Das warme Licht des Morgens - Franziska Fischer - E-Book

Das warme Licht des Morgens E-Book

Franziska Fischer

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach ihrem Debüt "Die Nacht der Zugvögel" legt die Berliner Autorin Franziska Fischer mit "Das warme Licht des Morgens" erneut einen berührenden und zutiefst poetischen Roman vor, in dem sie einfühlsam und mit viel psychologischem Feingefühl über das Leben nach einem schweren Schicksals-Schlag und über die heilende Kraft der Liebe schreibt. Das Licht, die Farben, der Ausdruck in den Augen Fremder – das sind die Zutaten, die Levi für seine Gedichte und Romane braucht. Doch als er bei einem Brand ein kleines Mädchen aus dem Feuer rettet und dabei sein Augenlicht verliert, bricht für den erblindeten Schriftsteller eine Welt zusammen. Nie wieder sehen bedeutet für ihn auch nie wieder die richtigen Worte finden. Verzweifelt zieht er sich immer mehr aus dem Leben zurück. Bis er eines Tages Rea kennenlernt, die neue Kellnerin in dem Café, in dem er immer Essen geht. Sie wird seine Vertraute, durch ihre Augen lernt er wieder sehen und mit ihren Händen schreiben. Auch sie hat mit einem großen Verlust zu kämpfen, der noch viel schwerer wiegt als seine Blindheit. Doch das verrät sie ihm nicht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 415

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Franziska Fischer

Das warme Licht des Morgens

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Der Beginn einer GeschichteAugust01. Kapitel02. Kapitel03. KapitelSeptember04. Kapitel05. Kapitel06. Kapitel07. KapitelOktober08. Kapitel09. Kapitel10. Kapitel11. KapitelNovember12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. KapitelDezember17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelJanuar21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. KapitelFebruar25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. KapitelMärz29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. KapitelApril33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. KapitelMai37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. KapitelJuni41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. KapitelJuli45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. KapitelDanksagung
[home]

Der Beginn einer Geschichte

Sie kann so sanft sein, diese Stadt. Einen schweigend umhüllen und Wunder beherbergen. Sie lässt seine Schritte fliegen, kaum berührt er den Boden. Läuft auf Asphaltwolken, durch dahinschwebende Bilder.

Doch dann verändert sie sich. Kaum wahrnehmbar, wie ein leichtes Beben unter seinen Füßen, das ihn auf die Straße zurückwirft.

Zuerst hört er das Feuer. Ein Rauschen, ein knisterndes, fauchendes Rauschen aus weiter Ferne.

Dann die Trommeln. Sie sind absurd deplatziert, trotzdem drängen sie sich jedes Mal auf, deutlich und wild und unaufhaltsam. Ihr Hunger, ihre Wut.

Noch ist es dunkel, die Straßen schwarz voller huschender Schatten. Ab und an flackert Licht hinter Fenstern, anderes Leben pulsiert darin, doch wie aus einer anderen Welt scheint es. Berühren kann er es nicht. Er ahnt nur, dass es existiert. Dass die Stadt lebt, dass sie die Hitze des vergangenen Tages ausatmet. Sie bläst warme Stunden in sein Gesicht.

Eine Angst nistet sich in sein Herz, die nicht seine ist. Die sich fremd anfühlt. Er hat nicht das Gefühl, sich zu bewegen, dennoch verändert sich das Bild.

Die Lichtflecken werden größer, tanzen mit präziser Gier im Rhythmus der Trommeln, und dann ist es so, als würde er die Augen öffnen und nichts mehr sehen außer durstigem Licht, allen Hunger, den er selbst je gespürt hat. Jede Faser seiner Sehnsucht lebt darin, jedes Flackern eigener Hoffnungen.

Das Feuer ruft ihn mit der panischen Stimme eines Kindes. Die Straßen sind so leer, so unfassbar leer. Nur er und das Kind und niemand, der es retten kann. Ihm bleibt keine Wahl. Er kann nichts weiter tun als hineinzulaufen in diese Hitze. In dieses Licht. Sich von ihm verschlingen zu lassen.

Bis nichts mehr bleibt.

Bis nichts mehr von ihm bleibt.

 

Dann erwacht er.

Manchmal ist er sich nicht sicher, ob er wirklich wach ist. Die Stille seines Zimmers. Diese zarten Rufe in seinem Kopf, nur das Echo einer vagen Erinnerung. Die Hitze auf seiner Haut.

In der Dunkelheit das verschwommene Gesicht eines Kindes, das zusehends verblasst. Doch vor allem die Dunkelheit. Er nimmt sie mit, wohin er auch geht. Weit ist das ohnehin nie. Wenn die Welt um einen herum schwarz bleibt, verändert sie sich auch durch Bewegung nicht.

Und dann wünscht er sich, es wäre umgekehrt. Diese Finsternis wäre der Traum und das Licht die Wirklichkeit. Er könnte in die Flammen gehen und in ihnen bleiben, er müsste nicht zurückkehren. Er hätte nie zurückkehren sollen. Irgendwann würde er nichts mehr spüren. Das Atmen würde einfach enden, anstatt immer wieder schmerzhaft zu brennen, wie jetzt. Er könnte die Augen schließen, und nichts mehr zu sehen, wäre allein seine Entscheidung.

Früher wusste er nicht, dass es weniger geben kann als nichts. Dass es Nächte gibt, erfüllt von einem immer wiederkehrenden Traum, der manchmal auch tagsüber bei ihm bleibt. Er kann das Licht nicht einschalten, um ihn zu vertreiben, zumindest würde das nichts ändern. Der Traum hat sich in seine Seele gekrallt, und dort wartet er und jagt ihn mit seinen Bildern, die teilweise Erinnerung sind und teilweise Erfindung seines Unterbewusstseins, und immer hört er dazu diese Worte, Worte, die er selbst geschrieben haben könnte. Vielleicht würde das etwas ändern, vielleicht würden ihn die Bilder verlassen, wenn er sie in Schrift bannen, wenn er sie niederschreiben und lesen könnte und sie nichts anderes wären als der Beginn einer Geschichte. Doch sie bleiben bei ihm.

Für einen Schriftsteller gibt es nichts Schlimmeres als Worte, die er nicht loswerden kann.

Und das ist der Beginn einer Geschichte.

[home]

August

Erinnerungen

Gezackte Worte schneiden in unsere Erinnerungen.

Ein Lachen, vielleicht deines

fliegt davon im Sturm verwirbelter Gedanken.

Mitternachtsweinen.

Pflaster auf blutenden Knien.

Auch das

nicht mehr als ein Es war einmal.

Levi Bärenreiter

01

Er würde liegen bleiben. Wenn er nicht so furchtbar dringend auf die Toilette müsste, würde er einfach liegen bleiben und spüren, wie die Zeit verrinnt. Vielleicht würde er das Radio einschalten, nur um zu wissen, wie spät es ist und wie die Welt dort draußen aussieht, für alle anderen. Denn Dinge geschehen weiterhin. Terroranschläge, Regierungsentscheidungen, Krankheiten. Verkehrsunfälle, Staus, Wetterumschwünge. Ein einzelnes Leben ändert nichts daran. Ein einzelnes Sterben genauso wenig. Doch wenn er liegen bleibt, drängen sich die Träume immer stärker in seine Tage, und dann ist es unmöglich, aus ihnen zu erwachen. Die Erinnerungen beiseite zu schieben, als existierten sie gar nicht. Sie wenigstens in irgendeine Ecke zu bannen, wo sie nur gelegentlich aufflackern.

Langsam erhebt er sich. Die Füße tasten nach dem Ende des Bettes und anschließend nach dem Boden. Kratziger Teppich auf rauer, nackter Haut. Dann das weiche Schaffell der Pantoffeln.

»Die sind viel zu warm für diese Jahreszeit«, sagte Robin zu ihm. Wann war das? Vor zwei Wochen, vielleicht schon vor drei. »Mitten im Sommer schwitzt du doch nur, wenn du sie den ganzen Tag trägst.«

Er fühlt sich wohler, solange seine Füße sicher sind. Gegen Schaffell kann niemand etwas sagen. Weich, warm, kuschelig. Es schirmt ihn ab von auf den Boden gefallenen Gegenständen, von Tischbeinen, Türkanten, Fußbodenschwellen. Also gab Robin auf. Manchmal hört er sie seufzen, und dann stellt er sich vor, wie sie auf seine Füße blickt und sanft den Kopf schüttelt. In den zusammengezogenen Augenbrauen, der gerunzelten Stirn könnte er ihre Gedanken lesen.

Für einen Moment bleibt er noch sitzen, bevor er aufsteht und wieder wartet, bis er sicher ist, das Gleichgewicht gefunden zu haben. In kurzen Schritten bewegt er sich vorwärts, die Arme leicht nach vorn gestreckt. Hier das Nachttischchen, auf dem sich früher immer Bücher stapelten, mindestens vier. Dann die Wand, Abstand nehmen, um nicht gegen das kleine Bücherregal zu stoßen. Der breite Schrank, in dem er all seine Kleidungsstücke aufbewahrt, dazu Saisonjacken, Saisonschuhe, Handtücher, Bettwäsche. Mittlerweile zusätzlich ein paar Klamotten von Robin, falls sie spontan bei ihm übernachtet. Auch wenn das nur selten geschieht.

Eine Weile tastet er sich durch Nichts, bis er die Tür erreicht. Sie ist geöffnet, wie immer. Geradeaus über den schmalen Flur bis zum Badezimmer. Die Tür steht ebenfalls offen.

Waschmaschine, Waschbecken, dann erst die Toilette. Er setzt sich jetzt immer hin zum Pinkeln, aus Sorge, dass er sonst nicht trifft. Letztlich kann er sich kaum etwas Demütigenderes vorstellen als seine Tochter, die seinen Urin wegwischt.

Schlimm genug, dass sie das Bad überhaupt putzen muss. Seine Unterhosen waschen. Essen kochen.

Er spült und schlurft zurück in sein Schlafzimmer. Hier, in seinem Zuhause, wirkt die Dunkelheit fast schon vertraut, ohne allzu große Überraschungen. Sie hüllt nur alles ein, mehr nicht, und solange er sich konzentriert und an den verwischten Bildern festhält, die seine Erinnerungen sind, muss er nicht einmal sonderlich nachdenken, wenn er eine Schranktür öffnet und Unterwäsche und Socken und ein T-Shirt herausnimmt.

Früher hat er jeden Tag Hemden getragen, doch das Bügeln würde Robin nur zusätzliche Arbeit bereiten. Zeit, die sie nicht hat. Die er ihrem eigenen Leben stiehlt.

Zurück im Bad stapelt er die Sachen auf der Waschmaschine und hofft, dass nichts herunterfällt, auf den Haufen schmutziger Wäsche davor, denn dann könnte er nur mühsam unterscheiden, was sauber ist und was getragen, müsste sich durch Gerüche nach vergangenen Stunden wühlen. Robin wollte eigentlich einen Holz- oder Bastkorb kaufen, worin er die dreckige Wäsche lagern könnte, doch das kleine Bad bietet keinen Platz dafür.

Das Duschen ist jedes Mal von Neuem eine Herausforderung. Erst die Temperatureinstellung des Wassers. Die Frage, in welcher Flasche sich Duschgel und in welcher sich Haarwaschmittel befindet, obwohl ihm das eigentlich egal ist. Immer wieder stößt er mit den Ellenbogen gegen die Wände der Duschkabine. Manchmal fällt der Duschkopf herunter, wenn er ihn nicht richtig an der Halterung befestigt hat. Das Shampoo riecht viel zu intensiv nach etwas Dunklem und Grünem, wie feuchtes Moos, doch als er das Robin sagte, schwieg sie beleidigt, und auch wenn sie nichts erwiderte, ahnte er, dass sie sehr lange überlegt hatte, welche Sorte sie ihm kaufen sollte. Wahrscheinlich hatte sie ihm eine Freude machen wollen. Etwas Besonderes ausgesucht, für ihn, ausgerechnet.

Mittlerweile hält er sich schon sehr routiniert an der Kabinentür fest, wenn er seinen Fuß über die Schwelle hebt und nach draußen tritt, nicht mehr mit der fast schon notorischen Verzweiflung des Anfangs, als er noch jeder einzelnen Bewegung einen Unfall vorausahnte, ein Stolpern und Ausrutschen und Anstoßen. Dafür stellt er sich vor, wie er wohl aussehen mag, nackt und nass mit diesem übertriebenen Anheben des Beines wie aus einem uninspirierten Fernsehsketch.

Er tastet nach dem Handtuch und dann, Stück für Stück, nach seiner Kleidung. Mehrmals überprüft er, ob die Schildchen an der richtigen Stelle sitzen, er nichts verkehrt herum anzieht. Riecht lange an seinem T-Shirt und fragt sich, ob ein Geruch nicht auch die Farbe transportieren kann, irgendwo unter all den anderen Aromen.

Die Haare rubbelt er trocken. Einmal hat er sie sich bisher von seiner Tochter schneiden lassen, schön kurz, auch wenn sie meint, sie könne das eigentlich nicht.

In seinen Schaffellpantoffeln läuft er bis zum Ende des Flurs, wo neben der Wohnungstür eine kleine, erst kürzlich angeschaffte Kommode steht. Ihn irritiert es, nicht zu wissen, wie sie aussieht. Ein komplett neues Möbelstück, nur damit seine Tochter eine Schale daraufstellen und er seinen Schlüssel darin deponieren kann. In den Schubladen Schals und Mützen, Zeitschriften, die ihn einmal interessierten. Wozu heben sie sie eigentlich auf? Sie bestand darauf, die Schubfächer mit ihm zusammen einzuräumen. Das Telefon neben der Schale, Notizblock ebenfalls. Notizblock. Unsichtbare Schrift.

Es verlangte ihm anfangs einiges an Konzentration ab, den Schlüssel jedes Mal in der Glasschale zu platzieren, anstatt ihn, wie sonst, auf den Küchentisch zu werfen oder auf das Bücherregal zu legen oder neben den Fernseher im Wohnzimmer. Bis sich die Tage sammelten, an denen er die Wohnung nicht verlassen konnte, weil er den Schlüssel nicht fand.

Nicht dass er häufig irgendwohin geht. Eigentlich geht er nie irgendwohin. Nur zum Frühstück verlässt er täglich, außer sonntags, diese Räume, die alles enthalten, was er noch kennt, läuft zwei Stockwerke hinunter ins Erdgeschoss, auf die Straße und gleich links in das Café, mit dem er sich schon seit Ewigkeiten das Haus teilt. Es befand sich bereits darin, als Levi vor fast fünf Jahren einzog, nach der Trennung von seiner Frau. Von seiner Wohnung. Von seinem Kind.

Noch immer ist die Einrichtung dieselbe, behauptet zumindest Robin. Noch immer riecht es nach altem Pfeifentabak und gemahlenem Kaffee und frittiertem Essen. Noch immer flattern die Stimmen von Studenten und jungen Touristen durch den Raum, die Stimmen von Menschen, denen es nichts ausmacht, dass alle Mahlzeiten gleich schmecken, solange sie halbwegs preiswert sind.

»Guten Morgen, Levi«, ruft Manuel, der Besitzer des Cafés, und unwillkürlich stellt Levi sich vor, wie er hinter der Theke steht und Gläser abspült, obwohl um diese Uhrzeit wohl noch niemand Bier bestellt haben kann. Wie spät es auch immer sein mag. Allerdings, wer weiß, manchmal hat man so Zeiten, selbst Levi hat sie. Zeiten, an denen man den Tag am liebsten mit einem Bier beginnen würde. Oder einem Glas Wein. Etwas, das die Gedanken schummrig macht, sie verwirbelt und vermischt in bunten Farben.

»Der gleiche Tisch wie immer. Soll ich dir helfen?«

»Nein, ich komme schon zurecht. Danke, Manuel.«

Der gleiche Tisch wie immer ist der ganz hinten links in der Ecke. Levi wird ihn finden, allein, er braucht Manuels Führung nicht mehr. Allein tastet er sich vorwärts und versucht anhand der Geräuschkulisse zu erraten, wie viele Gäste das Café besetzen. Erstaunlich viele. Stimmengewirr wie eine Wand, die er erst einmal durchdringen muss. Zu viele Geräusche verursachen Kopfschmerzen. Verfärben jeden Orientierungshinweis.

Tisch sieben, der eine Stuhl wieder ein Stückchen zu weit draußen. Tisch zehn, er streift irgendjemandes Haare. Dann der Ecktisch. Erleichtert lässt sich Levi auf das glatte Kunstledersofa fallen. In seiner Erinnerung ist es braun, manchmal, so wie heute, ist er sich dessen aber nicht mehr so sicher.

Manuel schlurft heran, und Levi fragt sich, ob er das früher auch getan hat oder ob es nur seine Art und Weise ist, ihm unauffällig mitzuteilen, dass er auf ihn zusteuert.

»Dasselbe wie immer?«

»Bratkartoffeln, ja. Das Omelette mit Tomaten«, bestellt er, während Manuel in seinem Block blättert. »Heute ausnahmsweise auch einen Milchkaffee und ein Croissant mit Erdbeermarmelade.«

»Alles klar, Chef. Du hast wohl Hunger.« Ein Zwinkern in Manuels Stimme.

»Kann sein.«

Levi sitzt gern mit dem Gesicht zur Tür. Das gibt ihm das Gefühl, wenigstens ein bisschen Kontrolle zu behalten, eher zu spüren, wann jemand kommt und wann jemand geht. Das Draußen, das hereinweht, das Drinnen, das hinausgesogen wird. Frische Luft, Nahrung für seine noch immer beanspruchte Lunge.

Die Mahlzeit wird ihm rasch gebracht, und genauso schnell verschlingt er sie auch. Hofft, dass niemand bemerkt, wenn ihm Kartoffelstücke von der Gabel fallen oder Öl sein Kinn entlangläuft. Die Eier wie immer zu salzig, die Bratkartoffeln eher matschig als knusprig. Essen, das ausreicht, den Hunger zu stillen. Seit Levi vor ein paar Monaten den Ofen viel zu heiß stellte und der Geruch nach Verbranntem mehrere Tage lang in den Zimmern hing, bereitet er sich nicht einmal mehr Tiefkühlpizza zu. Höchstens Fertigsuppen, deren Blubbern deutlich verrät, wann sie heiß sind, bevor irgendetwas anbrennen kann.

Brot, jeden Tag, bis Robin das nächste Mal kocht.

Als er fertig ist, erhebt er sich und tastet sich auf demselben Weg wieder nach draußen. Manuel wird seine Mahlzeit anschreiben und ihm am Anfang der nächsten Woche eine Rechnung in den Briefkasten werfen, die Robin dann begleichen wird.

Er hat es probiert, wirklich. Alle Münzen und Scheine in die Hand genommen und befühlt und sich an das zu erinnern versucht, was er während der Reha gelernt hat, doch selbst wenn er es schaffte, ein Zehncentstück von einem Fünfzigcentstück und die Scheine voneinander zu unterscheiden, vergaß er dabei immer wieder, wie viel er bereits abgezählt hatte.

In den ersten Wochen, die Levi wieder zu Hause verbrachte, hatte ihm Manuel oder ein Kellner das Frühstück nach oben gebracht, und Levi hatte es allein in der Küche gegessen, in Begleitung des Radios, dessen Moderatoren ihn gleichermaßen beruhigten wie auch nervten. Doch dann hörte er auf zu duschen und regelmäßig neue Kleidung anzuziehen. Als Robin diese Verwahrlosung bemerkte, drehte sie durch und schrie ihn zum ersten Mal nach dem Feuer an, und dann verließ sie die Wohnung und knallte die Tür zu, ohne einkaufen gegangen zu sein, ohne das Geschirr abgewaschen, die Wäsche zusammengelegt oder das Bad geputzt zu haben.

Später kam sie zurück. Er hörte, wie sie durch die Wohnung ging, wie sie überall ihre Gedanken verteilte, doch sie sprach kein einziges Wort. Am nächsten Tag duschte Levi und zog sich saubere Kleidung an, tastete sich langsam und vorsichtig nach unten bis zum Café, das Herz pochend bis in den Hals und die Handflächen völlig verschwitzt.

Irgendwie hatten sich die Dinge ineinandergefügt. Irgendwie vertrieben diese Momente unten in Manuels Café wenigstens ein bisschen die Nacht in seinen Tagen. Er konnte so tun, als wäre er ein Teil all der anderen, sich vorstellen, wie die anderen Gäste aussehen mochten, was sie beschäftigte, doch all das funktionierte nur für einen kurzen Zeitraum, bis sich die imaginierten Geschichten zu verweben begannen und zu einem Dickicht in seiner Fantasie wurden.

Erst stochert er ein bisschen am Türschloss herum, bis er das Schlüsselloch findet und die große Holztür der Altbauwohnung aufschwingt.

Das Kreischen des Staubsaugers, vorher nur angedeutet, schlägt ihm entgegen. Er tastet nach der Schüssel, hört aber nicht, ob der Schlüsselbund tatsächlich in ihr landet. Unsicher bleibt er stehen.

Normalerweise kommt Robin montag- und mittwoch- oder manchmal donnerstagabends vorbei und einen Tag am Wochenende, selten häufiger als dreimal pro Woche.

»Ist heute nicht Freitag?«, fragt Levi in das Innere der Wohnung hinein, als das Heulen des Staubsaugers verklingt.

»Heute ist Samstag, Papa. Ich war schon einkaufen. Die Bratkartoffeln sahen übrigens selbst von Weitem nicht besonders lecker aus. Nachher koche ich Lauchsuppe, die wird hoffentlich fürs Wochenende reichen.« Ihre Stimme nähert sich, während sie spricht, und er ahnt sie schließlich zwei oder drei Schritte von sich entfernt. »Zum Mittagessen gibt es Spaghetti Bolognese.«

»Gut, danke.«

Levi hat nichts gegen die Kochkünste seiner Tochter. In letzter Zeit hat sie viel gelernt, doch zu Hause, bei ihrer Mutter, kocht sie selten. Nur hier, nur weil Levi sich weigert, Essen aus Styroporbehältern zu sich zu nehmen wie Herr Schmidt, der Witwer, der bis vor anderthalb Jahren in der Wohnung unter ihm lebte. Man fand ihn erst drei Tage nach seinem Tod. Die Zulieferer von Essen auf Rädern begannen wohl, sich zu wundern, dass die Behälter jedes Mal unangerührt wieder zurückkamen.

»Ich mach dann mal weiter, ja? Heute Abend habe ich eine Verabredung, und ich will vorher noch ein bisschen lernen.«

»Was denn? Was lernst du denn?« Er folgt ihrer Stimme zurück ins Wohnzimmer.

»Fürs Abi, Papa, das weißt du doch. In Bio hänge ich echt hinterher.«

»Und mit wem triffst du dich heute Abend?«

Sie zögert. »Mit Michelle, einer Freundin. Wir waren mal mit ihr in diesem Künstlerdorf, falls du dich erinnerst«, erklärt sie schließlich. »Vor ein paar Wochen hat bei uns in der Nähe eine neue Bar eröffnet, die wollen wir ausprobieren.«

»Aber …«

»Die haben dort auch alkoholfreie Cocktails, Papa.«

Er tastet sich zum Sofa und lässt sich darauf nieder.

»Ich habe dir übrigens etwas mitgebracht.« Jetzt hüpft ihre Stimme wieder, wie immer, wenn sie lächelt beim Sprechen, und er wartet schweigend, bis sie ihre Tasche aus dem Flur geholt hat. »Hier. Ich weiß, du siehst es nicht, aber ich habe es trotzdem eingepackt. Ist allerdings auch Weihnachtsgeschenkpapier vom letzten Jahr.«

Vorsichtig reißt er das Papier auf, so langsam wie möglich, und stellt sich ihr Gesicht dabei vor. Den neugierigen Ausdruck in ihren Augen, die nervöse Spannung in den Zügen, wie damals, wenn sie in der Schule Weihnachtsgeschenke gebastelt hatte und schon Tage vor Heiligabend vor Aufregung immer wieder verriet, was sie ihnen schenken wollte. Sie hatten trotzdem so getan, als wären sie von den gebastelten Karten und Filzfiguren und getöpferten Schüsselchen völlig überrascht und begeistert.

Er hält einen schmalen, rechteckigen Karton in den Händen und sucht nach der Lasche zum Öffnen.

»Warte, das ist hier zugeklebt. Ich hole schnell eine Schere.« Sie nimmt ihm das Geschenk aus der Hand und gibt es ihm kurz darauf wieder zurück.

»Was ist das?« Er betastet den kleinen Gegenstand, den er schließlich in den Händen hält, er fühlt Plastik, ein paar Erhebungen darin wie Knöpfe oder Schalter.

»Das ist ein Diktiergerät. Die Bedienung ist ganz einfach, ich habe extra eins ausgesucht, das nur die nötigsten Funktionen hat. Immer, wenn dir etwas einfällt, kannst du es aufsprechen. Und wenn ich vorbeikomme, gibst du mir die Speicherkarte mit, und zu Hause tippe ich ab, was du draufgesprochen hast. Später können wir dafür auch den Computer benutzen. Es gibt tolle Sprachprogramme, die gesprochenen Text in geschriebenen umwandeln, aber die wirklich guten sind ganz schön teuer, und ich weiß nicht genau, welche die Krankenkasse bezahlt. Das kann ich aber nachfragen. Mit dem Gerät wäre es für dich leichter, deshalb dachte ich, probieren wir es erst mal so. Und? Was hältst du davon?«

Er schweigt. Es wäre so einfach, sich bei ihr zu bedanken. Ihr zu sagen, dass er sich freut, weil sie an ihn gedacht hat. Weil sie versucht, ihn zu verstehen.

Es wäre wirklich furchtbar einfach.

»Nichts. Ich halte gar nichts davon. So funktioniert Schreiben nicht, Robin. Ich kann nicht einfach mit diesem Ding hier sprechen und dir das Ergebnis geben, und am Ende kommt ein toller Roman dabei raus.«

»Nein, so meinte ich das auch nicht.« Sie stockt, schluckt schwer. »Ich dachte nur, das wäre ein Anfang, wenn du schon den ganzen Technikkram nicht willst. Wir können es doch einfach ausprobieren, und wenn es nicht funktioniert, versuchen wir eben etwas anderes. Aber du kannst endlich wieder anfangen, verstehst du?« Sie wird immer leiser, ihre Frage endet in einem Flüstern. Ihr Blick dringt tief in ihn hinein, dorthin, wo es weh tut.

»Ich bin müde«, sagt er dann. »Du solltest jetzt gehen und die Zeit zum Lernen nutzen. Bring das Ding wieder zurück.«

Er sieht albern aus, wie er sich in sein Schlafzimmer tastet. Albern und erbärmlich. Das weiß er.

Natürlich geht sie nicht. Aus der Küche das Klappern von Geschirr, der Geruch von Hackfleischsauce und Suppe. Erst irgendwann später, nach einer oder zwei Stunden vielleicht, fällt die Haustür ins Schloss. Es ist still und einsam um ihn herum, so still und einsam, dass er sich vorstellen kann, für den Rest der Welt wäre es genauso dunkel wie für ihn.

02

Gestern hat sie ihm erzählt, sie hätte sich die Haare gefärbt, ein rötlicher Schimmer auf dem dichten Kastanienbraun.

Dabei waren sie früher nicht mehr gewesen als ein zarter Flaum, Haare aus Seide, die immer länger wurden, mit Löckchen darin. Doch das ist schon lange her. Mit den Jahren hellte sich das tiefdunkle Moorbraun auf. Jetzt reichen ihr die Haare fast bis zur Taille und tragen diesen Farbton, den er nicht sehen kann, den er an ihr nicht kennt.

Welche Farbe hatten die Haare des Mädchens? Alles, woran Levi sich erinnert, ist ihre Stimme. In seinen Träumen verändert sich ihr Gesicht jedes Mal. Wahrscheinlich hat er sie nie wirklich gesehen. Ist nur ihrer Stimme gefolgt, durch dichten Rauch hindurch, weil niemand sonst sie hören konnte, und danach hätte er sie nicht mehr sehen können.

Mühsam drängt er den Gedanken beiseite. Nichts daran hellt seine Tage auf, immer nur dreht er sich im Kreis. Zu dem Moment zurückzukehren, der ihm das Augenlicht genommen hat, wird seine Gegenwart nicht verbessern.

Robin könnte auch ein Tattoo haben, sogar ein Piercing, und er würde es nicht bemerken. Er würde nicht merken, ob sie dicker oder dünner wird, außer etwas erspüren können in den seltenen Momenten, in denen sie ihn umarmt. Er würde nicht wissen, wann sie ihre Lieblingsfarbe ändert. Genauso wenig kann er ihr Lächeln sehen, wenn sie nicht spricht, oder die Traurigkeit in ihrem Blick. Immer schon fiel es ihm schwer, ihre Stimmungen vorauszuahnen, zu ergründen, ob sie auf ihn wütend war oder auf etwas oder jemand anderen. Manchmal sicher auch auf sich selbst. Jetzt ist ihre Gefühlslage etwas Unsichtbares geworden, eines ihrer vielen Geheimnisse, das nur manchmal in ihrer Stimme mitschwingt.

Das Klicken des Wasserkochers. Langsam gießt er den Tee auf, zählt dabei bis sieben, bis er der Meinung ist, die Tasse müsste voll sein. Voll genug, aber so, dass nichts überschwappen kann.

Zucker und Honig hat Levi sich abgewöhnt. Milch ebenfalls.

Langsam schlurft er ins Wohnzimmer hinüber. Tastet nach dem Keramikuntersetzer, der immer auf dem niedrigen Couchtisch liegt, und stellt die Tasse darauf ab.

Die Haare hat ihre Mutter ihr gefärbt. Levis Ex-Frau, Louisa.

Eigentlich wüsste er gern, wie ihre Wohnung jetzt aussieht. Seit der Scheidung ist er nur selten dort gewesen, das letzte Mal vor über zwei Jahren. Vermutlich erinnert in Robins Zimmer nichts mehr daran, dass sie gerade eben noch ein Kind gewesen ist. Dass sie mindestens zwei Kuscheltiere brauchte zum Einschlafen und am Wochenende ein Hörspiel, Bibi Blocksberg oder eine Geschichte von Astrid Lindgren. Dass sie überall an die Tapete Bilder von Pferden und Blumenwiesen und Kinderspielplätzen heftete, und dazwischen auch manchmal eines von Friedhöfen oder verschlungenen braunschwarzen Gärten. Termine bei der Schulpsychologin, nur deshalb, wegen ein paar Bildern, Termine ohne Befunde, ohne Ergebnis. Ängste, die im Nichts verliefen, als Robin älter wurde. Manche Kinder sind eben so. Sie interessieren sich für den Tod, ohne irgendeinen Grund.

Er überlegt, ob er den Fernseher einschalten sollte. Jetzt müsste nachmittags sein, Zeit für Serienwiederholungen und alte Filme. Manchmal beruhigt ihn das Gemurmel fremder Stimmen. Die künstlichen Lebenswege, die sich mit seinem Alltag verweben.

Eine Weile lang hört er zu, selbst ganz stumm. Schaltet durch die Kanäle, aber nicht wie früher, nicht mit diesem nur winzigen Verharren bei einem Sender, bevor er weitereilt. Er wartet, lauscht. Bis er eine Vorstellung erhält von dem, was er nicht sehen kann, und erst dann entscheidet er sich für etwas anderes.

Schließlich bleibt er bei einer Stimme hängen, die ihm bekannt vorkommt, doch es dauert eine Weile, bis er sie zuordnen kann. Bis ihn die Erinnerung an diese Sonntagnachmittage erschlägt, an denen sie sich auf dem Sofa zusammenkuschelten, er und Louisa und Robin, mit schwarzem Tee oder Kakao und alten Filmen mit Marilyn Monroe oder Audrey Hepburn oder Humphrey Bogart, und der Duft von Kuchen hing noch zwischen ihnen und dazu der von Kerzen, etwas Duftiges nach Blumen oder Vanille oder Zimt, je nach Jahreszeit.

An einem dieser Nachmittage schauten sie Die große Liebe meines Lebens. Keiner von ihnen kannte das Original, nur das Remake mit Warren Beatty und Annette Bening. Später am Abend, als Robin bereits im Bett lag, hatte er Louisa gefragt, ob es für ein zehnjähriges Mädchen nicht eher schädigend ist, ein solch perfektes Ideal von wahrer Liebe vorgesetzt zu bekommen. Ob sie nicht zukünftig darauf achten sollten, Filme mit überdrehten Liebesvorstellungen zu vermeiden, bis sie mindestens achtzehn war, eher noch älter. Bis sie verstanden hatte, dass man niemanden so sehr lieben kann, gegen alle Widrigkeiten, dass man sich in Wahrheit nicht immer wiederfindet. Louisa hatte gelacht, das weiß Levi noch. »Aber wir lieben uns doch auch so.« Er verstand, dass er darauf irgendetwas erwidern müsste. Etwas, dass sie in diesem Gefühl bestätigte, trotz der Streitereien, trotz der ständigen Stille zwischen ihnen. Trotz der wachsenden Unzufriedenheit. Aber er erwiderte nichts. Er ging in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich und schrieb an einem Gedicht, das er ein paar Tage später in der Küchenspüle verbrannte.

Levi sitzt ganz still, während er dem Film zuhört. Immer wieder Lücken zwischen den Dialogen. Passagen, in denen nicht gesprochen wird. Bewegungen in der Stille, Blicke, Landschaften. Irgendwann wird er aufhören, die Filme einzuschalten, die er bereits kennt, wird neue Sendungen ausprobieren. Die Stille mit Bildern in seinem Kopf füllen.

Dann wird Deborah Kerr von einem Auto angefahren, und er schaltet den Fernseher wieder aus.

Morgen ist Montag. Morgen wird Robin wiederkommen. Sie wird immer noch dieselbe Haarfarbe haben. Wird lächeln, sobald sie die Tür öffnet. Wahrscheinlich wird sie Chili con Carne kochen, vielleicht auch etwas Neues ausprobieren. Sechzehn Jahre. Sein kulinarisches Wohl sollte nicht zu ihren Aufgaben gehören.

Sechzehn.

Levi rechnet. Welches Datum ist heute? Rechnet noch einmal. Bevor er feststellt, dass er den Geburtstag seiner Tochter verpasst hat. Und das erst jetzt bemerkt, erst heute, drei Tage später. Siebzehn.

Sie besuchte ihn mit gefärbten Haaren, sie kochte ihm eine Gemüsesuppe und briet Bouletten, die wie die ihrer Mutter schmeckten, sie erzählte ihm von einer Freundin, deren Namen er schon wieder vergessen hat, weil ihm ein Gesicht dazu fehlte, und nicht ein Mal, nicht ein einziges Mal, erinnerte sie ihn daran, dass sie siebzehn Jahre alt geworden war.

Natürlich hat er ihr nichts geschenkt.

Langsam tastet er sich bis zum Telefon. Er drückt die Kurzwahl, die einzige Nummer, die er jemals selbst anruft. Braucht eine Weile, bis er sich dazu überwinden kann, tatsächlich zu wählen. Lauscht dem Rauschen in der Leitung, seinem eigenen Warten, doch es folgt kein Klingeln. Nicht einmal die Mailbox. Nur eine Computerstimme, die ihm mitteilt, dass die Angerufene vorübergehend nicht erreichbar sei.

Er könnte ihr Geld geben, damit sie ins Kino gehen kann, Pizza essen mit Freunden. Sich ein Kleid kaufen. Make-up.

Dabei glaubte er stets, Geld würde man seinen Kindern erst schenken, wenn sie schon längst ausgezogen sind. Wenn sie sich Töpfe und Lampen und Teppiche zulegen müssen, wenn sie sich für Zimmerpflanzen entscheiden und grün gestrichene Flure.

Vielleicht ist es bereits abends. Heranschleichende Dunkelheit, dabei kommt sie im August nie so früh. Doch wenn er sich die nahende Nacht vorstellt, fällt es ihm leichter, sich die Zähne zu putzen, sich ins Bett zu legen.

Er weiß, dass sich irgendwo in dieser Straße ein kleiner Musikladen befindet, in dem sie neue und gebrauchte Platten und CDs vertreiben. Da er häufig in diesem Laden eingekauft hat, müsste er sich darin zurechtfinden, sofern sie nicht umgeräumt haben. Der Besitzer würde ihm helfen können, er wird sich auskennen, er wird wissen, was man einem Mädchen schenkt, das fast schon erwachsen ist. Denn Levi weiß nicht, wie die Musik klingt, die daheim laut durch ihre Zimmertür dröhnt. Die sie hier nur leise hört, nur für sich, wenn sie in der Küche steht und summt, während sie in seinem Eintopf rührt.

Beim nächsten Mal, das nimmt er sich vor, fragt er sie danach. Er wird sich zu ihr setzen, und sie wird ihm ihre Kopfhörer geben, und dann wird er ein bisschen mehr von ihrer Welt verstehen.

03

Die graue Fassade des Naturkundemuseums, Treppenstufen, sechs Stück. Schmaler, hoher Eingang, davor eine Gruppe von fünf Kindern mit zwei Erwachsenen, alle in Regenjacken, in Gelb und Rot und Grün. Vereinzelte nasse Blätter auf dem Boden, vor allem aber Pfützen. Mama, du und ich in viel zu dünner Sommerkleidung. Dreimal Lächeln und feuchte Haare.

 

Manche Erinnerungen kann man ganz leicht einschalten wie eine Schreibtischlampe. Sie flammen einfach auf, und dann sieht man sie mit aller Klarheit, man erkennt jedes Detail viel präziser, als man es jemals wirklich erlebt hat, und mitunter weiß man nicht mehr genau, ob diese Dinge wirklich geschehen sind und ob genau so oder eigentlich anders. Kennst du das? Hattest du manchmal dieses Gefühl, während du den letzten elf Erinnerungen gelauscht hast? Dabei sind sie nur eine Auswahl, das weißt du sicher, nur ein Auszug aus all den gemeinsamen Momenten. Ich hatte so viele Fotos, und die, die ich ausgesucht habe, sind möglicherweise nicht einmal die wichtigsten.

An jenem Tag wurde ich acht Jahre alt. Er gehörte noch zu den glücklichen Tagen, du und Mama, ihr habt beim Frühstück noch miteinander gelacht, sie hat sich noch darüber gefreut, wenn du sie mit deinen eigentlich albernen Geschichten reinlegen konntest. Früher mochte sie es, von dir auf diese leichte, eindeutige Weise geärgert zu werden.

Mein achter Geburtstag war zufälligerweise an einem Sonntag. Selbst du konntest an Sonntagen ein paar Stunden opfern, und manchmal warst du in diesen Stunden sogar ganz bei uns, ohne ständig in Arbeit zu versinken. Ist das immer so, dass Schriftsteller fortwährend an Worte denken? Dass immerzu Bilder und fiktive Menschen in ihren Gedanken wüten, als gäbe es da noch eine andere Wahrnehmungsebene? Ist das vielleicht sogar bei allen Künstlern so? Werde ich irgendwann auch so sein?

An jenem Sonntag bist du früher aufgestanden als wir. Ich habe dich gehört, während ich in meine Decke gewickelt im Bett lag, und am liebsten wäre ich sofort aufgesprungen und in die Küche geschlichen, um zu sehen, was du dort machst, ob meine Geschenke bereits auf dem Frühstückstisch gestapelt sind, ob du mir einen Kakao oder Milchreis kochen wirst, ob jemand einen Kuchen gebacken hat. Aber ich blieb ganz still liegen, und meine Füße lugten unter der Bettdecke hervor und wurden kühl, denn es war kein warmer Augusttag, keiner von denen, die voller Sonne sind. Ich hörte es brutzeln und das leise Gemurmel von Radiostimmen, und plötzlich war es still, gefolgt von einem leisen Klopfen an meiner Zimmertür. Nicht nur du hast davor gestanden, sondern mit Mama Arm in Arm, und ihr begannt zu singen, was sich wahrscheinlich furchtbar anhörte, für mich damals aber wunderschön war. Schließlich hast du die Bettdecke zur Seite gerissen und mich in die Luft geschleudert, obwohl ich doch schon viel zu groß und viel zu schwer dafür gewesen sein muss.

Ich durfte den Schlafanzug anlassen, nur meine Hausschuhe sollte ich unbedingt anziehen, weil ich mich so leicht erkältete, wenn meine Füße nicht warm blieben. Alle zusammen sind wir in die Küche gegangen. Ich weiß nicht mehr genau, was es zu essen gab, aber ich glaube, es waren Eierkuchen oder irgendetwas anderes Warmes und Süßes, das ich damals gern gegessen habe, immer noch, eigentlich, Dinge wie Eierkuchen kann man nicht aufhören zu mögen. Vielleicht hast du auch diese Pfannkuchentorte mit Beeren und Sahne kreiert, wie sie Pettersson manchmal für Findus zubereitet, in Schichten gestapelt. Auch das ist so eine Sache, von der ich nicht mehr weiß, ob wir sie jemals gemacht haben oder ich sie mir immer nur wünschte, ins Leere hinein, denn manche Wünsche spricht man niemals aus, man trägt sie mit sich herum und hofft, dass sie eines Tages jemand wahrnimmt, einfach so.

Eigentlich hatten wir in den Tierpark gehen wollen, aber der Regen hörte einfach nicht auf, so sehr wir auch darauf warteten. Ich packte meine Geschenke aus, an die ich mich nicht mehr erinnere, ich spielte sicher mit ihnen und blätterte in den Büchern, denn ich bekam jedes Jahr zum Geburtstag mindestens ein Buch. Mama und du, ihr habt euch leise unterhalten, und ich glaube, für Mama stand ein großer Blumenstrauß auf dem Tisch, denn damals hast du ihr zu meinen Geburtstagen noch Blumen geschenkt.

Ich war diejenige, die das Naturkundemuseum vorschlug. Nachmittags zum Kaffeetrinken würden wir zu den Großeltern fahren, doch es fehlten noch viele Stunden bis dahin, tausende, und ich wollte raus. Also fuhren wir mit der U-Bahn, das Auto streikte mal wieder, zum Naturkundemuseum, das ich so sehr liebte, vor allem natürlich das große Dinosaurierskelett und auch die Edelsteinsammlung. Vielleicht, weil sie so schön glänzen und glitzern, besonders der riesige Amethyst.

Trotz des Regens wolltest du diesen Ausflug auf einem Foto festhalten. Wir haben irgendjemanden gefragt, ob er eines aufnimmt, ich mit meinem geblümten Kleid, das ich wahrscheinlich an diesem Tag bekommen habe, und danach betraten wir gemeinsam das Museum und liefen durch so viele Räume, wie wir konnten, und wie immer verirrten wir uns ein wenig, obwohl es doch gar nicht so groß ist.

An das Kaffeetrinken mit den Großeltern erinnere ich mich kaum noch. Oma hat sicher Schneewittchenkuchen gebacken, weil ich den besonders gern mochte, und nur an meinem Geburtstag erlaubte mir Mama, so viele Stücke zu essen, wie ich wollte, und meistens wurde mir am Ende schlecht davon. Erst spät abends fuhren wir wieder nach Hause, und ich bin auf der Rückfahrt auf deinem Schoß eingeschlafen. Du wirst mich getragen haben, den ganzen Weg von der S-Bahn-Station bis nach Hause. Ihr werdet mich hingelegt und zugedeckt haben, und so schlief ich dann, mit ungeputzten Zähnen und dem neuen Kleid. Und obwohl ich bereits schlief, hast du noch an meinem Bett gesessen und mir eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt.

[home]

September

Narben

Mondlicht

nur eine Reflektion

ein Spiegel

wie Worte

die nie die eigenen sind.

Abbild von etwas längst Vergangenem.

Levi Bärenreiter

04

Manchmal atmet der Herbst bereits in den Sommer hinein. Da sind diese kühlen Windstöße wie eine kurze Begegnung mit einem Fremden, die man gleich wieder vergisst. Da ist dieses Rascheln in den Blättern des Ahornbaumes auf dem Hof, das sich trockener anhört, müde. Dabei behauptet Robin, dass bisher kaum Blätter ihren Grünton verloren haben, auch wenn die ersten bereits auf den Gehsteigen liegen. Verstorbene Sommertage.

Levi überlegt, eine Jacke überzuziehen, doch die Luft, die der Tag durch das geöffnete Fenster bläst, fühlt sich zumindest im Schutz der Wohnung mild an. Also verzichtet er auf weitere Kleidung, tastet sich kurzärmelig bis in den Hausflur. Der Geruch von gebratenem Fleisch. Wahrscheinlich von Frau Hermann, die schräg über Levi wohnt. Sonntags bereitet sie immer einen Braten zu, und die olfaktorische Erinnerung daran bleibt mindestens zwei Tage lang zwischen den kühlen Wänden hängen, selbst bei geöffneten Fenstern. Ein- oder zweimal hat sie Levi bereits eingeladen, doch er nahm diese Einladungen nie an. Früher haben sie kaum mehr als ein Guten Tag und ein paar Bemerkungen über Fußballergebnisse und das Wetter ausgetauscht. Eine Stunde lang in ihrem Wohnzimmer zu sitzen, von dem er keine Ahnung hat, wie es aussieht, mit ihr und ihrem schweigsamen Mann, die Anstrengung, nicht zu kleckern beim Essen, uninspirierte Fragen nach ihren Kindern und ersten Enkeln … so sehr hängt er dann doch nicht an warmen Mahlzeiten und deftigen Fleischgerichten.

Wenn er sich nicht allzu sehr konzentriert, läuft er ganz leicht die Treppen hinunter, so als wüssten seine Füße, wie viele Stufen sie zu bewältigen haben und wie hoch diese sind. Sie übernehmen das Kommando, und er folgt ihnen, die Gedanken beschäftigt mit etwas anderem.

Der Morgen muss bereits weit vorangeschritten sein. Vormittägliche Ruhe senkt sich auf die Straße. Kaum jemand auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule, nur die Kinder spielen vor der kleinen Kita auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Plastikräder der Bobbycars kratzen über das Pflaster, ein Kind weint, und Levis Herz zieht sich zusammen. So viel Verzweiflung in der Stimme. Angst. Hoffnungslosigkeit. Er zittert und schwitzt, Hitze umschlingt ihn, er kann nicht mehr atmen. Das Rauschen des Feuers umschließt ihn, und er weiß, dass jede Sekunde zählt. Doch dann spricht jemand mit dem Kind, ein Erwachsener, und plötzlich, als hätte ihn etwas in die Wirklichkeit geschubst, verschwindet die Hitze. Sein Herz beruhigt sich wieder.

Alle Kinderstimmen sind hell und zerbrechlich, ungeformt, kaum ein Unterschied. Er kann sich von ihnen nicht immer wieder in seine Alpträume reißen lassen.

Einen Moment länger bleibt Levi noch stehen und atmet tief ein. Frühlingsduft, eindeutig, die Luft ist mild und voller blumiger Gerüche, so als würde alles erst beginnen.

Der Anfang ist auch nur ein Teil von allem. Wäre Levi die Hauptfigur in einem Roman, könnte sein Anfang genauso gut noch gar nicht geschrieben sein, nur ein paar Stichpunkte auf einem Blatt Papier. Chronologie ist lediglich ein Richtwert, keine Regel. Nicht mehr als eine Idee. Eine Hilfestellung für die narrative Entwicklung.

Dass er jetzt daran denkt. Seit Monaten hat er nichts mehr geschrieben. Seit Monaten trägt er all seine Worte mit sich herum, doch im Laufe der Zeit sind sie ruhiger geworden. Weniger aufdringlich, weniger laut und fordernd. Sie werden alt, so wie er. Alt und müde.

Seine Hand berührt die raue Fassade des Hauses, dann Glas, sehr viel Glas, wieder die Fassade, bis er in die Luft greift, dorthin, wo sich ein Stückchen nach hinten versetzt die Eingangstür zum Café befindet.

Die Stufe. Die Tür.

Nur zwei Tage lang war er nicht hier, weil Robin von ihrer Geburtstagsfeier so viele Essensreste mitgebracht hat, dass sie seinen halben Kühlschrank füllten. Chili con Carne, Pizza, Kokoskuchen, Kürbiscremesuppe. Immer mal wieder hat er die portionsweise vorbereiteten Mahlzeiten aufgewärmt. Die Tage sind so einfach, wenn man sie allein zu Hause verbringt, die Wohnung nicht verlassen muss. Er konnte in seinem Bett liegen und den Geräuschen lauschen, die von draußen ins Zimmer drangen. An Robins ersten Schultag denken, an ihren ersten Deutschaufsatz und daran, dass er sie kaum angelächelt hat, dass er nur all die Fehler sah, diese ungeschickten kindlichen Formulierungen, die einfache Erzählweise. Während er seine eigenen Entwürfe auf Papier kritzelte, immer zuerst per Hand, immer, soweit möglich, gleich perfekt. »Ich bin den Worten dadurch näher«, sagte er. Dachte er stets.

Manche Dinge kann man niemandem erklären. Wie für ihn das Schreiben funktioniert, kann er niemandem erklären. Dass er dafür seine Augen braucht. Die Umgebung. Den Blick auf die Worte, Sätze, Kapitel. Den Blick auf alles, eigentlich. Nicht die Hilfe von Diktiergeräten und Spracherkennungssoftware. Egal wie hilfreich diese Dinge für andere Menschen sind. Andere Blinde.

Zwei Tage also seit seinem letzten Cafébesuch, und schon ist etwas anders als sonst. Sobald Levi die Tür öffnet, sobald er den Raum betritt, spürt er eine Veränderung. Er geht einen Schritt zur Seite in der Hoffnung, dort niemandem im Weg zu stehen, und wartet. Das Klappern von Besteck auf Tellern, das Zischen des Kaffeeautomaten. Ein paar distinktive Geräusche, der Rest vermischt sich zu einem akustischen Matsch, doch dieser ähnelt dem der vorangegangenen Wochen.

Bis auf dieses kurze Vibrieren in der Luft. Ein Blick vielleicht. Ein Flüstern in seine Richtung.

Oder bildet er sich das nur ein?

»Kann ich Sie zu Ihrem Tisch bringen?«, fragt eine ihm unbekannte Stimme. Sie ist dunkel, ein bisschen rau, aber weiblich, schwer, viel zu schwer. Bevor Levi antworten kann, berühren ihn kühle Hände am Ellbogen und schieben ihn sanft tiefer in das Lokal hinein. Erst ist er nicht sicher, ob sie ihn wirklich zu seinem Tisch bringt, ob er am Ende nicht wieder auf ihre Hilfe angewiesen sein wird, um den Ausgang zu finden, doch dann setzt er sich, ertastet das rissige Lederpolster und fühlt das kleine Loch gleich links von ihm, dort, wo noch ein weiterer Platz frei wäre.

»Danke«, murmelt er. Obwohl er den Weg doch kennt. Er hätte es allein geschafft, ohne die kühle Berührung dieser Fremden. Überhaupt, woher wusste sie das? Er trägt keine Armbinde, er ertastet seinen Weg nicht mit einem Stock. Für alle anderen ist er nur ein Typ mit Sonnenbrille und Brandnarben im Gesicht, der merkwürdig langsam vorwärts stolpert.

»Wir haben heute frisch gebackenen Johannisbeerkuchen im Angebot.«

»Kuchen?« Er ist zum Frühstücken gekommen, nicht zum Kaffee. So umfangreich, wie sein Essen hier in heißem Öl ertränkt wird, muss er wenigstens keine Angst davor haben, sich Krankheiten einzufangen.

»Ich hebe Ihnen ein Stückchen auf, zum Probieren. Manuel sagte mir, Sie essen normalerweise Bratkartoffeln mit Rühr- oder Spiegelei.«

»Ja.«

»Gut, dann bringe ich Ihnen einfach unser Tagesfrühstück. Es ist allerdings schon elf, ich muss erst nachsehen, ob der Koch noch einmal welches ausgibt.« Jetzt verändert sich der Klang ihrer Stimme, hellt auf. Vielleicht lächelt sie.

»Wie heißen Sie?«

»Oh, Entschuldigung, ich bin Rea.«

»Sie sind neu hier.«

»Ja. Seit einer Woche, allerdings übernehme ich meistens die Spätschicht. Was trinken Sie?«

»Nichts. Danke.« Levi wartet darauf, dass sie geht, doch er hört keine Schritte, keine andere Bewegung. »Ist noch etwas?«, fragt er.

»Ich … ich wollte … nein, natürlich nicht. Ihr Essen wird sicher gleich fertig sein.« Dann das Rücken eines Stuhles, den sie wohl zur Seite schiebt, und ganz leise ihre Schritte. Leiser als die der anderen Kellnerinnen. Vermutlich trägt sie andere Schuhe, weniger hohe Absätze, vielleicht ist sie auch einfach nur sehr leicht oder hat einen speziellen Gang.

Er wird Manuel fragen, wer die Neue ist. Rea. Überraschungen, schon morgens, verdaut er nur schwer.

Neue Gäste betreten das Lokal. Eine kleine Gruppe, um die drei oder vier Menschen. Erahnen kann er nur die, die etwas sagen. Sie lachen, ein paar von ihnen laufen schlurfend, kommen näher. Setzen sich an den Tisch neben seinem. Ausgerechnet.

»Also, wo sind wir letztes Mal stehen geblieben?«, fragt einer von ihnen.

»Unabhängige Wahrscheinlichkeitsrechnung.« Papier raschelt.

Vielleicht Schüler oder Mathematikstudenten. Sie sprechen sehr laut, sind ganz auf sich selbst konzentriert. Werden ihn kaum bemerken, seine Sonnenbrille nicht, die Narben auf der Haut nicht.

»Können wir nicht mit etwas anderem anfangen?«

»Die Diskussion hatten wir doch schon, wir gehen das Skript einfach der Reihenfolge nach durch. Punkt.«

Jemand klappert auf der Tastatur eines Laptops herum, langsam sinkt der Geräuschpegel.

Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wozu braucht man die denn überhaupt? Wie wahrscheinlich ist es, auf einem nächtlichen Spaziergang in einer westeuropäischen Großstadt vor einem brennenden Haus zu landen, in dem sich ein verängstigtes Kind befindet? Weit und breit keine Feuerwehr?

Vermutlich nicht besonders hoch.

»Hier, bitte sehr.« Unbemerkt ist Rea an seinen Tisch zurückgekehrt.

Wie viel Zeit ist vergangen, seit er seine Bestellung aufgab? Manchmal verstreichen die Minuten, er kann sich an nichts orientieren, nur an einem losen Gefühl.

»Bratkartoffeln mit Tomaten-Kräuter-Omelette und einem kleinen Salat.«

»Danke.«

Diesmal bleibt sie nicht stehen, verschwindet gleich in dem dichten Gewebe, das die Anwesenheit anderer spinnt. Von überallher plätschern Stimmen, das Café muss heute gut besucht sein, viel zu gut. Viel zu viel Lärm. Als wäre Wochenende.

Levi sollte sich angewöhnen, jeden Morgen Radio zu hören. Wenigstens ein bisschen von der Welt zu erfahren.

Wenn er nur wüsste, was ihn an der Welt noch interessiert.

05

Manchmal schaut er in den Spiegel. Eine Angewohnheit, die er nicht ablegen kann. Er stellt sich sein Gesicht vor, so, wie es früher ausgesehen hat. Merkwürdig, an wie viele Details er sich erinnern kann, wenn er sich wirklich konzentriert. Den Verlauf seiner Falten, eine Landkarte auf seinem Gesicht, ein Abbild all der vergangenen Jahre. Fast ist er sich sicher, welche der Falten kurz nach Robins Geburt hinzukamen. Mit einem eigenen Kind verschiebt sich plötzlich die Sicht auf die Welt, denn nun ist man nicht mehr ihr Mittelpunkt, nicht mehr nur für sich selbst verantwortlich. Ab der Geburt, oder auch schon davor, gehört ein anderes Leben in das eigene, mehr noch, ist abhängig von einem. Von ihm.

Im ersten Jahr sind sechs Falten hinzugekommen, alle um die Augen. Wie bei Louisa.

Doch sein Gesicht ist nicht mehr das, was es nach Robins Geburt war. Wie es jetzt aussieht, kann er lediglich erahnen, wenn er mit den Fingern über die Haut streicht. Die verbrannten Stellen fühlen sich weicher an, verletzlicher, auch wenn Robin behauptet, man würde sie erst auf den zweiten Blick bemerken. Jeden Tag reibt er sie mit einer speziellen Salbe ein. Jeden Tag sollen sie dadurch besser verheilen. Immer stärker verblassen.

Natürlich ergibt es keinen Sinn, sein Gesicht vor dem Spiegel einzucremen. Er könnte sich dazu auf sein Bett setzen, auf den Hocker im Flur, auf das Wohnzimmersofa. Eigentlich weiß er selbst nicht, wieso er das tut. Doch, er weiß es. Wenn er hartnäckig bleibt, wenn er jeden Tag vor diesem Spiegel steht und ihm sein Gesicht präsentiert, vielleicht gibt er dann irgendwann auf. Vielleicht geben seine Augen irgendwann auf. Vielleicht wachsen seine Sehnerven wieder zusammen, das könnte doch sein, sie könnten einfach wieder vollständig werden und das Bild weiterleiten, das der Spiegel reflektiert, auch wenn er es dann ansehen müsste. Auch wenn er dann sein Gesicht anschauen müsste, so wie es jetzt ist, nicht so, wie es damals war. Während des Studiums, nach Robins Geburt, kurz vor dem Brand. Denn auch wenn seine Sehnerven zurückkehrten, die Netzhaut wieder komplettiert wäre, das Feuer könnten sie nicht ungeschehen machen.

»Irreparabel«, hat der Arzt gesagt.

Tote Sehnerven. Kein Gesicht.

Es gibt traurigere Dinge als das. Immer wieder hat er über sie geschrieben. Aber das Schreiben, Fiktion, ist nebensächlich geworden, ein Hintergrundrauschen, auf das er einfach nicht mehr hören möchte.

Manchmal versucht er es dennoch. Er tastet sich bis zu dem kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer, setzt sich auf den alten Stuhl, kein Bürostuhl, sondern ein richtiger Stuhl, den er auf einem Flohmarkt fand und neu streichen und polstern ließ. Dunkles Holz, er weiß nicht mehr, was für welches, eine waldgrüne Sitzfläche.

Vor dem Fenster, weiter unten, erstreckt sich die Straße. Autos, die darüberrumpeln, häufig zu schnell. Er versucht, sich vorzustellen, wie groß und schwer sie sein mögen, wer in ihnen sitzt und weshalb. Ihre Insassen müssen alle ein Ziel haben, sie werden alle irgendwoher kommen. Werden Namen und eine Geschichte tragen.

Eine Geschichte.

Manchmal wanderte er durch die Stadt, morgens, nachmittags, bevorzugt nachts. Er ließ sich von ihr aufsaugen, er sah den Menschen, denen er begegnete, in die Augen. Natürlich nur kurz, nie starrte er sie an, doch er hielt den Blick ausreichend lange fest, um eine Idee davon zu erhalten, wer sie waren, wer sie sein könnten. Allerdings erfand er diese Ideen nur. Verglich sie nie mit der Realität.

Nun sitzt er also an seinem Schreibtisch, vor sich ein Blatt Papier, das immer dort liegt. Er weiß, dass Robin es manchmal weglegt, wenn sie den Schreibtisch entstaubt, doch jedes Mal platziert sie es wieder an derselben Stelle, daneben sein Füller, mit dem er seit nunmehr über vier Jahren schreibt.

Danach tastet er. Das Plastik fühlt sich kühl an, sehr glatt, dabei weiß Levi, wie viele Kratzer das Schreibgerät bereits hat. Schließlich trug er den Füller immer bei sich, er ließ ihn nie zu Hause. Manche Autoren können das wohl, einfach mit irgendeinem Stift schreiben, auf irgendeinen Fetzen Papier, nur er konnte das nie. Er brauchte diesen Füller, und davor einen anderen, die Erweiterung seiner Hand, seines Armes, seiner Gedanken.

Langsam schraubt er die Kappe ab.

Vielleicht ist die Tinte eingetrocknet. Wie lange dauert es wohl, bis ein Füller aufgibt, bis er nicht mehr schreibt?

Auch früher hatte Levi schlechte Tage, sogar sehr viele, an denen er nur dasaß, ohne dass etwas geschah. An denen er darauf wartete, dass die Worte kamen. Dennoch zwang er sich zum Schreiben, jedes Mal, selbst wenn er das Ergebnis seiner Tagesarbeit am nächsten Morgen wütend zerriss. Weil er eben nicht warten wollte.

Heute müsste Freitag sein, Nachmittag bereits. Zeit für Wochenendausflüge. Wie lautete die Wettervorhersage für die nächsten Tage, was haben sie im Radio angesagt? Sonnig sollte es werden, um die zwanzig Grad. Der Sommer lässt nicht los.

Einige der über das Kopfsteinpflaster holpernden Autos werden vollgepackt sein mit Picknickkörben und kleinen Reisetaschen. Ein Wochenende im Umland. Zu Besuch bei den Eltern oder Schwiegereltern oder Großeltern.