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Emma Donoghue

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Beschreibung

Irland Mitte des 19. Jahrhunderts: In einem kleinen Dorf, dessen Bewohner tief im katholischen Glauben verwurzelt sind, staunt man über ein leibhaftiges Wunder. Seit vier Monaten hat die kleine Anna O'Donnell keine Nahrung zu sich genommen und ist doch durch Gottes Gnade gesund und munter. Die unglaubliche Geschichte lockt viele Gläubige an, aber es gibt auch Zweifler. Schließlich beauftragt man die resolute englische Krankenschwester Lib Wright, das elfjährige Mädchen zu überwachen. Auch ein Journalist reist an, um über den Fall zu berichten. Werden sie Zeugen eines ausgeklügelten Schwindels oder einer Offenbarung göttlicher Macht?

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Buch

Irland Mitte des 19. Jahrhunderts: In einem kleinen Dorf, dessen Bewohner tief im katholischen Glauben verwurzelt sind, staunt man über ein leibhaftiges Wunder. Seit vier Monaten hat die kleine Anna O’Donnell keine Nahrung zu sich genommen und ist doch durch Gottes Gnade gesund und munter. Die unglaubliche Geschichte lockt viele Gläubige an, aber es gibt auch Zweifler. Schließlich beauftragt man die resolute englische Krankenschwester Lib Wright, das elfjährige Mädchen zu überwachen. Auch ein Journalist reist an, um über den Fall zu berichten. Werden sie Zeugen eines ausgeklügelten Schwindels oder einer Offenbarung göttlicher Macht?

Erneut schafft es Bestsellerautorin Emma Donoghue, auf kleinstem Raum ein Drama von größter Intensität zu entfalten. Ein kluger, herzzerreißender Roman.

»Emma Donoghues Werk ist feinste Alchemie. Es verwandelt Unschuld in Schrecken und Schrecken in Zärtlichkeit.« Audrey Niffenegger

Autorin

Emma Donoghue war bereits als Kind von Büchern umgeben. Seit ihrem 23. Lebensjahr schreibt sie Romane, literaturgeschichtliche Werke, Märchen, Kurzgeschichten, Hörspiele, Bühnenstücke und Drehbücher. Mit dem auch verfilmten Roman »Raum« wurde sie zur internationalen Bestsellerautorin. Emma Donoghue lebt mit ihrer Familie in Kanada.

Weitere Informationen zu Emma Donoghue finden Sie am Ende des Buches sowie unter emmadonoghue.com

EMMA DONOGHUE

DAS WUNDER

Roman

Aus dem Englischen von Thomas Mohr

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Wonder« bei Little, Brown and Company, New York, Hachette Book Group

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe 2016 by Emma Donoghue Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: Ildiko Neer / Arcangel

Redaktion: Regina Carstensen

ISBN 978-3-641-20352-8V002

www.goldmann-verlag.de

Unserer Tochter Una, mit einem alten irischen Segen:

Nár mille an sioc do chuid prátaí,

Go raibh duilleoga do chabáiste slán ó chnuimheanna.

Möge der Frost deine Kartoffeln,

mögen die Würmer deinen Kohl verschonen.

INHALT

I. Schwester

II. Wachen

III. Fasten

IV. Vigil

V. Schicht

Epilog

Nachbemerkung

Erstes Kapitel

SCHWESTER

Schwester

weiblicher Nachkomme derselben Eltern;

in der Kranken-, Säuglings- oder Kinderpflege

ausgebildete weibliche Person;

Angehörige einer religiösen Gemeinschaft

oder eines Ordens

Die Reise war nicht beschwerlicher gewesen als erwartet. Mit der Eisenbahn von London nach Liverpool, mit dem Nachtschiff nach Dublin und mit dem langsamen Sonntagszug nach Westen, in das kleine Städtchen Athlone.

Ein Kutscher nahm sie in Empfang. »Mrs. Wright?«

Lib hatte viele Iren gekannt, Soldaten. Aber das war Jahre her, weshalb es ihr schwerfiel, den Akzent des Kutschers zu verstehen.

Er trug ihren Koffer zum »Ausflugswagen«. Eine irreführende Bezeichnung: Der schmucklose zweirädrige Karren machte wenig Lust auf eine unbeschwerte Landpartie. Lib ließ sich auf der Längsbank nieder, wobei ihre Stiefel dem rechten Rad bedrohlich nahe kamen. Sie spannte ihren mit einem soliden Stahlgestell versehenen Schirm auf, zum Schutz gegen den Nieselregen. Immerhin besser als das stickige Eisenbahnabteil.

Der Kutscher lehnte sich so weit nach hinten, dass sein Rücken fast den ihren berührte, und knallte mit der Peitsche. »Vorwärts!«

Das zottige Pony setzte sich in Bewegung.

Die wenigen Leute auf der Schotterstraße, die sie aus Athlone hinausführte, waren totenbleich, was Lib dem weithin bekannten Umstand zuschrieb, dass sie sich nahezu ausschließlich von Kartoffeln zu ernähren pflegten. Vielleicht fehlten dem Kutscher deshalb sämtliche Zähne.

Er murmelte etwas von Anstand und Sitte.

»Pardon?«

»Die Mitte, Ma’am.«

Lib wartete ab, klammerte sich an den ruckelnden Wagen.

Er zeigte zu Boden. »Dies ist der exakte Mittelpunkt des Landes.«

Flache Felder, durchzogen von dunklen Hecken. Aufgebrochener rötlich-brauner Torf; galt das Moor nicht als Brutstätte für allerlei Krankheiten? Hier und da die grauen Überreste eines Bauernhauses, fast vollständig überwuchert. Kein besonders malerischer Anblick. Die Irischen Midlands waren offenbar wenig mehr als eine Senke, in der sich Feuchtigkeit ansammelte: die kleine Vertiefung in einer Untertasse.

Der Ausflugswagen bog von der Straße in einen schmaleren Kiesweg. Das sachte Prasseln auf dem Tuchdach ihres Schirms steigerte sich zu einem anhaltenden Trommeln. Fensterlose Katen. Lib stellte sich vor, wie Familien mit ihren Haus- und Hoftieren darin vor dem Regen Zuflucht suchten.

Dann und wann zweigte ein Feldweg ab zu einer wirren Ansammlung von Dächern, vermutlich ein Dorf. Nur leider nie das richtige. Lib hätte den Kutscher gleich zu Anfang fragen sollen, wie lange die Fahrt wohl dauern werde. Nun wagte sie dies nicht mehr, aus Angst, dass die Antwort lauten könnte: noch ein Weilchen.

Die Oberin des Spitals hatte weiter nichts gesagt, als dass man in Irland für zwei Wochen eine erfahrene Pflegerin benötige, in privater Stellung. Die An- und Abreise werde bezahlt, für Kost und Logis sei gesorgt, zudem gebe es ein tägliches Entgelt. Lib wusste nichts über die O’Donnells, nur dass sie anscheinend recht begütert waren, wenn sie es sich leisten konnten, aus dem fernen England eine fachkundige Krankenschwester kommen zu lassen. Erst jetzt fragte sie sich, woher sie wussten, dass sie ihre Dienste nicht länger als vierzehn Tage in Anspruch nehmen würden. Vielleicht war sie nur ein vorübergehender Ersatz für eine andere Wärterin.

Aber wie auch immer, der Lohn war ordentlich, und ein wenig Abwechslung würde ihr gewiss nicht schaden. Im Spital stieß Libs Ausbildung keineswegs auf ungeteiltes Wohlwollen, weshalb sie nur einfachste Arbeiten verrichten durfte: Füttern, Verbände wechseln, Betten machen.

Sie widerstand dem Drang, in ihren Umhang zu greifen und ihre Taschenuhr hervorzuholen; davon würde die Zeit auch nicht schneller vergehen, und Wasser konnte in die Mechanik gelangen.

Da, eine weitere Ruine, mit der Rückseite zur Straße, eine ausgebrannte Hütte, deren skelettierte Giebel sich vorwurfsvoll gen Himmel reckten. Das Unkraut hatte noch keine Zeit gehabt, das Gemäuer zu verschlingen. Durch ein türgroßes Loch fiel Libs Blick auf rußgeschwärzte Trümmer: Es war also vor Kurzem erst in Flammen aufgegangen. (Wie konnte in dieser Sumpflandschaft überhaupt irgendetwas Feuer fangen?) Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die verkohlten Balken fortzuschaffen, geschweige denn ein neues Dach zu zimmern. Hatten die Iren tatsächlich so wenig Interesse daran, ihr Leben zu verbessern?

Eine Frau mit schmutziger Rüschenhaube stand am Wegesrand, hinter ihr, in einer Hecke, eine Traube von Kindern. Als sie das Klappern des Karrens hörten, streckten sie Lib die gewölbten Hände entgegen, als wollten sie den Regen auffangen. Lib wandte beschämt den Blick ab.

»Die karge Zeit«, brummte der Kutscher.

Aber es war Hochsommer. Wie konnte da Mangel herrschen?

Der Schlamm, den das mächtige Rad aufschleuderte, befleckte ihre Stiefel. Einige Male rollte das Gefährt durch schwarz-braune Pfützen, die so tief waren, dass Lib sich an der Bank festkrallen musste, um nicht abgeworfen zu werden.

Noch mehr Hütten, manche mit drei oder vier Fenstern. Scheunen, Schuppen. Ein zweistöckiges Bauernhaus, dann noch eines. Zwei Männer, die einen Wagen beluden, hielten mit der Arbeit inne, und der eine raunte dem anderen etwas zu. Lib blickte an sich hinab: Stimmte mit ihrer Reisegarderobe etwas nicht? Oder besaßen die Einheimischen so wenig Taktgefühl, dass sie jedem Fremden unverhohlen hinterdreinstarrten?

Vor ihnen erschien ein spitzbedachtes Gebäude mit grellweiß getünchten Mauern, auf dem First ein Kreuz – eine römisch-katholische Kapelle. Erst als der Kutscher das Pony zügelte, begriff Lib, dass dies das Dorf sein musste, auch wenn es nach englischen Maßstäben weiter nichts war als eine jämmerliche Anhäufung von Häusern.

Nun sah sie auf ihre Uhr; fast neun, und die Sonne war noch nicht untergegangen. Das Pony senkte den Kopf und kaute an einem Grasbüschel. Dies schien die einzige Straße zu sein.

»Sie sollen sich in der Krämerschenke melden.«

»Pardon?«

»Ryan’s.« Der Kutscher wies mit einem Nicken nach links, zu einem Gebäude ohne Schild.

Das konnte unmöglich stimmen. Da ihre Glieder von der Fahrt ganz steif waren, ließ Lib sich von dem Mann herunterhelfen. Sie streckte den Schirm auf Armeslänge von sich und schüttelte ihn aus, rollte das gewachste Tuch zusammen und knöpfte es fest. Sie trocknete die Hand an der Innenseite ihres Umhangs, bevor sie den Laden betrat.

Torfgestank schlug ihr entgegen. Abgesehen von dem Feuer, das unter einem riesigen Rauchfang vor sich hin schwelte, erhellten nur zwei Lampen den geduckten Raum. Ein Mädchen bugsierte eine Blechdose auf ein Regal.

»Guten Abend«, sagte Lib. »Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin.«

»Sie müssen die Engländerin sein«, erwiderte das Mädchen etwas zu laut, als ob Lib schwerhörig sei. »Möchten Sie im Hinterzimmer vielleicht ein kleines Abendessen zu sich nehmen?«

Lib hielt ihre Zunge im Zaum. Wenn es hier kein richtiges Gasthaus gab und die O’Donnells nicht gewillt oder imstande waren, der von ihnen bestellten Krankenschwester Obdach zu gewähren, hatte es keinen Zweck, sich zu beschweren.

Sie trat durch die Tür neben dem Kamin und fand sich in einem winzigen, fensterlosen Zimmer wieder, in dem eine Nonne saß, deren Gesicht beinahe zur Gänze hinter ihrem gestärkten Schleier verschwand. Lib schrak unwillkürlich zusammen, denn sie hatte dergleichen schon seit Jahren nicht mehr gesehen; in England trugen Ordensschwestern in der Öffentlichkeit keine Tracht, aus Angst, kirchenfeindliche Empfindungen zu wecken. »Guten Abend«, sagte sie höflich.

Die Nonne antwortete mit einer tiefen Verbeugung. Vielleicht durften die Angehörigen ihres Ordens nicht mit Andersgläubigen sprechen oder hatten gar ein Schweigegelübde abgelegt?

Lib setzte sich an den zweiten Tisch, mit dem Rücken zu der Nonne, und wartete. Ihr Magen knurrte – hoffentlich nicht so laut, dass man es hören konnte. Sie vernahm ein leises Klicken, das unter den schwarzen Falten der Nonnenkutte hervorzudringen schien: der berühmte Rosenkranz.

Als das Mädchen endlich mit dem Tablett kam, senkte die Nonne den Kopf und flüsterte etwas; vermutlich das Tischgebet, überlegte Lib.

Eine seltsame Auswahl von Speisen: Haferbrot, Kohl, eine ihr unbekannte Sorte Fisch. »Ich hatte eigentlich Kartoffeln erwartet«, sagte sie zu dem Mädchen.

»Die sind in frühestens vier Wochen so weit.«

Ah, dachte Lib, kein Wunder, dass in Irland Hunger herrschte, wenn die Kartoffeln erst im Herbst geerntet wurden.

Alles schmeckte nach Torf, trotzdem beschloss sie, ihren Teller leer zu essen. Seit ihrer Zeit in Scutari, wo die Rationen der Pflegerinnen ebenso knapp bemessen gewesen waren wie jene der Soldaten, brachte sie es nicht mehr über sich, auch nur einen Bissen zu verschwenden.

Im Krämerladen erhob sich großes Gepolter, und dann zwängte sich eine vierköpfige Gesellschaft in den Speiseraum. »Gelobt sei Jesus Christus«, sagte der erste Mann.

Da sie die passende Erwiderung nicht kannte, begnügte sich Lib mit einem Nicken.

»In Ewigkeit, Amen«, murmelte die Nonne und bekreuzigte sich, indem sie erst ihre Stirn, dann ihre Brust und schließlich die linke und die rechte Schulter berührte. Sie war Ende vierzig oder Anfang fünfzig, hatte leicht hervortretende Augen und die fleischigen Hände einer Landfrau. Dann ging sie hinaus – ob sie sich an ihrer mageren Portion tatsächlich satt gegessen hatte oder den zweiten Tisch den Ankömmlingen überlassen wollte, wusste Lib nicht recht zu sagen.

Sie waren ein wüster Haufen, diese zwei Bauern und ihre Frauen. Ob sie bereits anderswo den ganzen Sonntagnachmittag gezecht hatten? Krämerschenke: Jetzt begriff sie, was es damit auf sich hatte. Ein Krämerladen, der Schnaps ausschenkte.

Aus ihrem Geschwätz, welches um ein unglaubliches Mirakel kreiste, das sie kaum zu fassen vermochten, obgleich sie es mit eigenen Augen gesehen hatten, schloss Lib, dass sie vom Jahrmarkt kamen.

»Ich wette, da steckt das andere Volk dahinter«, sagte ein Bärtiger. »Die bedienen das Gör von vorne und hinten.«

»Mrs. Wright?«

Sie wandte den Kopf.

Der Fremde in der Tür deutete auf die Knöpfe seiner Weste. »Dr. McBrearty.«

Das war der Name, den ihr die Oberin genannt hatte. Lib stand auf und schüttelte dem Mann die Hand. Wild wuchernder weißer Backenbart, darüber lichtes Haupthaar. Schäbiger Rock, mit Schuppen übersäte Schultern und ein beknaufter Stock. Vielleicht siebzig?

Die Bauern und ihre Frauen beäugten sie interessiert.

»Wie schön, dass Sie die weite Reise auf sich genommen haben«, bemerkte der Doktor, als sei Lib nur auf Besuch hierhergekommen und nicht, um eine Stellung anzutreten. »War die Überfahrt sehr schlimm?«, fragte er und setzte, ohne ihre Antwort abzuwarten, hinzu: »Sind Sie bereit?«

Sie folgte ihm in den Laden hinaus. Das Mädchen hielt eine Lampe in die Höhe und winkte ihnen, ihm die schmale Treppe hinaufzufolgen.

Die Kammer war so eng, dass Libs Koffer fast den gesamten Platz einnahm. Und hier sollte sie sich mit Dr. McBrearty beraten? Gab es im ganzen Haus kein anderes freies Zimmer, oder war das Mädchen schlicht zu unbedarft, um es besser zu machen?

»Danke, Maggie«, sagte er zu dem Mädchen. »Wie geht es dem Husten deines Vaters?«

»Schon besser.«

»Nun, Mrs. Wright«, sagte er, kaum dass Maggie sie verlassen hatte, und bedeutete ihr, auf dem einzigen Binsenstuhl Platz zu nehmen.

Lib hätte viel darum gegeben, erst einmal zehn Minuten für sich sein und Nachttopf und Waschtisch benutzen zu können. Die Iren waren berühmt für ihren Mangel an Manieren.

Der Doktor stützte sich auf seinen Stock. »Sie sind wie alt, wenn Sie die Frage gestatten?«

Dann musste sie sich also doch einer Befragung unterziehen, dabei hatte sie geglaubt, die Stellung sei ihr sicher. »Noch keine dreißig, Doktor.«

»Witwe, wenn mich nicht alles täuscht. Sie sind Krankenwärterin geworden, als Sie unversehens, äh, auf sich gestellt waren.«

Wollte McBrearty überprüfen, was ihm die Oberin geschrieben hatte? Sie nickte. »Ein knappes Jahr nach meiner Hochzeit.«

In einem Zeitungsartikel hatte sie gelesen, dass Tausende von Soldaten an Schussverletzungen oder der Cholera zugrunde gingen und sich niemand um sie kümmerte. Die Times hatte siebentausend Pfund an Spenden eingesammelt, um junge Engländerinnen als Krankenschwestern auf die Krim zu schicken. Ja, hatte Lib gedacht, voller Angst und Verwunderung über die eigene Kühnheit. Ich glaube, ich habe das Zeug dazu. Sie hatte schon so viel verloren, da konnte es schlimmer kaum mehr kommen.

Nun aber sagte sie nur: »Ich war fünfundzwanzig.«

»Eine Nightingale!«, stieß er bewundernd hervor.

Aha, so viel hatte die Oberin ihm also mitgeteilt. Lib erwähnte den Namen der berühmten Frau nur ungern und verabscheute den albernen Titel, den man all ihren Schülerinnen angeheftet hatte, als seien sie weiter nichts als Puppen, bloße Kopien der heroischen Miss N. »Ja, ich hatte die Ehre, in Scutari unter ihr zu dienen.«

»Noble Arbeit.«

Es erschien ihr heuchlerisch, seine Bemerkung zu verneinen, und anmaßend, sie zu bejahen. Lib kam der Gedanke, dass der Doktor sie nur des Namens Nightingale wegen über die Irische See hatte kommen lassen. Sie sah dem alten Iren an, dass er gern mehr über die Schönheit, die Beharrlichkeit und die gerechte Empörung ihrer Lehrerin erfahren hätte. Stattdessen sagte sie: »Ich war examinierte Pflegerin.«

»Dann haben Sie sich freiwillig gemeldet?«

Sie hatte sich erklären wollen, doch er hatte sie missverstanden, und nun stieg ihr die Hitze in die Wangen. Dabei gab es nicht das Geringste, dessen sie sich hätte schämen müssen. Miss N. hatte ihnen immer wieder eingeschärft, der Umstand, dass sie einen Sold erhielten, schmälere ihren Opfermut und den Grad ihrer Selbstentsagung keineswegs. »Nein, ich wollte sagen, anders als die gemeinen Wärterinnen war ich gelernte Krankenpflegerin. Mein Vater war ein Mann von Stand«, setzte sie, ein wenig töricht, hinzu. Kein Krösus, aber immerhin.

»Ah, sehr gut. Wie lange arbeiten Sie schon im Spital?«

»Im September werden es drei Jahre.« An und für sich eine bemerkenswerte Leistung, da die meisten Schwestern schon nach wenigen Monaten den Dienst quittierten: verantwortungslose Flittchen, unfähig und liederlich wie Mrs. Gamp, die in einem fort um ihre Starkbierration winselten. Nicht, dass Lib dort sonderlich beliebt gewesen wäre; die Oberin hatte die Veteraninnen von Miss Ns Krim-Feldzug wiederholt als hochnäsig bezeichnet. »Nach Scutari war ich bei verschiedenen Familien in Stellung«, fügte sie hinzu, »und habe meine Eltern auf ihrem letzten Weg begleitet.«

McBrearty nickte. »Haben Sie schon einmal ein Kind gepflegt, Mrs. Wright?«

Libs Bestürzung währte nur einen Moment. »Da besteht grundsätzlich kein Unterschied. Meine Patientin ist ein Kind?«

»Mh-hm, Anna O’Donnell.«

»Man hat mir nicht gesagt, woran sie leidet.«

Er seufzte.

Eine tödliche Krankheit also, dachte Lib. Die freilich einen so schleichenden Verlauf nahm, dass sie das Kind noch nicht ums Leben gebracht hatte. Die Schwindsucht, höchstwahrscheinlich. Kein Wunder, bei diesem feuchten Klima.

»Sie ist nicht im eigentlichen Sinne krank. Ihre einzige Aufgabe wird darin bestehen, sie zu beaufsichtigen.«

Ein seltsames Verb. Wie die grässliche Krankenschwester in Jane Eyre, die weiter nichts zu tun hat, als die Verrückte in der Dachkammer eingesperrt zu halten. »Ich soll sie … bewachen?«

»Nein, nein, nur beobachten.«

Aber Beobachtung war allenfalls der erste Schritt. Miss N. hatte ihren Schülerinnen beigebracht, den Kranken zunächst eingehend zu studieren, bevor sie das erforderliche Gegenmittel applizierten. Keine Medizin – das blieb den Ärzten vorbehalten –, sondern diejenigen Dinge, die für die Genesung ihrer Ansicht nach zumindest ebenso entscheidend waren: frische Luft, Licht, Wärme, Reinlichkeit, Ruhe, Behaglichkeit, Nahrung und Zuspruch. »Wenn ich Sie recht verstehe …«

»Was ich bezweifeln möchte, und die Schuld dafür liegt ganz allein bei mir.« McBrearty stützte die andere Faust auf die Waschtischkante, als würden ihm die Kräfte schwinden.

Lib hätte dem alten Mann gern den Stuhl angeboten, wollte ihn jedoch nicht beleidigen.

»Ich möchte Sie keineswegs beeinflussen«, fuhr er fort, »aber es handelt sich um einen höchst ungewöhnlichen Fall. Anna O’Donnell behauptet – oder vielmehr ihre Eltern behaupten –, sie habe seit ihrem elften Geburtstag keinen Bissen mehr zu sich genommen.«

Lib runzelte die Stirn. »Dann muss sie an irgendeiner Krankheit leiden.«

»Nein. Jedenfalls an keiner mir bekannten«, verbesserte er sich. »Sie verweigert lediglich die Nahrung.«

»Feste Nahrung, meinen Sie?« Lib hatte von dieser sonderbaren Vorliebe gebildeter, moderner junger Damen gehört, die tagelang von gekochter Pfeilwurz oder Fleischbrühe lebten.

»Nein, jegliche Nahrung«, widersprach der Doktor. »Sie kann nichts als klares Wasser zu sich nehmen.«

Kann nicht heißt will nicht, wie ein Sprichwort aus Libs Kindertagen lautete. Es sei denn … »Liegt womöglich eine gastrische Verstopfung vor?«

»Ich konnte nichts dergleichen feststellen.«

Lib war ratlos. »Brechreiz?« Schwangeren war bisweilen so übel, dass sie keinen Bissen herunterbekamen.

Der Doktor schüttelte den Kopf.

»Ist sie melancholisch?«

»Das würde ich nicht sagen. Ein stilles, frommes Mädchen.«

Aha. Dann handelte es sich also gar nicht um einen Krankheitsfall, sondern um religiösen Eifer. »Römisch-katholisch?«

Seine Handbewegung schien zu sagen: Was sonst?

Natürlich, hier in der Provinz waren praktisch alle Katholiken. Also wahrscheinlich auch der Doktor. »Ich nehme an, Sie haben sie auf die Gefahren des Fastens hingewiesen«, sagte Lib.

»Selbstverständlich. Und nicht nur ich, auch ihre Eltern, zu Anfang jedenfalls. Aber Anna ist durch nichts zu beirren.«

Und deshalb hatte man sie aus England einschiffen lassen: der Laune eines Kindes wegen? Als ihr geliebtes Töchterlein das erste Mal sein Frühstück verschmäht hatte, waren die O’Donnells vermutlich in Panik geraten und hatten umgehend nach London telegrafiert, um nicht irgendeine Krankenschwester zu bestellen, nein, sondern eine vom neuen, tadellosen Schlag: Schickt uns eine Nightingale!

»Wann hatte sie denn Geburtstag?«, fragte sie.

McBrearty zupfte sich den Bart. »Im April. Gestern vor vier Monaten.«

Lib hätte am liebsten laut aufgelacht, doch das verbot ihr die gute Kinderstube. »Dann müsste die Kleine eigentlich längst tot sein.« Sie wartete auf ein Indiz dafür, dass er die Geschichte ebenso absurd fand wie sie selbst: ein wissendes Zwinkern, eine behutsame Berührung der Nasenspitze.

Er nickte nur. »Es ist ein großes Rätsel.«

Lib hätte ein anderes Wort gewählt. »Ist sie denn wenigstens … bettlägerig?«

Er schüttelte den Kopf. »Anna läuft umher wie jedes andere Mädchen.«

»Abgemagert?«

»Sie war immer schon ein dürres Ding, aber nein, seit April hat sie sich kaum verändert.«

Es schien ihm ernst zu sein und klang doch wie ein schlechter Scherz. Waren seine Triefaugen etwa halbblind?

»Und sie ist im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte«, setzte McBrearty hinzu. »Mehr noch, Annas Lebenskraft ist ungebrochen, und die O’Donnells sind inzwischen davon überzeugt, dass sie auf unbegrenzte Zeit ohne Nahrung auszukommen vermag.«

»Ausgeschlossen«, erwiderte sie etwas zu scharf.

»Dass Sie skeptisch sind, wundert mich nicht, Mrs. Wright. Ich war es auch.«

War? »Wollen Sie damit allen Ernstes sagen, dass …«

Er fuhr dazwischen, seine papiernen Hände schnellten in die Höhe. »Die Deutung liegt nahe, dass es sich um einen Schwindel handelt.«

»Ja«, sagte Lib erleichtert.

»Aber dieses Kind … ist nicht wie andere Kinder.«

Lib wartete ab.

»Ich habe keine Erklärung, Mrs. Wright. Ich habe nur Fragen. Seit vier Monaten brenne ich vor Neugier, und Ihnen ergeht es vermutlich nicht anders.«

Nein, Lib brannte vielmehr darauf, dieses groteske Gespräch zu beenden und den alten Mann hinauszukomplimentieren. »Doktor, die Wissenschaft lehrt uns, dass es unmöglich ist, ohne Nahrung zu existieren.«

Er nickte. »Aber erschienen uns nicht die meisten Entdeckungen in der Geschichte der Zivilisation anfangs unheimlich, ja magisch?« Seine Stimme bebte leise vor Erregung. »Von Archimedes bis Newton sind alle großen Köpfe nur zu neuen Erkenntnissen gelangt, indem sie ihre Sinneseindrücke einer vorurteilslosen Überprüfung unterzogen. Mit anderen Worten: Ich möchte Sie bitten, Anna O’Donnell morgen unvoreingenommen gegenüberzutreten.«

Lib senkte den Blick und ärgerte sich insgeheim über McBrearty. Wie konnte sich ein approbierter Arzt von einem kleinen Mädchen hinters Licht führen lassen und sich eben deshalb zu den großen Köpfen der Menschheitsgeschichte zählen? »Ist das Mädchen Ihrer alleinigen Pflege anvertraut?«, erkundigte sie sich, eine höfliche Umschreibung der Frage, weshalb man keine fachkundigere Autorität hinzugezogen habe.

»Jawohl«, sagte McBrearty mit Bestimmtheit. »Ich habe mir zudem erlaubt, einen Bericht über den Fall zu verfertigen und ihn an die Irish Times zu senden.«

Diesen Namen hörte Lib zum ersten Mal. »Eine Hauptstadtzeitung?«

»Mm-hm. Da sie erst jüngst gegründet wurde, hatte ich gehofft, ihre Herausgeber seien noch nicht von sektiererischen Vorurteilen verblendet«, setzte er nachdenklich hinzu. »Dem Neuen und Außergewöhnlichen gegenüber etwas aufgeschlossener, wo und in welcher Gestalt es auch auftritt. Ich wollte die Fakten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen, verstehen Sie, in der Hoffnung, dass vielleicht jemand darüber Aufschluss geben kann.«

»Und?«

Ein unterdrückter Seufzer. »Mehrere Leser erklärten Annas Fall in glühenden Briefen zu einem wahrhaftigen Wunder. Einige deuteten an, sie zehre womöglich von den bislang unentdeckten nährenden Eigenschaften unsichtbarer Kräfte wie etwa dem Magnetismus oder Gerüchen.«

Gerüchen? Lib hatte Mühe, ein Lächeln zu verbergen.

»Ein besonders kühner Briefschreiber mutmaßte, Anna verwandele Licht in Energie. Oder lebe gar von Luft, wie manche Pflanzen«, setzte er hinzu, und sein runzliges Gesicht leuchtete auf. »Erinnern Sie sich noch an die schiffbrüchigen Matrosen, die sich angeblich monatelang von Tabak ernährten?«

Lib sah zu Boden, damit er die Verachtung in ihrem Blick nicht bemerkte.

McBrearty nahm seinen Faden wieder auf. »Aber die überwiegende Mehrzahl der Antworten bestand aus persönlichen Anwürfen und Beleidigungen.«

»Gegen das Kind?«

»Gegen das Kind, die Familie und mich! Und das nicht nur in der Irish Times, sondern auch in diversen britischen Publikationen, die sich des Falles offenbar nur angenommen haben, um ihn zu persiflieren.«

Lib ging ein Licht auf. Da war sie so weit gereist, um sich als Pflegerin oder, besser, Wärterin zu verdingen, und das alles nur wegen des verletzten Stolzes eines allzu treuherzigen Landarztes. Warum hatte sie sich bei der Oberin nicht nach den näheren Umständen erkundigt, ehe sie die Stellung angenommen hatte?

»Die meisten Briefschreiber halten die O’Donnells für Betrüger, die ihrer Tochter heimlich zu essen geben und die Welt zum Narren halten.« McBreartys Stimme überschlug sich fast. »Unser Dorf ist zum Inbegriff für Einfalt und Rückständigkeit geworden. Einige der bedeutendsten Männer dieser Gegend sind der Ansicht, die Ehre des Countys – wenn nicht der ganzen irischen Nation – stehe auf dem Spiel.«

Hatte die Leichtgläubigkeit des Doktors sich unter diesen bedeutenden Männern verbreitet wie ein Fieber?

»Also haben wir ein Komitee gegründet und den einhelligen Beschluss gefasst, eine Wache aufzustellen.«

Aha, dann hatte nicht die Familie O’Donnell, sondern das Komitee sie angefordert. »Um zu beweisen, dass sich das Kind auf außergewöhnliche Art und Weise ernährt?« Sie versuchte, selbst den leisesten Anflug von Sarkasmus zu vermeiden.

»Nein, nein«, versetzte McBrearty, »nur um die Wahrheit, worin auch immer sie bestehen mag, ans Licht zu bringen. Zwei gewissenhafte Wärterinnen, die abwechselnd, zwei Wochen lang, Tag und Nacht bei Anna wachen.«

Es ging hier also nicht um Libs Erfahrung mit wundärztlichen oder infektiösen Fällen, sondern um die gestrenge Ausbildung, die sie genossen hatte. Offenbar hoffte das Komitee, indem es die Dienste einer der neuartigen, gewissenhaften Krankenschwestern in Anspruch nahm, der aberwitzigen Geschichte der O’Donnells die nötige Glaubwürdigkeit verschaffen und dieses primitive Provinznest zum achten Weltwunder ausrufen zu können. In Libs Schläfen pochte die Wut.

Und Mitgefühl für die andere Frau, die man in diesen Morast gelockt hatte. »Kenne ich die zweite Wärterin vielleicht?«

Der Doktor legte die Stirn in Falten. »Aber haben Sie beim Abendessen denn nicht Schwester Michaels Bekanntschaft gemacht?«

Die schweigsame Nonne: Lib hätte es sich denken können. Seltsam, dass sie die Namen männlicher Heiliger annahmen, als wollten sie sich ganz von ihrer Weiblichkeit befreien. Aber warum hatte sich ihr die Nonne beim Essen dann nicht ordentlich vorgestellt? War es das, was die tiefe Verbeugung ihr hatte bedeuten sollen: dass sie und die Engländerin diese fade Suppe gemeinsam würden auslöffeln müssen? »Hat auch sie ihre Ausbildung auf der Krim erfahren?«

»Nein, nein, ich habe sie aus dem Haus der Barmherzigkeit in Tullamore kommen lassen«, sagte McBrearty.

Eine der wandelnden Nonnen. In Scutari hatte Lib Seite an Seite mit mehreren Schwestern dieses Ordens gedient. Immerhin erledigten sie zuverlässig ihre Arbeit, dachte sie.

»Die Eltern haben den Wunsch geäußert, dass wenigstens eine von Ihnen ihrer eigenen, äh …«

Also hatten die O’Donnells um eine Römisch-Katholische ersucht. »Konfession?«

»… und Nationalität angehören möge«, fuhr er fort.

»Mir ist wohl bewusst, dass Engländer hierzulande alles andere als beliebt sind«, sagte Lib und rang sich ein schmales Lächeln ab.

»Nun übertreiben Sie aber«, widersprach McBrearty.

Und warum hatten sich dann alle nach ihr umgewandt, als sie mit dem Ausflugswagen die Dorfstraße entlanggekommen war? Weil diese Männer sie erwartet hatten, wie sie jetzt begriff. Sie war nicht irgendeine, sondern ebenjene Engländerin, die man herbeigeschafft hatte, damit sie über den kleinen Liebling ihres Gutsherrn wachte.

»Schwester Michael soll dem Kind ein Gefühl der Vertrautheit geben, weiter nichts«, sagte McBrearty.

Der bloße Gedanke, dass Vertrautheit eine notwendige, ja hilfreiche Eigenschaft für eine Krankenwärterin sein könne! Und als zweite Schwester hatte er eine von Miss Ns berühmten Brigadistinnen rekrutiert, um dieser Wache das erforderliche Ansehen zu verleihen, nicht zuletzt in den Augen der britischen Presse.

Am liebsten hätte Lib mit nüchterner Stimme gesagt: Doktor, wenn ich Sie recht verstehe, haben Sie mich hierher verbringen lassen in der Hoffnung, dass meine Verbindung zu einer großen Frau diesem schändlichen Schwindel den Anschein der Respektabilität verleihen möge. Damit will ich nichts zu schaffen haben. Wenn sie morgen frühabreiste, konnte sie schon in zwei Tagen wieder im Spital sein.

Die Aussicht erfüllte sie mit Schwermut. Sie stellte sich vor, wie sie der Oberin zu erklären versuchte, dass sie den Posten in Irland aus moralischen Gründen habe ablehnen müssen. Die alte Dame würde schäumen.

Und so unterdrückte Lib fürs Erste ihren Zorn und konzentrierte sich auf die bevorstehende Aufgabe. Nur beobachten, hatte McBrearty gesagt. »Und wenn unser Schützling, und sei es in verhüllter Form, auch nur den leisesten Wunsch nach etwas Essbarem ausspricht …«

»Dann bringen Sie es ihm.« Der Doktor klang entsetzt. »Es ist nicht unser Metier, ein Kind verhungern zu lassen.«

Sie nickte. »Und in zwei Wochen erstatten wir Ihnen Bericht?« Dieser alte Mann konnte sie schließlich nicht zwingen, die Behauptungen der O’Donnells zu stützen. Im Gegenteil, es würde ihr nachgerade ein Vergnügen sein, sie Punkt für Punkt zu widerlegen.

Er schüttelte den Kopf. »Als Annas Arzt – und nach der Schlammschlacht in der Presse – könnte man mir Befangenheit unterstellen. Deshalb werden Sie vor dem Komitee aussagen, unter Eid.«

Lib nickte. Sie freute sich schon jetzt darauf.

»Sie und Schwester Michael, getrennt«, setzte er hinzu und reckte einen knotigen Finger, »ohne vorherige Absprache. Wir möchten wissen, zu welchem Urteil Sie gelangen, und zwar unabhängig voneinander.«

»Sehr wohl. Darf ich fragen, warum diese Wache nicht im nächstgelegenen Spital abgehalten wird?« So es in dieser gottverlassenen Gegend denn überhaupt eines gab.

»Die O’Donnells waren strikt dagegen, dass ihre Kleine in ein Krankenhaus gebracht wird.«

Damit war der Fall für Lib erledigt: Der Gutsherr und seine Gemahlin wollten, dass ihre Tochter bei ihnen blieb, damit sie ihr auch weiterhin etwas zu essen zustecken konnten. Es würde gewiss keine zwei Wochen dauern, ihnen auf die Schliche zu kommen.

Sie wählte ihre Worte mit Bedacht, da der Doktor offensichtlich einen Narren an der kleinen Simulantin gefressen hatte. »Falls ich vor Ablauf der vierzehn Tage dahinterkomme, dass Anna heimlich Nahrung zu sich genommen hat – soll ich dem Komitee dann unverzüglich Meldung machen?«

Seine bärtigen Wangen runzelten sich. »In diesem Fall wäre es wohl reine Zeit- und Geldverschwendung, das Unterfangen fortzuführen.«

Dann würde Lib die Sache schon in wenigen Tagen zu einem befriedigenden Abschluss gebracht haben und das Schiff zurück nach England besteigen können.

Mehr noch, wenn die britische Presse Schwester Elisabeth Wright für die Aufdeckung des Schwindels Anerkennung zollte, musste die Belegschaft des Spitals dies wohl oder übel zur Kenntnis nehmen. Niemand würde sie mehr hochnäsig schimpfen. Vielleicht würde sich daraus ja etwas ergeben, ein Posten, der Libs Fähigkeiten entgegenkam, etwas Interessantes. Ein weniger beschränktes Leben.

Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um ein jähes Gähnen zu verbergen.

»Dann will ich Sie jetzt verlassen«, sagte McBrearty. »Es ist bestimmt bald zehn.«

Lib zog ihre Taschenuhr hervor. »Zehn Uhr achtzehn.«

»Ah, wir sind hier fünfundzwanzig Minuten zurück. Sie haben noch die englische Zeit.«

Lib schlief den Umständen entsprechend gut.

Als gegen sechs die Sonne aufging, hatte sie bereits ihre Spitalstracht angelegt: Tweedkleid, wollene Jacke, weiße Haube. (Immerhin passte alles. Eine der zahlreichen Unannehmlichkeiten in Scutari war das Einheitskostüm gewesen: Den kleineren Wärterinnen hatte es wie ein Sack am Leib geschlottert, während Lib darin wie ein weiblicher Hanswurst ausgesehen hatte, dem die Hände zu lang aus den Ärmeln herausgewachsen waren.)

Sie frühstückte allein im Hinterzimmer des Krämerladens. Die Eier waren frisch, die Dotter sonnengelb.

Die Tochter der Ryans – Mary? Meg? – trug dieselbe fleckige Schürze wie am Abend zuvor. Als sie zurückkam, um den Tisch abzuräumen, teilte sie Lib mit, dass Mr. Thaddeus eingetroffen sei. Und war auch schon wieder aus dem Zimmer, ehe Lib erwidern konnte, sie kenne niemanden dieses Namens.

Lib betrat den Laden, wo sie ein Mann erwartete. »Sie wollten mich sprechen?« Sie zögerte, das Wörtchen Sir hinzuzusetzen.

»Guten Morgen, Mrs. Wright, ich hoffe, Sie haben wohl geruht.« Dieser Mr. Thaddeus war weitaus beredter, als sein verblichener Rock sie hatte ahnen lassen. Ein rosiges, nicht mehr ganz jugendliches, stupsnasiges Gesicht, bekrönt mit einem schwarzen Haarschopf, der zum Vorschein kam, als er höflich den Hut zog. »Ich soll Sie zu den O’Donnells bringen, wenn Sie denn so weit wären.«

»Ich bin so weit.«

Der fragende Unterton in ihrer Stimme war ihm offensichtlich nicht entgangen, denn er fügte hinzu: »Der werte Doktor war der Meinung, ein erprobter Freund der Familie solle Sie miteinander bekannt machen.«

Lib war verwirrt. »Ich hatte den Eindruck, Dr. McBrearty sei ein solcher Freund.«

»Durchaus«, sagte Mr. Thaddeus, »aber die O’Donnells setzen anscheinend besonderes Vertrauen in ihren Priester.«

Ein Priester? Der Mann trug Zivil. »Ich bitte um Verzeihung. Dann muss ich Sie wohl mit Father anreden?«

Er zuckte die Achseln. »Nun, von solch neumodischen Gepflogenheiten halten wir in diesen Breiten nicht allzu viel.«

Es fiel ihr schwer, sich diesen liebenswürdigen Gesell als den Beichtvater des Dorfes vorzustellen, den Hüter sämtlicher Geheimnisse. »Sie tragen weder Kollar noch …« Lib deutete auf seine Brust, da sie nicht wusste, wie man die geknöpfte schwarze Robe nannte.

»Meinen Feiertagsputz bewahre ich in meiner Truhe auf«, sagte Mr. Thaddeus lächelnd.

Das Mädchen stürzte wieder herein und wischte sich die Finger an der Schürze. »Hier ist Ihr Tabak«, sagte sie, verdrehte die Enden eines in Papier geschlagenen Bündels und schob es Mr. Thaddeus über den Ladentisch.

»Vergelt’s Gott, Maggie, und eine Schachtel Zündholzer dazu, wenn’s recht ist. Fertig, Schwester?«

Er sah an Lib vorbei. Sie wirbelte herum und blickte in das Gesicht der Nonne; wo kam denn die so plötzlich her?

Schwester Michael nickte erst dem Priester zu, dann Lib, mit einem kaum merklichen Zucken der Lippen, das man beinahe als Lächeln hätte deuten können. Verkrüppelt von Scheu und Schüchternheit, dachte Lib.

Warum hatte McBrearty nicht gleich zwei Nightingales bestellt? Vermutlich war auf so kurze Frist keine der gut fünfzig anderen – ob Laien- oder Ordensschwestern – abkömmlich gewesen. War Lib etwa die einzige Krim-Veteranin, die ihren Platz auch nach fünf Jahren noch nicht gefunden hatte? Die einzige, die so wenig mit sich anzufangen wusste, dass sie den vergifteten Köder begierig verschlungen und diesen Posten angenommen hatte?

Auf der Straße wandten sich die drei nach links und stapften durch das fahle Sonnenlicht. Da sie sich zwischen dem Priester und der Nonne unbehaglich fühlte, umklammerte Lib ihre Ledertasche etwas fester.

Die Häuser standen in seltsamen Winkeln, als zeigten sie einander die kalte Schulter. In einem Fenster saß eine alte Frau an einem Tisch, auf dem sich Körbe türmten: ein Hökerweib, das in seinem Vorderzimmer irgendwelche Waren feilbot? Von der rührigen Geschäftigkeit, die an einem Montagmorgen wie diesem in ihrem heimatlichen England herrschte, war hier nichts zu spüren. Ein mit einem Sack beladener Mann entbot Mr. Thaddeus und Schwester Michael im Vorübergehen einen Segensgruß.

»Mrs. Wright hat unter Miss Nightingale gedient«, wandte sich der Priester an die Nonne.

»Davon habe ich gehört«, murmelte Schwester Michael. Und setzte hinzu: »Dann haben Sie doch gewiss allerhand Erfahrung in wundärztlichen Dingen.«

Lib nickte so bescheiden, wie sie nur konnte. »Aber wir hatten auch viele Fälle von Cholera, Ruhr, Malaria. Und im Winter natürlich Erfrierungen.« In Wahrheit hatten die englischen Pflegerinnen ein Gutteil ihrer Zeit damit verbracht, Matratzen zu stopfen, Haferschleim zu kochen und Wäsche zu schrubben. Aber Lib wollte nicht, dass die Nonne sie für eine unbedarfte Magd hielt. Denn das begriffen nur die Wenigsten: dass die Rettung eines Menschenlebens sich nicht selten darin erschöpfte, gestohlenes Verbandzeug wiederaufzufinden oder ein verstopftes Latrinenrohr zu säubern.

Keine Spur von einem Marktplatz oder Anger, wie er in jedem englischen Dorf zu finden war. Die grellweiße Kapelle schien der einzige Neubau zu sein. Kurz bevor sie selbige erreichten, bog Mr. Thaddeus scharf rechts ab, auf einen schlammigen Weg, der um den Kirchhof herumführte. Die windschiefen, moosbewachsenen Grabsteine schienen nicht in Reihen, sondern aufs Geratewohl gesetzt worden zu sein. »Liegt das Haus der O’Donnells außerhalb des Dorfes?«, fragte Lib. Wenn sie schon nicht bereit waren, den beiden Wärterinnen eine Unterkunft zu bieten, warum hatten sie ihnen dann nicht wenigstens einen Wagen gesandt?

»Ein kleines Stück«, sagte die Nonne mit wispernder Stimme.

»Malachy hält Shorthorn-Rinder«, ergänzte Mr. Thaddeus.

Die schwache Sonne brannte heißer, als Lib angenommen hatte; sie schwitzte unter ihrem Umhang. »Wie viele Kinder haben sie?«

»Nur noch das Mädchen, seit Pat hinübergegangen ist, behüt ihn Gott«, antwortete Mr. Thaddeus.

Hinübergegangen? Wohin? Vermutlich Amerika, überlegte Lib, oder Britannien oder die Kolonien. Die Rabenmutter Irland schien die Hälfte ihrer mageren Brut nach Übersee zu schicken. Dann hatten die O’Donnells also nur zwei Kinder: Das erschien Lib reichlich dürftig.

Sie kamen zu einer schäbigen Kate mit rauchendem Kamin. Ein abschüssiger Pfad führte vom Fußweg zu einer weiteren Hütte. Libs Augen suchten das Marschland nach dem Anwesen der O’Donnells ab. Durfte sie den Priester nach mehr fragen als nur nach den bloßen Fakten? Die beiden Schwestern sollten sich unabhängig voneinander ein Urteil bilden. Da plötzlich kam Lib der Gedanke, dass sie nach diesem kurzen Gang womöglich nie wieder Gelegenheit erhalten würde, diesem erprobten Freund der Familie auf den Zahn zu fühlen. »Mr. Thaddeus,wenn Sie gestatten – können Sie sich für die Redlichkeit der O’Donnells verbürgen?«

...Ende der Leseprobe