Unsere Stimmen bei Nacht - Franziska Fischer - E-Book

Unsere Stimmen bei Nacht E-Book

Franziska Fischer

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Beschreibung

In einer Villa im Berliner Südwesten finden sich sechs Menschen zu einer ungewöhnlichen WG zusammen – aus Geldmangel, aus Einsamkeit, auf der Suche nach einer raschen Lösung. Die fünfundfünzigjährige Gloria kocht für alle – und sie kocht hervorragend –, nur ihr griesgrämiger Ehemann Herbert war von vornherein dagegen, dass sich andere Menschen in ihrem Heim einnisten. Als Erstes Chemieprofessor Gregor mit seiner Tochter Alissa, die permanent schlecht gelaunt unter der Trennung ihrer Eltern leidet. Wenigstens reißt sich Alissa zusammen, wenn sie sich in Herberts hauseigenem Antiquariat aufhält. Dann ist da noch Jay, ein Student, der sich dagegen sträubt, die Erwartungen seiner Familie zu erfüllen, und bemüht ist, Herbert den Internetversandhandel nahezubringen. Schließlich zieht Lou-Ann, genannt Lou, in die Villa ein. Mit Mitte dreißig hätte sie längst irgendwo ankommen müssen, doch stattdessen ist in ihrem Leben alles ungeplant und unfertig. Vielleicht ist sie gerade deshalb diejenige, die all die um sich selbst kreiselnden Gestalten zusammenbringt. Etwas verschiebt sich in dem Gefüge. Die Zweckgemeinschaft wird zur Wahlfamilie, aber das Konstrukt ist zerbrechlich.

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In einer Villa im Berliner Südwesten finden sich sechs Menschen zu einer ungewöhnlichen WG zusammen – aus Geldmangel, aus Einsamkeit, auf der Suche nach einer raschen Lösung. Die fünfundfünzigjährige Gloria kocht für alle – und sie kocht hervorragend –, nur ihr griesgrämiger Ehemann Herbert war von vornherein dagegen, dass sich andere Menschen in ihrem Heim einnisten. Als Erstes Chemieprofessor Gregor mit seiner Tochter Alissa, die permanent schlecht gelaunt unter der Trennung ihrer Eltern leidet. Wenigstens reißt sich Alissa zusammen, wenn sie sich in Herberts hauseigenem Antiquariat aufhält. Dann ist da noch Jay, ein Student, der sich dagegen sträubt, die Erwartungen seiner Familie zu erfüllen, und bemüht ist, Herbert den Internetversandhandel nahezubringen.

Schließlich zieht Lou-Ann, genannt Lou, in die Villa ein. Mit Mitte dreißig hätte sie längst irgendwo ankommen müssen, doch stattdessen ist in ihrem Leben alles ungeplant und unfertig. Vielleicht ist sie gerade deshalb diejenige, die all die um sich selbst kreiselnden Gestalten zusammenbringt. Etwas verschiebt sich in dem Gefüge. Die Zweckgemeinschaft wird zur Wahlfamilie, aber das Konstrukt ist zerbrechlich.

© Birte Filmer

Franziska Fischer wurde 1983 in Berlin geboren, hat einige Zeit im Ausland verbracht und ist mittlerweile aus der Stadt herausgezogen. Sie studierte Germanistik und Spanische Philologie an der Universität Potsdam und arbeitet als freiberufliche Autorin und Lektorin. Bei DuMont erschien zuletzt der SPIEGEL-Bestseller ›In den Wäldern der Biber‹.

Franziska Fischer

Unsere Stimmenbei Nacht

Roman

Von Franziska Fischer sind bei DuMont außerdem erschienen:

Und das Meer vor uns

In den Wäldern der Biber

eBook 2023

Copyright © 2023 by Franziska Fischer

Copyright Originalausgabe © 2023 by DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © istockphoto/ChrisGorgio, © istockphoto/Jolygon, © istockphoto/channarongsds

Satz: Angelika Kudella, Köln

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8288-5

www.dumont-buchverlag.de

Kapitel 1

Die Dämmerung klammerte sich an den schwermütigen Morgen, wie um ihn zu beschützen, und hüllte die Straße in dunstig-graues Licht. Eine Autotür wurde zu schwungvoll zugeworfen, kurz darauf startete der Motor, ein Fahrradfahrer fuhr eilig über den Asphalt. Unbeirrt von den Geräuschen des Aufbruchs lief eine junge Frau in einem zu großen Mantel an den Wohnhäusern vorbei und blieb schließlich vor einem Gartentor stehen. Aus der Manteltasche holte sie einen zerknitterten Zettel, überprüfte noch einmal die Adresse und richtete den Blick dann auf das in einem gelbstichigen Weißton gestrichene Haus. Eigentlich war es eher eine Villa, eine Villa mit zwei Etagen und eierschalenfarbener Fassade und Säulen vor dem Eingang, nicht wirklich prunkvoll und klein im Vergleich zu anderen in der Gegend. Als Lou genauer hinsah, bemerkte sie die Risse in der Fassade, sie bemerkte die Rostspuren an dem Metallzaun und das leicht schief hängende Gartentor. Mit einem hellen Quietschen schwang es nach innen.

Sachte schleiften Lous Schuhsohlen über einen Weg aus vorwiegend lapislazuliblauen Mosaiksplittern, der bis zum Haus führte. Nur kurz blieb sie stehen, um das elegante Muster zu bewundern, dann erklomm sie die Stufen zu einer breiten Eingangstür aus dunklem Holz, neben der ein großer mit Erde und den Resten einer längst verstorbenen Pflanze gefüllter Blumentopf stand. Eine halbe Sekunde bevor sie die Klingel berühren konnte, öffnete sich mit einem Mal die Tür, ein Mädchen kam heraus, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Beinahe stieß sie mit Lou zusammen, blieb aber gerade rechtzeitig stehen und schwenkte dann in einem Bogen um Lou herum, ohne den Blick von ihr zu wenden. Am Absatz der Treppe hielt sie inne, noch immer eher Lou zugewandt als dem Weg, den sie eigentlich vorhatte zu gehen, so wie fast jeden Morgen, seit einem Monat schon.

»Durch die Fenster zieht es durch, die Heizung funktioniert nur manchmal, und zwar meistens nachts, und dein Zimmer geht nach Norden raus«, sagte sie. Damit wandte sie sich ab und ging die Stufen hinunter. Ihr vollgestopfter schwarzer Rucksack lag schwer auf ihren Schultern.

»Was?« Lous Blick war dem Mädchen gefolgt.

Am Gartentor hielt Alissa inne und drehte sich noch einmal um. »Dein Zimmer. Deshalb bist du doch hier, oder?« Die olivefarbene Beanie betonte das helle Blond ihrer glatten langen Haare, selbst um diese Jahreszeit wirkten sie wie gerade erst von der Sonne ausgeblichen. »Such dir lieber was anderes.«

»Was anderes?«

»Ja, ein anderes Zimmer in einer anderen WG. Kann ja nicht so schwer sein.« Damit öffnete sie das Gartentor und warf Lou einen letzten Blick zu. »Das Essen ist aber ganz gut.« Nun musste sie sich wirklich beeilen, wenn sie ihren Bus noch erwischen wollte.

Immerhin, das Essen ist ganz gut, dachte Lou, und sie dachte das wie einen Slogan, wie ein Motto, das sie weitertrug. Sie betätigte die Klingel und wartete, drückte, als nichts geschah, die von dem Mädchen nur angelehnte Haustür weiter auf und rief ein »Hallo« in die dahinterliegenden Räume.

Ihre Antwort wurde verschluckt von dunkler Stille. Lou suchte im Graublau der Dämmerung nach einem Lichtschalter, löste dabei wohl einen Bewegungsmelder aus, der helle Deckenlampen entflammen ließ. Sie befand sich in einem kleinen Eingangsbereich. Durch einen offenen Durchgang war er mit dem anschließenden Zimmer verbunden, in dem es kaum etwas anderes gab als Bücher, Bücher in deckenhohen Wandregalen, in Stapeln auf Tischen und auf dem Boden und auf jedem herumstehenden Hocker, sie stand vor einer Bibliothek. Zwischen allen Möbelstücken war eben so genügend Platz, dass Lou sich hindurchquetschen könnte. Das konnte wohl kaum der richtige Weg sein. Gerade wollte sie das Haus wieder verlassen, als sie das Geräusch einer sich öffnenden Tür hörte. Kurz darauf lief eine Frau zwischen den Büchertischen hindurch auf den Eingang zu.

»Sie müssen Lou-Ann Weber sein.« Gloria streckte Lou die Hand zur Begrüßung entgegen, zog sie jedoch sofort wieder zurück. »Entschuldigen Sie, ich habe gerade Zwiebeln für das Mittagessen geschnitten.« Sie lächelte ein schmales Lächeln, das einladend hatte wirken sollen, jedoch im Entstehungsprozess ein wenig verrutschte, einfach weil Gloria für einen Moment an einen Spätsommertag vor vierzig Jahren dachte, als sie sechzehn Jahre alt und zum ersten Mal verliebt gewesen war und der Geruch der Zwiebelsuppe ihrer Mutter genau dieses Haus erfüllte, während Gloria am Fenster saß und dem zwei Jahre älteren Alain hinterherblickte. Er würde nicht mehr wiederkommen, das wusste sie damals noch nicht, aber sie ahnte es bereits.

»Jetzt schon?«, unterbrach Lou Glorias Gedanken. In dem Moment, in dem sie die Frage stellte, wurde ihr bewusst, dass sie wahrscheinlich unhöflich klang.

»Ja, Eintopf schmeckt am besten, wenn er gut durchziehen konnte.« Nun gelang Gloria das Lächeln. »Kommen Sie doch herein. Ich bin Gloria Sobrowski, wir haben miteinander telefoniert.«

»Danke. Die meisten nennen mich Lou.«

»In Ordnung, Lou.« Gloria trat ein Stück zur Seite, um ihren Gast in die Diele zu lassen. In dem gelbweißen Licht glänzten ihre von grauen Strähnen durchzogenen rotbraunen Haare wie frisch nach einer Haarkur, sie trug einen hellen Pullover und eine dunkle Jeans. Manche Menschen strahlten eine natürliche Eleganz aus, fand Lou, sie war wie eine zweite Haut, eine unsichtbare Hülle.

Hintereinander schlängelten sie sich durch zwei Räume voller Bücher und landeten erneut in einem Eingangsbereich, von dem aus eine Treppe in die obere Etage führte. Auch ohne Aufforderung streifte Lou ihre Stiefel ab und hängte ihren Mantel an einen freien Garderobenhaken, sie achtete darauf, alles ordentlich abzulegen, sodass ihre Sachen kaum zwischen denen auffielen, die schon da waren. Anschließend folgte sie Gloria in den nächsten Raum.

»Das ist unser Salon.« Gloria blieb völlig ernst, als sie das Wohnzimmer so bezeichnete, und immerhin wirkte es mit der ausladenden Sofaecke, dem gemütlichen Sessel und der antiken Schrankwand recht groß. Dominiert wurde die Einrichtung jedoch von einer Harfe, die bei den Fenstern stand. Schwaches, durch schlichte Gardinen gefiltertes Morgenlicht streichelte über den Korpus und die Saiten, es spielte stumm auf dem Instrument. Lou hatte noch nie eine echte Harfe von Nahem gesehen, und es juckte in ihren Fingerspitzen, sie wenigstens einmal zu berühren.

»Die habe ich vergessen abzudecken«, sagte Gloria und holte eine zusammengefaltete Schutzhülle vom Sofa, geradezu hastig zog sie sie über das Instrument, als müsse sie es rasch vor fremden Blicken verbergen wie ein peinliches Hobby, während sie gleichzeitig damit begann, etwas zur Geschichte des Hauses zu erzählen. »Ich weiß nicht mehr genau, wann das Haus gebaut wurde, aber es war ungefähr Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.«

Lou nickte, etwas irritiert von der zusammenhanglosen Information, sie war schließlich nicht hier, um das Anwesen zu erwerben.

Gloria beschloss, die Hülle später ordentlich zurechtzuziehen und sich jetzt auf ihre eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. »Nach dem Krieg stand das Haus eine Weile leer und ging durch diverse Hände, bis mein Großvater es in den Sechzigerjahren kaufen konnte.« Gemeinsam verließen sie den Raum und betraten einen weiteren Flur.

Lou spürte die vielen Jahrzehnte, in die sich das Haus gekleidet hatte, so viele Leben hatte es bereits beobachtet, so viele Anfänge und so vieles, das zu Ende ging.

Die an den Flur anschließende Küche wurde von angenehmer Wärme erfüllt, es roch nach Zwiebeln, und das große Bambusbrett voller geschnittenem Gemüse zeugte von der Beschäftigung, bei der Lou Gloria unterbrochen hatte.

»Die Küche haben wir vor ein paar Jahren neu machen lassen, aber wir wollten sie nicht komplett modernisieren«, fuhr Gloria fort, und Lou versuchte, aufmerksam zu bleiben, spürte dabei jedoch mit plötzlicher Wucht die Sehnsucht nach der Wärme eines Bettes, eines richtigen Bettes, nicht nach dem Schlafsofa in Mels Wohnzimmer, das auch heute wieder viel zu früh von den beiden Kindern erobert worden war. Mit beeindruckender Selbstverständlichkeit waren sie um sechs Uhr mit fünf Büchern unter ihre Decke gekrochen und hatten ihr genau erklärt, in welcher Reihenfolge diese vorgelesen werden sollten, am besten sofort, damit sie alle schafften, bevor sie zur Kita aufbrechen mussten, und Mel hatte Lou nur mit verständnisvoll-dankbarem Lächeln eine Tasse Kaffee gereicht.

Von dem Zwiebelgeruch begannen ihre Augen zu tränen.

Schlichte weiße Fliesen kleideten die Wände ein, die Fronten der Einbauküche waren aus weißem Holz mit schwarzen Knaufgriffen und verströmten den rustikalen Charme moderner Landhausküchen. Für einen Moment blieb Lous Aufmerksamkeit an dem fünfflammigen Gasherd mit den kupferfarbenen Knäufen hängen, sie hatte so einen noch nie in einem normalen Wohnhaus gesehen.

»Möchten Sie einen Kaffee?«, bot Gloria an und hoffte, dass die Fröhlichkeit in ihrer Stimme die darunterliegende Unsicherheit verbarg, obwohl Lou bei Weitem nicht die Erste war, der Gloria das Haus zeigte, ihr Haus, ihr Leben eigentlich, genau genommen war sie bereits die Vierunddreißigste. Dieses eine letzte Zimmer war das schwerste von allen, bisher war keine Person die richtige gewesen.

»Danke, gern.« Lou ließ sich an dem kleinen Tisch unter dem Fenster nieder. Die bordeauxfarbene Jalousie war hochgezogen und eröffnete freie Sicht auf den Vorgarten, nur der Rhododendron malte eine grüne Oase in die spätwinterliche Landschaft.

»Kommen Sie aus Berlin?«, fragte Gloria, während sie die wiederverwendbare Kaffeekapsel mit Kaffeepulver befüllte.

»Hm. Ja. Also, nein. Schwer zu sagen.«

Gloria wandte sich um und bedachte Lou mit einem fragenden Blick.

»Meine Eltern arbeiten beide für das Auswärtige Amt, deshalb habe ich meine Kindheit an verschiedenen Orten verbracht. Oder eigentlich größtenteils in Asien. Als ich zehn oder elf war, sind wir nach Berlin gezogen. Meine Mutter hat hier Familie. Seit ich mit der Schule fertig bin, wohne ich mal hier, mal woanders.«

Gloria nickte langsam, als könnte sie gut nachvollziehen, was Lou meinte, dabei hatte sie in ihrem ganzen Leben nur an zwei Orten gelebt. »Und wieso suchen Sie ein Zimmer?« Das Spiel des Lichts in Lous fast schulterlangen Locken erinnerte Gloria an etwas, ohne dass sie zuordnen konnte, woran.

»In den letzten Monaten war ich unterwegs und wohne seit ein paar Wochen übergangsweise bei einer Freundin.«

Gloria stellte den ersten Kaffeebecher vor Lou ab, mitternachtsblau war er, mit gelborangefarbenem Muster darauf wie ein Sternenhimmel. Wie ein Sternenhimmel betrachtet aus einer einsamen Wüste, dachte Lou, einem Ort ohne menschengemachtes Licht.

»Milch, Zucker?«

»Beides, bitte.« Dankbar umschloss sie mit den Händen die warme Tasse, während Gloria ein Milchkännchen und ein Porzellangefäß mit Zucker auf dem Tisch platzierte und sich mit ihrem Getränk auf dem Stuhl Lou gegenüber niederließ.

»Normalerweise unterhalte ich mich mit den Bewerbern erst ein bisschen, bevor ich sie durchs Haus führe«, erklärte Gloria und rührte mit dem mit filigranen Mustern versehenen Löffel in ihrer Tasse.

»Gern«, erwiderte Lou. »Wollen Sie etwas Bestimmtes wissen?« Bei allen anderen Wohnungsbesichtigungen hatte sie sich nicht darum bemüht, einen besonders guten Eindruck zu hinterlassen, meistens floss sie einfach in eine Situation hinein, doch heute wollte sie nicht wieder zu Mel zurückfahren und keine Option auf eigene vier Wände mit sich nehmen, sie wollte hierbleiben und Kaffee aus mitternachtsblauen Tassen trinken und das stumme Murmeln eines alten Hauses erkunden.

Gloria stellte den Becher ab und stand auf, um eine Karaffe aus einem der Hängeschränke zu nehmen. »Das Übliche«, antwortete sie, während Leitungswasser in die Glaskaraffe rauschte. »Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?«

»Ich … schaue immer, was ich finde. Nachdem ich von meiner letzten Reise zurückgekommen bin, habe ich recht schnell einen Job in einem Programmkino gefunden. Da habe ich früher schon mal gearbeitet. Außerdem gebe ich Streetdance-Tanzkurse für Jugendliche. Das ist zwar nicht viel, reicht aber zum Leben. Ich bin nicht so anspruchsvoll.« Der Kaffee schmeckte cremig und für ihren Geschmack ein bisschen zu mild, trotzdem trank sie mehrere Schlucke, um endlich wach zu werden. Gloria hatte diesen frühen Termin vorgeschlagen, und Lou hatte nicht wie jemand wirken wollen, deren Tag erst mittags begann. Dabei mochte sie die Stille in Mels Wohnung, wenn alle endlich gegangen waren und sie sich wieder hinlegen konnte, sie mochte es, erst dann aufzustehen, wenn der Tag schon voller Leben war.

Gloria stellte zwei Gläser neben die Karaffe und setzte sich wieder. »Was tun Sie, wenn Sie auf Reisen sind? Arbeiten Sie dann auch?«

»Ja, sonst ginge das nicht. Mal hier, mal dort, was sich eben anbietet.« Das Unerwartete liebte Lou am Reisen am meisten, all die Kurven und Abzweigungen, all die Umwege.

»Jetzt wollen Sie aber für eine Weile in Berlin bleiben?«

»Genau. Mindestens für ein Jahr. Ich suche auch noch nach anderen Jobs, vor allem würde ich gern mehr Tanzkurse geben.«

»Haben Sie das gelernt?«

»Tanzen? Ja, schon als Kind.«

Nur eines von Glorias Kindern bewegte sich auf eine ähnliche Art wie Lou, mit einer inneren Kraft, die jede Bewegung akzentuierte, es tanzte durch sein Leben wie durch einen Traum. »Wieso interessieren Sie sich ausgerechnet für dieses Zimmer?«

Lou ließ den Blick durch die Küche schweifen. »Also, wenn ich ehrlich bin, weil man für den Preis sonst kein Zimmer in einer alten Villa bekommt, und normalerweise wohnt man fast nur mit Studierenden zusammen oder Leuten, die eine Ausbildung machen. Nicht mit …«

»… alten Menschen?« Trotz der Fältchen, die Glorias Lächeln in ihr Gesicht zeichnete, und der grauen Strähnen wirkte sie mit einem Mal jünger, fast jugendlich.

»Na ja, wenn ich das richtig verstanden habe, ist das Konzept recht gemischt.«

»Ist es, ja. Mein Mann betreibt das Antiquariat vorne, der Rest des Hauses ist privat. Außer Herbert und mir wohnen hier drei weitere Leute. Mittlerweile ist aber nur noch ein Zimmer frei.«

»Und wer sind die anderen drei?«

»Leider sind sie gerade alle nicht zu Hause. Alissa geht noch zur Schule. Sie wohnt hier zusammen mit ihrem Vater, Gregor. Der ist Professor für … eine Naturwissenschaft. Ich glaube, es war Chemie. Und Johann studiert Politik.«

»Alissa habe ich vorhin kurz gesehen, glaube ich. Wohnen die anderen schon lange hier?«

»Nein. Wir haben erst vor etwa einem Monat angefangen, die freien Zimmer zu vermieten.« Gloria erhob sich. »Wir können uns gern während des Rundgangs weiter unterhalten«, bot sie an und lief bereits auf die Tür zu, durch die sie die Küche betreten hatten. Nun, nachdem der Kaffee die Müdigkeit und die Kälte des Februarmorgens aus Lous Körper vertrieben und ihre Energie geweckt hatte, wollte sie endlich durch die Flure und Zimmer streifen, um ein Gefühl für das Haus und die Menschen darin zu bekommen, sie wollte wissen, ob sie ein Teil davon werden könnte.

Von dem kleinen Flur vor dem Salon gingen vier Türen ab, eine führte nach draußen, wie Lou durch die Scheibe erkennen konnte. Wahrscheinlich war das der Eingang, den diejenigen benutzten, die sich nicht durch das seltsame Antiquariat kämpfen wollten.

Sie folgte Gloria eine Treppe hinauf. »Im Erdgeschoss befindet sich noch das Esszimmer gleich neben der Küche und ein kleines Bad. Die Zimmer hier oben waren früher die Zimmer unserer Kinder. Die kleine Küche und das Bad sind Gemeinschaftsräume, die müssen Sie sich also mit den anderen teilen.«

Der Flur in der ersten Etage war mit einem dicken, in verschiedenen Grün- und Blautönen dunkel gemusterten Teppich ausgelegt. An den Wänden hingen altertümliche, das Licht smaragdgrün filternde Schirmlampen und dazwischen Bilder und Gemälde verschiedenster Kunstrichtungen, von abstrakt über impressionistisch hin zu einem düsteren Renaissancedruck, ein Museum im Zeitraffer. Für einen Moment blieb Lou stehen und ließ die mehrschichtige Vergangenheit auf sich wirken, sie wartete darauf, dass das Haus von sich erzählte, doch es war noch nicht bereit dazu.

»Die Miete ist natürlich nicht nur für das Zimmer, sondern auch für die Küche und das Bad. Wasser, Heizung, WLAN und Strom sind schon mit eingerechnet. Den Salon unten können Sie auch benutzen. Wer möchte, kann an den Mahlzeiten teilnehmen. Dafür berechne ich eine Pauschale. Ich muss nur rechtzeitig Bescheid wissen, wer mitisst, damit ich genug einkaufen und kochen kann.«

»Mahlzeiten?«

»Ja. Ich weiß, das ist ein bisschen ungewöhnlich, aber ich dachte, es wäre sinnvoller so, als wenn jede Person nur für sich selbst kocht. Am Wochenende hänge ich einen Plan auf, in den man sich eintragen kann. Meistens koche ich abends, weil ich in der Regel tagsüber bei der Arbeit bin. Wenn ich zu Hause bin, mache ich manchmal aber auch mittags eine Kleinigkeit für die, die da sind. Abendessen gibt es um halb acht.« Gloria krempelte die etwas zu langen Ärmel ihres Pullovers um.

Während ihres Studiums hatte Lou ebenfalls in WGs gewohnt, aber dort hatte niemand nach einem Plan gekocht, es hatte keine Zeiten gegeben, keine Regeln, meistens nicht einmal einen Putzplan. Vielleicht würde es ihr guttun, Fixpunkte in ihrem Alltag zu haben, sie müsste nicht jeden Morgen von Neuem überlegen, wohin sie der Tag führen sollte, ob überhaupt irgendwohin.

»Ein Grundstock an Tellern und Töpfen ist da, aber es sollte auch noch Platz in den Schränken sein für die Sachen, die Sie sich mitbringen«, fuhr Gloria fort, während Lou einen Blick in die kleine Küche warf, schlichte weiße Fronten, mittelgroßer Kühlschrank mit Tiefkühlteil, Gasherd wie unten, nur als Standardversion.

Der Gang machte einen Bogen, Gloria öffnete gleich die erste Tür in der Biegung und wies damit den Weg in das Zimmer, das immer ihr liebstes gewesen war, obwohl es so eigensinnig war wie die Person, der es auf eine Art gehörte, oder vielleicht gerade deshalb. Sie würde das nur nie zugeben, Mütter hatten keine Lieblingskinder.

Für einen Moment blieb Lou im Türrahmen stehen und versuchte, den ersten Eindruck möglichst langsam auf sich wirken zu lassen. Der erste Eindruck, das war ein breites Bett mit einer augenscheinlich neuen Doppelmatratze, unter dem Fenster ein Schreibtisch aus dunklem Holz, auf dem eine Bibliothekslampe mit grünem Glasschirm stand, ein Kleiderschrank und ein leeres, mit einer hauchdünnen Staubschicht bedecktes in die Wand eingelassenes Regal. Lou vermutete, dass die Möbel schon seit Anbeginn hier standen, vielleicht die ersten, die Glorias Großeltern erworben hatten, als sie in das Haus gezogen waren, und nun warteten sie darauf, benutzt zu werden, sie warteten auf ihre Kleidung, auf ihre Bücher.

»Falls Sie eigene Möbel mitbringen wollen, können wir die hier auch woanders unterbringen«, sagte Gloria, obwohl sie nicht wirklich wusste, wohin sie sie stellen sollte, das ganze Haus war voller alter Möbelstücke.

Vorsichtig betrat Lou den Raum, setzte sich auf den unter ihrem Gewicht leicht nachgebenden Korbstuhl vor dem Schreibtisch und blickte hinaus in einen Garten mit Schuppen und kleinem Gewächshaus und leeren Hochbeeten, während sie gedankenverloren über den Messingfuß der Bankerlampe strich. Der Garten würde schön aussehen, sobald der Frühling kam, die ganze Gegend mit all den Gärten würde aufblühen. Sie erhob sich und setzte sich kurz prüfend auf die Matratze. »Ich habe keine Möbel«, sagte sie schließlich. »Wie viel nehmen Sie für die Mahlzeiten?«

Die Leere tat diesem Zimmer nicht gut, doch nun stand diese Frau auf den alten Dielen und fügte sich ein, diesen Moment hatte es immer gegeben, bei allen Zimmern, mit Alissa, mit Gregor, mit Jay. Sie waren hineingegangen, und die Räume hatten sie leise begrüßt.

Eine Anspannung, die Gloria vorher nicht registriert hatte, wich von ihr, endlich würde sie nicht mehr immer ähnliche Unterhaltungen führen und mit Fremden durch das Haus gehen müssen, der Vermietungsprozess war anstrengender, als sie gedacht hatte. »Darüber reden wir in der Küche weiter.« Kein Wort verlor sie darüber, dass sie ihr Gespräch nicht fortgesetzt hatten, weil sie es eben doch getan hatten, stumm zwischen den Worten. »Wenn Sie wollen, können Sie heute noch den Vertrag unterschreiben.«

Lou wollte, obwohl die Vernunft ihr riet, sich erst die anderen Mitbewohner anzusehen, andererseits konnte sie jederzeit wieder kündigen und sich etwas Neues suchen. Sie besaß nicht so viel, dass ein Umzug eine aufwendige Sache war, und so schnell würde sie kein derart günstiges Angebot mehr finden. In der Küche las sie in Ruhe den zweiseitigen Vertrag, ein Standardvertrag aus dem Internet mit wenigen Änderungen.

»Wann wollen Sie einziehen?«, fragte Gloria.

»Geht noch heute?«

Sie lächelte, endlich würde das Haus komplett sein. »Natürlich geht gleich heute.«

Nachdem Lou den Vertrag unterschrieben und sich von Gloria verabschiedet hatte, schlenderte sie durch das Antiquariat, kaufte einen Roman und stellte ihn in ihr neues altes Regal. Anschließend fuhr sie zu Mel, um ihre wenigen Sachen zu packen, und dachte an dieses unbekannte Buch, das schon vor ihr eingezogen war und nun in dem leer möblierten Zimmer auf sie wartete.

Kapitel 2

Alissa blickte immer wieder in den Himmel, während sie durch den vom Winter gezeichneten Garten lief. Sie mochte diese Jahreszeit, wenn alles tot wirkte, obwohl es nur schlief, verborgen unter graugrünem Gras oder – selten – weißen Schneedecken. Igel schlummerten in Laubhaufen, Insekten hatten sich in altes Holz zurückgezogen, selbst die kahlen Bäume warteten lediglich auf die ersten wärmeren Sonnenstrahlen.

Heute nahm sie nicht den Weg durch das Antiquariat, denn Herbert kurierte noch seine Bronchitis aus, und es kam ihr falsch vor, zwischen den Bücherstapeln herumzustromern, ohne dass er anwesend war. Dieses Antiquariat war sein Reich, allein würde sie kein einziges Buch finden, egal, wie gründlich sie in den letzten beiden Wochen die Regale erkundet hatte. Er sortierte sie immer wieder um, oder vielleicht waren es auch die Bücher selbst, die sich umsortierten, weil sie nicht jahrelang in derselben Perspektive auf den staubbedeckten Raum gefangen sein wollten.

Aus der Jackentasche angelte sie ihren Schlüssel und klimperte damit vor dem Schloss herum, obwohl es sich nicht mehr abschließen ließ. Alissa bildete sich ein, potenzielle Einbrecher auf Beobachtungsposten so in die Irre führen zu können. Niemand musste wissen, wie leicht es war, in dieses Haus einzudringen, derart leicht, dass Alissa manchmal nachts aufwachte und mit unterdrücktem Atem in ihrem Bett verharrte, um auf verdächtige Geräusche zu lauschen. In Häusern zu leben, war Alissa nicht gewohnt. Bis vor gerade mal einem Monat hatten ihr Vater und sie sich eine Vierzimmerwohnung mit ihrer Mutter und ihrem Bruder geteilt, es hatten Menschen über ihnen gewohnt und Menschen unter ihnen, ständig war alles voller Anwesenheit gewesen, Schritte und Waschmaschinenschleudern und Musik, Stimmen von draußen, jeder Einbrecher wäre sofort aufgefallen.

Alissa streifte die Schuhe im Flur ab und stellte sie sorgsam in das extra dafür montierte Regal neben der Tür. Die schweren Winterschuhe ihres Vaters standen noch nicht da, auch sein Mantel hing nicht am Haken, und obwohl sie damit gerechnet hatte, war sie ein wenig enttäuscht.

Aus der Küche drang der Geruch von Linseneintopf. Alissa hasste Linseneintopf, schon immer, außerdem kochte Gloria ihn mit viel Speck, den Alissa noch weniger leiden konnte. Daher lief sie gleich die Treppe hoch, denn die Ruhe ihres Zimmers war das, wonach sie sich bereits den ganzen Tag lang sehnte, sie hatte das Gefühl, ein Wort noch, ein einziges Wort, und sie würde mit einem lauten Knall explodieren. Manchmal waren Wörter so sehr zu viel, dass Zuhören genauso anstrengend wurde, wie selbst zu reden, all die empfangenen Worte mussten ja irgendwohin, und dann stauten sie sich in ihr und wurden in ihrem Kopf immer lauter.

Kurz bevor sie ihr Zimmer erreichte, floss eine sanfte Melodie in den dunklen Flur, zart gezupft auf einer perfekt gestimmten Gitarre, aber stark genug, um Alissa festzuhalten. Sie blieb stehen und lauschte, und dabei stellte sie sich vor, wie Jay in seinem Zimmer saß, wahrscheinlich auf dem kleinen Sofa, die dunkelblonden Haare zusammengebunden, und wie immer fragte sie sich, was er dachte, ob er überhaupt an etwas dachte. Erst als er begann, den Text zu singen, erkannte sie »Where’s My Love« von SYML. Jays Stimme klang etwas rauer als die des SYML-Sängers, aber es lag eine ähnliche Melancholie in ihr. Langsam hob sie den leicht angewinkelten Arm und strich vorsichtig durch die Luft, wie um die Melodie zu berühren. Ihre Fingerspitzen kribbelten, und etwas floss durch sie hindurch, das Atmen fiel ihr schwer, das Denken fiel ihr schwer, nur das Stehenbleiben nicht, kaum wahrnehmbar wiegte sie sich im Rhythmus der Musik. Erst als die Melodie plötzlich abbrach und das Rollen des Schreibtischstuhls auf den Dielen verkündete, dass Jay aufstand, riss sich Alissa los, lief in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Schwer atmend lehnte sie sich von innen gegen das Türholz. Kein Laut verkündete, dass Jay sein Zimmer verlassen wollte, und das tat er auch nicht, er verstaute nur die Gitarre in ihrer Hülle, denn heute war kein Tag zum Spielen, seine Finger fühlten sich steif an, die Musik war nicht mehr als zufällig aneinandergereihte Töne, und seine Gedanken blieben plump und holprig, sie wurden nicht warm und lebendig durch die Musik. An seinem eigenen Song konnte er in dieser Stimmung sowieso nicht weiterarbeiten, er schaffte es einfach nicht, sich zu irgendeiner Art von Inspiration hinzuspielen.

In ihrem Zimmer warf Alissa ihre Schultasche auf das Bett, doch bevor sie die Hausaufgaben erledigte, würde sie erst einmal etwas essen müssen. Rasch lief sie über den Flur in die kleine Küche und stellte erleichtert fest, dass in ihrem Kühlschrankfach noch ein Becher Kokosjoghurt mit Heidelbeeren stand, ungeöffnet sogar und nicht einmal abgelaufen. Sie füllte den halben Becher in eine Schüssel, und während sie die Dinkelpops mit Honig und die Zimttaschen auf den Joghurt rieseln ließ, verließ Jay sein Zimmer. Sie hielt die Luft an, als er die Küche betrat, bestimmt zwei Sekunden lang, und atmete erst wieder aus, als er ein müdes »Hey, Ali« von sich gab.

»Lass mich in Ruhe«, sagte sie und verstaute die Cerealien im Schrank.

»Ich will mir nur einen Müsliriegel holen.«

Wortlos nahm sie einen Löffel aus dem Schubfach und huschte an Jay vorbei, ohne ihn anzusehen, fast ohne ihn anzusehen. Zumindest auf seine Füße schaute sie, die in absurd bunten Wollsocken steckten, darüber der Saum einer grauen Jogginghose, und obwohl sie gern sein Gesicht gesehen hätte, obwohl sie überhaupt gern alles an ihm gesehen hätte, rauschte sie in ihr Zimmer und warf keinen einzigen Blick zurück. Als er ihr »Wenn du gute Laune brauchst, du kannst meinen Netflix-Account benutzen« hinterherrief, knallte sie die Tür zu, um seinen Satz einfach abzuschneiden, damit er ihr nicht folgen konnte, nur leider funktionierte das Türenknallen in diesem Haus einfach nicht. Gloria hatte drei Kinder großgezogen, sie wusste, wie man Türen dämpfte, damit die Pubertät nicht nur aus unaushaltbarem Lärm bestand.

Jay seufzte, sehr leise nur. Es war nicht seine beste Idee gewesen, in dieses Haus zu ziehen, und er suchte weiterhin nach anderen Möglichkeiten, doch solange er die nicht fand, würde er wohl mit diesen merkwürdigen Mitmenschen zurechtkommen müssen. Immerhin kannte er sich mit pubertierenden Mädchen einigermaßen aus, schließlich hatte er zwei ältere Schwestern. Er überlegte, an Alissas Tür zu klopfen und sie zu fragen, ob sie etwas brauchte, doch in diesem Moment rief Gloria von unten die Treppe herauf. »Das Essen ist fertig«, rief sie, und das war kein Satz, dem Jay widerstehen konnte. So merkwürdig er es auch immer noch fand, von einer Fremden bekocht zu werden, praktisch war es durchaus.

»Keinen Hunger«, rief Alissa aus ihrem Zimmer, was Gloria nicht hörte. Jay sagte es ihr, als er kurz darauf die Küche betrat.

»Ach, schade«, erwiderte Gloria und räumte einen Teller wieder ab, den mit den Sonnenblumen, von dem ihre Tochter Milla immer am liebsten gegessen hatte, selbst als sie eigentlich schon zu alt für Kinderteller geworden war.

Es war sehr still, als Alissa allein ihr Mittagessen löffelte, und während sie in ihrem Lieblingsbuch blätterte, das genau genommen Emilys Lieblingsbuch war, und die angestrichenen Passagen zum bestimmt zwanzigsten Mal las, parkte draußen vor dem Haus ein metallicblauer Kombi etwas zu nah am Bürgersteig.

Lou blieb für einen Moment regungslos sitzen, nachdem ihre Freundin Mel den Motor ausgeschaltet hatte.

»Ist alles in Ordnung? Willst du doch lieber bei uns bleiben?«

»Nein, ich will eure Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. Räumen wir die Kisten aus dem Auto.« Lou wandte sich um und öffnete die Beifahrertür. Die Kälte biss in ihre Haut, als sie aus dem gemütlich warmen Auto ausstieg. Von der Rückbank zog sie einen Karton, Mel nahm sich ebenfalls einen und folgte Lou zu dem Seiteneingang des Hauses, wo Lou ihren Karton auf der alten Bank daneben abstellte, um die Tür zu öffnen. »Wollen wir uns aufteilen? Du musst mein Zeug durch die Kälte schleppen, dafür muss ich Treppen steigen.«

»Einverstanden.«

Nacheinander trug Lou alles nach oben, fünf unterschiedlich große Kartons, eine Reisetasche, einen Trekking- und einen Stadtrucksack und eine Yuccapalme, die Mel ihr als Einzugsgeschenk auf dem Weg von ihrer Wohnung zu dem neuen Haus in einem Pflanzencenter gekauft hatte, zusammen mit einem violetten Topf, weil das Lous Lieblingsfarbe war, und obwohl sie dabei mehrmals durch das halbe Haus lief, begegnete ihr keine einzige Person.

Nun standen all die Sachen in ihrem neuen Zimmer und sahen nach sehr viel aus.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Mel auf diese einfühlsame Art, die Lou manchmal auf die Nerven ging. Gefühle waren zum Fühlen, nicht zum Reden, jedenfalls in Momenten wie diesen, in Momenten ohne Worte.

»Ich mag Veränderungen, weißt du doch.«

»Hm. Ich glaube dir zwar nicht, aber jetzt gibt es erst mal Kuchen. Der hilft dir vielleicht beim Ankommen.« Mel schenkte immer Kuchen statt Brot und Salz zum Einzug, davon hatte Lou nun schon einige Male profitiert. Dieselben Kartons hatten sie erst vor ein paar Monaten aus ihrer letzten Wohnung getragen und in Mels Keller eingelagert, weil Lou manchmal, wenn sie eine Beziehung aufgab, auch die ganze Wohnung, die ganze Stadt, das ganze Land aufgeben wollte. »Finde ich gut.«

Lou ging in die kleine Küche. Der Raum war leer, ebenso wie der Flur leer und still war.

Sie öffnete Schränke und Schubladen, bis sie Teller und Gabeln gefunden hatte, und ging mit ihrer Ausbeute zurück, an den Türen der anderen Zimmer vorbei, und irgendwie merkte sie, wie Alissa in ihrem Zimmer die Luft anhielt und den Geräuschen draußen lauschte.

Es war ein wenig merkwürdig, mit dem Geschirr in den Händen im Flur herumzustehen und darauf zu warten, dass sich jemand rührte, aber sie wollte auch nicht einfach anklopfen und fragen, ob noch jemand Kuchen haben wollte, nicht jetzt. In ihrem Zimmer hatte Mel in der Zwischenzeit das Papier von dem Bäckerkuchen gewickelt. Der Raum fühlte sich für Lou nach einer anderen Person an, nach jemandem, der nicht sie war, und dieser Jemand schien nicht einfach gehen, sondern ihnen zusehen zu wollen, da war eine Anwesenheit neben ihrer und Mels. So etwas fühlte Lou häufig, wenn sie irgendwo anzukommen versuchte. Nie war sie die Erste, immer hatten schon anderen Menschen in einem Zimmer geweint und gelacht und geliebt und gehasst.

»Hier ist es ein bisschen frisch«, sagte Mel. »Ich glaube, die Heizung muss mal entlüftet werden. Sie gluckert komisch.«

»Ich weiß. Man hat mich vorgewarnt.«

Nebeneinander setzten sie sich auf den Boden, sie aßen erst den Quarkkuchen mit Heidelbeeren und dann die Apfeltaschen. Nur einmal hörte Lou Schritte auf dem Flur, doch bevor sie sich entschließen konnte, aufzustehen und sich vorzustellen, verschwanden sie hinter einer sich schließenden Tür.

»Yannick hat mir geschrieben«, sagte sie, während sie ein Stück von dem Blätterteig abrupfte.

»Wieso das?«

»Er hat mitbekommen, dass ich aus Las Palmas zurück bin, und wollte wissen, wann ich mein Zeug abhole.«

»Welches Zeug? Du hast doch alles mitgenommen, als du aus der Wohnung raus bist.« Mel stellte ihren Teller ab und sah Lou aufmerksam an.

»Keine Ahnung. Angeblich hat er noch was gefunden.«

»Du bist ein halbes Jahr lang ohne den Kram zurechtgekommen, jetzt brauchst du den auch nicht mehr. Soll ich ihm schreiben?«

Lou lachte, nicht wirklich fröhlich, sie wollte nur Mels Sorgen weglachen und ein bisschen auch dieses drückende Gefühl, das einfach nicht verschwinden wollte. So oft sie auch von irgendwo ging und irgendwo ankam, es fühlte sich jedes Mal gleich an, als würde sie etwas suchen, das unmöglich zu finden war, immer wieder rannte sie blind daran vorbei. »Ich hab ihm schon geantwortet. Er soll die Sachen spenden.«

»Männer. Echt. Der will sich nur wieder in deinen Kopf drängen.«

»Er kennt mich eben nicht besonders gut. Jetzt habe ich es dir erzählt, und damit ist er auch wieder aus meinem Kopf raus.«

»Gut.« Mel biss von ihrer Apfeltasche ab. »Und falls er doch nicht raus ist, sag Bescheid. Ich kann zwar nicht mehr viel zu lange abends mit dir in der Küche sitzen und Wein trinken, weil ich jetzt erwachsen und verantwortungsvoll bin, aber mein Handy funktioniert.«

»Danke.«

Sie pickte ein paar Krümel von ihrem Teller. »Las Palmas klingt so schön nach Urlaub.«

»Ich weiß, das hast du schon mal gesagt. Touristen zu unterhalten sieht auch quasi aus wie Urlaub machen, selbst wenn es keiner ist.«

»Ja, wahrscheinlich.«

»Ich kann nicht mehr.« Lou legte die halbe Apfeltasche auf ihren Teller zurück. »Zu viel Zucker. Willst du noch?«

»Nein danke. Wir hätten Kaffee kaufen sollen oder wenigstens Tee, um das Zeug runterzuspülen.«

»Zu spät«, sagte Lou und sammelte beide Teller ein, hatte jedoch keine Lust, sie gleich zurück in die Küche zu bringen. »Danke für deine Hilfe. Wir haben das erstaunlich schnell geschafft.«

»Du hast ja auch nichts, und das meiste war noch eingepackt. Wenn du was brauchst, meldest du dich bei mir, ja?«

Irgendwann während ihrer Ankunft und des Essens war das letzte bisschen Licht aus dem Tag gewichen. Die Deckenlampe war für Lous Geschmack viel zu grell, dennoch schaltete sie sie ein, weil die Bankerlampe allein zu wenig Licht spendete, außerdem gab sie ihr das Gefühl, in einer alten Bibliothek voller Stille und hoher Wände zu sitzen, und in Bibliotheken gab es noch mehr Anwesenheiten als in einem Schlafzimmer. Sobald Mel gegangen war, würde sie sich überlegen, was sie alles brauchte, um aus diesem Zimmer ihres zu machen.

»Werde ich«, antwortete Lou schließlich. Sie blickte aus dem Fenster, obwohl sie kaum mehr sah als Dunkelheit und Reflexionen. Mel erhob sich und verabschiedete sich, ihre Umarmung war etwas länger und stärker als sonst.

»Die Kinder werden es vermissen, dass ihnen jemand morgens vorliest und abends mit ihnen die Duplo-Eisenbahn aufbaut«, sagte sie, und Lou versuchte, nicht an Mels warmes Zuhause zu denken, an das Spielzeug, das überall herumlag, an den immer gefüllten Kühlschrank, an die Stimmen und den lebendigen Alltag, der keinen Platz für Leere ließ.

»Und ich werde den Kaffee morgens ans Bett vermissen«, erwiderte sie, als sie sich von ihrer Freundin löste.

Zusammen gingen sie hinunter, Lou winkte dem Auto hinterher, bis die Rücklichter um eine Abzweigung bogen. Tief atmete sie die kalte Abendluft ein und wandte sich dem Haus zu, in dem sie zukünftig wohnen würde. Das Fenster neben ihrem in der oberen Etage war erhellt, und gerade in dem Moment, in dem Lous Blick darauf traf, bewegte sich der Vorhang. Sie lächelte in die Dunkelheit und in das Zimmer hinauf, sie lächelte der Person zu, die sie nicht sehen konnte.

Drinnen räumte sie das Geschirr in die schmale Spülmaschine und begann damit, ihre Kartons auszupacken. Die Bücher hatte sie schnell im Regal verstaut, die Kleidung in dem schmalen Schrank, für den Rest würde sie sich eine Kommode besorgen müssen, womit sie auch gleich anfing, indem sie in ihre Lieblingshose und ihren Schlafpullover schlüpfte, zwei Kerzen anzündete und sich mit ihrem Laptop im frisch bezogenen Bett verkroch, um auf Kleinanzeigenportalen auf die Suche zu gehen.

Etwa fünfundachtzig Anzeigen und sechs Nachrichten später klappte sie das Notebook zu. Eine der Kerzen war in der Zwischenzeit ausgegangen, die zweite flackerte noch still in dem leichten Luftzug, der durch das undichte Fenster in den Raum kroch. Für eine Weile beobachtete Lou still das warmgelbe Licht und die tiefen Schatten.

Im Flur waren Schritte zu hören. Eine Tür wurde geöffnet, leise Stimmen folgten, eine männliche und eine weibliche verschmolzen in einer gemurmelten Unterhaltung, bevor die Geräusche durch Schritte und das erneute Klappen von Türen ihr Ende fanden. Lou nahm ihre Waschtasche vom Schreibtisch und betrat den Flur, aus der Küche fiel Licht.

»Hallo«, sagte sie zu dem blonden Mädchen, das neben dem Wasserkocher an der Arbeitsplatte lehnte.

»Du bist also eingezogen«, sagte das Mädchen. Diesmal trug es eine Brille, die Haare hatte es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

»Bin ich. Das Zimmer ist weniger schlimm, als ich nach deiner Beschreibung befürchtet habe.«

Eigentlich hatte Alissa nicht lächeln wollen. »Es ist ja nicht nur das Zimmer«, sagte sie und wandte sich ab, um das kochende Wasser in die Wärmflasche zu füllen, ihr liebster Luxus in kalten Winternächten, vor allem in diesem zugigen Haus. Sie lauschte auf das Schweigen, auf Lous »Gute Nacht«, das sie nicht erwiderte, auf die Schritte, die sich Richtung Bad entfernten. Mit der Wärmflasche kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Die meisten Möbel hatte sie mitgebracht, und trotzdem fühlten sie sich fremd an, es waren nicht mehr ihre Möbel, es war nicht ihr Zimmer. Sie verkroch sich in ihr Bett, die Wärmflasche an den Füßen, hörte, wie Lou durch den Flur lief und wie danach alles leise wurde.

Kapitel 3

Wann immer Gregor Mader aus einem Traum gerissen wurde, blieb ein seltsames Gefühl des Verlustes zurück. Gregor war nicht der Typ Mensch, der sich morgens lange ans Bett klammerte, im Gegenteil. Kaum dass er den Wecker ausgeschaltet hatte, stand er auf, nahm ein frisches Hemd aus dem Schrank und ging mit seiner Kleidung direkt ins Bad, um sich mit einer raschen Dusche – dreieinhalb Minuten, davon die letzten zwanzig Sekunden kaltes Wasser – auf die nächsten Stunden einzustellen. Das warme Wasser vertrieb den Nachhall des Traumes, an den er sich schon nicht mehr erinnern konnte, das kalte weckte seinen Kreislauf, und erst ab dann gelang es ihm, wirklich mit dem Tag zu beginnen.

Wie jeden Morgen klopfte er auch heute an Alissas Zimmertür, die mit einem mürrischen »Bin wach« antwortete, und obwohl das alles andere als wach klang, klang es immerhin auch nicht nach Schlaf. Für einen Moment verharrte Gregor vor der Tür und überlegte wieder einmal, wie seine Frau den Morgenablauf geregelt hatte, ob sie in Alissas Zimmer gegangen war oder nicht. Er vergaß jedes Wochenende, wenn sie sich zum Essen trafen, danach zu fragen, entschied jedoch nun, dass Alissa bisher ganz gut zurechtgekommen war.

Im Gegensatz zu ihrem Vater wusste Alissa schon vor dem Handywecker, wann der Tag begann, und zwar meistens eine Viertelstunde früher. Dann lag sie in der dunstigen Winterdämmerung und dachte daran, dass der Wecker bald klingeln würde, sie dachte an Frau Kreiskis Vorliebe für unlernbare Französischvokabeln und an die Kälte, die jenseits ihrer Bettdecke auf sie wartete, sie dachte daran, wie voll der Bus sein würde, und sie dachte an Emily.

In den letzten Wochen, seit ihrem Umzug, hatte Alissa sich angewöhnt, am Vorabend die Kleidung auf einem Stuhl neben dem Bett bereitzulegen, sodass sie unter der noch schlafwarmen Decke hineinschlüpfen konnte. Während sie das tat, ging ihr Vater in sein Zimmer zurück, machte sein Bett und packte seine Tasche für den Tag. Sobald das erledigt war, setzte er sich an seinen Schreibtisch und führte die Arbeiten fort, die er für die Nacht und die Notwendigkeit des Schlafens hatte unterbrechen müssen. An diesem Morgen war das die Durchsicht einer Doktorarbeit. Im Licht der Schreibtischlampe fuhr sein Rotstift über bedrucktes Papier und hinterließ seine Signatur in Form von Korrekturen und Anmerkungen. Vertieft in den Text hörte er zwar, wie sich die Zimmertür seiner Tochter öffnete, achtete jedoch nicht weiter darauf.

Alissa betrat die kleine Küche. Das Brot war fast alle, sie würde auf dem Rückweg von der Schule frisches kaufen müssen. Immerhin dachte sie inzwischen meistens morgens daran, kurz die Vorräte zu sichten. Ihre Mutter tat das ja nicht mehr, oder schon, nur nicht mehr für sie alle vier, sondern nur noch für sich selbst und für Alissas Bruder. In ihre App trug Alissa alle nötigen Einkäufe ein, während sie erst ihr Sandwich zubereitete und anschließend die Lunchbox ihres Vaters füllte. Wenn er zu vertieft in seine Arbeit war, vergaß er manchmal, in die Mensa zu gehen, außer er verabredete sich mit Kollegen. Sie schälte einen Kohlrabi und schnitt ihn klein, biss von einem Stück ab, während sie sich von Vokabeln weg und zu leisen Gitarrenklängen hindachte, warf eher zufällig einen Blick auf die Uhr und beeilte sich mit dem Rest. Mit der Brotbox betrat sie das Zimmer ihres Vaters und verstaute sie schweigend in seiner altmodischen Aktentasche. Manchmal kochte sie auch eine Thermoskanne mit Tee – Pfefferminztee mit Honig –, bevor sie aufbrechen musste, heute hatte sie sich allerdings zu viel Zeit mit allen anderen Dingen gelassen. Selbst ihr Frühstück schaffte sie nicht mehr, nur für ihren Vater füllte sie noch etwas Milch und Müsli in eine Schüssel und brachte es in sein Zimmer.

»Hab einen schönen Tag«, sagte sie.

Gregor blickte auf. »Du auch, Spatz.«

Eigentlich hasste sie es, wenn er sie so nannte. Ein Spatz war ein kleiner, nichtssagender Vogel, von denen es Millionen gab, er fiel nicht auf, er stach nicht hervor. Sie wandte sich ab, nahm sich aber den Moment, kurz stehen zu bleiben und in den Flur zu lauschen, obwohl sie doch wusste, dass Jay so gut wie nie um diese Uhrzeit aufstand. Er lebte in der Nacht, so wie auch sie gern in der Nacht leben würde. Auch aus dem Zimmer der neuen Mitbewohnerin kam kein Geräusch, vielleicht war sie wie Jay, vielleicht schlief sie, wenn andere wach waren.

»Schreibst du mir, wann du nach Hause kommst?«, fragte sie, und Gregor murmelte ein »Ja«, schon wieder vertieft in seinen Text. Sie wusste, er würde es vergessen.

Im unteren Flur zog sie ihre Schuhe an. Das Haus fühlte sich schlafend still an, als hätte es den graurosa Morgenschimmer noch nicht bemerkt. Sie würde rennen müssen, wenn sie ihren Bus noch erwischen wollte, denn sollte sie ihn verpassen und erst den nächsten nehmen können, kam sie anderthalb Minuten zu spät, und anderthalb Minuten waren für Frau Kreiski mindestens eine halbe Stunde und damit Anlass genug, sämtliche Vokabeln auf einmal abzufragen, die lernbaren und die unlernbaren. Eilig öffnete Alissa die Tür zum Garten, ein kalter Windzug stieß ins Haus und sorgte dafür, dass das geöffnete Fenster in Glorias und Herberts Schlafzimmer viel zu schwungvoll zufiel.

»Dieses alte Haus«, grummelte Herbert unwirsch und verriegelte das Fenster, die ganze Draußenkälte war bereits zu Drinnenkälte geworden.

»Du magst das Haus genauso gern wie ich«, entgegnete Gloria auf seinen eigentlich zu sich selbst gesprochenen Satz. Ihre Haare waren noch feucht, und die helle Bluse saß ein wenig zu eng, obwohl sie sie erst vor wenigen Monaten gekauft hatte, aber sie zog es vor, diese Tatsache zu ignorieren.

Herbert antwortete nicht auf ihre Feststellung. Es spielte ohnehin keine Rolle, ob er das Haus mochte, sie lebten nun mal darin, das würden sie noch viele Jahre lang tun. Stattdessen brach er auf ins Erdgeschoss, um nach den Büchern zu sehen. Er war noch immer schwach und wirkte blass und kränklich, und Gloria hatte eigentlich etwas sagen und ihren Mann davon überzeugen wollen, noch einen Tag länger im Bett oder wenigstens in seinem Lesesessel im Salon zu verbringen, doch der Moment war verstrichen. Immerhin hatte sie so Zeit, um die Kopfkissen und Decken aufzuschütteln und glatt zu streichen, sie hatte Zeit, um etwas Make-up aufzutragen und die schlichte Perlenkette anzulegen. Mittlerweile arbeitete sie nur noch vier Tage die Woche am Empfang des Immobilienbüros, zusammen mit den Mieteinnahmen würde das Geld schon reichen, und Herbert sagte immer, Geld müsse nur reichen, mehr nicht, für ein Mehr gaben sie es ohnehin nicht aus.

Jemand lief über den Gang. Gregor bewegte sich leise, seine Schritte waren nur halb anwesend, selbst jetzt, da er sich beeilen musste, um noch rechtzeitig zu seiner Lehrveranstaltung da zu sein. Im Gehen warf er sich den Wollschal um, den seine Frau ihm vor ein paar Jahren auf einem Weihnachtsmarkt gekauft hatte, nun, jetzt war Marion nicht mehr wirklich seine Frau.

Gloria seufzte leise in das leere Schlafzimmer, das leere Schlafzimmer seufzte zurück. So ein altes Haus sprach viel, es beobachtete und erinnerte sich. Wenn sie müde war, dachte Gloria die merkwürdigsten Gedanken, aber sie halfen ihr, sich nicht daran festzuklammern, dass zumindest das Haus ein Mehr vertragen könnte, wenn sie es schon nicht taten.

Sie föhnte ihre Haare in dem mattbraun gefliesten Bad, das direkt an ihr Schlafzimmer anschloss und das nur sie und Herbert benutzten. Als ihre Haare trocken und frisiert waren und das Mascara endlich gut aussah, ging sie hinunter in die Küche, schnitt etwas Brot auf, während das Öl in der Pfanne heiß wurde, gab zwei Eier hinein und würzte sie sparsam, so, wie Herbert es bevorzugte – eine Prise Salz, ein Hauch Pfeffer, keine Kräuter. Ihre Kinder hatten alle ihre eigenen Frühstückseivorlieben gehabt, Rührei oder Spiegelei oder gar kein Ei, und natürlich war das umständlich, aber diese Aufgeregtheit hatte Schwung in ihren Morgen gebracht, alle hatten sich in der Küche getroffen, bevor sie in ihre Tage gestürzt waren, jeder für sich, um erst abends wieder zusammenzufinden.

Nun bestrich sie eine Brotscheibe dünn mit Butter, legte die beiden Spiegeleier darauf und trug den Teller und eine Tasse Kaffee in das kleine Büro im Antiquariat, wo Herbert bereits über einer Enzyklopädie saß und sich mit dem Begriff Hypertrophie