Zeitspiele - Tino Keller - E-Book

Zeitspiele E-Book

Tino Keller

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Beschreibung

Die Überwachung einer gestohlenen Geige, scheint zuerst keinen Zusammenhang mit den Diebstählen in einer Basler Chemiefabrik zu haben. Doch dann beginnen die Schwierigkeiten. Eine Perücke führt ihn zu einer Fabrik, in der eigenartige Versuche gemacht werden, die ihn fast in den Tod führen.

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Seitenzahl: 457

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Eigentlich hiess der Arbeitstitel dieses Buches ›Geige‹. Aber während des Schreibens wurde die Geige immer unwichtiger, so dass ich einen anderen Namen für das Buch finden musste. Oft beginne ich eine Geschichte ohne deren weiteren Verlauf genau zu kennen, und so kommt es, dass sich plötzlich andere Dinge in den Mittelpunkt schieben. Manchmal weiss ich bis zum Schluss das Ende der Geschichte nur grob. Viele Ereignisse schreibe ich nicht einmal in meine Notizen, damit auch für mich die Spannung erhalten bleibt. Fantasie alleine genügt meistens nicht, ich muss mir genau überlegen wie alles abläuft und mir die genauen Eigenschaften des Ablaufs notieren und nötigenfalls anpassen. Namen der Personen und der Ortschaften die zu der Handlung passen, müssen erfunden werden, ein Herr Rüdisüli würde schlecht als Spanier durchgehen. Bei fremden Ländern muss ich deren Eigenheiten mit einbeziehen. Das Internet hilft mir dabei, und auf Google Maps kann ich mir die Gegenden ansehen. Wichtig ist auch, dass die Charaktere und das Aussehen der beschriebenen Personen über die ganze Geschichte stimmen.

Einfacher ist es erfundene Orte zu beschreiben, da kann ich meine ganze Fantasie einsetzen und muss sie nur der wirklichen Umgebung dort anpassen. In meinem Geist sehe ich die ganze Stadt. Trotzdem kann es vorkommen, dass ich mir gewisse Strassenverläufe aufzeichnen muss, damit die gewünschten Handlungen überhaupt möglich sind.

Gerade dieses Buch hatte viele Überlegungen nötig gemacht, aber mehr darüber in der Handlung und im Nachwort.

Tino KellerDezember 2016

Email: [email protected]

Homepage: www.tinokeller.ch

Tino Keller

Detektiv Gummimann

Zeitspiele

Wieder einen grossen Dank an Nathalie Studer und Petra Hieber, die sich, trotz den grossen Belastungen in ihren Berufen, die Zeit nahmen meine Geschichte zu korrigieren. Sie schlugen mir bessere Wörter vor und machten mich auf Logikfehler aufmerksam. Ich bin ihnen sehr dankbar für ihren grossen Einsatz.

Weitere Bücher von Detektiv Gummimann:

Detektiv Gummimann legt los!

Der Arabische Falke

In geheimer Mission

Es geschah bei Micky

Das Geheimnis der Bilder

Nachtjäger

St. Martin

Die Gasse war schmal. Der kleine, etwas zu dicke Mann blickte in das Schaufenster. Viele Menschen gingen an ihm vorbei und bestaunten die schönen alten Häuser mit ihren verzierten Erkern. Nicht so der Dicke. Auch am Schaufenster war er nicht interessiert, sondern an einem Touristen, der einen alten Brunnen mit einem steinernen Ritter, aus dessen Lanze Wasser sprudelte, fotografierte. Der Mann ging weiter. Der Dicke folgte ihm möglichst unauffällig, fotografierte dabei die Umgebung und natürlich zufällig auch ihn.

St. Martin am Rhein war ein Touristenmagnet, weit über die Landesgrenzen bekannt. Die Häuser aus dem sechzehnten Jahrhundert, die alten Brunnen und die verwinkelten Gassen waren berühmt. Die Meistergasse, in der die Beschattung stattfand, war wahrscheinlich eine der schönsten Sehenswürdigkeit der Gegend.

In einem Souvenirladen kaufte der Mann, der Mitte fünfzig sein musste, eine Ansichtskarte. Er sah aus wie ein typischer Tourist: einfach gekleidet mit blauen Jeans und einem, dem Wetter entsprechenden, kurzärmligen, bunten Hemd. Sein schütteres, fast weisses Haar war mit einem Strohhut bedeckt. Sein Gesicht war schon leicht runzlig mit einem kurzen, grau melierten Bart, und einer grossen Charakternase. Unter den zahlreichen Touristen fiel er nicht auf. Sogar die dunkelbraune Umhängetasche aus Leder und den etwas altmodischen Fotoapparat, den er bei sich trug, waren unauffällig und passten zu ihm.

Der kleine Dicke stand vor dem Geschäft und schaute ihm durch das Schaufenster zu. Als der Mann den Laden wieder verliess, hängte er sich erneut an ihn. Bei den vielen Touristen war es schwierig, ihn nicht zu verlieren. Klein zu sein, war in dieser Gasse schlecht. Oft war er einfach nicht gross genug, ihn zwischen den Menschen noch zu sehen. Der Mann betrat die Fischerstube, das bekannteste Gasthaus in ganz St. Martin.

Der Dicke aber verschwand in einer ruhigen Seitengasse, die in einem Hinterhof endete. Noch einen Blick zurück, um sicher zu sein, von niemanden gesehen zu werden, dann verzog er sich in einen Hauseingang. Dort veränderte er sein Aussehen, indem er sich gross und schlank machte. Die unauffällige, graue Manchesterhose und ein schwarzweisses T-Shirt wechselte er nicht. Zurück in der Meistergasse ging auch er in die Fischerstube und setzte sich so an einen Tisch beim Eingang, dass er den Mann, der einen Kaffee und ein Stück Schwarzwälder Torte vor sich hatte, weiter beobachten konnte. Was jetzt kommen würde, kannte er. Als der Mann fertig gegessen und den Kaffee ausgetrunken hatte, bekam er die Rechnung. Diese erhielt er in einem Mäppchen, im Gegensatz zu den anderen Gästen, die nur eine Quittung bekamen. Dann nahm er die Rechnung aus dem Mäppchen, sah sie sich kurz an, nickte, unterschrieb, gab sie zurück und nahm eine Kopie entgegen. Es war das vierte Mal, dass er genau diesen Vorgang in diesem Lokal beobachten konnte, und nie hatte er ihn zahlen sehen. Der Schlanke machte noch ein paar Aufnahmen, indem er den Fotoapparat in die Richtung des Zahlenden auf den Tisch stellte und blind abdrückte. Daraufhin zahlte auch er und wartete bis der Mann das Lokal verliess.

Dann verfolgte er ihn noch kurz durch die Meistergasse weiter, bis dieser zum Marktplatz abbog und im Hotel ›zumgoldenen Drachen‹ verschwand. Seit vier Tagen die gleiche Prozedur mit kleinen Abweichungen.

Gummimann setzte sich aufs Bett. Sein Zimmer im Gasthaus ›Zur Sonne‹war klein, bestand nur aus einem Bett, einem kleinen Tisch, zwei Stühlen, einer Kommode, auf der der Fernseher stand, und einem Beistelltischchen mit dem Telefon und natürlich der Bibel.

Solche Beschattungsaufträge liebte er nicht, aber sie gehörten zu seinem Job, und dafür waren seine Fähigkeiten, sich gross oder klein, dick oder dünn zu machen, geradezu ideal. Seine Auftraggeber wussten nicht, dass er sich so verändern konnte, nur, dass er ein guter Detektiv war. Er wollte es möglichst geheim halten.

Der jetzige Auftrag entwickelte sich zu einer langweiligen Sache. Dabei hatte es sich so interessant angehört, als er ihn von Peter Voss angenommen hatte. Wichtig sei er, sagte Voss damals. Er meinte, der Mann sei vielleicht ein Spion und er traue ihm nicht über den Weg. Und jetzt, jeden Tag das gleiche Restaurant, die gleiche komische Bezahlweise, die gleiche Gasse, der gleiche Weg. Immerhin, St. Martin war schön, für ihn fast Ferien und dieser Voss zahlte alles. Das Hotel, die Reise, das Essen und die Arbeit. Und Gummimann war teuer. Dafür konnte er sich schon etwas langweilen.

Bevor er zum Nachtessen in die Gaststube ging, wollte er sich noch die Fotos anschauen. Er steckte die Speicherkarte vom Fotoapparat in seinen Laptop und begann die Bilder durchzusehen: Da waren die vom Morgen. Der Mann, der Jan Selig hiess, machte seinen Spaziergang dem Rhein entlang. Dann das Mittagessen im Gasthaus ›Krone‹, das er versteckt hatte aufnehmen müssen. Selig sass immer am gleichen Platz. Meistens ass er Spaghetti, obwohl es eine grosse Auswahl bester Speisen gab. Auch der Nachmittag gestaltete sich meistens ähnlich: ein Spaziergang durch die Altstadt, der in der Meistergasse mit dem Besuch in der Fischerstube endete.

Wirklich, seit vier Tagen fast das gleiche Zeremoniell. Gummimann gähnte und schaute sich die letzten Bilder an, als ihm eine Frau auffiel. Nicht etwa, weil sie besonders hübsch gewesen wäre, sondern weil sie ihm bekannt vorkam. Auf einem anderen Bild hatte er sie schon einmal gesehen. Gespannt begann er, die Fotos nach ihr zu durchsuchen. Und tatsächlich! Auf den heimlichen Bildern in der Fischerstube sass sie an einem Tisch in der Ecke. Auch auf den Bildern von der Meistergasse war sie zwischen den Touristen zu sehen. Nun, es konnte Zufall sein, die meisten Besucher gingen in die Meistergasse und in die Fischerstube. Doch er fand sie auch auf Bildern vom Spaziergang am Rhein und im Gasthaus ›Krone‹. Das konnte kein Zufall sein!

Gummimann lehnte sich zurück, blickte ins Leere und liess den heutigen Tag nochmals an sich vorbeiziehen. Seine Überlegungen, warum die Frau ihm beim Beschatten nicht aufgefallen war, brachten keine vernünftigen Erklärungen. Sicher sie benahm sich sehr unauffällig, wie auch er das versuchte, aber gerade darum hätte sie ihm auffallen müssen. Möglicherweise war es trotzdem nur ein Zufall. Viele der Touristen wählten diese oder ähnliche Routen.

Es klopfte an der Tür. Gummimann zuckte zusammen, er war noch stark in Gedanken vertieft.

Es klopfte ein zweites Mal. »Herr Gummimann sind Sie da?«, erklang eine Frauenstimme durch die Tür. »Wir haben einen Platz für Sie in der Gaststube reserviert, und ich wollte Sie fragen, ob Sie noch kommen? Herr Gummimann sind Sie da?«

»Ja, ja, ich komme, ich hätte es fast vergessen, danke Frau Rothschild«, antwortete er und erhob sich.

Sie wartete vor der Tür auf ihn. Auf dem Weg bis zur Gaststube, zwei Stockwerke ohne Lift, erzählte sie ihm ihr halbes Leben. Sie konnte dabei nicht genug betonen, dass sie ganz entfernt mit diesem Baron von Rothschild verwandt sei.

Wie jeden Tag war der Tisch am Fenster für ihn reserviert, mit Blick auf den Rhein. Gummimann setzte sich und die nette Frau Rothschild lächelte ihn an und gab ihm die Speisekarte. Sie war die Seele des Gasthauses ›zur Sonne‹. Mittleren Alters, klein, etwas mollig, sie hatte ihre langen Haare nach oben gekämmt und mit einer goldenen Schleife zusammengebunden und trug ein Dirndl mit einer grünen Schürze. Ihre freundliche Art gab jedem das Gefühl, der wichtigste Gast hier zu sein.

Nach kurzem Warten fragte sie: »Haben Sie gewählt, Herr Gummimann?«

»Ja«, sagte er, »ich nehme das vorgeschlagene Menü und ein stilles Wasser.«

»Gerne, Herr Gummimann«, sagte sie lächelnd, »eine gute Wahl«, und ging zur Küche.

Während er auf das Essen wartete, schaute er hinaus auf die Promenade und den Rhein. Es waren nicht mehr viele Leute unterwegs. Die meisten waren wohl beim Nachtessen oder schauten sich einen Krimi im Fernsehen an. Da erschien vor dem Fenster eine Frau in Begleitung eines Mannes. Sie diskutierten heftig. Gummimann erschrak, war das die Frau von den Bildern? Womöglich verfolgte sie ihn und nicht Jan Selig? Die Frau trug einen Hosenanzug mit einem etwas zu bunten Blumenaufdruck. Dieser wäre ihm sicher aufgefallen. Auch waren die Haare zu kurz – nein, das war sie nicht. Die Frau und ihr Begleiter gingen weiter.

Die Suppe wurde gebracht. Frau Rothschild lächelte und wünschte ihm einen guten Appetit. Gummimann bedankte sich und begann zu essen. Plötzlich entdeckte er, zwei Tische vor ihm, eine Frau, die mit einem Spiegel ihr Gesicht puderte. Er sah sie nur von hinten. Sie hatte lange blonde Haare und hielt den Spiegel so, dass sie ihn darin sehen konnte. Vor Schreck verschluckte er sich beinahe. Das musste sie sein, so wie sie sich benahm. Was wollte sie von ihm? Sie hatte bemerkt, wie er sie beobachtete, hielt die Hand in die Luft und ohne sich umzudrehen winkte sie ihm mit den Fingern. Sollte sie das sein, dann hatte er sich vollkommen unprofessionell verhalten. Gummimann war es peinlich, schaute weg und schlürfte weiter seine Suppe.

Ein kleiner, ziemlich dicker, älterer Mann mit sehr wenig Haaren betrat von der Toilette her die Gaststube. Lachend winkte er der Frau zu, durchquerte den Raum und ging zu ihr. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht bückte er sich hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte und erhob sich, dabei drehte sie sich zu Gummimann um und winkte ihm zum Abschied. Gummimann erschrak, als er sie sah, winkte aber höflichkeitshalber zurück. Es war ein stark geschminkter Mann in Frauenkleidern. Mit einem übertrieben weiblichen Getue verliess sie, dem kleinen Dicken eingehängt, das Lokal.

So was hatte er noch nie erlebt, es ärgerte ihn. Warum verfolgte ihn diese Frau in seinen Gedanken, obwohl er sie nur auf Fotos gesehen hatte, und sie vielleicht nur zufällig dort war.

Frau Rothschild räumte die Suppe ab und brachte die Hauptspeise. Gummimann bedankte sich und schüttelte gedankenversunken den Kopf.

Wieder in seinem Zimmer beschloss Gummimann, die Frau auch auf den Bildern der vorigen Tage zu suchen. Dazu schaltete er seinen Laptop wieder an und wartete, bis er hochgefahren war. Dann startete er die Suche auf den Bildern von den anderen Tagen. Zuerst sah er nur viele Menschen am Rhein und der Meistergasse, natürlich mit Jan Selig. Auf einem Bild entdeckte er eine Frau, die dieser von heute glich. Sie hatte aber wesentlich längere Haare und war blond. Sie war auch anders gekleidet, was nicht viel aussagte, denn Kleider wechseln konnte jeder oder jede. Er tat es ja auch, wenn er jemanden verfolgte. Auf diesem Bild trug sie einen auffälligen roten Hut, um jemanden zu beschatten eher ungeeignet. Sofort durchsuchte er die weiteren Bilder nach dieser Hutträgerin, fand sie aber kein zweites Mal. Er wollte schon aufgeben, als ihm eine Dame auffiel, die ihre langen braunen Haare hinten durch ein hellblaues Baseballcap gezogen hatte. Sie trug kurze, enganliegende, hellbraune Shorts und ein weisses T-Shirt mit einem Walaufdruck. Und wirklich, er fand sie auf vielen Fotos. Der Vergleich mit den neuesten Bildern bestätigte den Verdacht: Es war dieselbe Dame. Als er sie auch noch auf den Bildern von vor drei und vier Tagen mit anderer Haarfarbe und Frisur und anderen Kleidern entdeckte, sie trug vermutlich verschiedene Perücken, war es ihm klar, sie verfolgte diesen Selig oder ihn.

Zuerst musste er tief durchatmen, er war richtig aufgewühlt. Er als Beschatter wurde beschattet und dabei hatte er sich solche Mühe gegeben, immer anders aufzutreten, andere Körpergrösse, andere Figur, andere Kleider und trotzdem wurde er bemerkt. Der Gedanke, Jan Selig könnte der Beschattete sein, beruhigte ihn zwar etwas, aber er zweifelte.

Am Fenster schaute er von oben über die sonst so belebte Einkaufsstrasse. Er sah, wie einige Autos langsam am Hotel vorbeifuhren, wie die letzten Touristen in ihre Hotels gingen oder noch einen Nachtclub aufsuchten. Am Abend war hier nicht viel los.

Seine Überlegung, Peter Voss anzurufen und ihm alles zu erzählen, verwarf er wieder. Zuerst wollte er morgen die Dame zur Rede stellen. Trotzdem musste er mit jemandem darüber reden, und wer wäre dafür nicht besser geeignet, als sein Freund Sir Clearwater. Er kannte ihn seit ewig, und sie hatten viel zusammen erlebt. Wenn Gummimann Sorgen oder schwierige Fälle hatte, war er der beste Ratgeber. Manchmal brauchte er einfach jemanden, der ihm zuhörte.

Clearwater arbeitete beim Geheimdienst, war schon ein älterer Herr, wobei niemand sein wirkliches Alter kannte. Er war sehr seriös und strahlte viel Autorität aus, alle hatten grossen Respekt vor ihm. Sein Erkennungszeichen war ein weisser Anzug mit einem weissen Panama-Hut.

Mit seinem Handy wählte er Clearwaters Geschäftsnummer. Es läutete zwei Mal, dann wurde abgenommen.

»Clearwater. Herr Gummimann, was gibt mir so spät noch die Ehre?«, sagte er erfreut.

»Sie haben meinen Namen auf dem Display gesehen. Guten Abend Sir Clearwater, ich brauche wieder einmal Ihren Rat.«

»Wir haben schon lange nicht mehr miteinander gesprochen, sind Sie an einem neuen Fall?«

»Ja, ein Beschattungsauftrag, in Deutschland, in St. Martin am Rhein, eher langweilig, aber gut bezahlt.«

»Das ist doch gut, etwas entspannter als ihr letztes Abenteuer in der anderen Welt.«

»Das ist es«, Gummimann musste lachen, »viel entspannter, fast zu entspannt.«

»Und Sie wollen mit mir über Ihren langweiligen Auftrag sprechen?«

»Ja und nein«, Gummimann zögerte: »Vielleicht ist nichts, aber ich erzähle Ihnen, worum es geht.«

Und er erzählte Clearwater von der geheimnisvollen Beschatterin. Und seiner Unsicherheit, wer überhaupt von ihr beschattet wurde.

»Das heisst«, fasste Clearwater zusammen, »jemand beobachtet Sie oder Selig und Sie wissen nicht, warum, habe ich das richtig verstanden, und was ist jetzt Ihre Frage?«

»Eigentlich keine Frage, aber ich bin unsicher, wie ich mich verhalten soll. Ich dachte mir, die Dame morgen zur Rede zu stellen.«

»Warum müssen sie Selig beschatten?«

»Genau weiss ich das nicht. Dieser Voss, das ist der Auftraggeber, sagte etwas von einem Spion, was ich mir aber kaum vorstellen kann.«

»Spion? Unwahrscheinlich. Vermutlich steckt etwas anderes dahinter. Ich würde noch mit dem ›zur Rede stellen‹ warten. Klären Sie zuerst ab, ob Sie oder Selig beschattet werden, und dann versuchen Sie herauszufinden, wer diese Dame ist und auch, warum Sie Selig wirklich beschatten müssen. Ich weiss nicht, ob Ihnen das hilft, aber das ist meine Meinung.«

»Doch das hilft mir. Vielen Dank Sir Clearwater, ich lasse Sie wieder arbeiten.«

»Nicht arbeiten, eigentlich habe ich schon lange Feierabend.«

Sie verabschiedeten sich. Gummimann hängte auf und lehnte sich etwas entspannter auf seinem Stuhl zurück. Dann zog er seine Schuhe aus und legte sich aufs Bett. Um sich abzulenken, nahm er sein Buch, natürlich ein Krimi, und begann zu lesen. Nach einer Seite legte er es wieder auf das Beistelltischchen. Er hatte keine Ahnung, was er gelesen hatte. Seine Gedanken waren woanders. Es ärgerte ihn, dass er die Beschatterin nicht bemerkt hatte. Ihm als bekannter Detektiv sollte sowas nicht passieren. An Schlaf war nicht zu denken. Um seine Gedanken frei zu bekommen, war ein Spaziergang immer noch das Beste. Obwohl es schon 22.00 Uhr war, zog er seine Schuhe an, vergewisserte sich, dass er sein Handy dabeihatte, und verliess das Zimmer.

Im Hotel war es ruhig, alle schienen zu schlafen, auch der Concierge an der Rezeption. Dieser erschrak, als Gummimann ihn sanft weckte, indem er kräftig auf die Rezeptionsglocke schlug, und ihm den Zimmerschlüssel gab.

Draussen war es angenehm kühl. Einfach so ziellos durch die ausgestorbenen Strassen von St. Martin zu gehen, war jetzt die beste Entspannung. Einige Katzen flüchteten, eine Wasserratte überquerte am Flussufer die Strasse und verschwand irgendwo, ein Betrunkener lag am Boden und schlief laut schnarchend.

Bei seinem nächtlichen Spaziergang kam er am Hotel ›Zum goldenen Drachen‹ vorbei, in dem Selig wohnte. Auch dort waren die meisten Zimmer dunkel, nur der Empfang war beleuchtet. Er blieb kurz stehen und betrachtete das Hotel. Es war mit roten Bändern verziert, die man sogar im Dunkeln erkennen konnte, und hatte ein geschwungenes Dach. Den Eingang bewachten zwei goldene Drachenstatuen und darüber hing ein Bild, eines ebenfalls goldenen Drachen, auf blauem Hintergrund. Es war alles ziemlich chinesisch angehaucht und passte überhaupt nicht zum sehr traditionellen St. Martin. Wer war nur auf diese verrückte Idee gekommen, so etwas hier aufzustellen? Gummimann schüttelte den Kopf.

Langsam wurde er müde und dachte ans Umkehren. Von diesem Hotel zu seinem waren es nur ungefähr zehn Minuten. Er wollte gerade in die Gasse für den Heimweg einbiegen, als er eine Person entdeckte, die sich aus dem Schatten eines Hauses gelöst hatte. Zuerst dachte er, es wäre auch eine gestresste Person wie er, die nicht schlafen konnte, doch sicherheitshalber zog er sich an eine dunkle Stelle in eine Seitengasse zurück, und liess sie an ihm vorbeiziehen.

Da traf es ihn wie ein Blitz. Es war die Frau aus den Fotos! Doch es machte nicht den Anschein, als würde sie ihn suchen, sondern sie ging schnellen Schrittes, ohne nach rechts oder links zu schauen, an der Gasse und am Hotel vorbei.

Was machte die Dame um elf vor dem Hotel, in dem Selig sein Zimmer hatte? Gummimann wurde neugierig. Nachdem sie einen gewissen Vorsprung hatte, begann er, ihr zu folgen. Das war nicht einfach, bei einer nächtlichen Verfolgung ist alles ruhig und man hört jedes Geräusch. Indem er sich etwas kleiner machte, wurden seine Schritte auf den Pflastersteinen etwas leiser, aber dafür musste er schneller gehen, was wiederum mehr Lärm machte. Auf den Zehenspitzen schlich er den Wänden entlang, immer bereit, in einem Hauseingang zu verschwinden. Die Dame ging Richtung Rhein, bog aber kurz davor in eine kleine Gasse zum grossen Parkplatz ab. Die Gasse war kurz. Es gab dort keine Hauseingänge oder andere Versteckmöglichkeiten, nur eine Laterne in der Wegmitte. Gummimann musste warten, bis die Frau den Parkplatz erreicht hatte, dann rannte er los, um sie nicht zu verlieren und sah gerade noch, wie sie in ein dunkles, schwarzes oder blaues Auto einstieg. Jemand musste auf sie gewartet haben. Die Autonummer konnte nicht erkennen, sah nur den CH-Aufkleber.

Etwas enttäuscht, nicht mehr herausgefunden zu haben, ging Gummimann in sein Zimmer zurück. Morgen würde er sie vermutlich beim Beschatten von Selig sehen.

Pünktlich, wie an jedem der fünf Tage, wartete Gummimann etwas versteckt vor dem ›Goldenen Drachen‹, um Selig abzupassen. Wie jeden Morgen hielt ein Auto der Post vor dem Hotel, und der Briefträger brachte auf einem Handwagen die Post an die Rezeption. Dann verliess wie jeden Tag ein vornehmer Herr in einem dunkelgrauen Anzug mit einer Zeitung in der Hand das Gebäude. Doch von Selig war nichts zu sehen, der müsste jetzt eigentlich kommen. Gummimann wartete. Hatte er ihn verpasst? Nach einer halben Stunde wurde er langsam ungeduldig. Er wartete nochmals kurz und ging vor den Hoteleingang. Durch die Glastüren versuchte er, hineinzuspähen. Doch da war ausser dem Concierge, der mit einer älteren Dame diskutierte niemand, kein Selig. Nach längerem Überlegen beschloss er, sich im Hotel nach Selig zu erkundigen.

Die ältere Dame war noch immer am Diskutieren: »Ich garantiere Ihnen!«, sagte sie fast schreiend, »sollte ich nochmals von einem solchen Lärm aus dem Schlaf gerissen werden, dann bin ich das letzte Mal in diesem Hotel gewesen. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, klar. Ich möchte mich nochmals dafür entschuldigen.« Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiss von der Stirn. »Es wird nie wieder vorkommen.«

Der etwas mollige Concierge machte ein verzweifeltes Gesicht, nickte aber Gummimann begrüssend zu. Die resolute Dame warf ihm nochmals einen vernichtenden Blick zu und ging.

Der Concierge blickte sich um und kam näher zu Gummimann, der jetzt an der Theke stand: »Mit Frau von Steinhausen haben wir oft solche Probleme. Gestern, so gegen halb elf hat ein Gast ausgecheckt, und das hat etwas Lärm verursacht. Eigentlich harmlos, aber die Steinhausen ist erwacht, und das Resultat haben Sie vorher gehört. Aber ich nehme nicht an, Sie sind deswegen gekommen. Wollen Sie ein Zimmer?«

»Nein.« Gummimann schüttelte den Kopf. »Ich will kein Zimmer, ich möchte mich nach Herrn Selig erkundigen, wir haben abgemacht, und er ist nicht gekommen.«

»Das scheint ein begehrter Mann zu sein. Schon heute Morgen hat eine Dame nach seiner Adresse gefragt, aber die habe ich nicht. Er war auch der Grund für Frau von Steinhausens Aufregung. Es war Herr Selig, der uns gestern so spät noch verlassen hat.«

»Kann man denn bei euch noch so spät auschecken?«

»Nein, aber er hat schon am frühen Abend bezahlt und gehen kann er natürlich auch noch spät.«

Gummimann war etwas verwirrt: »Aber, Sie haben doch bei der Ankunft seine Adresse erhalten und auf der Abrechnung sollte sie auch stehen, oder mindestens die Kreditkartennummer.«

»Da haben Sie recht, sollten wir eigentlich haben. Aber leider stimmt die Adresse nicht, und Selig hat bar bezahlt, es gibt also keine Kreditkartennummer.«

Gummimann bedankte sich und verliess das Hotel. Bevor er weiterging, suchte er die Umgebung nach der Dame ab, er hoffte sie zu treffen. Obwohl ihm Clearwater abgeraten hatte, wollte er mit ihr reden. Doch er fand sie nicht. Vermutlich war sie, im Gegensatz zu Gummimann selbst, gestern einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen und hatte beobachten können, wie Selig abreiste.

Langsam wurde es für Gummimann interessant, sein Detektivinstinkt erwachte. Er wollte mehr über Selig herausfinden, auch warum er ihn beschatten musste. Ebenfalls wollte er wissen, wer die Dame war, die hinter Selig her war. Er schien wichtig zu sein, so wichtig, dass mindestens zwei Personen grosses Interesse an ihm hatten. Es gab viele offene Fragen, auch warum Selig mitten in der Nacht das Hotel verlassen hatte. Musste er flüchten? Wollte er nicht gesehen werden?

Für seine Ermittlungen ging Gummimann in die Meistergasse, in den Gasthof zur Fischerstube. Seligs eigenartige Art, dort zu zahlen, könnte ein erster Anhaltspunkt sein. Er setzte sich diesmal nicht an den Tisch beim Fenster, sondern an den Tisch, an dem Selig zu sitzen pflegte. Es war Morgen, es hatte noch nicht viele Touristen unterwegs, die Gaststube war ziemlich leer.

Gummimann bestellte einen Kaffee mit Sahne und ein Croissant. Als der Kellner, der ihn auch gestern bedient hatte, ihm das Bestellte brachte, winkte er ihn zu sich.

»Ich hätte eine Frage. Gestern am späteren Nachmittag haben sie an diesem Tisch einen Herrn bedient und ihm die Rechnung in einem Mäppchen gebracht, und er musste nur unterschreiben.«

»Ja, das war Herr Selig.« Der Kellner schaute ihn verwundert an. »Warum, stimmt etwas nicht?«

»Doch, doch, es war nur eigenartig, wie er bezahlt hat, macht er das mittels einer Kreditkarte?«

Der Kellner schüttelte den Kopf, und einige Schuppen lösten sich aus seinen Haaren. Gummimann hielt vorsichtshalber die Hand über den Kaffee.

»Nein, er musste nicht zahlen, nur bestätigen, die Firma Zellerwald übernahm die Kosten. Lediglich eine Kopie der Rechnung wollte er haben.«

»Die Firma ist von hier, in St. Martin?«

Er liess die Hand über dem Kaffee, aber der Kellner sagte, diesmal ohne Kopfschütteln: »Keine Ahnung, weiss ich nicht.«

Gummimann bedankte sich und ass sein zweites Morgenessen. Zellerwald, war eher ein seltener Name, überlegte er. Die Firma sollte doch zu finden sein.

Nachdem er bezahlt hatte, ging er zurück ins Hotel. Mit Hilfe von Google begann er nach der Firma zu suchen. Die meisten Einträge waren über den Zeller Wald, aber es gab einen Eintrag von einer Firma Zellerwald, die nicht weit von St. Martin entfernt war. Sie revidierte Musikinstrumente. Mit gemischten Gefühlen studierte Gummimann die Angaben zu dieser Firma. Was konnte Selig damit zu tun haben?

Da die Firma nicht weit entfernt war, beschloss Gummimann, hinzugehen. Doch zuerst musste er Voss über die Abreise von Selig informieren. Schliesslich bezahlte er seinen Aufenthalt hier, und es gehörte zu seiner Aufgabe, ihn über alle Aktivitäten Seligs zu informieren.

Wie immer telefonierte er nicht mit dem Hoteltelefon, sondern mit seinem Handy. Nach nur einmal Klingeln, hatte er Voss am Apparat.

»Voss«, sagte eine etwas grelle Stimme.

»Hier Gummimann, hallo Herr Voss, ich wollte Ihnen die neusten Informationen durchgeben. Herr Selig ist gestern abgereist.«

»Abgereist, gestern? Und Sie informieren mich erst jetzt!«, die Stimme wurde schneidender, unangenehmer.

Gummimann versuchte, ihm alles zu erklären, aber Voss liess sich nicht beruhigen. Immer wieder machte er ihm Vorwürfe, warum er ihn nicht besser überwacht hätte, warum er die Informationen erst jetzt durchgäbe. Für diese ungenügende Auskunft und für so eine schwache Arbeit würde er ihn nicht bezahlen.

»Hat er sich mit jemandem getroffen, hatte er ein Paket dabei? Wohin ist er gefahren?«

Gummimann spürte eine gewisse Wut aufkommen, warum bloss reagierte dieser Voss so unangemessen? Aus diesem Grund entschloss er sich, nur das Wichtigste zu erzählen. Mit diesem Voss, da stimmte auch etwas nicht.

»Er hat niemanden getroffen, von einem Paket weiss ich nichts, und wohin er abgereist ist, weiss ich auch nicht. Auch im Hotel hat er keine Adresse hinterlassen. Die, die er dort angegeben hatte, war falsch.«

Voss brummelte etwas Unverständliches und meinte dann: »Gut, schicken Sie mir ein Email mit der Rechnung und ihren Bankangaben.«

Damit hängte er auf, ohne sich zu verabschieden. Gummimann schaute entgeistert das Handy an und schüttelte den Kopf. Er war wütend, dieser Voss wollte ihn nicht verstehen, Gummimann hasste solche Anschuldigungen.

»Schwache Arbeit, ungenügende Auskunft«, wiederholte er mehrmals laut und begann voller Wut seinen Koffer zu packen, indem er alles hineinschmiss. Als er ihn dann nicht schliessen konnte, setzte er sich auf sein Bett und versuchte sich mit tief Ein- und Ausatmen zu beruhigen. Nach ein paar Minuten gelang ihm dies sogar. Er packte alles wieder aus, legte die Kleider sauber zusammen und startete zum zweiten, vernünftigeren Versuch. Und siehe da, alles hatte Platz, der Koffer liess sich problemlos schliessen.

Die Firma war ausserhalb von St. Martin in einem kleinen Weiler mit höchstens zwanzig Häusern. Die Fahrt dorthin führte ihn durch grosse Wälder und weitere kleine Dörfer. Sein Navi leistete gute Dienste, so dass er wirklich nach dreissig Minuten die Firma Zellerwald erreichte. Eigentlich sah das Gebäude nicht nach einer Firma aus, mehr wie ein Bauernhaus mit einem hässlichen Anbau mit Flachdach.

Gummimann stellte sein Auto vor dem Anbau ab und stieg aus. Einige Kühe waren zu hören und ein Hund bellte, er war aber angebunden. Über der Tür vom Anbau hing ein Schild mit der Aufschrift Zellerwald, Inhaber Peter Roth. Die Tür öffnete sich, und ein junger Mann kam auf ihn zu.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, fragte dieser misstrauisch.

»Sind Sie Peter Roth?«

Gummimann lächelte und versuchte, so vertrauenswürdig wie möglich zu wirken. Er reichte ihm die Hand zum Gruss. Der junge Mann, immer noch misstrauisch, nahm sie aber nicht an, und so zog er sie wieder zurück.

»Das ist mein Vater. Was wollen Sie von ihm?«

»Ich hätte nur ein paar Fragen.«

»Sind Sie von der Polizei?« Er schaute ihn fragend an, schien aber keine Angst zu haben.

»Nein, ich habe ein Musikgeschäft, und man sagte mir, sie verkaufen auch Instrumente.«

»Verkaufen? Nein. Da hat man Sie falsch informiert.« Er wurde freundlicher. Das Misstrauen war noch da, aber die Neugier überwiegte. »Wir revidieren Instrumente jeglicher Art. Blas- und Streichinstrumente, das ist meistens die Aufgabe meines Vaters. Ich revidiere Orgeln, in Kirchen und so. Wer hat Ihnen von unserem Geschäft erzählt?«

»Jan Selig, aber ich muss ihn falsch verstanden haben.« Gummimann versuchte, die Reaktion des jungen Herrn Roth zu erkennen.

»Jan Selig? Das wundert mich, er verlangte von uns höchste Verschwiegenheit. Ja, ich kenne ihn. Er hat eine Geige, eine Stradivari 1710, zur Revision gegeben.« Er kam näher zu Gummimann, schaute sich wichtig um und sagte leiser: »Das Instrument hat einen Wert von 1,5 Millionen Euro. Es soll bald wieder jemand darauf spielen.«

»Ja, ich weiss, er hat sie gestern geholt«, mutmasste Gummimann, obwohl er zum ersten Mal davon hörte. »Wir haben uns oft in der Fischerstube getroffen, wir kennen uns schon lange und wohnen fast am gleichen Ort.« Er spekulierte, er wusste, es war riskant, er kannte Selig nur vom Beschatten, und er hatte auch keine Ahnung wo er wohnte.

»Ja, er holte sie gestern gegen Mitternacht, sie wurde erst dann fertig. Eigentlich hätte die Geige schon vor fünf Tagen fertig sein sollen, aber Vater schaffte es nicht, und wir boten Selig an, dass er ein Zvieri – wie er es nennt – von uns spendiert bekommt. Und Zellerwald, also wir, haben es bezahlt. Selig kommt auch aus der Schweiz wie Sie, das hörte man schon an der Sprache. Und er hat eine Schweizer BS-Autonummer. Bad-Säckingen oder so, aber das ist eigentlich geheim. Selig wollte nicht, dass wir wissen, woher er kommt, aber man interessiert sich doch für seine Kunden.

Ich muss wieder an die Arbeit, oder haben Sie noch Instrumente zum Revidieren?«

»Nein. Aber ich werde mir den Namen Zellerwald merken, ich habe oft Kunden, die froh um eine gute Adresse für ihre Instrumente sind.«

Gummimann schmunzelte, er hatte mehr erfahren, als er Roth gefragt hatte. Mit einem Händedruck verabschiedete er sich, und fuhr nach Hause, zurück in die Schweiz, seine Arbeit hier in Deutschland war erledigt.

Zu Hause in Wallgisdorf, einem kleinen Dorf im Baselland, von den Einheimischen Wallgis genannt, war Gummimanns erste Handlung, das Leeren des Briefkastens. Er wohnte im Parterre eines dreistöckigen Hauses. Im zweiten Stock wohnte Frau Änishänslin. Normalerweise erschien bei seiner Heimkehr immer ihr Kopf im Treppenhaus, denn sie wusste viel zu erzählen. Aber heute blieb es ruhig. Er war fast etwas enttäuscht, nicht den neusten Klatsch zu erfahren. Die Zeitungen hatte sie aus dem Milchkasten geholt und ihm vor die Haustür gelegt. Das tat sie immer, wenn er nicht da war. Sie war nett, etwas zu gesprächig, doch er war froh, dass sie das tat, sonst wäre in seinem Milchkasten nicht genug Platz gewesen. Er kämpfte schon genug mit der Menge des Inhalts seines Briefkastens, das meiste war Werbung, trotz seines Kein-Reklame-Klebers.

Den Koffer hatte er noch unausgepackt im Schlafzimmer aufs Bett gelegt, und nun sass er am Küchentisch und sortierte die Post. Werbung auf den rechten Haufen, die Rechnungen links. Die Müdigkeit von den drei Stunden Autofahrt steckte noch in seinen Knochen. Nach dem Essen, er hatte sich unterwegs eine Pizza gekauft, und wollte er sich etwas hinlegen. Die Pizza war gerade noch geniessbar, mit grossem Hunger ass er sie. Jetzt wäre das Mittagsschläfchen an der Reihe gewesen, aber das Klingeln seines Telefons kam ihm zuvor.

»Gummimann«, nahm er sein drahtloses Festnetztelefon ab.

»Kommissär Meierhans. Sie sind wieder im Lande, Herr Gummimann. Sir Clearwater hat mir gesagt, Sie kämen vermutlich heute wieder zurück.«

»Ja, ich hatte im Ausland zu tun, aber womit kann ich Ihnen helfen?«

Gummimann hatte eigentlich im Moment keine Lust, einen Fall zu übernehmen, Voss vom vorigen Fall hatte gut bezahlt. Des Geldes wegen hätte er jetzt auch Ferien machen können, denn er wusste, die Bezahlung durch den Staat war eher schlecht.

»Werkspionage, Herr Gummimann. In einer Chemiefabrik hier in Basel wurden vermutlich wichtige Unterlagen gestohlen. Ich darf Ihnen noch nicht sagen, um welche Firma es sich handelt. Zuerst muss ich die Zustimmung der Direktion dort einholen, dann kann ich mehr sagen. Darf ich dort Ihre Mithilfe erwähnen?«

Gummimann zögerte zuerst, war schlussendlich aber damit einverstanden. Sie machten ab, dass sich Kommissär Meierhans bei ihm melden würde, sobald er das Einverständnis hatte. Eigentlich wollte er das nicht, aber er bekam Interesse an diesem Fall, sah nur seine Rolle noch nicht. Werkspionage, wo könnte er helfen, in einen Computer klettern? Der Gedanke amüsierte ihn.

Das Mittagsschläfchen wollte er nicht auslassen und danach noch kurz joggen.

Einsatz in Basel

Mitten in seiner Joggingrunde, er war auf dem Heimweg den vorderen Wallgberg hinunter, erreichte ihn der Anruf von Meierhans. Durch die Bäume hindurch sah er noch ein wenig von Basel, als er stoppte und sein Handy abnahm.

»Gummimann.«

»Hallo, Herr Gummimann, hier Meierhans. Es hat geklappt, die Direktion hat zugesagt. Morgen früh um neun Uhr müssten wir dort sein. Ich schicke Ihnen einen Kollegen, der Sie abholt. Geht das? Ist das in Ordnung?«

»Guten Abend Herr Meierhans«, Gummimann musste wieder Luft holen, vom Joggen war er atemlos. »Ja, das geht. Sie müssen entschuldigen, bin gerade am Joggen. Was ist das für eine Firma, ist sie gross?«

»Das ist in Basel die Firma BalmerMedAG, nicht besonders gross, aber sehr innovativ. Der Inhaber ist Doktor Sergio Balmer, noch relativ jung und sehr fortschrittlich.«

»Wissen Sie schon, was meine Aufgabe dabei sein wird?«

»Nein, das müssen wir morgen mit Herrn Balmer besprechen.«

»Ja, gut. Ich bin gespannt.«

Damit verabschiedeten sie sich und Gummimann joggte nach Hause.

Wieder in seiner Wohnung stellte er seinen Computer an. Während dieser hochfuhr, zog er sich um. Der Begrüssungsklang war zu hören und er setzte sich vor den Bildschirm und gab auf Google BalmerMed ein. Es gab mehrere Einträge, die sich alle um die Homepage dieser Firma drehten. Gummimann wollte wissen, wo er morgen hinkommen würde. Er klickte auf den ersten Eintrag, und ein Foto der Firma erschien mit den Gesichtern vieler glücklicher Angestellten. Lächelnd las er die Entstehungsgeschichte und ein kurzes Portrait über Sergio Ballmer, den CEO der Firma. Nochmals schaute er das Foto der Firma an und wollte die Homepage wieder schliessen, als ihm ein älteres Gesicht mit Bart und Charakternase auffiel. Zuerst glaubte er an eine Täuschung. Doch auf der Seite eines Labors, in dem geforscht wurde, fand er den Namen als Verantwortlicher dieser Abteilung: Jan Selig. Es war dieser Selig, den er in St. Martin im Auftrag von Voss beschattet hatte, da bestand kein Zweifel. Aber warum interessierte sich Voss für Selig, was für eine Verbindung gab es zwischen den beiden? Nun suchte Gummimann nach Voss. Er hatte mit ihm nur eine Begegnung in einem Restaurant gehabt, als sie seinen Auftrag besprachen. Bald wurde er fündig. Peter Voss war Inhaber einer Firma, die hauptsächlich mit Musikinstrumenten und mit alten und aktuellen Tonträgern handelte. Wusste er etwas von der wertvollen Geige, die Selig revidieren liess? Hatte er ihn deshalb observieren müssen?

Gummimann lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Könnte es sein, dass Voss die Geige kaufen wollte? Aber warum musste er Selig beschatten? War Voss darum so aufgebracht, weil er ihm keine Resultate liefern konnte, oder nicht das zu hören bekam, was er eigentlich hören wollte? Plötzlich gab es so viele unbeantwortete Fragen. Gummimann überlegte, ob er Selig nach der Geige fragen sollte, aber er verwarf den Gedanken wieder. Vielleicht würde ja seine Arbeit bei der BalmerMed die Antworten liefern.

Ein Polizist namens Roman Stohler holte ihn pünktlich am nächsten Morgen in einem neutralen Auto ab und brachte ihn zur BalmerMed im Kleinbasel. Anfang Gärtnerstrasse bogen sie rechts ab und kamen dann zum Firmeneingang, wo ihn Stohler aussteigen liess und weiterfuhr. Gummimann betrachtete das doch recht grosse, aber eher unspektakuläre Gebäude. Als er eintrat, wurde er im grosszügigen Eingangsbereich von Meierhans empfangen.

»Hallo Herr Gummimann, schön, dass es geklappt hat. Herr Balmer erwartet uns.«

Gummimann grüsste Meierhans. Wie üblich trug er seine alte Lederjacke, blaue Jeans und ein weisses Hemd. Eine ältere Dame, die wie eine Gouvernante aussah, mit strengem Blick und langen, leicht grauen Haaren und mit einer relativ altmodischen, nach oben gebundenen Frisur, kam zu ihnen.

Sie lächelte höflich. »Ich werde Sie zu Herrn Balmer begleiten, bitte folgen Sie mir«, sagte sie und ging zum Lift. Meierhans und Gummimann folgten ihr. »Herr Balmer hat schon mehrmals nach Ihnen gefragt.« Sie lächelte wieder und drückte den zweiten Stock. »Es scheint wichtig zu sein.« Eine Antwort erwartete sie nicht.

Im zweiten Stock führte sie sie durch einen langen Gang mit verschiedenen, grossen Fotos aus der Gründerzeit an den Wänden zu einer Tür am Ende.

»Wir sind da«, bemerkte sie und klopfte. Man hörte einen Summton und die Tür ging auf. »Die Herren sind da, Herr Balmer.«

»Vielen Dank, Frau Meier. Treten Sie ein, meine Herren.« Frau Meier verabschiedete sich und Meierhans und Gummimann betraten ein geräumiges, gemütliches Büro. Herr Balmer, ein schlanker Mann mittleren Alters, leger gekleidet, mit kurzen, braunen Haaren und einem kleinen Schnurrbart erhob sich von seinem Schreibtisch und kam ihnen entgegen.

»Balmer, freut mich, dass es geklappt hat, Herr…?«

»Meierhans. Wir haben miteinander telefoniert und das ist«, er zeigte auf Gummimann, »Detektiv Gummimann, von dem ich Ihnen erzählt habe. Er ist einer der besten seines Fachs und wird am ehesten etwas herausfinden.«

»Freut mich Herr Gummimann, Herr Meierhans«, und grüsste sie mit einem Händedruck. »Nehmen Sie doch Platz.« Er wies zu mehreren Polsterstühlen. »Wollen Sie einen Kaffee oder sonst etwas trinken?«

Beide lehnten ab und setzten sich. Auf einem Beistelltisch stand eine Schale mit frischen Trauben.

»Bedienen Sie sich«, sagte Balmer, der die Blicke von Gummimann richtig interpretierte.

Der Detektiv liess sich das nicht zweimal sagen und zwickte sich einige Trauben ab.

»Ja, Herr Balmer, Sie sagten am Telefon, es ginge um Werkspionage, ich habe auch etwas darüber in den Akten gelesen. Was muss man sich darunter vorstellen?«, fragte Meierhans.

»Nun, wir hatten fremde Zugriffe auf verschiedene Computer in Seligs Labor festgestellt. Und zwar über den Mittag, in einer Zeit, in der dort niemand arbeitet. Unser Sicherheitsdienst und die Polizei haben damals die Angestellten befragt, aber niemand wusste etwas davon. Es müssen Daten und Forschungsberichte heruntergeladen worden sein, aber was das genau war, wissen wir nicht. Darum brauchen wir Sie, Herr Gummimann.«

Gummimann schluckte seine letzte Traube hinunter. »Sind das wichtige Daten?«

Balmer nickte. »Ja, es geht unter anderem um ein Krebsmittel, bei dem wir nächstens die ersten Versuche an Menschen vornehmen können. Noch ist es nicht soweit, aber in einem Jahr oder vielleicht sogar schneller können wir mit den Tests beginnen. Davon hängt viel ab, sogar die Existenz unserer Firma.«

»Werden die Leute hier nicht kontrolliert?«, fragte Gummimann weiter.

»Doch, sogar sehr genau. Bei Stichproben werden die Leute bis auf die Unterwäsche überprüft. Das kann jeden treffen, und das wissen alle Angestellten.«

»Also war das Risiko relativ gross, erwischt zu werden« bemerkte Meierhans. »Und Sie haben immer noch keinen Verdacht, wer der Täter sein könnte?«

»Nein, leider nicht. Ich vermute, es ist jemand vom Haus.«

»Und warum haben Sie eine Woche bis zu meinem Einsatz gewartet?«, wollte Gummimann wissen.

»Nun, der Einsatz war Seligs Idee. Aber an dem Tag, an dem der Diebstahl stattfand, fuhr er für eine Woche in die Ferien, irgendwo in Deutschland. Wir bemerkten den Diebstahl erst am nächsten Tag und konnten ihn deshalb nicht mehr erreichen. Er wollte, dass hier jemand verdeckt arbeitet, und Herr Meierhans hat Sie vorgeschlagen.« Balmer senkte seinen Kopf und blickte leer auf seine Hände. Für einen Moment sprach niemand.

Gummimann wusste, wo Selig in dieser Woche gewesen war, behielt es aber für sich.

Meierhans nahm das Gespräch wieder auf: »Und wie stellen Sie sich Herrn Gummimanns Aufgabe vor?«

Balmer räusperte sich: »Nun, ich stelle mir vor, dass Sie, Herr Gummimann, unsere Leute beobachten und so herausfinden, wer der Dieb sein könnte, und wo die Daten jetzt sind. Am besten arbeiten Sie beim Hausdienst, so kommen Sie in alle Büros und mit etwas Geschick auch in die Labors.«

»Beim Hausdienst?« Gummimann schaute ihn skeptisch an. »Und was habe ich ausser beobachten noch zu tun?«

»Der Verantwortliche, Herr Montare wird Ihnen alles erklären und zeigen. Er ist bereits informiert. Sie werden dort Reparaturen vornehmen, machen Reinigungsarbeiten, Instandstellungen und Neuinstallationen und werden mithelfen, das ganze Gebäude im Schuss zu halten, dazu gehört natürlich auch unsere Umgebung. Sie sehen, es gibt viel zu tun. Aber Herr Montare wird Sie hauptsächlich im Haus beschäftigen.«

Detektiv Gummimann seufzte leicht. Der Gedanke mit einem Wassereimer und einem Mopp im Gebäude herumzuziehen, behagte ihm nicht. Aber um seine Aufgabe zu erfüllen, war das wahrscheinlich unumgänglich.

Meierhans schmunzelte, es schien, er hätte den selben Gedanken. »Nun, dann ist ja alles geklärt. Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, lasse ich Sie jetzt alleine, ich habe noch einiges zu tun. Ihnen wünsche ich viel Vergnügen beim Putzen, Herr Gummimann«, und mit einem fast gemeinen Grinsen verabschiedete er sich und ging.

Als sie alleine waren meinte Balmer lächelnd: »Keine Angst, wir haben Putzfrauen.«

Gummimann war erleichtert, als er das Wort Putzfrauen hörte.

»Hier ist noch Ihr Badge mit Ihrem Namen, das ist zugleich der elektronische Zugang für die Hausdiensträume und den Mitarbeitereingang. Ich habe mir erlaubt, Ihren Namen zu ändern. Gummimann ist ein seltener Name, dadurch wäre es sehr schnell möglich, Sie als Detektiv zu identifizieren. Sie sind jetzt Peter Moser, was Ihr Beruf ist, überlasse ich Ihnen.«

Lächelnd betrachtete Gummimann den Badge, Peter Moser hiess er jetzt. Wo er vorher arbeitete, was sein Beruf war, und wo er wohnte, dazu würde ihm im Bedarfsfall sicher etwas einfallen.

Schon ein paar Minuten später stellte ihm Doktor Balmer im Hausdienstbüro Herrn Montare vor, sagte noch ein paar erklärende Worte und ging wieder zurück in sein Büro.

Montare war eher klein, er sah mit seiner Grösse und seinen kurzen schwarzen Haaren wie ein typischer Italiener aus. Auch seine eher lustige Sprechweise zeugten von seiner Herkunft.

»Guten Tag Herr Moser, ik dir zeigen, was du maken. Es ist interessante Arbeit, nikt putzen, das maken Putzfrau, wir müssen alles kontrollieren und reparieren«, instruierte Montare Gummimann. Er lachte dabei, er schien ein zufriedener Mensch zu sein.

Seine ersten Arbeiten absolvierte er mit Montare zusammen. Sie mussten einen Wasserhahn in der Frauentoilette im zweiten Stock auswechseln, dann einen Stock tiefer eine quietschende Tür ruhigstellen. Dabei zeigte ihm Montare, wo der Werkraum für den Hausdienst, die Kantine, die Toiletten und noch vieles mehr war. Er erklärte ihm, dass noch drei weitere Männer unter seiner Leitung für den Hausdienst tätig seien, dazu kämen vier Putzfrauen, ein Gärtner und ein Chauffeur.

»Du bist aus Italien, von wo kommst du?«, fragte Gummimann Montare.

»No, ik bin aus Bellinzona, komme aus Svizzera, aus Tessin. Ik bin e scho zwanzig Johr in Basilea. Oh, Tessin isch bella, ik manchmal Heiweh.«

Man sah ihm sein Heimweh an, er begann richtig zu schwärmen, erklärte wie schön es dort sei, die Luft so frisch, die meisten seiner Verwandten würden dort leben. Warum er nicht wieder zurückging, wollte Gummimann ihn nicht fragen, früher oder später würde ihm Montare das sowieso erzählen. Es war nett, dass Montare ihm alles gezeigt hatte, aber ihn interessierte eigentlich nur die Forschungsabteilung. Doch wie konnte er in ein Labor kommen? Die hatten verschiedene Sicherheitsvorrichtungen, die nicht einfach zu überlisten waren.

»Müsst ihr auch Reparaturarbeiten in den Labors machen?«, fragte er Montare so nebenbei, mindestens liess er es so aussehen.

»Si, aber wenig und dann musse du durk alle Sickerheit.« Der Hausdienstmann machte mit den Armen eine Geste um zu zeigen, wie schwierig es war. »Du braukst Bewilligung, du mussen viele Papier unterschreiben, swirik, sehr swirik und wirst immer kontrolliert.«

Für den ersten Tag war es noch etwas zu früh in die Labors zu kommen, aber dann musste Gummimann sich etwas einfallen lassen.

Beim Mittagessen entdeckte er Selig. Er sass mit mehreren Personen an einem speziellen Tisch, der für die Laborleute reserviert war. Noch hatte es dort zwei freie Stühle. Montare war mit einigen Kollegen auf dem Raucherbalkon. Gummimann nahm sein Tablett mit der Nachspeise und setzte sich frech neben Selig an den Tisch der Laborleute. Niemand sagte etwas, aber alle schauten ihn irritiert an.

»Es gefällt mir hier, heute ist mein erster Tag beim Hausdienst. Wo arbeiten Sie?« Gummimann schaute so zu Selig, dass dieser fast antworten musste. Er konnte gerade noch verhindern, Selig mit dem Namen anzusprechen.

»Beim Hausdienst. Ja, die Leute brauchen wir auch«, meinte Selig etwas verlegen, es schien, als sei er es nicht gewohnt, von jemandem vom Hausdienst angesprochen zu werden. »Wir arbeiten in den Labors, in der Forschung. Aber für den Hausdienst gibt ...«

Gummimann liess ihn nicht ausreden, er spürte, Selig wollte ihn loswerden. »Kann man da mal reinschauen? Es interessiert mich.«

»Nein, das geht nicht. Fremde dürfen da nicht hinein. Aber ich glaube Sie müssen wieder zu ihren Kollegen, die warten auf Sie.« Selig wurde etwas ungeduldig.

»Nein, das glaub ich nicht. Ich heisse übrigens, Moser, Peter Moser und Sie sind Herr …?«

»Selig. – Aber wir müssen wieder zur Arbeit«, er erhob sich und die anderen Laborleute auch. »Auf Wiedersehen Herr, ähm, Peter… äh, ja, auf Wiedersehen.«

»Moser, Peter Moser«, korrigierte Gummimann ihn.

Gummimann amüsierte sich, die hielten ihn sicher für aufdringlich. Doch jetzt hatte er mindestens Kontakt mit Selig und wusste auch, wer seine Kollegen und Kolleginnen waren. Obwohl Selig seinen undercover Einsatz verlangt hatte, wusste er nicht, dass Gummimann der verdeckte Ermittler war.

Am Nachmittag war er alleine unterwegs, er musste die Lampen im ganzen Gebäude überprüfen und defekte melden. Dazu erhielt er ein iPad, auf dem alle Lampen eingetragen waren, und er sie mit in Ordnung oder defekt kennzeichnen konnte. Es war eine wirklich einfache Aufgabe, möglicherweise war das die Anordnung von Balmer. Das Erdgeschoss liess er aus und begann im ersten Stock bei den Labors. Sehr viel gab es da nicht. Ein langer Gang und die Labors waren auf der Seite zum Garten, auf der Strassenseite hatte es grosse Fenster und Töpfe mit Zimmerpflanzen. Eigentlich hätte er das in fünf Minuten erledigt, aber er liess sich Zeit. In die Labors selbst konnte er nicht, der Eintritt war nur für berechtigte Personen, die ein entsprechenden Badge hatten. Er suchte das Labor von Selig. Da die Türen mit den Namen der Verantwortlichen angeschrieben waren, fand er es sofort.

Er hörte den Lift kommen, dieser hielt und die Tür öffnete sich. Sofort stellte Gummimann das iPad hinter einen Pflanzentopf, machte sich etwas kleiner und versteckte sich auch dort. Eine blonde Dame, mit kurzen, modern geschnittenen Haaren, einem weissen Arbeitskittel und Akten in der Hand, stieg aus und kam in seine Richtung. Sie machte einen nicht besonders glücklichen Eindruck. Gummimann erkannte sie, sie hatte in der Kantine neben Selig gesessen. Die Dame ging zu Seligs Labor, drückte einen Knopf, und bald darauf konnte man hören, wie sich die Tür entriegelte. Das war die Gelegenheit, die musste er nutzen. Er wartete bis die Dame fast im Zimmer war, machte sich gross und rannte über den Gang, dann machte er sich vor dem Labor wieder mausklein und zwängte sich durch die sich langsam schliessende Tür. Im Labor rutschte er der Wand entlang und versteckte sich hinter einem Papierkorb.

Es war ein grosser Raum, unterteilt links mit einem durch Scheiben abgetrennten Teil, in dem mehrere weiss gekleidete Personen arbeiteten, rechts mit Arbeitsplätzen, an denen zwei Mitarbeiter etwas in ihre Computer eingaben. Sie schauten sich kurz zu der Dame um und nickten ihr begrüssend zu. Sie nickte zurück, ging aber weiter in ein Büro am Ende des Raumes. Dieses war wiederum mit einer Glasfront vom vorderen Teil abgetrennt. Gummimann sah, wie sie aufgeregt mit Selig diskutierte. Sie sprachen lange, dann schmiss sie ihm ihre Unterlagen auf den Schreibtisch und verliess wütend das Büro. Mit finsterem Gesicht schlug sie die Tür zu. Die beiden Mitarbeiter schauten ihr erstaunt nach, wie sie wutentbrannt, mit sich selbst redend, zum Ausgang ging und das Labor verliess. Selig sass ruhig an seinem Schreibtisch, als ginge ihn das nichts an. Gummimann wartete, bis die selbständig schliessende Tür fast zu war und schlüpfte im letzten Moment durch den Türspalt. Im Gang konnte er noch sehen, wie die Dame in den Lift stieg. Endlich konnte er sich wieder normal gross machen und das iPad holen.

Sich zu verändern ist anstrengend, Gummimann sagte immer, es sei, wie wenn man auf die Toilette müsste und nicht könne.

Der restliche Tag verlief ohne grosse Ereignisse. Er machte seine Kontrollen der Lampen in den restlichen Stockwerken und schloss seine Arbeit mit einem kurzen Briefing bei Direktor Balmer ab.

»Ich kann Ihnen leider noch keine neuen Erkenntnisse liefern«, erklärte Gummimann und rutschte etwas nervös auf dem Sessel in Balmers Arbeitszimmer herum. »Es ist sogar wahrscheinlich, dass kein weiteres Mal Daten oder sonst etwas gestohlen werden.«

Balmer nickte. »Vermutlich haben Sie recht, aber mir wäre es wohler, Sie würden noch ein paar Tage die Augen offenhalten. Die Unterlagen aus dem Labor dürfen nicht in falsche Hände gelangen.«

»Herr Selig bekam Besuch von einer blonden Dame, sie diskutierten ziemlich aufgeregt.«

»Ja, vermutlich war das Frau Cooper, sie war die Geliebte von Selig, aber, so wie es aussieht, ist es damit vorbei. Eigentlich hielten die zwei ihre Beziehung geheim, aber jeder hier wusste es. Frau Cooper arbeitet erst seit zwei Monaten im Archiv und irgendwie hatte sie es geschafft, Doktor Selig zu erobern.« Balmer lachte. »Auch ältere Herren bleiben von der Liebe nicht verschont. Aber es scheint schon wieder vorbei zu sein, so schnell geht das. Aber, sprechen Sie ihn nicht darauf an.«

»Nein, das habe ich nicht vor. – Überhaupt habe ich jetzt Feierabend, und lasse die Detektivarbeit ruhen.« Gummimann verabschiedete sich und machte sich auf den Heimweg.

Als Gummimann am nächsten Morgen in der Kantine der BalmerMed eintraf, wurde er von Montare an den Tisch gerufen. Er schien nervös zu sein.

»Guten Morgen Moser, ische Polizia hier, ische jemand in das Labor von Signore Selig eingebroken«, sagte er leise. »Die jetzt alles kontrolliere.«

»Wurde etwas gestohlen?«, fragte Gummimann und betrachtete seine Kollegen am Tisch und nickte ihnen begrüssend zu.

»Weisse nit«, meinte Montare.

»Sicher so ein Einbruchstourist. Die kommen ja wie die Fliegen über die Grenzen«, das war Pawlick, der am Ende des Tisches sass, ein Mann um die fünfzig mit einem Bierbauch und wenigen, über den Kopf gekämmten Haaren. Er hatte eine Zigarette im Mund, die aber nicht brannte.

»Wurde die Polizei durch den Alarm gerufen?«, fragte Gummimann weiter.

»Soviel ich gehört habe, nicht«, antwortete jetzt Stocker, ein kräftiger, grosser Elsässer, der sich auf die Pension freuen konnte. »Es wurde nichts beschädigt. Erst am Morgen konnten sie feststellen, dass jemand in der Nacht im Labor war. Ich denke, Balmer hat die Polizei gerufen.«

»Aber dort braucht man einen Badge mit Zugangsberechtigung, um hineinzukommen.«

»Ja, aber es gibt noch andere Möglichkeiten, die Tür zu öffnen«, sprach Stocker weiter. »Es gibt eine Klingel, und die Mitarbeiter können die Tür von innen öffnen. Wenn wir hineinmüssen, können wir das nur auf diese Weise. Aber das geht natürlich nur, wenn jemand im Labor ist. Und es gibt noch das Sicherheitsschloss, sollte einmal der Strom ausfallen. Aber wer einen Schlüssel dazu hat, weiss ich nicht.«

Dann war da noch Senn, ein junger Mann mit kurzen Haaren und einer kleinen Narbe unter dem rechten Auge, der Gummimann schweigend gegenübersass und interessiert zuhörte.

Das Gespräch verstummte, alle tranken Kaffee und assen ihre Brötchen. Bald würde die Arbeit beginnen, mit dem immer gültigen Motto: Nur mit etwas im Magen, wird der Tag ein guter Tag.

Eine junge Dame trat an den Tisch. »Herr Moser, Herr Balmer wünscht sie zu sprechen.«

Gummimann reagierte nicht, sondern schaute zu ihr und trank seinen Kaffee weiter.

»Herr Moser«, sagte sie diesmal etwas lauter, »Sie müssen zu Herrn Balmer kommen.«

Montare stupste Gummimann in die Seite: »Hey, Moser, hübsche Dame meinen dik!«

Gummimann erschrak, hatte er seine Namensänderung doch tatsächlich vergessen und darum auf den Namen Moser nicht reagiert. Nickend mit einem etwas peinlichen Gesichtsausdruck erhob er sich und ging mit der Dame mit. In Balmers Büro verabschiedete sie sich und liess die beiden alleine. Gummimann setzte sich auf einen bequemen Stuhl, Balmer gegenüber an den Schreibtisch.

»Guten Tag, Herr Gummimann, ich nehme an, Sie wissen warum ich Sie rufen liess«, begann Balmer das Gespräch.

»Es ist wegen des Einbruchs, Herr Montare hat mir sowas zugeflüstert.«

»Ja, es geht um den Einbruch. Jemand ist mit einem Badge in der Nacht ins Labor eingedrungen und hat verschiedene Schubladen und Kästen durchsucht. Aber komischerweise hat dieser Jemand, ausser etwas Bargeld, nichts mitgenommen.«

»Aber jeder Zugang mit einem Badge wird doch mit Namen aufgezeichnet, so sollte man schnell herausfinden, wer die Eindringlinge waren.«

»Ja, sollte man, da haben sie recht, aber einen Daniel Düsentrieb haben wir hier nicht. Er hat auch die Alarmanlage ausgestellt. Sie sehen das Problem.«

»Beim letzten Diebstahl, als die Computer ausspioniert wurden, war das auch dieser Düsentrieb?«

Balmer seufzte laut und schüttelte den Kopf. »Dagobert Duck, es war Dagobert Duck. Aber damals über den Mittag war die Alarmanlage nicht in Betrieb. Eigentlich wusste das niemand, eigentlich.«

Gummimann musste lachen. »Donald wird der nächste sein. Also soll ich herausfinden, wer da unbefugt auf die Alarmanlage und die Programmierung der Badges zugegriffen hat. Haben alle hier im Haus einen Badge?«

»Ja, alle, aber mit verschiedenen Zugangsberechtigungen. Ausser Herr Moritz Basler, er ist Chef der Produktion in Allschwil. Er hat einen Badge für alle Zugänge wie ich.«

»Und wer hat Schlüssel für die Sicherheitsschlösser?«

»Eigentlich nur ich und der Chef der Sicherheit. Die werden aber nur im Notfall gebraucht.«

»Und der Chef der Sicherheit programmiert auch die Badges?«

»Nein, dafür haben wir einen IT-Spezialisten, Herr Joachim Rösler. Er richtet die neuen Badges mit Namen und Zugangsberechtigungen ein. Aber der wurde von der Polizei genauestens überprüft, der hat das nicht gemacht.«

Gummimann erhob sich. Mit der Hand am Kinn ging er hin und her und überlegte. Erstaunt sah ihm Balmer zu. Nach ein paar Minuten setzte sich der Detektiv wieder hin.

»Wir könnten Düsentrieb vielleicht dazu bekommen, dass er nochmals zuschlägt, ich denke, die letzte Ausbeute war ihm zu gering, er hatte sicher mehr erwartet«, und er begann Balmer seine Idee darzulegen.

Es war Freitag. Die UPS brachte wie fast jeden Tag Pakete zur BalmerMed. Frau Meier am Empfang nahm sie entgegen und übergab sie Senn vom Hausdienst zum Verteilen. Seine Aufgabe war es, die Post in die einzelnen Abteilungen zu bringen und wenn nötig den Empfang quittieren zu lassen.

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ISBN: 978-3-7393-7723-0