau der. Und noch heute spukt er im Haus herum und klaut Esswaren. Ich habe ihn nicht erwähnt, weil ich dachte, mit dem Umbau sei es damit vorbei, aber da habe ich mich anscheinend geirrt. Er ist aber vollkommen harmlos, er ist einfach nur lästig.«

»Und was macht er mit den Esswaren?«, fragte nun Gummimann. Man spürte, so richtig glauben konnte er es nicht.

Frau Filli zuckte die Schultern. »Früher gab es die wildesten Geschichten um Adular. Die Leute glaubten, er würde Kinder holen. Aber das glaube ich nicht.«

»Stimmt, das habe ich gelesen. Aber jemand anderes können sie sich nicht vorstellen?«, wollte Maja weiterwissen.

Frau Filli verneinte: »Mir ist nichts bekannt.«

»Das wäre eigentlich schon alles«, sagte Maja, »weitere Fragen haben wir im Moment nicht. Vielen Dank Frau Filli.«

Auf dem Weg zum Auto fragte Gummimann Maja: »Und das glaubst du?«,

»Ich weiss nicht. Nein, das ist nur Aberglaube, aber Frau Filli scheint überzeugt davon zu sein.«

Gummimann stupste sie und zeigte über die Strasse: »Dort beim Lieferwagen sind sie wieder.«

Um ihnen nicht begegnen zu müssen, machten sie extra einen Umweg. Im Auto prusteten beide los.

»Jetzt verstecken wir uns schon vor irgendwelchen neugierigen Fremden. Hier bekommt man einen richtigen Knacks, dazu müssen wir das Haus mit Adular teilen. Das sind die ruhigen Ferien, an einem einsamen Ort, mit Hochspannungsleitungen neben dem Haus und gratis Geistern, so wie man es sich wünscht«, dozierte Gummimann und hielt dabei einen Finger in die Luft, beide lachten.

Nach dem Mittagessen machten sie es sich gemütlich. Wirklich gut war das Wetter nicht, zwar ohne Regen aber stark bewölkt. Sie machten darum nur eine kurze Wanderung in der Umgebung, mehr aber nicht. Gummimann war froh, so konnte er seinen Muskelkater etwas kurieren. Maja gegenüber hatte er es verschwiegen, er konnte doch nicht zugeben, dass er nebst Blasen auch noch an Muskelkater litt. Morgen würde er wieder fit sein, hoffte er.

 

 

 

Den Tag verbrachten Alicia und Nuri unter dem kleinen Felsen. Zweimal glaubten sie, die Männer gesehen zu haben, doch jedes Mal stellte es sich als Täuschung heraus. Beide hofften, sie könnten weiter, sobald sie sich von den Kästchen befreit hätten. Hier konnten sie nicht bleiben. Nur hatten sie keine Ahnung wohin und wie. Die Leute hier sprachen zwar auch deutsch, aber meistens unterhielten sie sich in einer anderen Sprache. Vielleicht war es ein italienischer Dialekt? Das würde heissen, sie waren in Italien, doch die Autos hatten ein weisses Kreuz in einem roten Feld auf ihren Kennzeichen und manche ein CH-Aufkleber, was auf ein anderes Land hinwies. Doch sie kannten kein Land mit CH. Vermutlich war es die Schweiz, spekulierte Alicia, aber müsste es dann nicht SCH heissen. Doch dieses Land kannte sie nur vom Hörensagen. Wo es war und wo sie waren, wusste sie nicht. Auch nicht wie sie nach Deutschland kommen sollten, nicht einmal die Richtung kannte sie.

Per Anhalter zu reisen war sehr gefährlich, solche Typen wie ihre Peiniger gab es überall. Und wenn zwei Kinder allein unterwegs angetroffen werden, würde man sie sofort der Polizei ausliefern, in ein Heim stecken und später in die Türkei abschieben.

Alicia seufzte, sie fühlte sich schlecht, nicht wegen des wenigen Essens, sondern weil sie keine Perspektive für die Zukunft sah. Aber aufgeben wollte sie trotzdem nicht. Vor ihrem Bruder gab sie sich so zuversichtlich wie immer.