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Als ihr wohlgeordnetes Leben ins Wanken gerät, flüchtet Alina aus dem hektischen Frankfurt zu dem einzigen Menschen, der ihr einfällt: ihr Großvater, der in einem kleinen brandenburgischen Dorf lebt. Seit achtzehn Jahren hat sie keinen Kontakt mehr zu ihm. Der alte Mann wohnt allein in einem viel zu großen, renovierungsbedürftigen Haus am Waldrand. Er hält Hühner, pflegt den Garten, backt Brot, beobachtet Biber – und nimmt seine Enkelin bei sich auf, ohne viele Fragen zu stellen. Dunkel und fast ein wenig unwirklich sind Alinas Kindheitserinnerungen an die Ferien bei ihren Großeltern; im Alltagsstress gefangen, hat sie seit Jahren nicht mehr an die Sommer im Dorf gedacht. Nun, inmitten der Natur, kehren die Erinnerungen zurück. Ehe sie sichs versieht, verliebt sie sich nicht nur in den Ort und die umliegenden Wälder. Doch bevor sie sich ein neues Leben aufbauen kann, gibt es einiges, wovon Alina sich befreien muss. Eine Geschichte über eine besondere Großvater-Enkelin-Beziehung und eine Hommage an das Leben auf dem Land, die Ruhe und den Frieden, den wir in der Natur finden.
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Alina ist an einem Punkt in ihrem Leben angekommen, an dem sie nicht mehr weiterweiß: Ihren Job konnte sie nie leiden, in Frankfurt am Main, der Stadt, in der sie lebt, fühlt sie sich schon lange nicht mehr wohl, und dann geht nach einem heftigen Streit auch noch ihre Beziehung in die Brüche, sodass sie plötzlich ohne Wohnung dasteht. Wohin jetzt? Der einzige Ort, der ihr einfällt, ist Spechthausen, ein kleines Dorf in Brandenburg. Hier lebt ihr Großvater, zu dem sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat. In seinem viel zu großen, renovierungsbedürftigen Haus am Waldrand nimmt er sie auf, ohne viele Fragen zu stellen.
Langsam nähern Alina und er sich wieder an. Sie hilft ihm mit den Hühnern und dem Garten; gemeinsam beobachten sie Biber in freier Wildbahn. Dunkel und fast ein wenig unwirklich sind Alinas Kindheitserinnerungen an die Ferien in Spechthausen. Nun, inmitten der Natur, kehren sie nach und nach zurück. Ehe sie sichs versieht, fühlt sie sich heimisch in dem Ort und den umliegenden Wäldern. Endlich hat sie Zeit, darüber nachzudenken, was ist, was war und was sein soll. Außerdem ist da noch ihr Kindheitsfreund Elias, mit dem sie viel verbindet. Doch bevor sie sich ein neues Leben aufbauen kann, gibt es einiges, wovon Alina sich befreien muss.
© Birte Filmer
Franziska Fischer wurde 1983 in Berlin geboren, hat einige Zeit im Ausland verbracht und ist mittlerweile aus der Stadt herausgezogen. Sie studierte Germanistik und Spanische Philologie an der Universität Potsdam und arbeitet als freiberufliche Autorin und Lektorin.
Franziska Fischer
In den Wäldernder Biber
Roman
E-Book 2022
© 2022 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © FALKENSTEINFOTO/Alamy Stock Foto
Satz: Angelika Kudella, Köln
Gesetzt aus der Adobe Garamond Pro
E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-8321-7128-5
www.dumont-buchverlag.de
Für Opa
Kapitel 1
Die Grenze zwischen Erinnerung und Zukunft ist nur ein Netz aus ungefühlter Zeit, das immer dünner wird.
Wo habe ich diesen Satz gelesen? Und wieso fällt er mir ausgerechnet jetzt wieder ein?
Der Bus schlängelt sich um eine Kurve, durch das Fenster entdecke ich erste Häuser. Wahrscheinlich deshalb. Weil diese Häuser Erinnerung sind und Zukunft und gerade beides gleichzeitig passiert und ich selbst nicht wirklich verstehe, wieso überhaupt. Gestern um diese Zeit befand ich mich noch auf dem Rückweg nach Hause, in einer Großstadt voller Menschen und betonter Geschäftigkeit, und dieses Zuhause war eine mit schweren Möbeln vollgestellte Vierzimmerwohnung, waren ein Mann, mit dem ich dreieinhalb Jahre geteilt habe, und zwei Wellensittiche namens Hugo und Stoffel.
Vorsichtshalber drücke ich den Halteknopf, weit wird die Station nicht mehr entfernt liegen.
Spechthausen. So ein malerischer Name. Genau richtig für ein Dorf inmitten von Wäldern und unglaublich passend zur Leere dieser Landstraße, an der der Bus nun hält.
Ich schultere meinen Rucksack und wuchte meinen Koffer aus dem Gefährt. Kaum dass ich vollkommen orientierungslos auf dem Bürgersteig stehe, schließen sich die Türen hinter mir, und der Bus fährt wieder an. Nur eine ältere Dame mit einem dicken grauweißen Dutt ist mit mir ausgestiegen und entfernt sich nun mit raschen Schritten, trotz des Gehstocks, den sie verwendet. Kurz blicke ich ihr nach, bleibe an der Überlegung hängen, ob ich sie nach dem Weg fragen sollte, doch bis ich einen Entschluss treffen kann, ist sie bereits zu weit entfernt. Sonst befindet sich niemand auf der Straße, vor mir die freiwillige Feuerwehr, hinter mir etwas, das ein Schild als ehemalige Papierfabrik ausweist.
Die Stille stammt aus einer anderen Zeit. Genervt schüttle ich den Kopf über meine wirren Gedanken, lasse den Blick schweifen und versuche, Orientierung zu gewinnen. Ich war so oft hier. Wann das letzte Mal? Mit elf? Oder zwölf? Auf jeden Fall ist es fast zwanzig Jahre her, natürlich erkenne ich kaum etwas wieder. Es ist ein Wunder, dass ich mich noch an den Namen des Ortes erinnern konnte. Immerhin scheint er klein genug zu sein, dass ich in kurzer Zeit alles ablaufen könnte.
Tief atme ich ein, bevor ich einfach in die Richtung weitergehe, in die der Bus gefahren ist. An der ersten Abzweigung entscheide ich mich für eine Kopfsteinpflasterstraße, weil die gemütlich wirkenden Ziegelbauten etwas in mir anstoßen, das mich mit leisem Klingen weiterträgt, bis ich vor einem der Gebäude stehen bleibe. Vielleicht ist es der Rhododendron vor dem Haus, vielleicht die Holzbank neben der Treppe, von der die grüne Farbe blättert.
Gerade als ich auf die Klingel drücken will, fällt mein Blick auf den Namen. Zeiler. Nicht der Nachname meines Vaters, nicht der Nachname, den ich selbst noch trage.
In dem Moment, in dem ich mich umdrehen und weiterlaufen will, öffnet sich die Haustür. Ein etwa siebenjähriges Mädchen geht einen Schritt vor in den Türrahmen, blonde Zöpfchen mit Schleifen, ein weißes Kleid, sie sieht aus wie aus einem anderen Jahrhundert. Schweigend starrt sie mich an.
»Hallo«, sage ich nach einer Weile.
Wieder Schweigen.
»Ich bin … Ich wollte zu meinem Großvater.«
Das Mädchen schüttelt den Kopf. Unwillkürlich drängt sich mir die Frage auf, ob es stumm ist oder einfach nur schüchtern. Sie sagt nichts, sieht mich aber weiter aufmerksam an.
»Mia? Was machst du da an der Haustür?« Der Stimme folgt eine Frau, eine ältere Version des Kindes. Größer, etwas rundlicher, ein paar Fältchen um die Augen, die Haare – dunkler, aber ebenfalls blond – umrahmen ihr Gesicht, werden allerdings von einem bunten Tuch aus der Stirn gehalten. Das ausgestellte Kleid unterstreicht den Sechzigerjahre-Look. In diesem Dorf ist wohl die Zeit stehen geblieben. »Oh, hallo.« Ihr Blick zuckt zu meinem Koffer, mit einem fragenden Ausdruck sieht sie wieder zu mir. »Wir haben gar keinen Besuch erwartet.«
»Ja. Nein. Also, ich suche Siegfried Engelhardt. Ich dachte, er wohnt hier, aber das war wohl ein Irrtum.«
»Ach so, okay.« Sie lächelt mit einer einladenden Offenheit, mit der Menschen selten lächeln. Fast nie eigentlich. »Er wohnt hier nicht mehr. Das Haus hat er uns vor ein paar Jahren verkauft.«
»Oh.« Die ganze aufgestaute Erschöpfung der Reise lässt meinen Körper schwer werden.
»Keine Sorge, er wohnt nur ein Stückchen weiter.« Die Frau legt eine Hand auf die Schulter ihrer Tochter. »Wollen Sie kurz reinkommen, während ich versuche, Siegfried zu erreichen? Manchmal nimmt er sein Handy mit, aber meistens vergisst er es.«
»Mit wohin?«
»In den Wald. Um diese Uhrzeit geht er gern spazieren und schaut nach den Bibern.«
»Biber. Okay. Also ja, es wäre nett, wenn Sie ihn anrufen könnten. Danke.« Ich folge der Frau in einen schmalen Flur. Rechts von uns führt eine Treppe ins obere Stockwerk, wo sich die Schlafräume und Großvaters Arbeitszimmer mit den riesigen Bücherregalen befanden. Für einen Moment bleibe ich stehen, versuche, die diffusen Bilder festzuhalten, die aus den Tiefen meines Gedächtnisses an die Oberfläche treiben und sofort wieder verschwinden. Hing dort bei der Treppe ein Bild von Monet? Oder waren es gerahmte Fotos? Stand rechts vom Eingang früher auch eine Kommode? Falls ja, lagen auf ihr wahrscheinlich nicht lauter Kinderbilder und Sommerhüte und aller möglicher Kleinkram, wie jetzt. Meine Großmutter war immer sehr auf Ordnung bedacht.
Geradeaus, am Ende des Flurs, führt eine weitere Tür hinaus in den Garten, die früher im Sommer abends immer offen stand. Die neue Besitzerin dieses Hauses tritt hindurch und wendet sich wieder zu mir um, sodass ich ihr rasch folge.
»Ich bin übrigens Isabel«, stellt sie sich vor. »Wenn Sie mögen, setzen Sie sich doch dort unter den Pavillon. Wir sehen übrigens normalerweise nicht so aus, wir sind nur demnächst zu einer Vintageparty eingeladen und stellen gerade unsere Kostüme zusammen.«
»Danke. Ich heiße Alina. Und die Kostüme sind ziemlich überzeugend.«
»Alina.« Nachdenklich mustert sie mich. »Bist du Siegfrieds Enkelin?«
Mit einem Lächeln nicke ich. Achtzehn Jahre ohne Kontakt, trotzdem hat er von mir erzählt. Allerdings kann ich an Isabels Gesicht nicht ablesen, ob das gute oder schlechte Erzählungen waren.
»Willst du etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht?«
»Ja, sehr gern. Nach ungefähr sechs Stunden Zugchaos würdest du mir damit das Leben retten. Ich komme gerade aus Frankfurt.«
»Nimmst du auch Hafermilch? Kuhmilch ist gerade alle.«
»Sogar lieber. Danke.«
Den Koffer lasse ich neben der Terrassentür stehen und laufe das Stückchen zu dem Pavillon. Meine Großeltern hatten nur einen schlichten mit weißen Kunststoffplanen, den sie an besonders heißen Tagen, oder wenn Besuch kam, aufgebaut haben, keinen aus glattem Holz mit zurückgebundenen Stoffvorhängen und gemütlichen Loungemöbeln. Großmutters Blumenbeete, die meiner Erinnerung nach immer sehr gepflegt waren, haben sich zu einer Wildwiese entwickelt, in einem Hochbeet versuchen zwei Paprikapflanzen verzweifelt, ein paar mickrige Früchte am Leben zu halten, und überall liegt Spielzeug herum. Ich fühle mich, als würde ich in zwei Gärten gleichzeitig stehen, einer wie eine verblasste Fotografie in Sepia und der andere nah und lebendig.
Erleichtert lasse ich mich auf einem der Holzsessel nieder. Kurz blicke ich auf mein Handy. Kein verpasster Anruf, keine Nachricht von Fabian. Ich bin selbst überrascht davon, wie wenig mich diese Tatsache berührt. Außer leiser, von dem anstrengenden Tag erschöpfter Wut regt sich kein Gefühl in mir, da sind nur Leere und Orientierungslosigkeit, die auch mit dem Finden dieses Hauses nicht verschwunden sind. »Deinen Kram kannst du ein anderes Mal holen«, das waren Fabians letzte Worte, bevor er die Wohnungstür hinter mir zuknallte und mich in dem weißgrau gestrichenen Treppenhaus allein zurückließ.
Isabel kommt mit zwei Tassen zurück. Ihre Tochter ist wohl im Haus geblieben, ebenso wie das Kostüm. Sie trägt nun eine Jeans und ein gerafftes Top, das ihre Schultern freilässt.
Schweigend trinken wir den perfekt zubereiteten Cappuccino. Ich bin dankbar für diese Stille, dafür, dass Isabel keine neugierigen Fragen stellt, denn ich würde ihr keine Antworten geben wollen.
»Wir haben hier noch viel Arbeit vor uns«, sagt Isabel unvermittelt. »Elias und ich, wir haben tausend Pläne, nur leider schaffen wir es nie, sie umzusetzen. Was vor allem meine Schuld ist, weil mir eigentlich permanent etwas dazwischenkommt. Meistens Zeitmangel, und wenn es der nicht ist, dann Faulheit.« Ihr Lächeln wirkt fast entschuldigend.
»Das wäre bei mir genauso«, erkläre ich rasch, bevor sie auf die Idee kommen kann, ich würde den Zustand des ehemaligen Grundstücks meines Großvaters bewerten wollen. Immerhin weiß ich nur noch vage, wie es früher ausgesehen hat.
»Siegfried habe ich nicht erreicht, ihm aber auf die Mailbox gesprochen. Er wird sie wahrscheinlich nicht abhören.«
Die Tasse stelle ich auf den Tisch zwischen uns. »Das macht nichts«, antworte ich. »Du kannst mir auch einfach zeigen, wo er jetzt wohnt, und ich warte dort auf ihn.«
»Dann wirst du von den Mücken zerfressen. Es stört mich wirklich nicht, wenn du hierbleibst. Ich muss nur langsam das Abendessen vorbereiten. Mia geht früh ins Bett.«
»Ich will nicht …«
Ihr Lächeln unterbindet weitere Worte. Immerhin kann ich sie überreden, mir ein Schneidebrett und ein Messer herauszubringen, sodass ich kurz darauf neben dieser fremden Frau sitze und Paprika zerlege, während sie Möhren raspelt.
Im Nachhinein betrachtet, war meine überstürzte Flucht aus Frankfurt, ohne mich bei meinem Opa anzukündigen oder mich zumindest nach seinem aktuellen Wohnort zu erkundigen, keine besonders schlaue Idee. Nicht einmal eine mittelschlaue. Es war eben die Art Idee, die man hat, wenn man gerade von seinem Freund aus der gemeinsamen Wohnung geworfen wurde und die Nacht in einem Hotel verbringt, weil man zwar sehr viele Bekannte in der Stadt hat, aber keine Freunde. Die Art Idee, der man einfach folgt, nachdem man am nächsten Morgen seinen Chef anruft und um ein paar Tage spontanen Urlaubs bittet und dafür angeschrien wird, wie man schon wegen Tausender Dinge angeschrien worden ist, und dann am Telefon kündigt, weil das in den Filmen auch immer so gemacht wird. Mir ist nicht ganz klar, ob ich meinen Job jetzt wirklich los bin oder ob es dafür nicht noch eines schriftlichen Dokuments bedarf, etwas, das ich im Zug hatte recherchieren wollen, doch dann war ich zu erschöpft von dem Streit mit Fabian und der schlaflosen Hotelnacht und dem Gedanken an die beiden Wellensittiche, die ich nie wirklich wollte und die ich dann so plötzlich vermisste.
»Wir haben als Kinder mal zusammen gespielt«, unterbricht Isabel meine Gedanken.
»Wir? Du und ich?«
Sie nickt. »Elias, du und ich, wir haben ab und zu etwas zusammen unternommen. Wir haben hier mit meinen Eltern fast jeden Sommer Urlaub gemacht, aber nicht immer zur gleichen Zeit wie du. Ich war als Kind furchtbar schüchtern, noch schlimmer als Mia jetzt, und Elias, der fand Mädchen grundsätzlich doof. Dich wohl ein bisschen weniger.«
»Ist Elias dein Bruder?«
»Genau. Er wohnt hier mit Mia und mir.«
»Wieso wart ihr für den Sommerurlaub ausgerechnet hier? Das ist ja nicht gerade ein Touristenort«, frage ich nach einem Moment des Schweigens. Die Paprikastücke schiebe ich in die große Glasschüssel, die Isabel mit herausgebracht hat, und widme mich anschließend der Gurke. Biogurken aus dem Garten meines Großvaters, wie mir Isabel vorhin erklärt hat.
»Kann sein. Aber wir sind immer gern hier gewesen. Als Kinder waren wir beide totale Leseratten. Uns war es lieber, einfach im Garten herumzuliegen und zu lesen, als ständig was zu unternehmen.« Mit dem Handrücken wischt sie sich ein paar Haare aus dem Gesicht. »Unsere Eltern sind früher immer an denselben Ort gereist. Inzwischen sind sie unternehmungslustiger geworden.«
Ich lächele in Isabels Richtung und versuche, in ihrem Gesicht etwas zu entdecken, das mir bekannt vorkommt. »Haben wir Federball gespielt?«, frage ich, weil es zwischen den dunklen Flecken in meinen Erinnerungen ein Mädchen gibt. Ein Mädchen und einen Jungen, ebenso blond wie Isabels Tochter, und eine Picknickdecke in einem Garten, das Geräusch von Federbällen, die auf Schläger treffen.
»Ja, oben beim Wald. Und Karten. Deine Oma hat uns Rommé beigebracht. Manchmal sind wir mit meinen Eltern an einen See gefahren.«
»Rommé, stimmt. Das war das einzige Spiel, das sie mochte. Sonst hat sie kaum gespielt.« Ich erinnere mich nicht daran, viel Zeit mit ihr verbracht zu haben. Vielleicht hätte ich das tun sollen, als es noch möglich war. Ganz sicher hätte ich das.
»Einmal haben wir zusammen eine Hütte im Wald gebaut. Siegfried hat uns gezeigt, wie es geht.«
»Kannst du das noch?«
»Waldhütten bauen?« Nachdenklich legt sie das Messer beiseite. »Wahrscheinlich schon. Ich sollte Elias überreden, dass wir das mal zusammen mit Mia ausprobieren. Er weiß bestimmt noch genau, wie das geht. Solche Dinge merkt er sich ewig.«
Isabel öffnet eine Packung Feta, hält jedoch inne, bevor sie den Käse zu schneiden beginnt. »Isst du Milchprodukte?«, fragt sie.
»Milchprodukte ja, wenn auch nicht viel, Fleisch gar nicht.«
»Wie ich«, antwortet sie und lächelt wieder dieses offene Lächeln.
Zwanzig Minuten später ist der Salat fertig. Wir essen draußen, das Licht ist noch warm und hell, ein Sommerabend, der sich endlos anfühlt, als könne nie mehr Winter werden. Die wenigen Erinnerungen, die ich an den Ort habe, sind voller Sonnenschein und kurzer Kleidung. Vielleicht ist das hier so, dass der Winter niemals kommt.
Kapitel 2
»Am besten zeige ich dir jetzt Siegfrieds Haus«, sagt Isabel, nachdem wir die Spülmaschine eingeräumt haben. »In einer halben Stunde muss ich Mia ins Bett bringen.«
»Du kannst mir einfach sagen, wo es ist. Weit kann der Weg ja nicht sein.«
Die Haustür wird geöffnet und fällt wieder ins Schloss, Mias Schritte tapsen die Treppe hinunter. »Eli, ich habe einen Drachen gebastelt. Aus Knete!«, sagt sie, zum ersten Mal höre ich ihre Stimme. Das ganze Abendessen über hat sie mich nur stumm angesehen, während sie ihren Salat weggepickt hat. Immer nur ein einzelnes Gemüsestück landete in ihrem Mund, nie mehr, den Feta hat sie sich bis zum Schluss aufgehoben.
»Wow, großartig. Zeig ihn mir gleich, ja? Ich will nur erst deiner Mama Hallo sagen.« Elias betritt die Küche, die Haare genauso weizenblond wie Mias, blaugraue Augen wie seine Schwester und seine Nichte.
»Oh, wir haben Besuch. Hallo.« Kurz flammt ein Lächeln auf, er nickt mir zu und umarmt dann Isabel.
»Elias, das ist Alina, Siegfrieds Enkelin.«
»Siegfrieds Enkelin«, wiederholt er und mustert mich. »Ich hätte dich nicht erkannt, glaube ich. Siegfried hat gar nicht erzählt, dass du ihn besuchst.«
»Er weiß es auch noch nicht.« Laut ausgesprochen, klingt das Ganze noch dämlicher, als es sich ohnehin schon anfühlt. Die Befürchtung, er könnte mich einfach davonschicken, wird immer größer, eigentlich hat er keinen Grund, sich über meinen Besuch zu freuen. Nicht nach all den Jahren. Nicht nachdem ich mich so lange kaum gefragt habe, wie es ihm überhaupt geht.
Offenbar sieht Elias das ähnlich. Ohne weitere Worte wendet er sich ab und folgt Mia, die schweigend im Türrahmen gewartet hat, nach oben.
»Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe«, murmele ich, mehr zu mir selbst als zu Isabel, die trotzdem eine Hand auf meinen Rücken legt.
»Irgendwas wirst du dir dabei schon gedacht haben.« Eine Frage schwingt in ihrer Bemerkung mit, und für einen Moment bin ich tatsächlich versucht, ihr alles zu erzählen, halte die Worte dann aber zurück.
»Ihr versteht euch gut, oder? Dein Bruder und du?«
»Klar, sonst würden wir kaum zusammenwohnen.« Sie zieht das Haargummi aus ihrem Pferdeschwanz und bindet ihn neu.
Bevor ich noch mehr sagen kann, brüllt Mia in einer Lautstärke von oben, die ich ihr nicht zugetraut hätte. »MAMA!«
Mit einem entschuldigenden Blick verlässt Isabel die Küche. Ich schaue aus dem Fenster in den Garten, den die frühe Abendsonne mit einem warmen Gelborgange übergießt. Gerade als ich in den Flur gehe, um mein Gepäck zu holen, kommt Elias die Treppe herunter.
»Isabel sagt, du weißt gar nicht, wo dein Großvater jetzt wohnt?«
»Nein. Er … Wir haben nicht so viel Kontakt.«
Elias nickt, als wüsste er das bereits. Am Fuße der Treppe bleibt er stehen. »Ich bringe dich schnell. Mia muss jetzt ins Bett. Siegfried ist aber sicher noch unterwegs.«
Ich frage nicht, wo genau mein Großvater unterwegs ist und was er da macht bei den Bibern, ohne Handy. All das kann ich ihn selbst fragen, sofern er überhaupt mit mir reden will. Was ich mache, wenn er das nicht tut, wenn ich einfach wieder nach Hause fahren muss, dorthin, wo es kein Zuhause mehr gibt, darüber will ich nicht weiter nachdenken.
Der Koffer rattert hinter uns her, als ich Elias die Straße zurück in Richtung Busstation folge. Diesmal biegen wir auf einen anderen Weg ab, er führt einen Hügel hinauf in den Wald hinein. Ein braunes Schild weist Richtung Zoo, wieder spüre ich, wie sich eine Erinnerung in mir bewegt, das Bild eines kleinen Äffchens, das munter außerhalb seines Käfigs herumturnt.
»Soll ich deinen Koffer nehmen?«, fragt Elias.
»Geht schon, der rollt hier ganz gut.«
Für eine Weile schweigen wir, nur das Poltern des Koffers begleitet uns. War dieses Dorf schon immer so klein? In den Ferien war es meine ganze Welt.
»Wie lange wohnt ihr schon hier?«, frage ich schließlich, um die Stille zwischen uns zu füllen.
»Noch nicht so lange. Siegfrieds Haus haben wir vor drei Jahren gekauft.«
»Wo hast du vorher gewohnt?«
»In Berlin.«
Isabel hätte ich vielleicht weiter ausgefragt, doch Elias’ Schweigen ist dicht und betont, eine Mauer, hinter der ich nichts zu suchen habe. Deshalb frage ich nicht weiter, sondern ertrage dieses Schweigen, bis er ein, zwei Minuten später vor einem großen Grundstück stehen bleibt.
»Hier ist es schon.« Links von uns beginnen die ersten Ausläufer des Waldes, rechts vom Weg schmiegt sich das Grundstück an die Straße. Auf einer umzäunten Fläche picken ein paar Hühner auf dunkler Erde herum. Von dem zurückgesetzten zweietagigen Wohngebäude blättert bereits der graubraune Putz, eine Renovierung würde dem Haus guttun. Man könnte eine Villa daraus machen mit hübschem Garten – optimale Ruhelage, gute Verkehrsanbindung. Ich sollte Maklerin werden.
»Hier wohnt er jetzt?«, frage ich, nachdem ich den ersten Eindruck verarbeitet habe. »Ich hätte gedacht, er hat das Haus verkauft, um weniger zu tun zu haben, nicht dreimal so viel.«
»Das war nicht der Grund«, antwortet Elias. »Das Gartentor ist meistens offen, geh einfach rein. Der Schlüssel zur Hintertür ist in der kleinen Laterne versteckt, die neben dem Eingang hängt.« Er redet dicht an mir vorbei, als spräche er mit einem der Bäume hinter mir. Etwas leiser fügt er hinzu: »Siegfried hat panische Angst davor, unbemerkt zu sterben und erst drei Wochen später gefunden zu werden. Deshalb wissen ein paar Leute aus dem Ort, wie man ins Haus kommt.«
Etwas sticht in meinem Magen, aber ich sage nichts, nicke nur stumm.
»Du kommst zurecht?« Für einen Moment trifft mich sein Blick, mit einem Mal wirkt er offen und fragend, doch dann verabschiedet sich Elias knapp und läuft die Straße wieder zurück.
Durch das Tor betrete ich den weitläufigen Garten. Hinter dem kleinen Häuschen rechts von mir, wahrscheinlich eine Art solide gebauter Schuppen, erstreckt sich das Grundstück sogar noch weiter, als ich auf den ersten Blick vermutet hätte. Überall stehen Obstbäume – Kirschen, Äpfel, Birnen, Zwetschgen –, es gibt ein paar Hochbeete und neben dem Hintereingang, den ich nach einer halben Umrundung des Gebäudes entdecke, einige Töpfe mit Kräutern. Erst erwäge ich, tatsächlich das Haus zu betreten, gehe dann jedoch zurück zum Vordereingang und lasse mich auf den Stufen nieder. Letztlich ist es das Zuhause eines Fremden, daran ändert auch die Blutsverwandtschaft nichts, und vor allem will ich meinen Großvater nicht erschrecken, indem ich unerwartet in seinem Wohnzimmer sitze. Die ganze Fahrt über habe ich versucht, mir eine Begrüßung zu überlegen, aber noch immer nicht die richtigen Worte gefunden. Wie begrüßt man jemanden, der einem als Kind so wichtig war, der danach aber einfach aus dem eigenen Leben verschwunden ist? Wie begrüßt man jemanden, den man trotz allem fast vergessen hat?
Aus meinem Rucksack hole ich das Handy. Der Empfang ist schlecht, trotzdem zeigt es mir zwei verpasste Anrufe an, beide von meiner Mutter. Natürlich, wir telefonieren jeden zweiten Freitagabend miteinander. Vor ein paar Jahren haben wir das so eingeführt, nachdem sie sich mehrmals darüber beschwert hatte, dass ich mich so selten melde.
Ich starre auf ihren Namen, kämpfe gegen das Gefühl an, das immer stärker in mir brodelt. Sie wird zu Hause angerufen und mit Fabian gesprochen haben. Das Zuhause, das nur noch seins ist. Sie wird wissen, dass wir uns getrennt haben, sie wird tausend Fragen zu dem Thema haben, ganz besonders zu dem Warum, und das ist das Letzte, worüber ich mit ihr reden will.
Eine Textnachricht geht ein, dafür reichen meine mobilen Daten offenbar aus.
Kind, wo bist du? Wie geht es dir? Melde dich bitte, ich mache mir Sorgen.
Schweigend lese ich ihre Worte, versuche zu ergründen, ob sie sich wirklich ernsthaft Sorgen macht oder einfach nur mehr erfahren möchte, so wie sie immer mehr zu allem erfahren möchte, als ich bereit bin, ihr zu erzählen. Komisch, wie sich solche Dinge ändern. Früher hätte ich ihr alles erzählt, nur damit sie mir zuhört. Heute nicht mehr. Heute schreibe ich ihr nur ein Keine Sorge, mir geht’s gut und denke an den französischen Film mit diesem Titel, der erste Film, den Fabian und ich gemeinsam angesehen haben, nachdem wir ein Paar geworden waren. Eigentlich hätte ich schon ahnen müssen, dass wir nicht zusammenpassen, als er nach zehn Minuten einschlief, während ich gebannt jeder Sekunde folgte und hinterher wochenlang die gesamte Filmmusik in Dauerschleife hörte. Nicht mal die mochte Fabian. Vielleicht habe ich es auch geahnt. Vielleicht dachte ich nur, dass man immer eine Weile braucht, bis man zusammengewachsen ist.
Das Quietschen des Tores reißt mich aus meinen Gedanken. Sofort stehe ich auf und blicke dem Mann entgegen, von dem ich nicht weiß, ob ich ihn auf der Straße erkannt hätte, ob er sich sehr verändert hat oder fast gar nicht. Vermutlich ist er früher etwas schneller gelaufen und hatte mehr Haare, auch wenn die, da zumindest bin ich mir sicher, schon damals grau gewesen sind.
Erst jetzt frage ich mich, ob er mich überhaupt erkennt. Das zwölfjährige Mädchen und ich, wir haben nicht mehr viel miteinander gemeinsam.
Ein paar Meter von mir entfernt hält er inne und mustert mich durch seine große Brille mit den runden Gläsern. In seinem Gesicht verändert sich etwas, eine Weichheit in seinen Zügen, die sofort wieder verschwindet. »Wenn du dir nicht selbst ähnlich sehen würdest, hätte ich dich für eine Einbrecherin gehalten«, sagt er. Seine Stimme klingt genauso wie in meiner Erinnerung, leicht rau, als müsste er sich gleich räuspern. Sie kitzelt in meinem Herzen und in meinem Kopf, da, wo gerade die Bilder von unseren gemütlichen Vorleseabenden kreisen, bei denen ich regelmäßig auf dem Sofa eingeschlafen bin, Bilder von einem Garten, vom Wald und davon, wie wir durch ihn hindurchliefen und er mir etwas über Tiere und Pflanzen erzählte. Wie viel Vergangenheit ich einfach wieder vergessen habe, so viel Zeit, die keine Spuren in mir hinterlässt, als hätte ich diese Momente nie gelebt.
»Ich sehe mir gar nicht so ähnlich«, sage ich. Ich war zwar schon als Kind schlaksig, doch ich hatte borstige braune Haare wie Ronja Räubertochter und nicht den erleichternd einfachen Pixie Cut, den ich seit ein paar Wochen trage, und die Micky-Maus-Shirts habe ich schon lange gegen einen eleganteren Kleidungsstil ausgetauscht.
»Ähnlich genug.« Sein Blick fällt auf meinen Rucksack, dann auf den Koffer, der größte, den ich besitze, denn immerhin wusste ich gestern nicht, wann ich das nächste Mal die Wohnung betreten würde, um meine Sachen zu packen. Um all meinen Besitz von Fabians zu trennen, selbst den aus den letzten beiden Jahren des Zusammenlebens, Besitz, der eigentlich untrennbar ist.
»Du bleibst wohl länger?«, fragt mein Großvater, geht an mir vorbei die Treppe hinauf und öffnet die Haustür.
»Ja, na ja. Je nachdem …«
Er sagt nichts, betritt nur das Haus und lässt die Tür geöffnet, also trage ich mein Gepäck hinein und stelle es vorerst im Eingangsbereich ab. Eine breite Treppe führt in die obere Etage, die Wände sind mit einem verblichenen Rosenmuster tapeziert. Links weist eine Doppeltür in das Wohnzimmer, das ich durch die Glasscheiben hindurch erkennen kann, auf der rechten Seite gehen zwei dunkle Holztüren vom Flur ab. Die Luft ist kühl hier drinnen, deutlich kälter als draußen. Nach kurzem Blick auf das zwar etwas zerkratzte, aber sonst noch recht ordentliche Parkett streife ich die Sandalen ab und folge Siegfried in die Küche, die trotz der haselnussbraunen altmodischen Holzmöbel hell und freundlich wirkt. In einem großen Wandregal sind gefüllte Einweggläser aufgereiht, büschelweise getrocknete Kräuter hängen an den Seiten. Auf dem Tisch liegt ein Laib Brot auf einem Brett, daneben ein Messer, und in der Spüle vor einem der großen Rundbogenfenster stapeln sich ein paar benutzte Teller und eine Tasse. Neben einer weiteren Tür, die wohl hinaus in den Garten führt, steht tatsächlich eine Kochhexe in der Ecke. Alles wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen. Der Wasserkocher, den Siegfried jetzt einschaltet, und einige andere Geräte zerstören die verwunschene Atmosphäre allerdings wieder.
»Kann ich dir helfen?«, frage ich.
»Ja. Setz dich und sag mir, was für einen Tee du trinken willst.«
»Kräutertee?«, erwidere ich vorsichtig. Ich will eigentlich keine weiteren Umstände machen, dass ich hier einfach so aufgetaucht bin, ist Umstand genug. Unschlüssig bleibe ich stehen, würde gern wenigstens Tassen herausnehmen, wie ich das in jedem Haushalt tun würde, den ich ein bisschen kenne, doch diesen Haushalt kenne ich nicht. Schließlich lasse ich mich auf einem der vier Stühle nieder.
Mein Großvater bröselt Kräuter aus verschiedenen Gläsern in ein Sieb, bevor er das kochende Wasser aufgießt und die Kanne neben das Brotbrett stellt.
»Ich war vorhin in eurem alten Haus. Ich habe es sofort wiedergefunden.«
Sein Blick streift mich, bevor er aus einem Schrank zwei Teegläser nimmt.
»Es hatte zu viele Erinnerungen.« Er setzt die Gläser ab, stellt Butter, Käse und Teller dazu und zieht sich ebenfalls einen Stuhl heran.
»Elias sagte, du hast das Haus erst vor ein paar Jahren verkauft.«
»Das stimmt. Ich habe lange gebraucht, um mich davon zu trennen.« Sein Blick schweift durch die Küche, bevor er wieder auf die Teekanne fällt. »Ich hatte das Gefühl, ich würde sie dort allein zurücklassen.«
Zu gern wüsste ich, womit er die Leerstellen in seinem Alltag füllt. Ob sie schmerzen, immer noch, ob es ihm trotzdem gut geht, doch auch das ist eine der Fragen, die ich zu den anderen schiebe. Für ein Irgendwann, zu dem es wahrscheinlich nie kommt, weil all das hier eine dumme Idee war, ein spontaner Entschluss aus einem Moment heraus, in dem keine andere Option wirklich Sinn ergeben hat. Ich reagiere nicht gut auf solche Momente. Morgen werde ich wieder abreisen und meine Dinge zu Hause regeln, entweder in meinen Job zurückkehren oder mir einen anderen suchen.
»Meine Mutter hat mir damals nicht erzählt, dass Oma gestorben ist«, sage ich leise. »Erst viel später, als die Beerdigung schon vorbei war. Sonst hätte ich sie überredet herzukommen.«
Siegfried nickt sanft. »Das habe ich mir fast gedacht.« Er gießt Tee in die beiden Gläser und schneidet sich eine Scheibe Brot ab. Wir trinken schweigend, was sich nicht einmal unangenehm anfühlt. Wie ein Nachdenken zum anderen hin, ein lautloses Gespräch, bis einer von uns die richtigen Worte findet.
»Kann ich bei dir bleiben?«, frage ich, meinen Tee habe ich ausgetrunken.
»Ja«, erwidert er schlicht, ohne zu fragen, wie lange ich denn bleiben will. Er lächelt ein warmes Lächeln bis in seine braunen Augen hinein, ein Lächeln, das so wirkt, als wüsste er Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. »Oben gibt es ein paar ungenutzte Zimmer. Nimm dir das, in dem das Bett steht.«
»Wieso hast du dir so ein großes Haus gekauft und kein kleineres?«
Sein Gesichtsausdruck wird wieder ernst. »Es gab nicht viel Auswahl. Ich wollte nicht aus dem Ort weg, nur aus dem Haus. Und das hier war das einzige Grundstück, das zum Verkauf stand. Also habe ich es genommen.«
Er muss in seinem Beruf als Forstbotaniker ganz gut verdient haben. War er überhaupt Forstbotaniker? Meine Großmutter war Krankenschwester, das weiß ich zumindest noch recht sicher.
Nach der zweiten Tasse Tee spüle ich das Geschirr ab, auch wenn Siegfried mehrmals betont, dass er das erledigen kann. Irgendwann gibt er nach und setzt sich wieder. »Du redest weniger als früher«, stellt er schließlich fest.
»Erwachsene reden meistens weniger als Kinder.«
»Ich bin nicht sicher, ob das stimmt.« Er steht auf, verstaut das Brot in einer Blechdose, die er aus einem Schrank nimmt.
»Ist das selbst gebacken?«, frage ich.
»Elias und andere Nachbarn bringen mir ab und zu Essen vorbei. Manchmal backe ich aber auch selbst.«
Ich stelle den letzten Teller in dem Abtropfgestell ab und ziehe den Stöpsel, um das Wasser abfließen zu lassen.
»Wenn du magst, sieh dich ein bisschen um. Ich muss mich noch um den Garten kümmern«, sagt er, bevor er die Tür nach draußen öffnet.
»Okay.« Meine Antwort hört er schon nicht mehr.
Nachdem ich die Spüle ausgewischt habe, schaue ich mir in Ruhe das Haus an. Selbst für eine vierköpfige Familie wäre hier ausreichend Platz. Das Wohnzimmer ist riesig und nicht ansatzweise vollgestellt, obwohl die Bücherwand, der Kamin mit der alten Sofagarnitur davor und die Buffetschränke einen normal großen Wohnraum komplett einnehmen würden. In einer Ecke thront ein Fernseher, davor ein einzelner Sessel, der trotz der Schirmstehlampe und dem mit Büchern beladenen Tisch daneben etwas verloren wirkt. In mir zieht sich etwas zusammen. Rasch wende ich den Blick ab und laufe ans andere Ende des Raumes zu einem hübschen Erker mit vier Fenstern, durch die warm indirektes Abendlicht schimmert. Auch hier stehen ein Sessel, ein grüner, und ein schmales Bücherregal. Es muss derselbe sein wie der, der früher in dem alten Haus im Wohnzimmer stand. Siegfried und sein Sessel und ein Buch oder die Tageszeitung, diese Sachen bildeten eine nahezu untrennbare Einheit.
Anders als in der Fernsehecke umfängt mich hier warme Gemütlichkeit. Augenblicklich verspüre ich den Wunsch, mich an den dunklen Holzschreibtisch zu setzen und ein paar Notizen oder Gedanken aufzuschreiben, einfach einen Moment in dieser konzentrierten Stille zu verweilen. Doch dann gehe ich in den Flur zurück, nehme meinen Koffer und wuchte ihn die Holztreppe nach oben. Ein Bad gibt es in beiden Etagen, aber hier oben ist nur ein Zimmer vollständig eingerichtet. In einem weiteren lagern ein Klavier und ein paar Kisten, zwei stehen komplett leer, und ein fünftes beherbergt immerhin ein Doppelbett und eine Kommode und zwei Glastüren, die auf einen kleinen Balkon weisen. Das wird wohl für mich reichen.
In einer Kammer unten im Erdgeschoss finde ich Putzzeug. Während die Sonne hinter den Bäumen im Horizont versinkt, wische ich den Staub von den Möbeln und reinige den Boden, schüttle das Bettzeug auf und beziehe es neu. Wirklich behaglich wirkt der Raum mit der alten Tapete zwar trotzdem nicht, aber ich bleibe ja nur für eine Nacht und habe auch nicht das Hilton erwartet.
Nachdem ich meine Putzaktion beendet habe, trete ich hinaus auf den Balkon, der sich direkt über dem Hauseingang befindet. Möbel gibt es hier leider nicht, weshalb ich mich auf die angeschlagenen Steinfliesen setze und die milde Abendluft atme. Ich hole mein Handy hervor und schreibe meiner besten Freundin Meike eine Nachricht, dass ich angekommen bin. Dass es nach Sommerwald riecht und es so still ist wie sonst nirgendwo. Gestern Abend haben wir lange telefoniert, nachdem ich müde und verheult ein Hotel gefunden hatte, und hätte sie nicht gesagt, ich solle einfach hierherfahren, vielleicht hätte ich es gar nicht gemacht.
Durch die Streben des Geländers beobachte ich meinen Großvater dabei, wie er mit den Hühnern spricht, bevor er sie in den Stall lockt und das Gatter wieder sicher verschließt.
Als er aufblickt, winke ich ihm zu. Mit einem Lächeln winkt er zurück, und auch das ist wie eines dieser Bilder aus einer längst vergangenen Zeit. Ein alter Mann und seine Hühner, die beginnende Nacht, und alles, was ich über diesen Menschen weiß, hat mit dem Heute nichts mehr zu tun.
Kapitel 3
Der Morgen arbeitet sich mit dunstigem Licht und dem Gesang Tausender Vögel ins Zimmer vor. Obwohl ich etwas früher ins Bett gegangen bin, als ich es gewohnt bin, bin ich sofort eingeschlafen und kein einziges Mal nachts aufgewacht, wie es sonst häufig der Fall ist. Eine Weile habe ich darauf gewartet, Fabians Nähe zu vermissen, die Berührung seiner Hand unter der Bettdecke, seinen Kuss vor dem Einschlafen, doch nichts davon geschah, und erst diese Erkenntnis, dass er mir einfach nicht fehlt, weckte eine Traurigkeit in mir, die viel älter ist als unsere Beziehung. Als vermisste ich etwas anderes, von dem ich nicht fassen konnte, was.
Nach einem Blick auf mein Handy krieche ich unter der Bettdecke hervor und laufe über den Holzboden zum geöffneten Fenster. Dünne Wolkenschleier verhängen den Himmel, mein Großvater wandert bereits im Garten herum.
Für einen Moment genieße ich noch den Blick ins Grüne, bevor ich eine der Tai-Chi-Grundpositionen einnehme. Mit geschlossenen Augen konzentriere ich mich auf meinen Körper, bis die Gedanken der letzten Tage immer tiefer sinken. Im Kopf gehe ich die Form durch, einmal, zweimal, beim dritten Mal beginnt mein Körper fast von allein. Ich fühle mich komplett im Gleichgewicht, während die einzelnen Sequenzen ineinandergleiten, und obwohl ich diese Übung schon hundertmal gemacht habe, bleibe ich vollkommen auf meinen Körper und die Bewegungsabläufe fokussiert. Nach einer kurzen Pause beginne ich von vorn, setze mich danach auf den Boden und atme gleichmäßig ein und aus.
Normalerweise treffe ich mich samstags mit meiner Tai-Chi-Gruppe im Studio oder im Park, sofern das Wetter es zulässt, doch da das gemeinsame Üben und der anschließende Cappuccino in unserem Stammcafé heute ausfällt, absolviere ich das Programm eben allein. Ich habe in unseren Gruppenchat geschrieben, dass ich heute nicht komme. Niemand hat nachgefragt, wieso nicht. Insgesamt bin ich zu häufig nicht hingegangen, wenn ich am Wochenende arbeiten musste, sodass ich eigentlich keinen von ihnen wirklich kenne.
Mit einem Handtuch, das ich gestern zusammen mit der Bettwäsche aus der Kammer genommen habe, verschwinde ich im Bad. Wenigstens das wurde in den letzten zwanzig Jahren wohl saniert. Mit Ausnahme von Kalkablagerungen, die ziemlich hartnäckig aussehen, und dunkel gewordenen Silikonabdichtungen wirkt es noch annehmbar frisch, die weißen Badmöbel in Holzoptik mit dem eingelassenen Waschbecken scheinen sogar recht neu zu sein. Nur die frei stehende Badewanne hat etwas Antiquiertes. Wider Erwarten kommt aus dem Duschkopf fast sofort warmes Wasser. Ich wasche mir die Haare, trockne mich ab und blicke dabei durch das winzige Fenster auf das Nachbargrundstück, auf dem nur ein kleiner Bungalow steht. Niemand ist zu sehen. In meinem Zimmer schlüpfe ich in ein frisches Shirt und eine Leinenhose, bevor ich nach unten gehe, wo es bereits nach Kaffee duftet und klassische Musik aus einem alten Radio dudelt.
»Guten Morgen«, begrüße ich meinen Großvater, der mich erschrocken ansieht. Erst nach ein paar Sekunden entspannen sich seine Gesichtszüge. »Du hast vergessen, dass ich hier bin, stimmts?« Ich nehme mir selbst einen Kaffeebecher aus dem Schrank und gieße mir etwas von dem schwarzen Filtergebräu ein. Besser als gar kein Kaffee. Der Gedanke, wieder nach Frankfurt zurückkehren zu müssen, nagt wie eine unangenehme Pflicht an mir.
»Nicht vergessen, nein. Ich habe nur nicht daran gedacht.« Sein Lächeln wirkt entschuldigend. »Ich bin es nicht mehr gewohnt, dass sich noch jemand im Haus aufhält.«
Schweigend nippe ich an dem Kaffee, den man nur mit viel gutem Willen als solchen bezeichnen kann. Sollte ich mich dazu entschließen, länger zu bleiben, werde ich wohl irgendwo eine French Press auftreiben müssen. »Hast du eigentlich ein Auto, oder fährst du mit dem Bus, wenn du irgendwohin musst?«, frage ich, weil es das Einfachste ist, mit den Alltagsfragen zu beginnen.
»Meistens nimmt mich jemand mit. Ich muss solche Dinge nur vorher absprechen. Manchmal nehme ich auch das Fahrrad, wenn es nicht gerade kaputt ist, oder auch den Bus.«
»Das Fahrrad?« Derart überrascht wollte ich nicht klingen, denn insgesamt wirkt Großvater deutlich rüstiger, als ich gedacht hätte. Immerhin ist er bereits über achtzig Jahre alt, und Fahrradfahren erfordert nun mal einiges an Koordination, Gleichgewicht und schneller Reaktionsfähigkeit. Ich verbiete mir den Gedanken daran, was alles schon hätte passieren können. Unfälle und Folgen, die ich wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen hätte.
»Ja. Mein Auto habe ich vor einigen Jahren verkauft, nachdem es einen Motorschaden hatte.« Siegfried setzt sich an den Holztisch, der bereits für das Frühstück gedeckt ist. »Ein neues hätte sich nicht gelohnt. So oft brauche ich es nicht.«
Unentschlossen bleibe ich an die Spüle gelehnt stehen. Nach all den Jahren fällt es mir schwer, völlig selbstverständlich am Alltag meines Großvaters teilzunehmen.
»Willst du nicht auch frühstücken? Es macht mich nervös, wenn du nur dastehst und mir beim Essen zusiehst.«
Ich geselle mich zu ihm, obwohl ich selten direkt nach dem Aufstehen frühstücke. Im Büro haben wir eine kleine Teeküche, in der ich normalerweise vormittags schnell etwas esse, sobald sich dafür eine Lücke ergibt.
»Willst du mir erzählen, wieso du hier bist?«, fragt Siegfried nach einigen Momenten des Schweigens. Die ruhige, fast monotone Stimme des Moderators aus dem Radio füllt den Raum, als er das nächste Stück ankündigt.
»Ich … Mein Freund hat sich von mir getrennt, und deshalb bin ich gerade obdachlos.«
Großvater mustert mich. Er könnte mir Vorwürfe machen, weil ich mich nicht angekündigt habe, er könnte darauf hinweisen, wie merkwürdig es ist, in meiner aktuellen Situation ausgerechnet bei ihm aufzukreuzen. Stattdessen wartet er nur ruhig auf meine Erklärung, denn dieser eine Satz, das ist mir klar, ist noch lange keine.
Mit einem Seufzen umklammere ich meine Tasse. »Es ist ein bisschen schwierig. Der Streit zwischen uns ist ausgeartet, also hat er mich aus der Wohnung geschmissen. Ich wusste nicht, wohin. Oder, na ja, vielleicht wollte ich einfach hierher. Ich weiß selbst nicht, wieso eigentlich.«
Siegfried legt seine Hand auf meine, nur eine kurze Berührung. »Bleib, solange du willst«, sagt er.
»Danke.«
Das Etikett auf dem Marmeladenglas ist handbeschriftet, etwas schnörkelig, das Pflaumenmus lässt sich kaum entziffern.
Den Abwasch erledige ich, während Siegfried wieder in den Garten geht, danach folge ich ihm nach draußen und schaue mich genauer um. Die alten Fenster scheinen halbwegs gut zu schließen, aber für den Winter reicht die Einfachverglasung sicher kaum aus. Keine Ahnung, wie mein Großvater das die letzten Jahre überstanden hat. Vermutlich nur mit immensen Heizkosten und sehr vielen Pullovern. Ein kleiner Teil des Hauses ist unterkellert, der Zugang liegt hier draußen. Außer einem Hauswirtschaftsraum mit Ölkessel für die Heizung und einem weiteren, in dem Großvater Werkzeug und ein bisschen Gartenzeug lagert, befindet sich dort unten nichts.
In der Zwischenzeit hat sich der Wolkenschleier aufgelöst. Zurück im Garten bleibe ich für einen Moment in der vollen Morgensonne stehen und atme ihn ein, diesen warmen Geruch nach beginnendem Sommertag, in dem noch ein letzter Rest langsam verdunstender Nachtfeuchte wohnt. So oft bin ich den ganzen Tag im Büro gewesen und habe die Stunden vertelefoniert, selbst am Wochenende habe ich ständig hier und da etwas nach- oder vorgearbeitet, und keiner von uns, weder Fabian noch ich, konnte sich mal aufraffen, einen Ausflug vorzuschlagen, oder wenn, kam irgendetwas dazwischen. Manchmal schliefen wir mitten am Tag miteinander, aber das war auch schon das Maximum an Spontaneität, das wir uns gönnten. Abends schauten wir uns meistens einen Film an, manchmal haben wir Freunde besucht. Bis auf vielleicht zwei Ausnahmen sind wir in diesem Jahr nicht ins Grüne gefahren, nicht an einen See oder in den Wald oder gar in die Berge.
Im vorderen Teil des Gartens picken die Hühner diesmal außerhalb ihres Geheges im Freien herum, zwischen ihnen gockelt der Hahn. Sie alle haben ein blauschwarzes Gefieder, nur eine der Hennen ist weiß. Als einzige befindet sie sich in Siegfrieds Nähe. Dieser ist gerade damit beschäftigt, mit einer Handpumpe Wasser in einen verbeulten Blecheimer zu schöpfen, das er in den Hochbeeten verteilt.
»Das Huhn mag dich.«
»Das Huhn heißt Martha.«
Ich warte, ob zu dem Huhn und dem Namen eine Geschichte gehört, doch als keine folgt, sage ich: »Ich fühle mich nutzlos.«
Siegfried lässt den Pumphebel los. »Lies ein Buch«, schlägt er vor. »Oder rupf etwas Unkraut aus den Beeten. Du kannst auch das Mittagessen kochen.«
»Jetzt schon?«
Mit einem Lächeln zuckt er mit den Schultern, bevor er wieder den Griff umschließt. »Das sind nur ein paar Möglichkeiten.« Das Wasser platscht erneut in den Eimer.
Unmöglich kann ich mich jetzt einfach mit einem Buch in die Sonne legen, auch wenn das vermutlich genau das ist, was ich mir ursprünglich für meinen Aufenthalt hier vorgenommen habe. Nein, nicht vorgenommen. Maximal vorgestellt, falls ich überhaupt an irgendeinem Punkt so weit gedacht habe. Wenn, dann habe ich meinen Großvater in seinem Lesesessel vor mir gesehen. Und dieser Großvater steht jetzt hier und pumpt braunes Grundwasser aus der Erde und verteilt es auf all den Beeten, die so viel Arbeit gemacht haben müssen und immer noch machen.
»Du kannst ansonsten Johannisbeeren pflücken«, ruft er mir über das Pumpgeräusch hinweg zu. »Die ersten Brombeeren dürften auch schon reif sein.«
Mit der Aufgabe kann ich mich anfreunden. Ich hole einen Korb aus der Küche und ernte dicht hängende rote Johannisbeeren von zwei Sträuchern und ein paar wenige süße Brombeeren und stelle mir vor, dass ich das auch früher gemacht habe, in dem anderen Garten, auch wenn ich nicht sicher bin, ob es dort Obststräucher gab. Gestern sind mir zumindest keine aufgefallen.
Die Früchte, fast zwei Kilo, trage ich in die Küche. Sie erinnern mich an lange Ausflüge durch den Wald, stundenlang waren wir unterwegs, um Heidelbeeren zu sammeln. Nur mein Opa und ich und die belegten Brote, die uns Oma Christel mitgegeben hatte.
»Sind die Blaubeeren im Wald schon reif?«, frage ich meinen Großvater, der vor einer struppigen rot getigerten Katze mit nur einem Auge hockt, die bei meinem Anblick sofort Reißaus nimmt.
»Die waren dieses Jahr recht früh dran, wahrscheinlich ist es fast schon zu spät.«
Ich gehe trotzdem in den Wald. Die Stille, der Geruch von Holz und flirrender Sommerluft umfängt mich. Vielleicht hätte ich meinen Großvater fragen sollen, wo hier überhaupt Heidelbeeren wachsen, doch ich glaube, weit mussten wir in diesem Wald voller Kiefern nie laufen. Von der Asphaltstraße biege ich ab in einen Forstweg. Mein Herz pocht aufgeregt, völlig ohne Grund. Ab und zu bleibe ich stehen, betrachte das durch die Baumkronen hindurchblitzende Sonnenlicht, beobachte ein Eichhörnchen und ein paar Vögel, auch wenn die meisten nur Amseln und Spatzen sind. Immer wieder huschen Mäuse durch das Laub. Mit einem Stöckchen drehe ich einen blau glänzenden Mistkäfer um, der hilflos auf dem Rücken liegend wie in Zeitlupe mit den Beinen zappelt. An einer der Kiefern bleibe ich stehen, lege die Hand auf den Stamm, wie ich es früher manchmal gemacht habe.
»Wie isst ein Baum?«, habe ich Großvater gefragt.
»Er nimmt Wasser und andere Stoffe aus dem Boden auf, das durch das Leitgewebe im Stamm nach oben transportiert wird. Außerdem verwandeln die Blätter bei der Fotosynthese Kohlenstoffdioxid in Zucker um.«
Ich bin mir nicht sicher, ob diese Erinnerung real ist oder ob ich sie mir nur einbilde, weil mein Großvater und der Wald in Bereichen meiner Vergangenheit herumwühlen, die ich schon lange nicht mehr berührt habe. Falls sie es ist, falls wir dieses Gespräch einmal geführt haben, habe ich mir bestimmt vorgestellt, dass das Wasser und die darin gelösten Mineralien durch das Xylem rauschen wie Blut durch unsere Adern, und vielleicht habe ich geglaubt, es tatsächlich zu spüren. Den Herzschlag des Baumes, auch wenn er nicht wirklich einen besitzt. Es muss ewig her sein, seit ich mir das letzte Mal die Zeit genommen habe, durch einen Wald zu spazieren und Heidelbeeren zu ernten. Wahrscheinlich war es sogar mit ihm, mit Siegfried, in genau diesem Waldstück, wo sie sich weit zwischen den Bäumen erstrecken, eine Wiese aus niedrigen grünen Sträuchern, deren winzige Früchte man ein wenig suchen muss. Ich knie mich hin, koste ein paar und ernte die anderen für später. Es fühlt sich ein wenig seltsam an, nicht meinem gewohnten Tagesablauf zu folgen. Ich sitze nicht am Schreibtisch, um Aufträge abzuarbeiten, und bespreche nicht mit Fabian, was wir am Abend kochen wollen. Stattdessen pflücke ich Beeren und will momentan nichts anderes als das, in diesem Wald bleiben, mich in diese Stille fallen lassen, die alle Unruhe in mir besänftigt.
Erst als das Eimerchen, das ich zum Beerensammeln mitgenommen habe, fast voll ist, stehe ich wieder auf und blicke mich um. Die Orientierung habe ich verloren, den Pfad, auf dem ich hergekommen bin, auch. Ich werde trotzdem zurückfinden. Zwischen den Bäumen suche ich nach einem Weg, als mein Blick an einem Zelt aus Ästen hängen bleibt. Genau solch einem, wie wir sie früher gebaut haben, Isabel, Elias und ich, zusammen mit meinem Großvater. Merkwürdig, wie selbstverständlich diese Erinnerung sich anfühlt, obwohl ich sie bis eben nicht mehr hatte.
Ich trete näher. Im Inneren der Hütte liegen ein paar mit Kreide bunt bemalte Steine, sonst nichts. Irgendein Kind hat hier sein Lager aufgeschlagen. Ich muss an meine Patentochter denken, die ich viel zu selten besuche, seit Meike wegen der Familienplanung und des Hauskaufs und des neuen Jobs kaum noch Zeit findet. Vielleicht bin auch ich diejenige, die kaum Zeit findet. Vor einem Jahr, kurz nachdem Meike und Lars umgezogen sind, habe ich sie zuletzt besucht. Zu Jills Taufe.
Ich sollte unbedingt zu ihnen fahren und mit Jill in den Wald gehen, ich sollte ihr zeigen, wie man solche Hütten baut, wie man Feuer macht, welche Früchte man essen kann, weil alle Kinder diese Dinge wissen sollten. Ein dumpfer Schmerz zieht in mir auf, ich blinzle aufsteigende Tränen davon und wende mich von der Hütte ab. Jetzt nicht. Ich kann ein anderes Mal weiter darüber nachdenken. Jill ist noch keine zwei Jahre alt, sie ist sowieso noch viel zu klein für all diese Sachen.
Als ich aus dem Wald zurückkomme, reicht das Obst zusammengenommen für einen Kuchen und ein paar kleine Gläser Marmelade. Ich suche alle Zutaten aus der Vorratskammer und bereite den Mürbeteig vor.
Gute zwei Stunden später, als mein Großvater die Küche betritt, kühlen Kuchen und Marmeladengläser auf dem Tisch ab, und auf dem Herd köcheln die Spaghetti.
Wir essen draußen an einem wackligen und verfärbten Plastiktisch. Das frische Basilikumpesto schmeckt nach Sommer und warmen Nachmittagen. Wann habe ich eigentlich zuletzt etwas selbst gemacht? Fürs Kochen war meist Fabian zuständig, weil er mit seinem Teilzeitjob als kaufmännischer Assistent viel mehr zu Hause ist als ich. Mit dieser Aufteilung sind wir ganz gut zurechtgekommen.
»Früher hat immer Oma gekocht, oder?«, frage ich. »Machst du das jetzt selbst?«
Mein Großvater lächelt auf diese warme, ansteckende Art, die viel mehr sagt als ein dreistündiges Gespräch. »Ja. Ein bisschen konnte ich auch früher schon kochen. Aber nach ihrem Tod habe ich mir noch mehr beigebracht.«
»Ganz allein?«
»Nein, nicht ganz allein. Ich hatte sehr viel Unterstützung, nachdem Christel gestorben ist. Erst haben mir Nachbarn und Bekannte Essen vorbeigebracht, später haben sie zusammen mit mir gekocht, und ich habe die Rezepte mitgeschrieben. Manchmal machen sie das immer noch. Vor allem Elias möchte mir ständig etwas Neues beibringen, aber seine Gerichte sind mir zu … stark gewürzt. Und zu exotisch.«
Ich versuche, mir Elias beim Kochen vorzustellen, doch das Bild entschlüpft mir sofort wieder, als würde er sich persönlich dagegen wehren.
»Erinnerst du dich an Isabel und Elias? Sie haben als Kinder manchmal im Ort Urlaub gemacht.« Er trinkt einen Schluck Apfelsaftschorle.
»Ja, das hat Isabel erzählt. Auch, dass wir miteinander gespielt haben. Ich erinnere mich aber nur vage.«
»Sie waren beide ruhig, im Gegensatz zu dir. Du warst ständig in Bewegung, außer wenn du gelesen hast. Ihr seid trotzdem gut miteinander zurechtgekommen. Leider wart ihr nur ein paarmal gleichzeitig in Spechthausen.«
»Du warst bestimmt auch froh, wenn ich mal beschäftigt war«, sage ich lächelnd.
Er lacht auf, ein Lachen, das genauso ruhig und zufrieden wirkt wie er selbst. Fast ist es, als würde er in Zeitlupe lachen, warten, bis der Klang sich ausbreitet und wieder in Stille versiegt. »Manchmal schon, ja. Aber du bist auch immer gern mit in den Wald gekommen, und dort warst du viel ruhiger als im Haus. Du hast alles aufgesogen, was ich dir erklärt habe, und später jedes Detail deiner Oma erzählt.« Er sagt nicht, dass ich sie damit genervt habe, doch ich bin mir fast sicher, dass es so war.
Diesmal übernimmt er den Abwasch. Ich schneide ein paar Stücke von dem Kuchen ab, lege sie auf einen Teller und laufe damit und mit einem Glas Marmelade hinüber zu Isabel, um mich für das gestrige spontane Abendessen zu bedanken.
Wolken sammeln sich in der Ferne zu dunklen Gebilden, bald wird es anfangen zu regnen. In meiner Hosentasche vibriert das Handy, auch ohne nachzusehen weiß ich, dass es meine Mutter ist. Es ist fast immer meine Mutter, wenn mich jemand anruft.
Isabel öffnet die Tür mit seltsam verschmierten Händen. »Ich war gerade beim Töpfern«, erklärt sie, bevor sie zur Seite tritt und mich hineinlässt.
»Hobby oder Beruf?«
»Hauptsächlich Hobby.«
»Was machst du dann beruflich?«
»Ich arbeite halbtags in einem Kleidungsgeschäft in Eberswalde. Nichts Spannendes.«