Das Watt und der Tod - Markus Rahaus - E-Book

Das Watt und der Tod E-Book

Markus Rahaus

0,0

Beschreibung

Hochinfektiös und . . . tödlich: Ein gefährliches Virus wütet in Cuxhaven. Eine Leiche auf einem Krabbenkutter gibt den Kommissaren Olofsen und Greiner Rätsel auf. Als plötzlich das BKA und sogar der MI5 in Cuxhaven auftauchen, wird klar, dass es einen größeren Zusammenhang geben muss. In einem verworrenen Dickicht aus Intrigen und Verrat jagen die Ermittler einen unsichtbaren Gegner, der ihnen immer einen Schritt voraus ist. Als dieser zu einem Schlag ausholt, der die ganze Stadt bedroht, läuft Olofsen und Greiner die Zeit davon …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 444

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Markus Rahaus, Jahrgang 1970, lebt mit seiner Familie im Cuxland. Der promovierte Virologe beschäftigt sich in seiner Freizeit mit Fotografie, veröffentlicht regelmäßig Artikel in Fachzeitschriften und zeigt seine Bilder im Rahmen von Ausstellungen und Vorträgen. Darüber hinaus ist er begeisterter Motorbootfahrer und immer wieder auf der Elbe unterwegs.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Movementway/imageBROKER

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-737-8

Küsten Krimi

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

Für Eva.

Prolog

Der Raum lag in ein trübes Zwielicht gehüllt. Vor dem offenen Fenster hing ein dünner Vorhang aus verblichenem orange-gelben Stoff und filterte das einfallende Sonnenlicht. Ein paar schmale, gleißend helle Lichtstrahlen fielen dennoch hindurch und machten die in der Luft tanzenden Staubkörnchen sichtbar. Es war drückend warm.

In einem Sessel neben dem Fenster schlief ein Mann. Sein Mund war geöffnet, er schnarchte leise. Auf seinen Oberschenkeln lag ein aufgeklappter Laptop, den er auch im Schlaf mit sicherer Hand festhielt.

Gegenüber dem Fenster stand ein großer Schreibtisch. Das alte Holzmöbel wirkte viel zu wuchtig für den kleinen Raum. Auf der zerkratzten Tischplatte fand sich ein übervoller Aschenbecher, aus dem der Rauch einer schlecht ausgedrückten Zigarette aufstieg. Daneben drängten sich mehrere Laptops, ein Satellitentelefon, eine externe Festplatte, die mit einem der Laptops verbunden war, und zwei leere Wasserflaschen. Hinter einem der tragbaren Computer lugten zwei Aktivboxen hervor, eingeschaltet und verkabelt. Plötzlich ertönte ein Knall aus den Lautsprechern, als ob eine Tür zugeschlagen worden wäre.

Die beiden anderen Männer, die vor dem Schreibtisch saßen, zuckten zusammen und waren augenblicklich hoch konzentriert. Auch der Schläfer im Sessel war durch das Geräusch aufgewacht. Sofort war sein Gesicht ebenso konzentriert wie die seiner Mitstreiter. Mit einem schnellen Griff zog er den Laptop auf seinem Schoß höher und setzte die Kopfhörer auf, die vorher seitlich am Sessel heruntergehangen hatten.

»Konzentration jetzt. Jedes Wort ist wichtig«, schnarrte eine heisere Stimme hinter den beiden Männern am Schreibtisch. Die Stimme sprach Englisch mit einem starken türkischen Akzent.

Einer der Männer am Schreibtisch drehte sich um. »Beruhige dich, Oberst. Wir haben alles unter Kontrolle. Jedes Wort, das gleich gesprochen wird, zeichnen wir auf.«

»Und senden es in Echtzeit über die gesicherte Leitung direkt an das Rechenzentrum«, ergänzte der andere gelangweilt.

Der als Oberst titulierte Mann sprang mit ungeahnter Geschmeidigkeit von seinem Stuhl auf. Seine dunklen Augen funkelten böse. Mit einer schnellen Bewegung zog er eine schwarz glänzende Pistole aus dem Hosenbund und richtete sie auf die beiden Männer vor ihm. »Macht euren Job. Und macht ihn gut«, zischte er. »Ich bin erst dann beruhigt, wenn wir alles wissen, was wir wissen müssen.«

Der Mann, der sich so gelangweilt gegeben hatte, hob abwehrend die Hände. »Schon gut, schon gut.«

Sein Kollege neben ihm hatte mittlerweile auch Kopfhörer aufgesetzt und tippte mit flinken Fingern auf der Tastatur des Laptops vor ihm. Aus den Lautsprechern waren nun mehrere Stimmen zu hören. Abermals tippte der Mann auf einige Tasten, danach verschob er auf dem Bildschirm mehrere Regler mit der Maus, worauf die Stimmen lauter und klarer wurden. Es waren mindestens drei Männer, sie sprachen schnelles Arabisch.

Erneutes Türknallen. Kurzzeitig drangen keine weiteren Geräusche aus den Lautsprechern, dann ließ sich eine weitere Stimme vernehmen. Diese sprach Englisch, sauber und ohne jeden Akzent. Die Vokale klangen weich und lang gezogen, fast gesungen, vielleicht ein Engländer.

»Das muss er sein«, sagte der Mann im Sessel. Er saß kerzengrade, auf seiner Stirn hatten sich vor Anspannung kleine Falten gebildet.

»Datentransfer läuft«, sagte ein Mann am Schreibtisch.

»Ruhe!«, befahl der Oberst barsch. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und lauschte auf jedes Wort, das über die Lautsprechermembranen an seine Ohren drang. »Wer jetzt einen Fehler macht, wird für den Rest seines erbärmlichen Lebens kein Tageslicht mehr sehen. Dafür werde ich sorgen.«

Von draußen erklang das Donnern eines Helikopters, der über das Gebäude hinwegflog. Der Oberst sprang geschmeidig wie eine Katze ans Fenster, riss den Vorhang zur Seite und schlug das Fenster zu. Durch das plötzliche helle Licht schienen alle anderen Männer im Raum wie erstarrt. Erst nachdem auch der Vorhang erneut zugezogen war, kehrte Leben in sie zurück.

»Wir haben nicht viel Zeit.« Es war die Stimme des Engländers. »Ich muss leider noch eine Reihe anderer dringender Angelegenheiten regeln. Mein Mitarbeiter hier wird sich um die Details kümmern.«

Die als Mitarbeiter bezeichnete Person hatte noch kein Wort gesprochen.

»Selbstverständlich.« Diese Stimme mit arabischem Akzent klang gleichzeitig zustimmend und unterwürfig. »Bei einer Organisation wie der Ihren ist immer zu tun. Es ist uns eine Ehre, mit Mr. van –«

»Keine Namen«, zischte jemand.

Der Mann, der bis dato geschwiegen hatte, übernahm nun das Gespräch. Er sprach Englisch mit einem leichten Akzent, der auf eine Herkunft im Mittleren Osten verwies. »Die Startphase ist abgeschlossen. Wir haben alle Lieferanten identifiziert, die Aufträge können jederzeit erteilt werden. Mein Team steht in Bereitschaft.«

»Alles ist perfekt organisiert«, singsangte der Engländer.

»Die neue Route scheint zuverlässig zu sein. Unser Kontaktmann auf der anderen Seite wird die Ware in Kürze erhalten und testen.«

»Neue Route?«, fragte der Mann mit dem arabischen Akzent. Er klang überrascht.

»Wir hatten darüber gesprochen«, antwortete die erste Stimme. »Abseits der üblichen Wege und damit deutlich sicherer.«

»Wann erfahren wir die Details?«, wollte die zweite Stimme wissen.

»Die Route führt über eine kleine Hafenstadt in Norddeutschland. Unauffällig, an der Elbe. Einfach perfekt. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen.« Der Engländer hüstelte leise. »Steht das Geld zur Verfügung?«

»Die komplette Summe. Nennen Sie uns die Konten, dann führen wir die Transfers umgehend durch.«

Der Oberst schlug mit der Faust in die offene andere Hand. »Verflucht. Das reicht nicht. Nichts ist konkret«, fauchte er. »Warum haben wir kein Videobild?«

Der Mann im Sessel blickte auf. »Weil uns deine Leute zu spät informiert haben, in welchem Zimmer das Treffen stattfindet. Wir hatten nur noch Zeit, ein paar Wanzen anzubringen.«

Der Oberst fluchte erneut vor sich hin.

»Jetzt beruhige dich und lass uns unsere Arbeit machen.« Der Mann am Schreibtisch fuhr zur Untermalung seiner Worte mit dem Mauszeiger über ein paar der auf dem Bildschirm angezeigten Regler.

Die Miene des Obersts zeigte unzweifelhaft, dass er nicht zufrieden war.

Noch immer waren die Stimmen aus den Lautsprechern zu hören. Der Engländer sprach wieder: »… werden bald die genauen Pläne der Anlage erhalten. Dann werden wir in die Feinplanung einsteigen. Wir werden den Zeitplan einhalten, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Die Aktionen werden langsam in ihrer Intensität gesteigert, zuerst eine Kleinigkeit, zum Beispiel ein Generator, dann – Sie wissen schon. Es wird keine sichtbaren Zusammenhänge geben.«

»Allah ist groß und erfüllt von unendlicher Weisheit. Dennoch müssen wir von nun an sehr vorsichtig sein. Die staatlichen Schnüffler müssen blind und taub bleiben.«

Der Engländer lachte. »Diese kiffenden Schafhirten werden nicht einmal den Untergang der Welt mitbekommen. Die sind viel zu sehr mit sich selbst und den Wünschen ihrer obersten Bosse beschäftigt. Außerdem geschehen in China gerade Dinge, die bald die weltweite Aufmerksamkeit auf sich ziehen werden. Das ist gut für unsere Sache.«

Die anderen im Raum lachten gequält. »Möge Allah unserer Sache gewogen sein.«

»Ist er«, stellte der Engländer klar. »Genauso wie andere, fast ebenso mächtige Leute.«

Ein scharfes Einatmen war zu hören.

Plötzlich ertönte ein leises, entferntes Klopfen.

»Ja?«, fragte eine Stimme, nun wieder auf Arabisch. Besorgnis schwang mit.

»Zimmerservice«, drang die gedämpfte Antwort durch die Lautsprecher.

»Herein!«, rief der Brite. »Ich habe mir die Freiheit genommen, uns trotz der knappen Zeit einige bekömmliche Snacks zu ordern. Nur mit vollem Magen lässt sich wohlüberlegt entscheiden.«

Noch während er sprach, wurde die Stimme leiser, dann ertönte Klappern von Porzellan.

»Einen Moment noch«, sagte der Brite. Seine Stimme war kaum noch zu hören. »Ich habe noch eine Überraschung für die Schafhirten vorbereitet.«

Es knallte und ziepte laut in den Lautsprechern auf dem Schreibtisch. Die Männer rissen die Kopfhörer herunter und hielten sich die Ohren zu. Ein weiteres Mal zischte es, danach war nur noch ein Rauschen zu hören.

Der Oberst schloss die Augen und presste sich zwei Finger an die Schläfen. Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf.

»Mist«, fluchte der Mann im Sessel. »Die müssen etwas gewusst haben. Wir –«

Weiter kam er nicht.

Mit einem krachenden Knall flog die Zimmertür auf, Holzsplitter flogen in den Raum. Der Oberst, der dicht an der Tür stand, riss seine Pistole hoch. Aber er war zu langsam. Die Türkante traf ihn hart am Kopf, sodass er benommen nach hinten taumelte.

In rasender Folge ploppte es, die beiden Männer am Schreibtisch brachen augenblicklich zusammen, die Bildschirme der Laptops explodierten, das Satellitentelefon barst in tausend Stücke, der Datentransfer brach zusammen. Geschosse schlugen in die Wand hinter dem Schreibtisch ein und ließen Putz durch die Luft fliegen. Unter den zu Boden gegangenen Männern breiteten sich rote Lachen aus.

Der Mann im Sessel fiel nach hinten und zuckte. Sein Laptop schlug zunächst auf den Boden, dann wurde er von Geschossen durchsiebt.

Zwei maskierte Männer in dunklen Kampfanzügen betraten das Zimmer, auf dem Flur stand ein weiterer Mann. Alle hielten sie kurzläufige, vollautomatische Waffen mit aufgesetzten Schalldämpfern und Laserzielgeräten in den Händen. Die feinen roten Strahlen huschten auf der Suche nach neuen Zielen durch das Zimmer.

Der Oberst versuchte, sich aufzurappeln und seine Waffe auf einen der Eindringlinge zu richten. Abermals war er zu langsam. Der erste Maskierte trat ihm mit Wucht in den Unterleib. Der Oberst flog nach hinten, verlor seine Waffe und blieb stöhnend auf dem Rücken liegen. Der zweite Maskierte drehte sich zu ihm, hob die Waffe ein Stückchen an und drückte ab. Mehrere Geschosse trafen den Oberst in Kopf und Brust. Er war sofort tot.

Weitere Geschosssalven stellten sicher, dass auch das letzte Teil der im Raum vorhandenen technischen Ausrüstung unbrauchbar wurde. Von den Laptops blieben nur Plastik- und Metallsplitter in unterschiedlicher Größe und Form übrig.

Die beiden Maskierten wandten sich der Tür zu und verließen den Raum.

Auf der Türschwelle drehte sich der hintere von ihnen noch einmal um. »Erbärmliche Schafhirten«, flüsterte er leise und spuckte aus.

***

Zwei Männer stiegen in Hamburg aus dem Zug. In einem Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs wollte sich ihr Kunde mit ihnen treffen, um die Details des gewünschten Geschäfts zu besprechen.

»Treffen wir nun den Typen mit dem komischen holländischen Namen oder wieder nur das mittlere Management, mit dem wir bislang zu tun hatten?«, fragte Gunnar Kachens. Normalerweise kümmerte er sich um die geschäftlichen Angelegenheiten, in diesem Fall war es jedoch anders gelaufen.

Thore Blohmquist zuckte mit den Schultern. »Er heißt Jan Jacobs May van Schellinkhout. Hämmere dir das endlich in den Kopf. Natürlich wird er dabei sein. Nachdem bisher alle online getroffenen Arragements einwandfrei funktioniert haben, ebenso wie der erste Probelauf mit dem Material, will er uns persönlich kennenlernen.«

Kachens war erfreut. »Das klingt doch gut.«

»Ja«, sagte Blohmquist bemüht gleichmütig. »Bei diesem Deal geht es um richtig viel Kohle und für uns um die Eintrittskarte in die Liga, in der es noch viel mehr Kohle zu holen gibt. Genau das willst du doch.«

Gunnar grinste über das ganze Gesicht. »Klar will ich das.«

»Wir sind da«, sagte Thore. Er deutete auf eine große Glastür.

Kaum hatten die beiden die Lobby des Hotels betreten, wurden sie von einem diensteifrigen Angestellten in bunter Livree angesprochen. Thore erklärte ihm, dass sie mit einem Gast des Hauses verabredet seien und in der Lobby auf ihn warten würden. Um welchen Gast es sich denn handele, wollte der Mann wissen. Er könne ihn über ihre Ankunft informieren. Ob sie in der Zwischenzeit vielleicht einen Kaffee zu sich nehmen wollten oder einen Tee?

Nachdem Thore in harschem Ton alle Angebote abgelehnt hatte, zog sich der Angestellte verschnupft zurück. Die beiden setzten sich auf ein bequemes Ledersofa im hinteren Teil der Lobby, schlugen die Beine übereinander und warteten. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie erneut angesprochen wurden.

»Mr. Kachens? Mr. Blohmquist?«, fragte ein großer, sehr kräftiger Mann im schwarzen Anzug, der eindeutig nicht zum Hotelpersonal gehörte.

Gunnar und Thore sahen auf und nickten gleichzeitig.

»Mr. van Schellinkhout is awaiting you.«

»Wonderful. Let’s go.« Gunnar war sofort in seinem Element. Big Business, da wollte er immer hin. Jetzt war es zum Greifen nahe.

Der Mann deutete auf den Fahrstuhl, dessen Tür noch offen stand. Sie fuhren zur Penthouse-Suite, die fast das ganze oberste Stockwerk einnahm. Als sich die Tür öffnete, wurden sie im Vorraum zur eigentlichen Suite von einem weiteren muskulösen Mann im schwarzen Anzug erwartet. Er nahm die Sonnenbrille ab und blickte Thore und Gunnar abschätzig an.

»One after the other«, knurrte er mit tiefer Bassstimme. »Einär nak den andern«, versuchte er sich auf Deutsch.

Gunnar trat als Erster vor. Der Mann mit der tiefen Stimme bedeutete ihm schroff, stehen zu bleiben und die Arme zu heben. Mit einem Fragezeichen im Gesicht leistete Gunnar der Anordnung Folge. Mit geübten Handgriffen wurde er nach Waffen oder Ähnlichem abgetastet. Dabei verrutschte das Jackett seines Gegenübers, und Gunnar konnte einen Blick auf eine silbrig glänzende Waffe in einem Schulterholster erhaschen. Seine Knie wurden ein wenig weich.

»Okay. Next.« Der Mann zeigte auf Thore. »Du.«

»Das kann ja lustig werden«, murmelte Gunnar leise vor sich hin. »In welche Scheiße hast du uns da reingeritten?«

Als klar war, dass keiner der beiden eine Waffe trug, geleitete der erste Mann in Schwarz sie zum Eingang der Suite. Er klopfte, öffnete die Tür und ließ Gunnar und Thore eintreten.

Vor ihnen erhob sich ein untersetzter, elegant gekleideter Mann aus einem Sessel. Er trug einen perfekt sitzenden grauen Anzug sowie ein weißes Hemd und strich sich beim Aufstehen die dunkelrote Krawatte glatt. Mit seinem leicht dunklen Teint, der erahnen ließ, dass Nordeuropa nicht seine Heimat war, und den schwarzen, streng nach hinten frisierten Haaren sah er aus wie aus einem Managermagazin entsprungen.

»Mr. Kachens, Mr. Blohmquist. What a pleasure!«, begann er auf Englisch, wechselte dann aber unvermittelt ins Deutsche, das er fehlerfrei und nur mit einem leichten Akzent sprach. »Schön, dass Sie es einrichten konnten.«

Thore sah sich vorsichtig um. Edle Möbel, teure Teppiche, Ölgemälde mit klassischen Szenen an den Wänden. Alles vom Feinsten. Die beiden Gorillas waren draußen geblieben und ruinierten die Atmosphäre des Raumes nicht durch ihre Anwesenheit. Es stank förmlich nach Geld und Macht. Noch etwas anderes lag in der Luft, nur konnte Thore nicht sagen, was.

»Es ist uns eine Ehre, Mr. van Schellinkhout«, sagte Gunnar. »Wir freuen uns darauf, mit Ihnen Geschäfte zu machen.«

»That’s just great«, sagte der Mann mit einem Haifischlächeln. »Setzen wir uns doch.«

Die drei traten durch eine weit geöffnete Tür in eine Art Wintergarten. Sie setzten sich an einen runden Tisch, auf dem Mineralwasser und ein Teller mit frischem Obst standen.

»Wie laufen die Geschäfte?«, fragte Thore, um ein wenig Konversation zu machen.

Mr. van Schellinkhout strahlte ihn an. »Hervorragend. Und dank Ihrer Hilfe bald noch viel besser. Trotz oder vielleicht wegen aller Konflikte und Krisen birgt der Mittlere Osten ein beeindruckendes Potenzial für Profit. Man muss den Hebel nur an der richtigen Stelle ansetzen.«

»Das freut mich«, antwortete Thore. Mehr fiel ihm gerade nicht ein.

»Zur Sache«, sagte Mr. van Schellinkhout, und alle Freundlichkeit wich aus seinem Gesicht. »Ich benötige verschiedene Produkte. Soweit ich verstanden habe, können Sie mir zwei davon liefern.«

Gunnar straffte sich. »Das ist richtig. Eines der beiden Produkte hat mein Partner«, er zeigte auf Thore, »bereits zu Testzwecken übergeben.«

Van Schellinkhout nickte. »Es wird am Zielort eintreffen. Dort werden wir es ausführlich erproben. Wenn es unseren Erwartungen entspricht, benötigen wir mehr. Sie kennen bereits die gewünschte Menge und die Termine für die Teilchargen.«

»Dafür benötige ich mehr Zeit«, sagte Thore.

»Nein«, wurde er von van Schellinkhout brüsk unterbrochen. »Der Zeitplan ist unumstößlich. Passen Sie sich an. Abweichungen sind inakzeptabel.«

Thore hatte das Gefühl, dass die Temperatur im Raum schlagartig um einige Grad gefallen war.

»Selbstverständlich halten wir den Zeitplan ein«, versicherte Gunnar schnell.

»Was das zweite Produkt angeht«, fuhr van Schellinkhout fort, »so reichen mir die vorhandenen Informationen nicht. Ich möchte mir Ihre Anlagen ansehen und benötige eine Demonstration der Wirksamkeit.«

»Das wird schwierig«, warf vorsichtig Gunnar ein.

»Nein«, sagte van Schellinkhout abermals. »Es ist die Voraussetzung, sonst ist der Deal geplatzt.«

Gunnar breitete die Hände aus. »Wir machen es möglich.«

»Da ist noch eine andere Sache«, sagte van Schellinkhout. »Ich plane, unsere grundsätzliche Lieferroute zu verändern. Cuxhaven ist ideal für unsere Zwecke. Können Sie Lagerkapazitäten bereitstellen?«

»Das können wir besprechen«, sagte Gunnar und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.

***

Ian Parker lehnte sich an den Tresen. Ein bärtiger Mann schräg gegenüber prostete ihm zu, setzte sein Glas an den Mund und leerte es in einem Zug. Parker liebte diesen Pub, die Atmosphäre aus trübem Licht, mitreißender irischer Musik und fröhlichen Gästen. Fehlte eigentlich nur der Zigarettenrauch, aber Rauchen war hier in den Pubs, Bars, Cafés und Restaurants schon lange nicht mehr erlaubt. Jeden Freitag, sofern er in London war, kehrte er nach Feierabend hier ein, um sich bei ein paar Gläsern Frischgezapftem auf ein freies Wochenende einzustellen. So war es auch heute. Derweil war das dritte Glas fast leer. Der Barkeeper warf ihm einen fragenden Blick zu, doch Parker winkte ab. Es war zehn Uhr abends, und die Kombination aus Bier und einer anstrengenden Woche forderte ihren Tribut. Er zog ein paar Pfundnoten aus der Tasche, die ausreichten, seine Getränke zu zahlen und dem Barkeeper ein anständiges Trinkgeld zukommen zu lassen, legte das Geld auf den Tresen und erhob sich.

Draußen auf der Straße blieb Parker zunächst stehen und sog die frische Nachtluft tief in seine verräucherten Lungen. Der Mond stand hoch am wolkenlosen Himmel und ließ ein kühles Licht auf die Straße und die umstehenden Häuser fallen. Für eine Nacht im Januar war es überraschend mild.

Hinter ihm öffnete sich die Tür des Pubs, und ein stark angetrunkener Mann stolperte Arm in Arm mit einer vollbusigen, für die Jahreszeit leicht bekleideten Frau heraus. »Lass uns Spaß haben, Baby«, grölte er und grabschte ihr ungeniert an den Hintern. Sie gluckste nur und ließ ihn machen.

Parker schüttelte angewidert den Kopf. »Ab nach Hause und ins Bett«, murmelte er vor sich hin. Ihm näherte sich eine Gruppe junger Männer. Wild gestikulierend und laut lachend steuerten sie zielstrebig auf die Tür des Pubs zu. Ein Nachzügler lief hinter der Gruppe her. Parker machte einen Schritt zur Seite, um den Mann vorbeizulassen, doch auf einmal stolperte dieser und fiel ihm fast in die Arme. Parker trat einen Schritt nach hinten, um nicht umgerissen zu werden, rutschte jedoch selbst am Bordstein ab und spürte plötzlich einen kurzen stechenden Schmerz an der Wade.

»Oh je, entschuldigen Sie«, stammelte der junge Mann und reichte Parker die Hand. »Das wollte ich nicht. Haben Sie sich verletzt?«

Parker betastete sein Bein. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Nichts passiert. Viel Spaß beim Feiern.«

Ein breites Lächeln zog sich über das Gesicht des anderen. »Garantiert.«

Als Parker am folgenden Morgen aufwachte, hämmerte es in seinem Schädel, als hätte er am Vorabend nicht drei Gläser Bier, sondern drei Flaschen Whiskey geleert. Er presste die Hände gegen die Schläfen, doch der Schmerz ließ sich dadurch nicht vertreiben. Bei dem Versuch, sich aufzusetzen, wurde ihm schwarz vor Augen. Nur mühsam kam er auf die Beine. Nachdem er ein leichtes Frühstück zu sich genommen und eine Tasse starken, schwarzen Kaffee getrunken hatte, fühlte er sich ein wenig besser. Eigentlich hatte er vorgehabt, im Supermarkt um die Ecke seine Lebensmittelvorräte aufzufüllen, aber er entschied sich dagegen und legte sich neuerlich ins Bett. Es dauerte nicht lange, bis er in einen unruhigen Schlaf fiel.

Nach seinem erneuten Erwachen ein paar Stunden später hämmerte es in seinem Kopf heftiger als zuvor, um ihn herum herrschte undurchdringliche Schwärze. Der Versuch, die Augen zu öffnen, scheiterte. Langsam bewegte er eine Hand, dann die andere. Nachdem das geklappt hatte, wiederholte er die Prozedur mit jedem einzelnen Finger. Mit einem Schwung rollte er sich auf den Rücken. Die plötzliche Bewegung führte jedoch nur zu einer Verlagerung der Schmerzen aus dem Kopf in den Bauch. Parker krampfte sich zusammen und stöhnte.

Er versuchte, sich aufzumuntern, sagte sich, dass bald alles besser werden würde, dass er wahrscheinlich nur etwas Falsches gegessen oder getrunken hatte, aber statt der beabsichtigten Worte quollen nur unverständliche Grunzlaute aus seinem Mund. Er nahm erneut Anlauf, die Augen zu öffnen, und plötzlich wechselte die Schwärze in gleißendes, blendendes Weiß. Einen Schmerzenslaut von sich gebend, kniff er die Augen zusammen. Um sie besser vor dem plötzlichen Licht zu schützen, riss er die Hände hoch, und eine Schmerzenswelle fuhr durch seinen Körper. Langsam ebbte die Intensität des Weiß ab, seine Augenlider entspannten sich. Um ihn herum war alles verschwommen. Es benötigte weitere schier endlose Sekunden, bis sich Strukturen und Farben herausbildeten. Sein Magen fühlte sich nach wie vor an, als wolle er jeglichen Inhalt hinauspressen.

Irgendwie kam Parker aus dem Bett und schleppte sich ins Badezimmer. In einem Schränkchen fand er Aspirin und etwas, das seinen Magen beruhigen sollte. Anschließend stolperte er in seine kleine Küche und holte eine Flasche Wasser.

Wenn es nicht bald besser wird, sollte ich zum Arzt gehen, schoss es ihm durch den Kopf. Oder 999 anrufen und den Notarzt kommen lassen.

Plötzlich fuhr erneut eine Welle des Schmerzes durch seinen Körper. Parker begann zu zittern. Die Wasserflasche fiel ihm aus der Hand und zerbrach auf dem gefliesten Fußboden in tausend Stücke. Nach wenigen Augenblicken glitt er zurück in unendliche, konturlose Schwärze.

EINS

Montag, 20.Januar, irgendwann nach Mitternacht bis mittags

Die Nacht war dunkel, die tief hängende, dichte Wolkendecke ließ kein Mondlicht auf die Erde fallen. Kräftige Windböen peitschten die dicken Regentropfen fast waagerecht durch die Luft. Nur die Laternen entlang des übermannshohen und mit Stacheldraht bewehrten Zaunes, der an der Neufelder Schanze das Gelände um Ports-of-Cux umspannte, spendeten diffuses Licht, das jedoch jeweils nur einen geringen Radius um die Laterne ausleuchtete. Alles, was hinter, neben oder vor diesem kleinen Kreis lag, verschwand in geisterhaftem Zwielicht.

Eine Gestalt stemmte sich gehüllt in eine lange schwarze Regenjacke gegen den Wind und trat in einem dunklen Abschnitt zwischen zwei der Laternen an den Zaun. Vielleicht fünfzig Meter entfernt vor der Gestalt waren die Umrisse abgestellter Lkws zu erahnen, ebenso die hinter dem Zaun dicht an dicht aufgereihten Autos, die auf ihre Verladung auf eines der am Pier festgemachten Autotransportschiffe nach England warteten.

Trotz des immer stärker werdenden Regens schob die Gestalt die Kapuze nach hinten, um besser in die Dunkelheit spähen zu können. Immer wieder schaute sie sich um und tänzelte von einem Bein auf das andere. Mit einer barschen Bewegung hob sie den Arm und warf einen schnellen Blick auf die Uhr am Handgelenk.

»Ganz ruhig. Immer entspannt bleiben«, sagte plötzlich eine tiefe, aber leise Stimme hinter dem Zaun.

Der Mann zuckte erschrocken zusammen. Ruckartig drehte er sich der Stimme zu und suchte den Sprecher in der nebeligen Dunkelheit. »Komm raus«, knurrte er, Selbstsicherheit vortäuschend. »Ich habe nicht ewig Zeit.«

Ein heiseres Lachen erklang, dann trat eine weitere Gestalt aus dem Regendunst. Von dem dunklen Overall aus wasserabweisendem Material perlten die Regentropfen ab, nur die schwarze Schirmmütze war vor Nässe durchweicht. Der Neuankömmling stellte sich breitbeinig vor den Zaun und wartete.

Der andere bekam seine Nervosität langsam unter Kontrolle. »Wo ist das Geld?« Er mühte sich, einen geschäftsmäßigen Ton anklingen zu lassen.

Der Mann im Overall lachte erneut. »Hast du das Produkt?«

»Selbstverständlich habe ich die neue Charge. Erst die Kohle.«

Der andere zog einen Briefumschlag aus einer Tasche des Overalls hervor. Sofort begannen die unaufhörlich niedergehenden Regentropfen das Papier zu durchnässen.

Der Mann in der Regenjacke kramte ebenfalls in seiner Jackentasche und hielt eine kleine, durchsichtige Plastiktüte in der Hand, in der sich ein rundes Plastikgefäß befand. Langsam trat er an den Zaun und streckte die Tüte zwischen zweien der Gitterstäbe hindurch auf die andere Seite.

Der Mann im Overall tat das Gleiche mit dem Briefumschlag. Gleichzeitig griffen die beiden Männer nach der Ware des jeweils anderen.

»Halt. Was ist hier los?« Eine neue Stimme durchbrach plötzlich die Dunkelheit und ließ beide Männer zusammenfahren. Ein Hund bellte.

»Scheiße, ein Wachmann«, jammerte der in der Regenjacke. Er wandte sich ab und lief mit schnellen Schritten die Straße hinunter.

»Stehen bleiben!«, rief die neue Stimme hinter ihm. »Raptor, fass!«

Ein Knurren war zu hören. Mit einem weiten Sprung setzte sich ein großer Hund in Bewegung und schoss wie eine Rakete dem Mann in der Regenjacke hinterher. In demselben Moment, in dem der Hund zum nächsten Sprung ansetzte, krachte ein Schuss. Der Knall ging durch Mark und Bein. Die Kugel traf den Hund auf dem Scheitel seiner Flugbahn in den Bauch. Anstatt den Mann in der Regenjacke anzufallen, stürzte das Tier wie ein Stein zu Boden.

Keuchend kam der Wachmann angelaufen. Er war völlig aus der Puste und verfluchte innerlich die zwölf Kilo Übergewicht, die er tagein, tagaus mit sich herumschleppte. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er den schwer verletzten, wimmernden Hund sah.

»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte er.

Der Mann in der Regenjacke löste sich langsam aus der Starre, in die er gefallen war, als er den Schuss gehört hatte.

»He, Sie da!«, rief der Wachmann. »Hiergeblieben, Freundchen.«

Doch bevor er noch ein weiteres Wort aussprechen konnte, knallte es erneut, und der Wachmann brach zusammen.

»Ach du Kacke«, stöhnte der Kapuzenmann entsetzt, als er im trüben Licht einer dicht am Wachmann stehenden Laterne die Blutlache entdeckte, die sich um dessen Kopf ausbreitete. Der Anblick ließ ihn auf die Knie sinken. Er begann zu würgen und erbrach sich.

Hinter dem Zaun ertönte erneut das heisere Lachen. »Mensch, was bist du für ein Jammerlappen? Reiß dich zusammen.«

Die harschen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Der andere erhob sich, wischte sich mit dem Handrücken Reste des Erbrochenen vom Mund und entfernte sich mit immer schneller werdenden Schritten in Richtung Baudirektor-Hahn-Straße.

»Vergiss unsere Abmachung nicht. In der nächsten Woche erwarten wir die nächste Charge«, rief ihm der Typ im Overall hinterher.

***

Am folgenden Morgen hatten sich die dicken, grauen Wolken, aus denen es in den vergangenen drei Tagen ununterbrochen geregnet hatte, endlich aufgelöst. Nur einige kleine Exemplare wurden von einem frischen Wind über den langsam heller werdenden Himmel geschoben. Mit jeder Minute, in der die Nacht in den Tag überging, veränderten sich die dunklen Konturen zu Hafenanlagen mit Gebäuden, Lagerhallen und Kaimauern. Für Januar waren die Temperaturen sehr mild. Die Wasseroberfläche des neuen Fischereihafens kräuselte sich im Wind. Kleine Wellen schlugen gegen die Bordwände der Fischkutter, die an den Fischhallen festgemacht hatten. Im Schwimmdock von Empting lag die »Jan Cux II« und wurde für die nächste Saison fit gemacht. Von den Dächern der Gebäude stoben ein paar Lachmöwen auf und zogen kreischend ihre Bahnen.

Im vorderen Bereich des Hafenbeckens, dort, wo gewöhnlich die Schiffe der Bundespolizei anlegten, herrschte trotz der frühen Morgenstunde hektische Betriebsamkeit. Bereits am Tag zuvor war dem Wetter zum Trotz ein Schwimmkran hierher verbracht worden. Der Ausleger ragte über das Wasser hinaus, und schwere Gurte, befestigt an einem riesigen Haken, senkten sich langsam bis auf die Wasseroberfläche hinab.

Noch bevor die Gurte ins Wasser eintauchten, öffnete sich das innere Tor der Seeschleuse, und der Schlepper »Wulf 4« schob sich langsam in das Hafenbecken. Das bullige Schiff hielt auf den Schwimmkran zu und machte kurze Zeit später direkt dahinter fest.

Auf der gegenüberliegenden Seite, wo der Lotsenversetzer »Döse« lag, drängte sich eine kleine Gruppe Schaulustiger, die, mit Kameras und langen Objektiven bewaffnet, auf die anstehenden Aktivitäten warteten.

Vor zwei Tagen war der hier schon seit Jahren liegende und langsam verrottende Krabbenkutter »Emma V« gesunken. Der alte Eigner des Kutters war lange tot, es gab keine Erben, und auch sonst hatte sich niemand für den einstmals stolzen Kutter interessiert. Nun lag das Wrack auf dem Grund des Hafenbeckens und blockierte gleich mehrere Liegeplätze. Da außerdem die Gefahr bestand, dass das Schiff auseinanderbrach, hatte die Hafenbehörde beschlossen, es schnellstmöglich zu heben und abwracken zu lassen.

Vom Schlepper ließen sich mehrere Taucher in das trübe, kalte Wasser gleiten und versanken unter der Oberfläche. Sie hatten die Aufgabe, zuerst die Hebesäcke am Rumpf anzubringen – lange Würste, die man später mit Pressluft aufblasen würde –, um dem Wrack Auftrieb und Stabilität zu geben. Anschließend würden sie die Gurte befestigen, an denen der Kutter aus dem Wasser gehoben werden sollte. Die Konzentration der Männer im Wasser und an Land war fast mit Händen zu spüren. Auch wenn Schiffsbergungen für alle Beteiligten nicht unbedingt etwas Neues waren, so war doch jeder Einsatz eine neue Herausforderung.

Hinter dem Schlepper war noch ein Schlauchboot der DLRG aus dem Schleusenbecken in den Hafen eingelaufen. Die Wasserretter waren zur Sicherheit da, sie würden eingreifen, sollte einem der Taucher etwas zustoßen.

Ein Mann mit leuchtend gelber Warnweste dirigierte auf dem Pier einige Mitarbeiter des Schwimmkrans zur Seite, um einem soeben eintreffenden Feuerwehrfahrzeug Platz zu machen. Dahinter rollten ein Krankenwagen und ein Fahrzeug der Polizei vor.

Die Wagen hielten, Männer und Frauen stiegen aus und sahen sich neugierig um.

»Moin«, begrüßte sie der Polizist in Zivil, kaum dass er selbst aus dem Polizeiwagen gestiegen war. Sein Kollege Martin Greiner saß noch im Auto und telefonierte.

Arne Olofsen war eigentlich Hauptkommissar im Fachkommissariat 1 der Polizeiinspektion Cuxhaven, und somit fiel die Aufklärung von Kapitalverbrechen wie Mord in seinen Aufgabenbereich, aber nicht unbedingt die Absicherung von Schiffsbergungen. Allerdings begeisterte ihn das maritime Leben der Stadt. Er hatte sich nahezu aufgedrängt, heute Morgen dabei sein zu können. Zusammen mit Martin Greiner bildete er ein eingeschworenes Team.

Olofsen schüttelte ein paar Hände, wechselte das eine oder andere Wort und machte sich dann eiligst auf die Suche nach dem technischen Einsatzleiter für die Bergung. Er fand ihn an Bord des Schwimmkrans. Der Mann saß gerade am Fahrstand des Krans und hielt eine Thermoskanne mit Kaffee in der Hand, als Olofsen eintrat. Fragend sah der Einsatzleiter seinen Besucher an.

»Mächtig was los hier am frühen Morgen«, sagte Olofsen gut gelaunt und streckte die Hand aus. »Olofsen, Polizei Cuxhaven.«

Der andere entspannte sich.

»Ah, ich dachte schon, einer der Zaungäste hätte einen Weg hinter die Absperrungen gefunden.« Er lachte. »Ingo Carstens. Tasse Kaffee?«

Olofsen nickte und schaute nach draußen. »Wann geht es los?«

Carstens warf einen Blick auf die Uhr. »Ein paar Minuten wird es noch dauern. Die Taucher sind im Wasser und bringen die Hebesäcke und Gurte an. Danach wird es spannend.«

Dampfender Kaffee gluckerte aus der Kanne in eine Tasse.

»Ich lass mich überraschen«, sagte Olofsen und nahm einen Schluck. Erstaunt verzog er das Gesicht. »Wow, das Zeug ist aber stark.«

Carstens zeigte schmunzelnd auf ein Päckchen Würfelzucker und eine kleine Kanne Kaffeesahne. »Das sollte helfen, den Geschmack zu verbessern. Ich hab’s aufgegeben, meinen Jungs das richtige Verhältnis von Kaffeepulver und Wasser beizubringen.«

»Was passiert eigentlich mit dem Kahn, wenn er erst mal aus dem Wasser ist?«, erkundigte sich Olofsen.

»Wenn alles so klappt, wie wir es uns vorstellen, setzen wir ihn auf die freie Heckfläche des Schwimmkrans. Später geht es auf den Schrottplatz«, beantwortete Carstens die Frage.

Die Tür zu dem kleinen Steuerhaus ging quietschend auf, und ein Mitglied der Bergungsmannschaft steckte den Kopf hindurch. »Die Taucher sind so weit. Die Säcke sind platziert, wir können die Gurte anbringen.«

Carstens streckte den Daumen nach oben.

Olofsen verstand die Geste als Hinweis, dass seine Besuchszeit abgelaufen war. Er bedankte sich für den Kaffee und verließ den Schwimmkran. Zurück auf dem Pier gesellte er sich zu Greiner, der mit ein paar Kollegen von der Feuerwehr die Arbeiten beobachtete.

An zwei verschiedenen Stellen blubberten Luftblasen an die Oberfläche. Die Taucher selbst waren in dem trüben Wasser nicht zu sehen.

Dicke, graue Wolken hatten in der Zwischenzeit erneut die Herrschaft am Himmel übernommen. Die ersten Regentropfen fielen.

»Schietwetter«, beschwerte sich Olofsen und schlug den Kragen seiner Jacke hoch.

»Es ist Januar. Sei froh, dass es nicht schneit«, sagte Greiner. Die Besatzung des Feuerwehrfahrzeugs zog sich in ihr Gefährt zurück.

Plötzlich begann an einer der beiden Stellen, an der vorher Luftblasen aufgestiegen waren, das Wasser zu brodeln. Olofsen straffte sich und beobachtete aufmerksam die Stelle. Mit einem schwungvollen Satz durchbrach einer der Taucher die Wasseroberfläche. Er riss sich die Maske vom Gesicht. »Verdammte Scheiße!«, schrie er. »Da unten steckt eine Leiche in dem Wrack.«

Nur Augenblicke später war das Schlauchboot der Wasserrettung neben ihm. Kräftige Hände packten den Taucher und zogen ihn über den Gummiwulst in das Boot.

Olofsen rannte auf die Stelle zu, an der das DLRG-Boot anlegen würde. Greiner folgte ihm und gab im Laufen den Kollegen im Krankenwagen einen Wink.

Kurz darauf saß der Taucher mit weichen Knien und zittrigen Beinen zwischen den offenen Hecktüren des Krankenwagens. Die Wasserretter hatten ihm schon die schwere Tauchausrüstung abgenommen, ein Rettungssanitäter beugte sich gerade über ihn und maß seinen Blutdruck.

Olofsen stand vor dem Mann und sah ihn an. »Was ist passiert?«

Der Taucher schüttelte sich, dann blickte er zu Olofsen auf. Mittlerweile regnete es in Strömen, der Wind hatte aufgefrischt, Wassertropfen liefen dem Polizisten aus den Haaren und dann über das Gesicht, aber das schien ihn nicht zu stören.

»Als ich die Hebesäcke in Position gebracht habe, bin ich auf ein Loch mittschiffs in der Bordwand gestoßen«, sagte der Taucher, um Festigkeit in der Stimme bemüht.

Olofsen wartete.

»Als ich prüfen wollte, wie groß dieses Loch war, hatte ich plötzlich einen Arm in der Hand.« Der Mann schüttelte sich erneut, als versuche er, die Erinnerung daran loszuwerden. »Vor Überraschung und Schreck habe ich gezogen – da kam ein Kopf hinterher. Der Horror. Schlimmer als im Film, sag ich dir.« Er holte tief Luft. »Kaum Sicht in der Brühe da unten, und plötzlich hast du ein blasses, totes Gesicht vor der Nase.« Er sackte nach vorne, sodass der Sanitäter ihn stützen musste.

Olofsen blickte sich zu Greiner um, der hinter ihn getreten war. »Rufst du an?«

Greiner nickte, zückte sein Handy aus der Jackentasche und machte ein paar Schritte vom Krankenwagen weg.

Carstens kletterte vom Schwimmkran auf den Pier und lief auf Olofsen zu. Er war gleichzeitig weiß um die Nase und aufgedreht. Jemand hatte ihm bereits erzählt, was geschehen war. »So ein Mist«, rief er aufgebracht. »Eine Wasserleiche. Das hat gerade noch gefehlt. Und jetzt?«

Die Frage war an niemanden Spezielles gerichtet, aber Olofsen antwortete dennoch sofort. »Wir müssen die Leiche bergen. Das hat jetzt Vorrang vor dem Schiff.«

»Scheiße«, fluchte Carstens lautstark. Er wandte sich an den Taucher. »Thomas, ist der Körper vollständig aus dem Wrack herausgekommen?«

Der Angesprochene sah Carstens an, als hätte er es mit einem Schwachsinnigen zu tun. Dann fasste er sich wieder. »Nein, der hing irgendwo fest. Ist ein Stück aus dem Loch gerutscht, und das war’s.«

»Noch mal Scheiße«, fluchte Carstens erneut.

»Das vereinfacht die Sache«, warf Olofsen ein. »In diesem Fall müssen wir eben Schiff und Leiche gleichzeitig aus dem Wasser heben.«

Die Miene des Einsatzleiters hellte sich auf.

In diesem Moment kehrte Greiner zurück. »Ein Notarzt ist unterwegs, die Feuerwehrtaucher werden auch in Kürze hier sein.«

»Sehr gut.« Olofsen schnaubte einmal kurz und blickte in den grauen Himmel. Der Regen war noch stärker geworden, die Wolken noch grauer. Er war bereits nass bis auf die Haut. »Jetzt kommt Leben in die Bude.«

Von fern war ein Martinshorn zu hören. Olofsen wandte sich wieder an Carstens. »Wir brauchen eine Sichtblockade, wenn wir das Wrack heben und davon ausgehen müssen, dass ein Leichnam zur Hälfte aus dem Rumpf hängt. Wie können wir das machen?«

Der Einsatzleiter legte nachdenklich die Stirn in Falten und warf einen Blick auf die Gruppe der Schaulustigen auf der anderen Seite des Hafenbeckens. Seit dem Zwischenfall mit dem Taucher schien sie gewachsen zu sein. Kameras waren auf die Stelle ausgerichtet, an der der gesunkene Kutter in Kürze die Wasseroberfläche durchstoßen würde. »Wir sollten hier den ganzen Pier absperren. Das ist euer Job.« Bei diesen Worten blickte er nacheinander Olofsen und Greiner an und stemmte in Entscheiderpose die Arme in die Hüften.

Die beiden nickten zustimmend.

»Außerdem können wir als Sichtsperre den Schlepper zwischen die Schaulustigen und die Untergangsstelle verlegen. Das ist besser als nichts.«

»Gute Idee«, bestätigte Olofsen.

»Gibt es Planen oder etwas Ähnliches, das wir am Rumpf des Kutters anbringen können, sobald er an die Oberfläche kommt?«, fragte Greiner. »Damit könnten wir den Körper verdecken und uns pietätlose Bilder auf Facebook ersparen.«

Carstens schnippte mit den Fingern. »Werde ich besorgen lassen. In spätestens zwanzig Minuten werden die Planen hier sein.« Er wandte sich ab und winkte einem seiner Mitarbeiter zu.

Olofsen sah seinen Kollegen nachdenklich an. »Eine Leiche in einem untergegangenen Krabbenkutter. Das schmeckt für mich schon jetzt komisch.«

Greiner blickte auf das Wasser des Hafenbeckens. Auch er hatte die Stirn in Falten gelegt. »Ich kann mir auch kaum vorstellen«, sagte er, »dass jemand, der tot im Rumpf eines seit Jahren vor sich hin gammelnden Kahns liegt, eines natürlichen Todes gestorben ist.«

»Wir brauchen Verstärkung. Frank muss rauskommen und den Kutter untersuchen.«

Frank Pall war der Leiter der Tatortgruppe der Cuxhavener Polizei und damit Herr über die Spurensuche und Tatortanalyse. Er war ein exzellenter Analytiker – aber, ähnlich wie Olofsen, ein leicht aufbrausendes Alphamännchen, das Schwierigkeiten hatte, mit konträren Meinungen umzugehen. Die Wortgefechte, die sich Olofsen und Pall regelmäßig lieferten, waren bei der Polizei im ganzen Landkreis Cuxhaven legendär.

Greiner telefonierte abermals. Nur wenige Augenblicke später war das Gespräch beendet. »Frank ist unterwegs.«

»Und ich hatte gehofft, einen ruhigen Vormittag verbringen zu können.« Olofsen schüttelte den Kopf. »Aus der Traum.«

Tatsächlich vergingen nur wenige Minuten, bis ein grauer Kombi mit quietschenden Reifen über die Brücke des bereits wieder geschlossenen inneren Schleusentores raste und an dem kleinen Parkplatz in der Schleusenstraße vor dem Verwaltungsgebäude von Royal Greenland Seafood zum Stehen kam.

Die Tür flog auf, und ein stämmiger Mann, unrasiert und mit einer verwaschenen Baseballkappe auf dem Kopf, kämpfte sich aus dem Wagen. Seine wachen Augen scannten die Umgebung, bis er Olofsen und Greiner entdeckt hatte. Mit forschen Schritten lief er auf seine Kollegen zu. Ohne auch nur einen Finger in den Mund stecken zu müssen, stieß er einen schrillen Pfiff aus, sein Zeigefinger vollführte wilde Gesten in der Luft.

»Arne!«, rief er so laut über den Pier, dass sich alle Köpfe zu ihm umdrehten. »Was habt ihr beiden angestellt? Schiffe versenken gespielt?«

Olofsen verdrehte die Augen. »Moin, Frank. Schön, dich zu sehen.«

»Ha«, lachte Pall und schlug Olofsen mit seiner Pranke auf die Schulter, sodass dieser husten musste. »Immer gelassen, egal wie laut dich dein Gegenüber angeht. Da hast du aber im Seminar für Krisenmanagement verdammt gut aufgepasst.«

»Ich war wenigstens da«, ätzte Olofsen. »Im Gegensatz zu dir.«

Pall winkte ab. »Ich hatte Wichtigeres zu tun. Die Justierung der neuen Lampe am Mikroskop hatte absoluten Vorrang. Dumm quatschen kann ich auch ohne Workshop.«

Olofsen holte Luft, doch Greiner schob sich schnell zwischen die beiden. »Wir sind nicht zum Spaß hier.«

Olofsen und Pall schwenkten synchron die Köpfe und blickten Greiner an. Dann begannen beide gleichzeitig herzhaft zu lachen.

Olofsen sammelte sich als Erster. »Warum bist du eigentlich so schnell hier?«, fragte er seinen Kollegen.

Pall wurde ebenfalls wieder ernst. »Unschöne Sache«, sagte er. »Drüben in der Neufelder Schanze ist ein Wachmann von Ports-of-Cux erschossen wurden. Zusammen mit seinem Hund.«

Olofsen machte große Augen. »Warum weiß ich davon nichts?«

Pall zuckte mit den Schultern. »Hellmann hat den Fall.«

»Der Trottel?«, fragte Olofsen. »Der findet nicht einmal den Schützen, nachdem der sich selbst in den Fuß geschossen hat und mit der Waffe in der Hand im Kreis humpelt.«

Pall lachte erneut. »Zum Glück gibt’s ja mich. Ich werde ihm schon den rechten Weg weisen.«

»Was ist bei Ports-of-Cux passiert?«, erkundigte sich Greiner.

»Der Wachmann macht immer zusammen mit seinem Hund eine Kontrollrunde außen um den Zaun des Geländes. Dort ist er niedergeschossen worden, wahrscheinlich im Laufe der Nacht. Gefunden haben sie ihn erst Stunden später. Wie es scheint, wurden die Schüsse vom Gelände aus abgegeben.«

»Flüchtlinge?«, fragte Olofsen. Er wusste, dass es immer wieder vorkam, dass Flüchtlinge, meist aus Osteuropa, versuchten, auf das Ports-of-Cux-Gelände zu gelangen und sich in den dort abgestellten Autos oder Lkws zu verstecken. Auf diese Weise hofften sie, es auf eine der Roll-on-roll-off-Fähren nach England zu schaffen.

Pall wiegte den Kopf hin und her. »Nein, glaube ich nicht. Es gab keine Hinweise darauf, dass der Zaun überstiegen wurde. Und wie gesagt, die Schüsse wurden von innerhalb abgegeben. Da wird Hellmann noch Gehirnschmalz reinstecken müssen.«

Olofsen musste husten.

»Aber warum bin ich eigentlich hier?«, fragte Pall und warf einen neugierigen Blick auf die Szenerie vor ihm.

»Du wirst einen Krabbenkutter untersuchen müssen«, erklärte Olofsen.

Pall sah ihn fragend an. »Was für einen Krabbenkutter?«

Olofsen deutete mit dem Kopf auf das Hafenbecken. »Der ist untergegangen. Aber in Kürze soll er gehoben werden. Deshalb haben wir auch den Schwimmkran hier. Einer der Taucher, die das Wrack vorbereitet haben, hat eine Leiche im Rumpf des Kutters entdeckt.«

»Verstehe«, murmelte Pall. »Dann werde ich mal meine Ausrüstung aus dem Wagen holen. Wie lange wird es noch dauern?«

Olofsen sah auf die Uhr und dann zum Himmel. Die Regenwolken hatten sich zwischenzeitlich verzogen, sogar die Sonne lugte zwischen den grauen Wolkenbergen hervor. In der Ferne entdeckte er jedoch erneut eine dunkle Wolkenwand, die nichts Gutes verhieß. »Ich hoffe, es geht bald los. Bevor wir noch einmal nass werden.«

Die Arbeiten unter Wasser wurden wieder aufgenommen. Der Notarzt war eingetroffen, ebenso ein kleiner Transporter, aus dem zwei von Carstens’ Mitarbeitern mehrere lange Rollen mit einer leichten schwarzen Folie ausluden.

Carstens saß wie gehabt in dem kleinen Steuerhaus des Schwimmkrans, Olofsen, Greiner und Pall standen im Heck und beobachteten die Arbeiten. Nacheinander tauchten drei Taucher aus dem Wasser auf und deuteten mit Handzeichen an, dass ihre Arbeit erfolgreich beendet war. Wie geplant hatten sie die Stahlseile angebracht, um den Kutter aus dem Wasser heben zu können.

Mit einem Brummen sprangen die Kompressoren an, die die Schwimmkörper aufblasen und ihnen Auftrieb verleihen sollten. Die Winden liefen an, die Seile strafften sich.

Der Schlepper legte ab und schob sich mit langsamer Fahrt – sehr zum Missfallen der Fotografen an der Baudirektor-Hahn-Straße – dicht an die Untergangsstelle heran.

Das Wasser begann sich zu kräuseln, kurz darauf durchbrach eine Mastspitze die Oberfläche. Die alte Funkantenne daran war abgeknickt und hing voller Seegras. Der Mast hob sich Stück für Stück aus dem Hafenbecken heraus, braunes, schlammiges Wasser lief herunter.

»Vorsichtig jetzt!«, brüllte Carstens aus dem offenen Fenster an seinem Steuerstand.

Der Mast begann zu schwanken. Es wirkte, als müsse er sich zunächst entscheiden, ob er sein nasses Grab verlassen wollte oder nicht. Carstens fuchtelte aufgeregt mit den Armen und brüllte weitere Anweisungen. Nachdem sich die Bewegung der Seile und des Wassers beruhigt hatte, gab Carstens dem Windenführer ein Zeichen. Mit entschlossener Miene zog dieser an verschiedenen Hebeln, worauf die Seiltrommeln sich langsam zu drehen begannen.

Der Mast hob sich weiter, dann wurde die Wasseroberfläche immer unruhiger, und die ersten auf dem Peildeck installierten Gerätschaften wurden sichtbar.

Nach und nach tauchte der Kutter auf, das Ruderhaus erschien. Der ehemals weiße Anstrich der Kabine war schon vor dem Untergang stark verwittert gewesen, die Zeit unter Wasser hatte einen schlammigen braungrünen Farbton hinzugefügt. Wasser strömte gurgelnd aus den zerbrochenen Fenstern und der Tür nach draußen.

Nachdem sich auch die Reling ein Stück weit aus dem Wasser gehoben hatte, ließ Carstens die Winden stoppen. Zwei Schlauchboote näherten sich dem Krabbenkutter, wenige Augenblicke später machten sich deren Insassen daran, die schwarze Kunststoffplane an der Reling zu befestigen, die den aus dem Rumpf herausragenden Leichnam endgültig vor neugierigen Blicken verdecken sollte.

Es dauerte eine weitere Stunde, bis es gelungen war, den gesamten Kutter aus dem Wasser zu heben, die Schwimmer zu entfernen und das Wrack auf die freie Arbeitsfläche im Heck des Schwimmkrans abzusetzen.

Sich die Schweißperlen von der Stirn wischend, ließ Carstens die Winden abstellen. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass es abermals zu regnen begonnen hatte.

»Geschafft«, sagte er leise und gab Olofsen und Greiner ein Zeichen.

Zielstrebig marschierten die beiden Polizisten auf das Wrack zu. Pall folgte ihnen. Vor dem Kutter schoben die drei die Schutzplane ein Stückchen zur Seite und traten dahinter. Auf Augenhöhe lagen die alten, rissigen Planken des Rumpfes, überzogen mit einer dicken Schicht Seepocken und Schleim, unter der der ehemals rote Anstrich des Unterwasserschiffs kaum noch zu sehen war. Mittschiffs klaffte im Rumpf ein Loch von der Größe einer Autotür.

Pall drängelte sich an seinen Kollegen vorbei und stand als Erster direkt vor dem Loch. Nachdenklich strich er mit der Hand über die Bruchstellen des Holzes.

»Sprich zu uns«, sagte Olofsen, der den ersten Eindruck seines Kollegen hören wollte.

Pall reagierte nicht sofort, sondern betrachtete fasziniert und angewidert zugleich den toten Körper, der bis zur Brust aus dem Loch herausragte. Ein Arm hing schlaff am Schiffsrumpf herunter, der andere war im Inneren des Kutters verborgen. Das Gesicht war dem Holz zugewandt, weshalb man von außen nur einen kahlen, von Schlamm überzogenen Hinterkopf sehen konnte. Am rechten Ohr baumelte eine kleine Strandkrabbe, bei deren Anblick Pall bleich wurde. Sekunden später ließ sich das Tier fallen und lief davon. Pall fegte es mit einer schnellen Fußbewegung zurück ins Wasser.

»Sprich zu uns«, wiederholte Olofsen.

»Irgendetwas stimmt nicht«, begann Pall bedächtig. »Die eine oder andere Wasserleiche habe ich ja schon gesehen. Aber das Wenige, das ich hier erkennen kann, sagt mir, dass dieser Tote noch nicht lange im Wasser gelegen hat.«

Olofsen nickte. »Ich denke, du hast recht. Schließlich ist der Kahn vor weniger als achtundvierzig Stunden abgesoffen. Die Details muss die Rechtsmedizin ans Licht bringen. Dass wir es hier nicht mit einem natürlichen Todesfall zu tun haben, steht für mich aber schon jetzt außer Zweifel.«

Pall deutete auf die Bruchstellen der Rumpfplanken. »Seht euch die Splitter an. Sie ragen nach außen, vom Rumpf weg. Das bedeutet, dass der Druck, der das Holz zum Zersplittern gebracht hat, aus dem Schiffsinneren gekommen sein muss.«

Um seine Worte zu unterstreichen, entfernte er vorsichtig einen gut fünf Zentimeter langen Holzsplitter, der sich ihm von der Bordwand des Kutters entgegenstreckte.

»Das Holz ist nass, das ist selbstverständlich. Aber es ist nicht morsch, aufgeweicht oder zersetzt.« Dann deutete er auf das Loch in der Bordwand. »Ohne dieses ziemlich große Leck hätte der Kutter wahrscheinlich noch ein Weilchen weiterschwimmen können.«

»Bist du dir sicher?«, erkundigte sich Olofsen. Seine Stimme klang zweifelnd.

Pall warf ihm einen finsteren Blick zu, machte jedoch einen Schritt zurück. Im Angesicht eines Toten mochte er nicht auf Konfrontationskurs gehen und signalisierte so sein Nachgeben. »Nein«, sagte er. »Ich muss mir natürlich erst den ganzen Kahn anschauen, um mit Sicherheit den Grund für das Sinken benennen zu können. Aber der erste Eindruck spricht Bände.«

Greiner sah Pall aufmerksam an. »Was könnte diesen punktuellen Druck auf die Bordwand ausgelöst haben?«, fragte er.

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Wie eben schon betont, müssen meine Jungs und ich das Ganze in Ruhe untersuchen.«

Olofsen kratzte sich an der Nase. »Ich gehe mal davon aus, dass du mit deinem ersten Eindruck richtigliegst. Für mich folgt daraus, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Tod dieses Menschen und dem Untergang des Kutters gibt. Diese Verbindung müssen wir finden.«

Olofsen, Greiner und Pall standen wieder auf den Kaianlagen und beobachteten die nächsten Aktivitäten am Krabbenkutter. Der Notarzt stand bereit, um den Leichnam zu begutachten und den Totenschein auszustellen. Anschließend würde man die Leiche aus dem Wrack bergen. Die meisten der Schaulustigen waren mittlerweile abgewandert. Es hatte sich eingeregnet, der Himmel war ein einziges Grau. Ohnehin gab es nichts zu sehen, denn die schwarze Plane verdeckte alles, was hätte interessant sein können.

Olofsen hatte bereits ein Telefonat mit der zuständigen Staatsanwaltschaft Stade geführt. Wie erwartet hatte Staatsanwalt Fred Tanner die gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche – die Todesursachenklärung, wie es im Fachjargon hieß – angeordnet. Zu diesem Zweck würde man den Leichnam noch heute in das Institut für Rechtsmedizin nach Hamburg bringen, denn in Cuxhaven oder der direkten Umgebung gab es keine derartige Einrichtung.

ZWEI

Montag, 20.Januar, nachmittags

Licht erhellte den kleinen, fensterlosen Raum, eine Lüftung surrte leise und monoton. Mitten im Raum stand ein großes Metallregal, auf jeder der drei Stellflächen befanden sich mehrere Käfige von der Größe einer typischen Klappbox. Der untere Teil eines jeden Käfigs war aus dunkelblauem Kunststoff gefertigt, das Plastik des oberen Teils war durchsichtig. Aus den Käfigdeckeln gingen zwei dicke, flexible Schläuche ab und verschwanden in der Decke des Raumes. Durch jeweils einen Schlauch strömte frische Luft in den Käfig, durch den anderen wurde die Luft abgesaugt. In jeder Ecke des Raumes waren an der Decke Halogenstrahler montiert, die gleißend helles Licht emittierten.

Dr. Finn Berger beugte sich vor und betrachtete konzentriert die an den unteren rechten Ecken der Käfige angebrachten weißen Kärtchen. »Box 1, Testreihe A17-2, Beginn 02. Januar« war auf der ersten Karte zu lesen, »Box 2, Testreihe A17-6, Beginn 04. Januar« auf der folgenden. Alle anderen Käfige trugen ähnliche Beschriftungen. Bei dem fünften Käfig stutzte Berger. »Box 5, Testreihe B19-1, Beginn 15. Januar« verkündete die zugehörige Karte. Berger kratzte sich das unrasierte Kinn, dann beugte er sich vor, um besser in den Käfig blicken zu können. Wie auch in allen anderen Plastikboxen befanden sich hier fünf kleine Mäuse. Außer einer Handvoll Einstreu, einem Napf mit Trockenfutter und einer Trinkflasche gab es nichts in dem Käfig, keine Verstecke oder Rückzugsmöglichkeiten für die Tiere oder irgendeine Art von Spielzeug.

Im Gegensatz zu den Tieren in den anderen Käfigen lagen die Mäuse in dieser Box apathisch in der Einstreu und regten sich kaum. Ihre kleinen Knopfaugen wirkten glasig, das sonst glänzende Fell war stumpf. Den Tieren ging es nicht gut. Berger ballte die Fäuste und prüfte ein zweites Mal die Informationen auf dem Kärtchen an der rechten unteren Ecke.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte eine Stimme hinter ihm.

Berger war so in Gedanken vertieft gewesen, dass ihm das Öffnen und Schließen der Tür gar nicht aufgefallen war. Erschrocken fuhr er hoch. »Mensch, Gunnar, warum musst du dich immer so anschleichen? Irgendwann bekomme ich wegen dir noch einen Herzinfarkt.«

Gunnar Kachens verzog keine Miene und trat neben seinen Freund und Kollegen. Er steckte die Hände lässig in die Hosentaschen und betrachtete die Käfige mit den Mäusen. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er nochmals.

Finn blickte zu ihm hinüber. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er nachdenklich. »Den Tieren in diesem Käfig dürfte es eigentlich nicht schlecht gehen.«

»Warum nicht?«

Finn klopfte mit dem Zeigefinger an das Plastik des Käfigs. Keines der Tiere zeigte eine Reaktion. »Das ist doch die neue Versuchsreihe. Die Weiterentwicklung von Reihe A19-1. Die Tiere müssten putzmunter sein. Verdammt, eigentlich müssten sie immer putzmunter sein, ganz unabhängig von der Versuchsreihe. So etwas ist noch nie vorgekommen.«

Kopfschüttelnd wandte er sich einem kleinen Schreibtisch in einer Ecke des Raumes zu, auf dem ein Laptop stand. »Das kann nicht sein. Das ist doch nicht richtig«, murmelte er leise vor sich hin und tippte im Stehen auf der Tastatur. Der Bildschirm erwachte zum Leben, zeigte Listen und Tabellen. Finn scrollte durch eine der Tabellen, bis er eine bestimmte Eintragung gefunden hatte. »Das kann nicht sein«, wiederholte er leise. »Reihe B19-1. Alles richtig. Zweihundert Mikroliter pro Tier.«

Abrupt richtete er sich auf und drehte sich zu Gunnar um. »Das kann einfach nicht sein.« Er klappte den Laptop zu und lief aufgeregt durch den Raum.

»Jetzt beruhige dich doch«, sagte Gunnar. »Lass uns ins Büro gehen. Ich besorge uns einen Kaffee, du erklärst mir, was eigentlich los ist, und dann lösen wir das Problem.«

Finn saß auf einem einfachen Holzstuhl und goss sich Mineralwasser in ein Glas. Gunnar wollte noch schnell zur Getränkerückgabe, wie er die Toilette gerne nannte, und danach eine Kanne mit frischem Kaffee aus der Küche holen.

Den Kopf hin und her wiegend, gab sich Finn seinen Gedanken hin. Für Gunnar ist immer alles ganz einfach, dachte er. Probleme sind Chancen, man braucht nur ein paar Anweisungen zu geben, mit dem Finger zu schnippen, und schon ist alles im Lot. Als wenn die Wirklichkeit so einfach wäre.

Sein Blick wanderte durch das Büro. »Büro« war ein starker Euphemismus für das fensterlose Kabuff mit den vergilbten Wänden. »Verschlag« wäre die treffendere Beschreibung gewesen, oder »Kerker«, ging es Finn einmal mehr durch den Kopf. Warum er statt eines normalen Lebens mit Familie fast jede Minute seiner Freizeit hier verbrachte, wusste er manchmal selbst nicht mehr.

Auf einer Grundfläche von etwas mehr als neun Quadratmetern stand ein alter Schreibtisch mit zerkratzter Tischplatte und fehlenden Schubladen. Davor beanspruchte ein ebenso alter Bürostuhl einen Teil des wenigen Platzes. Die kunstlederne Sitzfläche war mehrfach eingerissen und ließ die grünlich gelbe Schaumstofffüllung herausquellen. Der hochmoderne Laptop, der auf dem Schreibtisch stand, bildete einen deutlichen Kontrast zu dem traurigen Erscheinungsbild des Arbeitsplatzes. Komplettiert wurde die Ausstattung durch ein winziges Sideboard, auf dem sich Fachbücher über Biologie und Gentechnik stapelten sowie einige Kopien von Publikationen aus biotechnologischen Fachmagazinen.

Finn stellte die Mineralwasserflasche auf das Sideboard, schlug die Beine übereinander und schloss die Augen. An die bedrückende Atmosphäre des Raumes hatte er sich längst gewöhnt. Auch während seiner Promotion an der Universität Münster hatte er viel zu oft in ähnlich schäbigen, winzigen Räumchen gesessen und seine Versuchsergebnisse ausgewertet. Immerhin hatten seine Mitdoktoranden und er selbst den Raum als »Suite of dreams« tituliert und die Wände mit Bildern karibischer Strände tapeziert.