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Emma Donoghue

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Beschreibung

Auch seinen fünften Geburtstag feiert Jack in Raum. Raum hat eine immer verschlossene Tür, ein  Oberlicht und ist 12 Quadratmeter groß. Dort lebt der Kleine mit seiner Mutter. Dort wurde er auch  geboren. Jack liebt es fernzusehen, denn da sieht er seine »Freunde«, die Cartoonfiguren. Aber er weiß, dass die Dinge hinter der Mattscheibe nicht echt sind – echt sind nur Ma, er und die Dinge in Raum. Bis der Tag kommt, an dem Ma ihm erklärt, dass es doch eine Welt da draußen gibt und dass sie versuchen müssen, aus Raum zu fliehen … »Nerven zerreißend und fesselnd. ›Raum‹ – angeregt von der wahren Geschichte über Elisabeth Fritzl,  eingesperrt mit ihren Kindern von ihrem Vater – ist die Geschichte einer Mutter und ihres Sohnes, deren Liebe sie das Unglaubliche überleben lässt.« Psychologies ZUM SPECIAL

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Room« bei Little, Brown and Company, New York.

Das Motto vor dem ersten Kapitel entstammt der Übersetzung O. Werners, München 1969.

Raum ist für Finn und Una, meine gelungensten Werke.

Deutsch von Armin Gontermann

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

2. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95448-8

© Emma Donoghue Ltd., 2010 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, 2011 This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, USA. All rights reserved. Umschlaggestaltung: Kornelia Rumberg nach einer Idee von Keith Hayes / Hachette Book Group, Inc.

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Kind, in was für Not bin ich doch und Leid. Aber du schläfst. Mit des Säuglings Herzen schlummernd ruhst du in freudloser Arche, in dies nächtlich-schimmernd-blauschwarze Dunkel hingestreckt.

GESCHENKE

Heute bin ich fünf. Als ich gestern Abend in Schrank eingeschlafen bin, war ich noch vier. Aber dann wache ich im Dunkel in Bett auf und bin plötzlich fünf, Abrakadabra. Davor war ich drei, dann zwei, dann eins und dann null. »War ich auch schon mal minus was?«

»Hmm.« Meine Ma reckt sich und streckt sich.

»Oben im Himmel, meine ich. War ich da minus eins, minus zwei, minus drei und so?«

»Aber nein, das mit dem Zählen hat erst angefangen, als du auf die Erde runtergerauscht bist.«

»Durch Oberlicht. Und du bist ganz traurig gewesen, bis ich in deinem Bäuchlein passiert bin.«

»Stimmt genau.« Ma lehnt sich aus Bett und schaltet Lampe an, der macht alles ganz hell, schwuppdiwupp.

Ich kneife gerade noch rechtzeitig die Augen zu, dann mache ich eins wieder ein klitzekleines bisschen auf, dann alle beide.

»Ich habe so viele Tränen geweint, bis gar keine mehr übrig waren«, erzählt sie mir. »Hab einfach nur dagelegen und die Sekunden gezählt.«

»Wie viele Sekunden?«, frage ich sie.

»Millionen und Abermillionen.«

»Nein, wie viele genau?«

»Irgendwann bin ich aus der Reihe gekommen«, sagt Ma.

»Und dann hast du immer und immer wieder dein Ei beschwört, bis du kugelrund geworden bist.«

Sie grinst. »Ich konnte spüren, wie du getreten hast.«

»Was habe ich getreten?«

»Mich natürlich.«

An der Stelle muss ich immer lachen.

»Von innen drin, bumm bumm.« Ma hebt ihr Schlaf-T-Shirt hoch und lässt ihr Bäuchlein springen. »Da dachte ich mir, Jack ist wohl unterwegs. Und ganz früh am Morgen kamst du dann rausgeflutscht und lagst auf dem Teppich, deine Augen waren ganz weit auf.«

Ich gucke auf Teppich, sie hat lauter rote, braune und schwarze Zickzackstreifen. Und da ist der Fleck, den ich aus Versehen verschüttet habe, als ich geboren wurde. »Dann hast du die Schur abgeschneidet und ich war los«, erkläre ich Ma. »Und dann bin ich ein Junge geworden.«

»Ein Junge warst du eigentlich schon vorher.« Sie steigt aus Bett geht zu Thermostat, um die Luft heiß zu machen.

Ich glaube nicht, dass er gestern nach neun noch gekommen ist. Wenn er da war, ist die Luft immer anders. Ich frage aber nicht, weil sie nicht gern über ihn reden tut.

»Also, Freund Fünf, hättest du dein Geschenk lieber vor oder nach dem Frühstück?«

»Was kriege ich, was kriege ich?«

»Ich weiß ja, dass du gespannt bist«, sagt sie, »aber du darfst trotzdem nicht an deinem Finger kauen, sonst krabbeln Bazillen durch das Loch.«

»Und die machen mich dann krank so wie damals, als ich drei war und brechen musste und Durchfall hatte?«

»Sogar noch schlimmer«, sagt Ma. »An Bazillen kann man sterben.«

»Und dann kommt man ganz bald wieder in den Himmel?«

»Du kaust ja immer noch.« Sie zieht meine Hand weg.

»Tut mir leid.« Ich setze mich auf die böse Hand. »Sag noch mal Freund Fünf zu mir.«

»Was ist nun, Freund Fünf«, fragt sie, »jetzt oder später?«

Ich springe auf Stuhlschaukel, damit ich Uhr sehen kann, da steht 07:14. Ich kann auf Stuhlschaukel schon inlineskaten, ohne festhalten, und dann mache ich Engelchen, flieg bis zum Zudeck, aber diesmal als Snowboarder. »Wann muss man Geschenke denn aufmachen?«

»Egal, beides ist gleich gut. Soll ich für dich entscheiden?«, fragt Ma.

»Nein, ich bin fünf, ich muss selbst entscheiden.« Mein Finger ist schon wieder in meinem Mund, ich tue ihn unter die Achsel und klemme ihn fest. »Ich entscheide … jetzt.«

Sie zieht etwas unter ihrem Kissen hervor, ich glaube, da hat es sich die ganze Nacht unsichtbar versteckt. Es ist ein Rohr aus Schreibpapier und drum herum das lila Bändchen von den Tausend Schokolädchen, die wir gekriegt haben, als Weihnachten passiert ist. »Mach auf«, sagt sie. »Schön vorsichtig.«

Ich schaffe es, den Knoten aufzufummeln, und streiche das Papier platt, es ist eine Zeichnung nur mit Bleistift, keine Farben. Ich weiß nicht, was das sein soll, und drehe es um. »Ich!« Wie in Spiegel, nur mehr von mir, mein Kopf und mein Arm und meine Schulter in meinem Schlaf-T-Shirt. »Warum sind die Augen von mir zu?«

»Weil du geschlafen hast«, erklärt Ma.

»Wie hast du denn im Schlafen ein Bild gemalt?«

»Nein, ich war wach. Gestern und vorgestern und vorvorgestern früh, da habe ich die Lampe angeschaltet und dich gezeichnet.« Sie hört auf zu lächeln. »Was ist los, Jack? Gefällt es dir etwa nicht?«

»Nein … nicht, wenn du zur selben Zeit angeschaltet bist und ich aus.«

»Na hör mal, ich konnte dich doch nicht zeichnen, während du wach warst, sonst wäre es ja keine Überraschung gewesen, oder?« Ma wartet. »Ich dachte, du würdest dich über eine Überraschung freuen.«

»Ich will die Überraschung und trotzdem wissen, was los ist.«

Sie lacht ein bisschen.

Ich springe auf Stuhlschaukel, damit ich aus Kästchen auf Regal eine Stecknadel holen kann. Minus eine heißt, dass jetzt von den fünf nur noch null übrig sind. Früher waren es mal sechs, aber eine ist verschwunden. An einer über Stuhlschaukel hängt: Große Meisterwerke westlicher Kunst Nr. 3: Jungfrau und Kind mit hl. Anna und hl. Johannes. An einer anderen neben Wanne: Große Meisterwerke westlicher Kunst Nr. 8: Impression – Sonnenaufgang, an noch einer hängt der blaue Tintenfisch und an noch einer das Bild mit dem verrückten Pferd, es heißt: Große Meisterwerke westlicher Kunst Nr. 11: Guernica. Die Meisterwerke waren bei den Haferflocken dabei, aber der Tintenfisch ist von mir, mein bestes Bild im März, aber er wird schon ein bisschen kringelig wegen dem Dampf über Wanne. Ich pinne Mas Überraschungsbild genau auf die mittlere Korkfliese über Bett.

Sie schüttelt den Kopf. »Nicht da.«

Sie will nicht, dass Old Nick es sieht. »Vielleicht an der Rückwand von Schrank?«, frage ich.

»Gute Idee.«

Schrank ist aus Holz, deshalb muss ich die Nadel extra fest reindrücken. Dann mache ich die doofen Türen von ihr zu, die immer quietschen, trotzdem wir schon Maisöl auf die Scharniere getan haben. Ich linse durch die Ritze, aber es ist zu dunkel. Also mache ich ein bisschen auf und gucke rein. Die Geheimzeichnung ist weiß mit nur ein paar grauen Linien. Mas blaues Kleid hängt über einem Teil von meinem schlafenden Auge, ich meine das Auge auf dem Bild, das Kleid in Schrank ist nämlich in echt.

Ich kann Ma neben mir riechen, weil ich die beste Nase in der ganzen Familie habe.

»Oh, ich habe ganz vergesst, welche zu trinken, als ich aufgewacht bin.«

»Das macht nichts. Vielleicht sollten wir sowieso öfter mal aussetzen, wo du jetzt schon fünf bist.«

»Kommt nicht in die Tüte.«

Also legt sie sich auf das Weiße von Zudeck und ich auch, und dann kriege ich richtig viel.

Ich zähle einhundert Cornflakes und mache, ohne was zu verschütten, einen Wasserfall Milch drüber, die ist fast so weiß wie die Schüsseln. Wir bedanken uns beim Jesuskind, und ich suche mir Weichlöffel aus, der hat lauter weiße Blasen am Griff, seit er mal aus Versehen beim Nudelmachen an der Pfanne gelehnt hat. Ma mag Weichlöffel nicht, aber ich habe ihn am liebsten, weil er etwas Besonderes ist.

Ich streichle die Kratzer auf Tisch, damit sie wieder heil werden, Tisch ist ganz weiß, nur die Kratzer sind grau, das kommt vom Essen schnippeln. Beim Essen spielen wir Summen, weil man dafür keinen Mund braucht. Ich rate Macarena und She’ll be Coming ’round the Mountain und Swing Low, Sweet Chariot, aber das ist dann in Wahrheit Stormy Weather. Zwei Punkte, also kriege ich zwei Küsse.

Ich summe Row, Row, Row Your Boat und das rät Ma sofort. Dann summe ich Tubthumping, sie verzieht das Gesicht und sagt: »Hach, das kenne ich doch, da geht es drum, dass man wieder aufsteht, wenn einen was umgehauen hat, wie heißt das noch mal?« Am Ende kommt sie drauf. Als Drittes mache ich Can’t Get You Out of My Head. Ma hat keinen blassen Schimmer. »Da hast du dir aber was Schwieriges ausgesucht … hast du das im Fernsehen gehört?«

»Nein, bei dir.« Ich platze mit dem Refrain heraus, und Ma sagt, sie ist ein Dummie.

»Schafskopf.« Ich gebe ihr zwei Küsse.

Zum Spülen schiebe ich meinen Stuhl zu Becken. Mit den Schüsseln muss ich vorsichtig sein, aber mit den Löffeln kann ich bing bang bong machen. Ich strecke Spiegel die Zunge heraus. Ma steht hinter mir, ich kann mein Gesicht über ihrem liegen sehen wie die Maske, die wir mal gebastelt haben, als Halloween passiert ist. »Ich wünschte, die Zeichnung wäre besser«, sagt sie, »aber wenigstens kann man darauf erkennen, wie du aussiehst.«

»Wie sehe ich denn aus?«

Sie tippt gegen Spiegel, da, wo meine Stirn ist, von ihrem Finger bleibt ein Kreis da. »Als wärst du mir aus dem Gesicht geschnitten.«

»Wieso bin ich aus deinem Gesicht geschneidet?« Der Kreis geht langsam weg.

»Das soll heißen, du siehst genauso aus wie ich. Wahrscheinlich, weil du aus mir gemacht bist, beinahe so, als hätte man mir was rausgeschnitten. Die gleichen braunen Augen, der gleiche große Mund, das gleiche spitze Kinn …«

Ich starre uns beide gleichzeitig an, und die uns in Spiegel glotzen zurück. »Aber die Nase ist nicht dieselbe.«

»Im Moment hast du ja auch noch eine Kindernase.«

Ich fasse sie an. »Fällt sie irgendwann ab, und mir wächst eine Erwachsenennase?«

»Nein, nein, sie wird einfach nur größer. Das gleiche braune Haar …«

»Aber meins geht runter in auf die Mitte von mir und deins nur bis an die Schulter.«

»Stimmt«, sagt Ma und greift nach Zahnpasta. »Das ist, weil deine Zellen alle doppelt so lebendig sind wie meine.«

Das wusste ich gar nicht, dass Dinge nur halb lebendig sein können. Ich gucke noch mal in Spiegel. Unsere Schlaf-T-Shirts sehen auch anders aus und unsere Unterhosen, ihre hat keine Bären drauf.

Als sie zum zweiten Mal ausspuckt, heißt das, ich bin mit Zahnbürste dran, und ich schrubbe überall um meine Zähne rum. Mas Spucke in Spülbecken sieht jedenfalls kein bisschen wie meine aus. Ich spüle sie weg und mache ein grinsendes Vampirgesicht.

»Arghhh.« Ma hält sich die Augen zu. »Deine Zähne sind so sauber, die blenden mich ja richtig.«

Ihre eigenen sind ziemlich verfault, weil sie früher vergesst hat, sie zu putzen. Jetzt tut es ihr leid, und sie vergisst es auch nicht mehr, aber sie sind trotzdem verfault.

Ich mache die Stühle platt und lehne sie neben Türe gegen Trockenständer. Der grummelt immer, dass kein Platz da wäre, aber wenn er sich nur ordentlich gerade hinstellt, ist genug da. Mich selbst kann ich auch platt machen, aber so platt nicht, wegen meinen Muskeln, ich bin nämlich am Leben. Türe ist aus einem glänzendem Zaubermetall. Nach neun, wenn ich in Schrank muss und ausschalten soll, macht er piep piep piep.

Das gelbe Gesicht von Gott kommt heute nicht rein. Ma sagt, er schafft es nicht, sich durch den Schnee zu schieben.

»Was ist Schnee?«

»Sieh mal«, sagt sie und zeigt nach oben.

Auf dem Deckel von Oberlicht ist es ein kleines bisschen hell, aber der Rest ist ganz dunkel. Im Fernsehen ist der Schnee weiß, in echt aber nicht, komisch. »Warum fällt er nicht auf uns drauf?«

»Weil er draußen ist.«

»Im Weltall? Ich wünschte, er wäre hier drinnen, damit ich mit ihm spielen kann.«

»Aber dann würde er doch schmelzen, weil es hier drinnen so schön warm ist.« Ma fängt an zu summen, und ich rate sofort, das ist Let It Snow. Ich singe die zweite Strophe. Dann singe ich Winter Wonderland, und Ma singt in Oberstimme mit.

Jeden Morgen haben wir tausend Sachen zu erledigen, zum Beispiel Pflanze Wasser zu geben, und zwar in Becken, damit nichts verschüttet. Dann stellen wir ihn wieder in seiner Untertasse auf Kommode. Früher hat Pflanze auf Tisch gewohnt, aber dann hat das Gesicht von Gott ihm ein Blatt abgebrannt. Neun hat er noch übrig, sie sind so breit wie meine Hand und haben oben drauf so einen Pelz. Wie Hunde, sagt Ma. Aber Hunde sind nur Fernseher. Neun mag ich nicht. Ich sehe, dass da noch ein kleines Blättchen kommt, das zählt als zehn.

Spinne ist in echt. Ich habe sie schon zwei Mal gesehen. Jetzt suche ich sie, aber da ist nur ein Netz zwischen dem Bein von Tisch und ihrer Wohnung. Tisch kann gut im Gleichgewicht stehen, das ist gar nicht so einfach. Wenn ich auf einem Bein stehe, kann ich zwar superlange so stehen bleiben, aber irgendwann falle ich doch immer um. Ma erzähle ich nichts von Spinne. Sie macht nämlich immer die Netze weg, weil sie findet, die sind schmutzig, aber für mich sehen sie aus wie extra dünnes Silber. Ma mag nur die Tiere, die auf dem Naturplaneten rumlaufen und sich gegenseitig auffressen, die in echt aber nicht. Als ich vier war, habe ich mal Ameisen gesehen, die krabbelten Herd hoch. Da ist sie hingelaufen und hat alle erspritzt, damit sie nicht unser Essen essen. Gerade eben sind sie noch am Leben und im nächsten Moment nur noch Dreck. Ich habe so viel geweint, dass mir fast die Augen geschmolzen sind. Und ein anderes Mal war da in der Nacht so ein Ding, das hat bssssst bsssst bssssst gemacht und mich gebissen, und Ma hat es unter Regal gegen Türewand geklatscht, es war nämlich eine Mücke. Der Fleck auf dem Kork ist immer noch da, trotzdem sie geschrubbt hat, das war mein Blut, und die Mücke hat es gestohlen wie ein winziger Vampir. Es war das einzige Mal überhaupt, dass Blut aus mir rausgekommen ist.

Ma nimmt aus einer Silberpackung mit 28 kleinen Raumschiffen eine Pille, dann nehme ich ein Vitamin aus der Flasche, auf der ein Junge Handstand macht, und sie eins aus der großen Flasche mit dem Bild von einer Frau, die Tennis macht. Vitamine sind Medizin, damit man nicht krank wird und zu früh in den Himmel kommt. Ich will da überhaupt nie hin, ich will nicht sterben, trotzdem Ma sagt, es ist gar nicht so schlimm, wenn wir erst mal hundert sind und keine Lust mehr auf Spielen haben. Außerdem nimmt sie eine Scherztablette. Manchmal nimmt sie auch zwei, aber nie mehr als zwei, weil manche Sachen zwar gut für einen sind, aber bei zu viel sind sie plötzlich schlecht.

»Ist es Schlimmerzahn?«, frage ich. Der wohnt ganz hinten in ihrem Mund, oben, und der ist der Schlimmste.

Ma nickt.

»Warum nimmst du nicht an jedem Teil von jedem Tag zwei Scherztabletten?«

Sie verzieht das Gesicht. »Dann würde ich abhängig.«

»Was ist …«

»Abhängig wäre, als wenn ich an einem Haken festhinge, weil ich sie dann immer bräuchte. Wahrscheinlich brauche ich sowieso bald immer mehr.«

»Was ist denn daran so schlimm, wenn man was braucht?«

»Das ist schwer zu erklären.«

Ma weiß alles, außer den Sachen, an die sie sich nicht mehr erinnert. Und manchmal sagt sie auch, dass sie mir etwas noch nicht erklären kann, weil ich zu jung bin.

»Sobald ich nicht mehr an meine Zähne denke, tun sie auch nicht mehr so weh«, erklärt sie mir.

»Wie geht das denn?«

»So was nennt man Willenssache. Wenn ich es nicht will, ist die Sache auch nicht mehr so wichtig.«

Wenn von mir ein Teil wehtut, ist die Sache immer wichtig. Ma streichelt mir die Schulter, trotzdem meine Schulter gar nicht wehtut, aber es gefällt mir trotzdem.

Ich verrate ihr immer noch nichts von dem Netz. Es ist komisch, wenn ich etwas ganz für mich allein habe, ohne Ma. Alles andere gehört uns beiden zusammen. Ich nehme mal an, dass mein Körper mir allein gehört und die Ideen, die in meinem Kopf passieren. Aber meine Zellen sind aus ihren Zellen gemacht, also gehöre ich irgendwie auch ihr. Und wenn ich ihr sage, was ich denke, und sie mir sagt, was sie denkt, dann springen die Ideen von jedem von uns in den anderen Kopf, so wie wenn man mit blauem Buntstift über gelben malt, dann wird grün draus.

Um 08:30 drücke ich den Anschalter von Fernsehen und probiere alle drei aus. Ich finde Dora, hurra! Ganz langsam schiebt Ma Häschen hin und her, damit es mit seinem Kopf und seinen Ohren das Bild besser macht. Einmal, als ich vier war, ist Fernsehen gestorben, und ich habe geweint, aber am Abend hat Old Nick dann einen Zauberkonvertor mitgebringt und damit Fernsehen wieder lebendig gemacht. Hinter drei sind alle anderen Kanäle total fusselig, und wir gucken die nie, weil es schlimm für die Augen ist. Nur wenn Musik kommt, legen wir Mummeldecke drüber und hören einfach durch ihr graues Fell und wackeln mit dem Popo.

Heute lege ich Dora zur Begrüßung meine Finger auf den Kopf und erzähle ihr von meinen neuen Superkräften, weil ich jetzt fünf bin. Sie lächelt. Sie hat riesig viel Haar, einen richtigen braunen Helm mit spitzen Zacken und so groß wie der Rest von ihr. Ich setze mich in Bett auf Mas Schoß und gucke zu. Ich rutsche ein bisschen hin und her, damit ich nicht auf ihren spitzen Knochen sitze. Ma hat nicht viele weiche Stellen, aber die sind dafür superweich.

Dora sagt manchmal Sachen, die gar keine richtige Sprache sind, sondern Spanisch, zum Beispiel lo hicimos. Sie hat immer Rucksack dabei, der ist innen größer als außen und hat alles drin, was Dora so braucht, zum Beispiel Leitern oder Raumanzüge oder Sachen zum Tanzen oder für Fußball oder Flöte spielen und für die Abenteuer mit ihrem allerbesten Affenfreund Boots. Dora sagt immer, dass sie meine Hilfe braucht, ob ich zum Beispiel irgendein Zauberding finden kann, und dann wartet sie, bis ich Ja sage. Ich rufe: »Hinter der Palme«, und schon klickt der blaue Pfeil direkt hinter die Palme, und sie sagt: »Danke.« Die anderen Personen im Fernsehen hören einem überhaupt nicht zu. Die Karte zeigt jedes Mal drei Orte, am Anfang müssen wir an den ersten, damit wir von da an den zweiten kommen und von da dann an den dritten. Ich gehe mit Dora und Boots los, die zwei halten Händchen. Ich singe alle Lieder mit, besonders die mit Purzelbaum oder Abklatschen oder dem verrückten Hühnertanz. Wir müssen immer auf den listigen Fuchs Swiper achtgeben. »Swiper, nicht stehlen«, rufen wir dreimal, dann wird er ganz sauer und sagt: »Ach, Mensch!« und läuft weg. Einmal hat Swiper sich einen Roboterschmetterling mit Fernbedienung gebastelt, aber alles ging schief, und er hat aus Versehen seine eigene Maske und seine Handschuhe gestohlen, total lustig. Manchmal fangen wir auch die Sterne und tun sie in eine Tasche von Rucksack. Ich würde mir immer den Bimmelstern aussuchen, der alles aufweckt, oder den Zauberstern, der sich in alles Mögliche verwandeln kann.

Auf den anderen Planeten sind meistens nur Personen, von denen passen Hunderte auf den Bildschirm, außer manchmal, wenn eine davon ganz groß und nah ist. Statt Haut haben sie Kleider, die Gesichter sind ganz rosa oder gelb oder braun oder fleckig und voller Haare, mit ganz roten Mündern und riesigen Augen mit schwarzen Rändern. Sie lachen und schreien viel. Am liebsten würde ich die ganze Zeit Fernsehen zugucken, aber davon kriegt man eine weiche Birne. Bevor ich aus dem Himmel gekommen bin, hat Ma ihn den ganzen Tag angelassen und sich in einen Zombie verwandelt, das ist so was wie ein Geist, aber einer, der der so tock, tock rumläuft. Jetzt schaltet sie ihn immer nach einer Sendung aus, dann vermehren sich die Zellen den Tag über wieder, und nach dem Abendessen können wir noch eine Sendung angucken, und im Schlaf wächst wieder neues Gehirn.

»Nur noch eine, es ist doch mein Geburtstag. Bitte, bitte.«

Ma macht den Mund auf und wieder zu. Dann sagt sie: »Ach, na gut.« Die Werbung macht sie immer auf stumm, weil die unser Gehirn noch schneller zu Brei macht, bis es einem aus den Ohren tropft.

Ich sehe mir die Spielsachen an, es gibt einen tollen Laster und ein Trampolin und Bionicle-Figuren. Zwei Jungen kämpfen mit Transformern in der Hand gegeneinander, aber sie sind lieb, keine Bösen.

Dann kommt das Programm, es ist SpongeBob Schwammkopf. Ich laufe hin und berühre ihn und Seestern Patrick, aber nicht Thaddäus Tentakel, der ist eklig. Es kommt eine gruselige Geschichte über einen Riesenbleistift. Ich gucke durch Mas Finger, die sind alle doppelt so lang wie meine.

Nichts kann Ma Angst machen. Außer vielleicht Old Nick. Meistens nennt sie ihn einfach nur der, ich wusste noch nicht mal einen Namen für ihn, bis ich irgendwann einen Zeichentrickfilm über einen gesehen habe, der in der Nacht kommt und Old Nick heißt. So nenne ich den Wirklichen jetzt, weil er auch in der Nacht kommt, aber er sieht nicht aus wie der Fernseher-Mann, weil, der hat einen Bart und Hörner und so Sachen. Einmal habe ich Ma gefragt, ob er alt ist. Sie hat gesagt, fast doppelt so alt wie sie, und das ist ziemlich alt.

Sobald der Abspann läuft, steht sie auf und schaltet Fernseher aus.

Mein Pipi ist gelb, das kommt von den Vitaminen. Ich setze mich hin, mache Kacka und sage wie immer: »Tschüs und ab ins Meer.« Danach ziehe ich runter und gucke zu, wie die Schüssel wieder vollläuft und dabei blubber glucker plätscher macht. Dann schrubbe ich mir die Hände, bis es sich anfühlt, als würde die Haut abgehen, so weiß ich, dass ich sie genug gewaschen habe.

»Unter Tisch ist ein Netz«, sage ich, dabei wollte ich das überhaupt nicht. »Es ist von Spinne, sie ist in echt. Ich habe sie zweimal gesehen.«

Ma lächelt, aber nicht richtig.

»Bitte mach es nicht weg, ja? Sie ist noch nicht mal da, aber vielleicht kommt sie ja wieder.«

Ma ist schon auf den Knien und guckt unter Tisch. Ich kann ihr Gesicht erst sehen, als sie sich die Haare hinters Ohr schiebt. »Weißt du was? Ich lasse es da, bis wir wieder putzen, okay?«

Das ist am Dienstag, also in drei Tagen. »Okay.«

»Und weißt du, was noch? Jetzt, wo du fünf bist, müssen wir einen Strich machen, wie groß du bist.«

Ich springe ganz hoch in die Luft.

Normalerweise darf ich nirgendwo in Raum oder auf irgendwelchen Möbeln malen. Als ich zwei war, habe ich mal auf ein Bein von Bett gekritzelt, und jetzt tippt Ma jedes Mal, wenn wir putzen, auf das Gekritzel und sagt: »Schau dir das an, damit müssen wir jetzt bis in alle Ewigkeit leben.« Aber mein Geburtstagsgroß ist was anderes, nämlich klitzekleine Zahlen neben Türe, eine schwarze 4 und da drunter eine schwarze 3 und da drunter eine rote 2, die Farbe hatte nämlich der alte Schreiber, bis er alle war. Ganz unten ist eine rote 1.

»Stell dich gerade hin«, sagt Ma. Der Schreiber kitzelt mich oben am Kopf.

Als ich weggehe, steht da eine schwarze 5 ein bisschen über der 4. Fünf ist meine Lieblingszahl von allen, jede Hand von mir hat fünf Finger, genauso ist es bei den Zehen und bei Ma, wir sind ja auch aus uns geschneidet. Neun ist meine schlimmste Lieblingszahl. »Was ist mein Groß?«

»Deine Größe. Also, genau weiß ich es gar nicht«, sagt sie. »Vielleicht könnten wir ja irgendwann mal als Sonntagsgutti um ein Maßband bitten.«

Ich dachte immer, Maßband ist nur Fernseher. »Nö, lieber was Süßes.« Ich lege meinen Finger auf die 4 und stelle mich mit dem Gesicht dagegen, mein Finger ist auf meinem Haar. »Diesmal bin ich nicht viel mehr groß geworden.«

»Das ist normal.«

»Was heißt normal?«

»Das heißt …« Ma beißt sich auf die Lippen. »Das heißt, alles in Ordnung. No hay problema.«

»Aber guck mal, wie groß meine Muskeln sind.« Ich springe auf Bett. Ich bin der Riesentöter Muck mit den Siebenmeilenstiefeln.

»Wahnsinn«, sagt Ma.

»Gigantisch.«

»Kolossal.«

»Irre.«

»Enorm«, sagt Ma.

»Gigantossal.« Das ist ein Wörtersandwich, weil wir zwei zusammenpappen.

»Nicht übel.«

»Weißt du, was?«, sage ich. »Wenn ich zehn bin, dann bin ich ganz großgezogen.«

»Tatsächlich?«

»Ich werde immer größer und immer größer, und dann bin ich menschlich.«

»Menschlich bist du eigentlich jetzt schon«, sagt Ma. »Wir sind beide menschlich.«

Ich dachte immer, das richtige Wort für uns wäre »in echt«. Die Personen in Fernseher sind nämlich nur aus Farben.

»Meintest du vielleicht männlich, mit ä?«

»Ja«, sage ich. »Männlich und mit einem Jungen in einem Ei in meinem Bäuchlein, und der ist dann auch in echt. Oder sonst werde ich ein Riese, aber ein lieber und sooo groß.« Ich springe hoch und titsche ganz oben gegen Bettwand, wo schon schräg Dach hochgeht.

»Tolle Idee«, sagt Ma.«

Ihr Gesicht ist ganz alle geworden, das heißt, ich habe was Falsches gesagt, aber ich weiß nicht, was.

»Dann ich springe durch den Oberlicht ins Weltall und danach, boing boing, zwischen den Planeten hin und her«, erkläre ich ihr. »Ich besuche Dora und Spongebob und meine ganzen Freunde. Und ich habe einen Hund, der heißt Lucky.«

Ma tut so, als ob sie lächelt. Sie räumt den Schreiber wieder auf Regal.

»Wie alt bist du auf deinem nächsten Geburtstag?«, frage ich sie.

»Siebenundzwanzig.«

»Boah.«

Ich glaube nicht, dass sie jetzt wieder froh ist.

Während Wanne einläuft, holt Ma Labyrinth und Fort von Schrank. An Labyrinth basteln wir schon, seit ich zwei war, sie ist aus lauter Klorollen, die haben wir zu Tunneln zusammengeklebt, die nach überallhin umbiegen. Flummi macht es unheimlich Spaß, sich in Labyrinth zu verirren und zu verstecken, dann muss ich ihn rufen und rütteln und schütteln und kippen und umdrehen, bis er endlich rauskommt, uff!

Danach schicke ich andere Sachen in Labyrinth, zum Beispiel eine Erdnuss oder ein Stückchen blauen Stift oder eine kurze Spaghetti, nicht gekocht. Die jagen sich in den Tunneln und schleichen sich ran und rufen buh. Sehen kann ich sie nicht, aber ich höre am Karton, und so kann ich rauskriegen, wo sie sind. Zahnbürste will auch mal, aber ich sage ihm, tut mir leid, du bist zu lang. Dafür springt er in Fort und bewacht einen Turm. Der Fort ist aus lauter Blechdosen und Vitaminfläschchen gemacht. Jedes Mal, wenn wir eine leere haben, bauen wir ihn größer. Fort kann in alle Richtungen gucken und spritzt heißes Öl auf die Feinde, und die haben keine Ahnung, dass er auch geheime Ritzen für Messer hat, haha. Ich würde ihn gern mal in Wanne mitnehmen, dann wäre er eine Insel, aber Ma sagt, dann wird er unklebrig.

Wir machen unsere Pferdeschwänze auf und lassen unsere Haare schwimmen. Ich liege auf Ma und mache keinen Mucks. Ich höre, wie ihr Herz wummert. Wenn sie atmet, gehen wir immer ein bisschen rauf und runter. Mein Peterchen schwebt hoch.

Weil mein Geburtstag ist, darf ich aussuchen, was jeder von uns anzieht. Mas Sachen wohnen in der oberen Schublade von Kommode und meine in der unteren. Ich suche mir ihre Lieblings-Bluejeans aus, die mit den roten Nähten, die sie nur bei besonderen Anlässen trägt, weil sie an den Knien schon ausfransen. Für mich suche ich den gelben Kapuzenpulli aus. Bei der Schublade passe ich auf, aber trotzdem kommt die rechte Ecke raus, und Ma muss sie wieder reinhauen. Zusammen ziehen wir meinen Kapuzenpulli runter, und erst will er mein Gesicht fressen, aber dann, plopp, ist er an.

»Soll ich nicht doch mal einen kleinen Schlitz in den V-Ausschnitt machen?«, fragt Ma.

»Kommt nicht in die Tüte.«

Beim Sport lassen wir die Socken aus, weil nackte Füße besser pappen. Heute will ich als Erstes Schnelllauf machen, also heben wir Tisch auf Bett und Stuhlschaukel und Teppich oben drüber. Schnelllauf heißt, es geht von Schrank bis zu Lampe um Bett rum, auf Boden ist ein schwarzes C gemalt. »He, guck mal, ich kann hin und zurück mit nur sechzehn Schritten.«

»Toll. Als du vier warst, waren es doch noch achtzehn Schritte, oder?«, sagt Ma. »Was glaubst du, wie oft du heute hin und her laufen kannst?«

»Fünfmal.«

»Wie wäre es mit fünf mal fünf? Das wäre deine Lieblingszahl im Quadrat.«

Wir zählen das mit unseren Fingern. Ich kriege 26 raus, aber Ma sagt 25, also mache ich es noch mal und kriege auch 25 raus. Sie stoppt mich auf Uhr. »Zwölf«, ruft sie aus. »Siebzehn. Prima machst du das.«

Ich atme, huh huh huh.

»Schneller.«

Ich laufe extra schnell, so schnell, wie Supermann fliegt.

Als Ma mit Schnelllauf dran ist, muss ich auf dem Schreibpapier die Zahl am Start aufschreiben und dann die, wenn sie fertig ist. Dann teilen wir die auseinander und gucken, wie schnell sie war. Heute ist ihre Zahl neun Sekunden größer als meine, das heißt, ich habe gewinnt, deshalb springe ich immer wieder hoch, strecke die Zunge heraus und furze mit dem Mund. »Komm, wir machen mal ein Rennen gleichzeitig.«

»Das wäre bestimmt lustig«, sagt sie. »Aber du weißt ja, das haben wir schon mal probiert, und dabei habe ich mir an der Kommode die Schulter gestoßen.«

Manchmal vergesse ich Sachen, dann sagt Ma sie mir, und danach weiß ich sie wieder.

Wir nehmen alle Möbel von Bett runter und legen Teppich wieder so hin, dass sie Laufbahn versteckt, damit Old Nick das schmutzige C nicht sieht.

Jetzt sucht Ma sich Trampolinspringen aus, aber ich bin der Einzige, der auf Bett hüpft, weil Ma ihn vielleicht kaputt machen würde. Sie spricht den Kommentar: »Eine gewagte Drehung mitten in der Luft vom jungen U.S.-Champion …«

Als Nächstes suche ich mir Simon Says aus und danach sagt Ma, wir sollen die Socken wieder anziehen und Toter Mann spielen. Da liegt man ganz labberig da wie der Seestern Patrick, mit labberigen Fußnägeln, labberigem Bauchnabel, labberiger Zunge und sogar labberigem Gehirn. Ma fängt es an zu jucken, und sie bewegt sich. Ich gewinne schon wieder.

Es ist 12:13, also kann jetzt das Mittagessen passieren. Mein Lieblingsteil vom Beten ist das täglich Brot. Beim Spielen habe ich zu sagen, aber beim Essen Ma, sie erlaubt zum Beispiel nicht, dass wir zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendessen immer Cornflakes essen, davon würden wir vielleicht krank, und außerdem wären sie dann zu schnell alle. Als ich null und eins war, hat Ma mein Essen immer für mich klein geschnipselt, aber dann sind mir meine ganzen zwanzig Zähne gewachsen, und jetzt kann ich alles zerbeißen. Heute gibt es zum Mittagessen Thunfisch und Cracker und den Deckel von der Dose aufzurollen ist meine Aufgabe, weil Mas Handgelenk das nicht kann.

Ich bin ein bisschen wibbelig, deshalb sagt Ma, wir wollen noch Orchester spielen, dabei laufen wir rum und gucken, was für Krach wir mit allen möglichen Sachen machen können. Ich trommle auf Tisch, und Ma macht klopf klopf gegen die Beine von Bett und dann flupp flupp auf den Kissen. Ich mache mit Messer und Gabel ding ding gegen Türe, und unsere Zehen machen bimm gegen Herd, aber mein Lieblingskrach ist es, wenn ich auf das Pedal von Müll trete, weil dann mit einem Dong der Deckel hochgeht. Mein bestes Instrument ist Zeng, so heißt die Cornflakes-Schachtel, die ich mit lauter bunten Beinen und Schuhen und Mänteln und Köpfen aus dem alten Katalog vollgeklebt habe und dann drei Gummibänder drumrum gespannt. Jetzt bringt uns Old Nick uns keine Kataloge mehr mit, in denen wir unsere eigenen Anziehsachen aussuchen können. Ma sagt, er wird immer gemeiner.

Ich klettere auf Stuhlschaukel und hole von Regal die Bücher, damit baue ich auf Teppich einen Wolkenkratzer, zehn Stockwerke.

Früher hatten wir neun Bücher, aber nur vier mit Bildern drin:

Mein großes Buch der Kinderlieder

Der Bagger Dylan

Das Häschen, das weglief

Mein Aufklappbuch Flughafen

Und dann gibt es noch fünf, die nur vorne drauf ein Bild haben:

Die Hütte

Bis(s) zum Morgengrauen

Tagebuch eines Engels

Bittersüße Liebe

Sakrileg

Die Bücher ohne Bilder liest Ma so gut wie nie, außer sie ist verzweifelt. Als ich vier war, habe ich gefragt, ob ich als Sonntagsgutti noch ein Buch mit Bildern haben dürfte, so kam dann Alice im Wunderland, und die gefällt mir, bloß hat sie zu viele Wörter und viele davon sind alte.

Heute suche ich mir Der Bagger Dylan aus, er ist ziemlich weit unten, und deshalb macht er den ganzen Wolkenkratzer kaputt, krawumm.

»Schon wieder Dylan?« Ma verzieht das Gesicht, und dann spricht sie mit ihrer lautesten Stimme:

Hierrr kommt Dylan, der starke Bagger

Er schaufelt und schaufelt und wird nicht schlapper

Der lange Arm löffelt kräftig und schnell

Sein Lieblingsschmaus sind Lehm und Geröll

Er dreht sich im Kreis und rollt hin und her

Bis alles platt ist, das fällt ihm nicht schwer

Auf dem zweiten Bild ist eine Katze und auf dem dritten ein Geröllhaufen. Geröll, das sind Steine, so schwer wie die Keramiksachen, aus denen Wanne und Becken und Klo gemacht sind, nur nicht so glatt. Katzen und Steine sind aber nur Fernseher. Im fünften Bild fällt die Katze runter, aber Katzen haben neun Leben und nicht nur eins wie ich und Ma.

Ma sucht fast immer Das Häschen, das weglief aus. Auch weil da am Ende die Mutter das kleine Häschen wieder einfängt und sagt: »Iss eine Möhre.« Häschen sind nur Fernseher, aber Möhren gibt es in echt, mir gefällt das Knacken, das sie machen. Mein Lieblingsbild ist das, wo das Häschen sich in einen Fels auf dem Berg verwandelt, und die Häschenmutter muss hochklettern und es suchen. Berge sind zu groß, um in echt zu sein, aber einmal habe ich einen im Fernseher gesehen, an dem hing eine Frau an Seilen. Frauen sind auch nicht in echt so wie Ma, Mädchen und Jungen auch nicht. Männer sind auch nicht in echt, außer Old Nick, und bei dem bin ich mir nicht mal sicher, ob der echt in echt ist. Vielleicht halb und halb? Er bringt unser Essen und das Sonntagsgutti und verschwindet die Sachen in Müll, aber menschlich wie wir ist er nicht. Er passiert nur in der Nacht, so wie Fledermäuse. Vielleicht macht Türe ihn mit seinem piep piep piep wach, und dann wird die Luft anders. Ich glaube, Ma redet deshalb nicht gern was über ihn, damit er nicht noch mehr in echt wird.

Jetzt rutsche ich auf ihrem Schoß herum, damit ich mir mein Lieblingsbild angucken kann, wo das Jesuskind mit Johannes dem Täufer spielt, der ist gleichzeitig sein Freund und sein großer Vetter. Maria ist auch da, sie hat sich in den Schoß von ihrer Ma gekuschelt, das ist die Großmutter vom Jesuskind, so wie Doras abuela. Es ist ein komisches Bild ohne Farben, und außerdem sind ein paar Hände und Füße ab. Ma sagt, es ist noch nicht fertig. Dass das Jesuskind in Marias Bäuchlein zu wachsen anfing, das hat ein Engel gemacht, der kam runtergezoomt wie ein Geist, aber ein richtig cooler mit Federn. Maria war total überrascht und hat gesagt: »Wie soll das zugehen?«, und danach: »Okay, mir geschehe nach seinem Wort.«

Als das Jesuskind dann an Weihnachten aus ihrer Vagina geflutscht ist, hat sie es in eine Krippe gelegt, aber nicht, damit die Kühe an ihm knabbern, sie sollten es nur warm anblasen, weil es ein Zauberkind war.

Ma schaltet Lampe aus, und wir legen uns hin, als Erstes sagen wir das Hirtengebet mit den grünen Auen. Ich glaube, die sind so was wie Zudeck, aber wie grüner Schaum anstatt weiß und platt. (Wenn der mal überläuft, gibt das bestimmt eine Riesensauerei.) Ich kriege was, und zwar aus der Rechten, weil in der Linken nicht viel drin ist. Als ich drei war, habe ich noch immer ganz viel gekriegt, aber dann wurde ich vier, und seitdem habe ich so viel mit allen möglichen anderen Sachen zu tun, dass ich nur noch ein paarmal am Tag oder in der Nacht ein bisschen was kriege. Ich wünschte, ich könnte gleichzeitig trinken und reden, aber ich habe nur einen Mund.

Beinahe schalte ich aus, aber nicht richtig. Ich glaube, Ma schon, weil sie so atmet.

Nach dem Mittagsschläfchen sagt Ma, sie hat rausgekriegt, dass wir gar nicht um ein Maßband bitten müssen. Wir können uns selbst ein Lineal basteln.

Dafür recyceln wir die Cornflakes-Schachtel von Alte Ägyptische Pyramide. Ma zeigt mir, wie ich einen Streifen abschneiden muss, der so groß ist wie ihr Fuß, deshalb heißt das ja auch in manchen Ländern Fuß, sagt Dora. Ma malt darauf dreimal zehn dünne Linien. Ich messe ihre Nase, die ist fünf Zentimeter lang. Meine Nase ist drei Zentimeter lang, das schreibe ich auf. Ma macht mit Lineal in Zeitlupe Purzelbäume an Türewand hoch, wo meine Groß-Zahlen stehen. Sie sagt, ich bin hundert Zentimeter.

»Komm«, sage ich. »Wir messen Raum.«

»Was denn, den ganzen?«

»Müssen wir denn sonst was machen?«

Sie guckt mich komisch an. »Wohl kaum.«

Ich schreibe alle Zahlen auf, zum Beispiel ist das Groß von Türewand bis da, wo Dach anfängt, 200 Zentimeter. »Weißt du was?« sage ich Ma. »Jede Korkfliese ist beinahe ein Fitzelchen größer als Lineal.«

»Mensch«, ruft sie und schlägt sich auf die Stirn. »Die sind garantiert 30 Zentimeter im Quadrat. Bestimmt habe ich das Lineal ein bisschen zu kurz gemacht. Lass uns einfach nur die Fliesen zählen, das geht einfacher.«

Ich fange an, das Groß an Bettwand zu zählen, aber Ma sagt, alle Wände sind dieselben. Eine andere Regel ist, dass das Breit von den Wänden genauso ist wie das Breit von Boden, ich kriege in beide Richtungen 330 Zentimeter raus, das heißt, Boden ist ein Quadrat. Tisch ist ein Kreis, das bringt mich durcheinander, aber Ma misst sie in der Mitte, wo sie am meisten breit ist, und das sind hundert Zentimeter. Mein Stuhl ist 95 Zentimeter hoch und der von Ma ganz genauso, das sind fünf Zentimeter weniger als ich. Dann hat Ma keine richtige Lust mehr weiterzumessen, deshalb hören wir auf.

Ich male die Zahlen mit unseren Buntstiften ganz verschieden an. Davon haben wir fünf, sie sind blau, orange, grün, rot und braun. Als ich fertig bin, sieht das Blatt aus wie Teppich, nur verrückter. Ma sagt, ich kann es ja zum Abendessen als Set benutzen.

Heute Abend suche ich mir Spaghetti aus, außerdem gibt es frischen Brokkoli, aber den suche ich mir nicht aus, er ist einfach nur gut für uns. Mit Zickzackmesser hacke ich den Brokkoli in Schnipsel. Wenn Ma nicht hinguckt, schlucke ich manchmal einen runter, und dann sagt sie: »Oh nein, wo ist denn das große Stück hin?«, sie ist aber nicht in echt sauer, weil Rohkost uns besonders lebendig macht.

Auf den zwei Platten von Herd macht Ma alles heiß, die werden dann ganz rot. Ich darf die Knöpfe nicht anfassen, weil Ma nämlich darauf aufpassen muss, dass es nie ein Feuer gibt so wie im Fernseher. Wenn die Platten nur einmal an so was wie ein Trockentuch oder sogar noch unsere Anziehsachen kämen, dann würde es überall Flammen mit orangenen Zungen geben. Die würden Raum zu Asche verbrennen, und wir würden husten und ersticken, und es täte ganz schlimm weh.

Ich mag den Geruch nicht, wenn Brokkoli kocht, aber er ist immer noch besser als der von grünen Bohnen. Gemüse ist alles in echt, aber Eiscreme ist Fernseher, ich wünschte, die wäre auch in echt. »Ist Pflanze Rohkost?«

»Na ja, irgendwie schon, aber nicht zum Essen.«

»Warum hat er keine Blumen mehr?«

Ma zuckt die Achseln und rührt die Spaghetti. »Er ist müde geworden.«

»Dann sollte er mal schlafen.«

»Wenn er aufwacht, ist er trotzdem noch müde. Vielleicht hat die Erde in seinem Topf nicht mehr genügend Nahrung.«

»Er könnte meine Brokkoli haben.«

Ma lacht. »Nicht solche Nahrung. Pflanzennahrung.«

»Wir könnten doch danach fragen, als Sonntagsgutti.«

»Ich habe schon eine lange Liste von Sachen, nach denen wir fragen müssen.«

»Wo?«

»Bloß im Kopf«, sagt sie. Sie fischt einen Spaghettiwurm raus und zerbeißt ihn. »Ich glaube, sie mögen Fisch.«

»Wer?«

»Pflanzen. Sie mögen verdorbenen Fisch. Oder waren es Fischgräten?«

»Bäh.«

»Vielleicht können wir das nächste Mal, wenn wir Fischstäbchen essen, ein bisschen unter der Pflanze vergraben.«

»Aber nicht von meinen.«

»Na gut, dann ein bisschen von meinen.«

Spaghetti sind mein Leibgericht ist das Lieblingslied der Hackebällchen, und das singe ich jetzt, während Ma unsere Teller vollmacht.

Nach dem Abendessen kommt etwas Irres, wir machen nämlich einen Geburtstagskuchen. Ich wette, der wird delicioso, mit so vielen Kerzen, wie ich alt bin, und am Brennen, so was habe ich noch nie in echt gesehen.

Ich bin der beste Eierbläser überhaupt, der Glibber kommt bei mir alles auf einmal rausgeflutscht. Für den Kuchen muss ich drei ausblasen, dafür nehme ich die Nadel von Impression – Sonnenaufgang. Ich glaube, das verrückte Pferd würde sauer werden, wenn ich Guernica abnähme, trotzdem ich die Nadel immer sofort wieder zurückstecke. Ma findet, dass Guernica das beste Meisterwerk ist, weil es am meisten in echt ist, aber in Wahrheit ist es total komisch. Das Pferd schreit mit ganz vielen Zähnen, weil ein Speer in es hineingestecht wird, plus ein Stier und eine Frau, die ein labberiges Kind mit dem Kopf nach unten hält, und eine Lampe mit einem Auge. Und am schlimmsten ist der dicke fette Fuß in der Ecke, jedes Mal denke ich, der tritt auf mich drauf.

Ich darf den Löffel ablecken, dann schiebt Ma den Kuchen in den heißen Bauch von Herd. Ich versuche, gleichzeitig mit allen Eierschalen zu jonglieren. Ma fängt eine auf. »Sollen wir daraus kleine Jacks mit Eierköpfen basteln?«

»Och nö«, sage ich.

»Wir könnten ihnen ein Nest aus Mehlteig machen. Wenn wir morgen die rote Beete auftauen, können wir ihn mit dem Saft rot färben …«

Ich schüttele den Kopf. »Lieber an Eierschlange dranmachen.«

Eierschlange ist länger als einmal ganz rund um Raum, wir basteln sie schon, seit ich drei war. Sie wohnt aufgerollt unter Bett und passt auf uns auf. Die meisten von ihren Eiern sind braun, aber manchmal gibt es auch ein weißes, auf manchen sind auch mit Bleistift oder Buntstift oder Kuli Muster gemalt oder mit Mehlklebe Stückchen aufgeklebt, eine Krone aus Folie oder ein Gürtel aus gelbem Band und für die Haare Bindfäden oder Fitzelchen von Klopapier. Ihre Zunge ist eine Nadel, von der aus geht der rote Faden ganz durch ihn durch. In letzter Zeit holen wir Eierschlange nicht mehr oft raus, weil sie sich manchmal verheddert, und die Eier brechen an den Löchern aus oder fallen sogar ab, und aus den Stückchen können wir dann nur noch ein Mosaik basteln. Heute stecke ich die Nadel in ein Loch von den neuen Eiern, dann muss ich sie hin und her baumeln lassen, bis sie ganz spitz aus dem andern Loch wieder rauskommt. Gar nicht einfach. Jetzt ist sie drei Eier länger. Ganz vorsichtig wickle ich sie wieder auf, damit sie unter Bett passt.

Auf meinen Geburtstagskuchen warten dauert stundenlang. Wir atmen die schöne Luft ein. Danach, während er abkühlt, machen wir etwas, was Glasur heißt, aber es ist überhaupt nicht aus Glas, nur aus Zucker, der mit Wasser geschmolzen ist. Ma verteilt ihn über den ganzen Kuchen. »Jetzt kannst du die Schokolädchen draufmachen, ich spüle derweil ab.«

»Aber es gibt gar keine.«

»Tataa«, sagt sie, hält eine kleine Tüte hoch und wackelt damit, raschel raschel. »Ich habe ein paar von denen aufgehoben, die wir vor drei Wochen als Sonntagsgutti gekriegt haben.«

»Du listige Ma. Wo?«

Sie macht ihren Mund zu wie einen Reißverschluss. »Und was ist, wenn ich noch mal ein Versteck brauche?«

»Sag es mir!«

Ma lächelt nicht mehr. »Schreien tut meinen Ohren weh.«

»Sag mir das Versteck.«

»Jack …«

»Ich will nicht, dass es Verstecke gibt.«

»Was ist denn daran so schlimm?«

»Zombies.«

»Ach so.«

»Oder Ungeheuer und Vampire.«

Sie macht Schränkchen auf und holt die Reisschachtel heraus. Dann zeigt sie in das dunkle Loch. »Ich habe sie einfach nur im Reis versteckt. Okay?«

»Okay.«

»Irgendwas Gruseliges würde da gar nicht hineinpassen. Du kannst jederzeit nachsehen.«

In der Tüte sind fünf Schokolädchen, rosa, blau, grün und zwei rote. Ein bisschen von der Farbe klebt auf meinen Fingern, als ich sie drauftue, und auch Glasur. Ich lecke jedes Fitzelchen ab.

Jetzt müssen die Kerzen kommen, aber es gibt keine. »Du schreist ja schon wieder«, sagt Ma und hält sich die Ohren zu.

»Aber du hast gesagt, Geburtstagskuchen, und es ist kein Geburtstagskuchen, wenn nicht fünf Kerzen am Brennen sind.«

Sie pustet die Luft aus den Backen. »Das hätte ich dir vielleicht besser erklären müssen. Dafür sind doch die fünf Schokolädchen da. Die zeigen, dass du fünf bist.«

»So einen Kuchen will ich nicht.« Ich kann es nicht leiden, wenn Ma einfach nur ganz still abwartet. »Blöder Kuchen.«

»Jetzt beruhig dich mal wieder, Jack.«

»Du hättest als Sonntagsgutti nach Kerzen fragen müssen.«

»Aber letzte Woche haben wir nun mal Schmerztabletten gebraucht.«

»Ich nicht, nur du«, brülle ich.

Ma guckt mich an, als hätte ich ein neues Gesicht, das sie noch nie gesehen hat. Dann sagt sie: »Und außerdem weißt du doch, dass wir uns Sachen wünschen müssen, die er leicht besorgen kann.«

»Aber er kann alles besorgen.«

»Mag sein«, sagt sie. »Wenn er sich die Mühe machen würde …«

»Warum hat er Mühe gemacht?«

»Ich meine damit nur, dann müsste er vielleicht in zwei oder drei Geschäfte gehen, und das würde ihn sauer machen. Und was wäre, wenn er etwas einfach nicht findet? Dann würden wir vielleicht gar kein Sonntagsgutti kriegen.«

»Aber Ma«, lache ich. »Der geht doch nicht in Geschäfte. Geschäfte sind doch bloß Fernseher.«

Sie beißt sich auf die Lippen. Dann guckt sie den Kuchen an. »Na ja, jedenfalls tut es mir leid. Ich dachte, die Schokolädchen wären ein guter Ersatz.«

»Dumme Ma.«

»Ich Dummie.« Sie schlägt sich auf die Stirn.

»Schafskopf«, sage ich, aber nicht gemein. »Wenn ich nächste Woche sechs werde, besorgst du mal besser Kerzen.«

»Nächstes Jahr«, sagt Ma. »Du meintest nächstes Jahr.« Ihre Augen sind zu. Das machen sie manchmal immer, und dann sagt sie eine Zeit lang nichts. Als ich klein war, dachte ich noch, ihre Batterie ist alle, so wie es einmal bei Uhr passiert ist, für den mussten wir da als Sonntagsgutti auch nach einer neuen Batterie fragen.

»Versprochen?«

»Versprochen«, sagt sie und macht die Augen wieder auf.

Sie schneidet mir ein gigantisches Stück ab, und ich klaue alle fünf auf meins, als sie nicht hinguckt, die zwei roten, das in rosa, das grüne und das blaue. Und sie sagt: »Oh nein, schon wieder ist eins gestohlen, wie konnte das denn passieren?«

»Jetzt findest du sie nicht mehr, hahaha«, sage ich so wie Swiper, wenn er etwas von Dora stiehlt. Ich nehme eins von den roten und schwebe es in Mas Mund. Sie schiebt es an die vorderen Zähne, die weniger verfault sind, und knabbert lächelnd darauf herum.

»Guck mal.« Ich zeige es ihr. »Da ist ein Loch im Kuchen, wo bis gerade eben die Schokolädchen lagen.«

»Wie Krater«, sagt sie.

»Was sind Krater?«

»Löcher, wenn irgendwo etwas passiert ist. Ein Vulkan oder eine Explosion oder so etwas.«

Ich lege das grüne Schokolädchen zurück in seinen Krater und mache zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, bumm. Es fliegt hoch ins Weltall und von da zurück in meinen Mund. Mein Geburtstagskuchen ist das Beste, was ich jemals gegessen habe.

Ma hat im Moment keinen besonderen Appetit darauf. Der Oberlicht zieht das ganze Helle raus, er ist fast schwarz. »Heute ist die Tagundnachtgleiche«, sagt Ma. »Ich kann mich noch erinnern. An dem Morgen, als du geboren wurdest, haben sie das auch im Fernsehen angekündigt.«

»Was ist Tagundnachtgleiche?«

»Das heißt, dass es gleich viel Licht und Dunkel gibt.«

Für Fernseher ist es schon zu spät, wegen dem Kuchen. Auf Uhr steht 08:35. Mein gelber Kapuzenpulli reißt mir fast den Kopf ab, als Ma ihn hochzieht. Ich ziehe mein Schlaf-T-Shirt an und putze mir die Zähne. Ma bindet inzwischen den Beutel aus Müll zu und stellt ihn neben Türe, zusammen mit unserer Liste, die ich geschrieben habe und auf der steht: Bitte Nudeln, Linsen, Thunfisch, Käse (wenn nicht zu $), O-Saft, danke.

»Können wir nach Trauben fragen? Die sind doch gut für uns.«

Ma schreibt unter alles andere: Trauben wenn mögl. (oder irgendwelches Obst, frisch oder in der Dose).

»Erzählst du mir eine Geschichte?«

»Aber nur eine kurze. Wie wäre es mit … Jack, dem dicken fetten Pfannkuchen?«

Sie erzählt ganz schnell und lustig. Der dicke fette Pfannkuchen Jack springt aus dem Ofen und läuft und rollt und rollt und läuft, und niemand kann ihn fangen. Nicht die Miezekatze und nicht die Gans und nicht die Kuh-Muhkuh und nicht die Kinder. Aber am Ende ist er dumm und lässt sich vom Schwein über den Fluss tragen, und das frisst ihn auf.

Wenn ich ein Kuchen wäre, dann würde ich mich selbst aufessen, bevor ein anderer es könnte. Wir machen ein kurzes Gebet, das heißt, Hände zusammentun und Augen zu. Ich bete dafür, dass Johannes der Täufer und das Jesuskind mal mit Dora und Boots zum Spielen vorbeikommen. Ma betet für Sonnenschein, damit der den Schnee von Oberlicht schmilzt.

»Kann ich noch was kriegen?«

»Gleich morgen früh«, sagt Ma und zieht ihr T-Shirt wieder runter.

»Nein, heute Abend.«

Sie zeigt auf Uhr und da steht 08:57, nur noch drei Minuten bis neun. Deshalb husche ich in Schrank und lege mich auf mein Kissen und kuschel mich in Mummeldecke, die ist grau und ganz weich und hat einen roten Rand. Ich bin genau unter dem Bild von mir, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Ma steckt ihren Kopf rein.

»Drei Küsse?«

»Nein, fünf für Freund Fünf.«

Sie gibt mir fünf, dann quietscht sie die Tür zu.

Durch die Ritzen kommt immer noch Licht, deshalb kann ich ein bisschen von mir auf dem Bild sehen. Ich streichle das Papier, es ist ganz glatt. Ich mache mich so lang, dass mein Kopf gegen Schrank drückt und meine Füße auch. Ma zieht ihr Schlaf-T-Shirt an und nimmt die Scherztabletten. Abends immer zwei, weil Aua wie Wasser ist, sagt sie, sobald sie sich hinlegt, läuft es auseinander. Sie spuckt Zahnpasta. »Unser Freund Jack mag gern Gebäck«, sagt sie.

Ich überlege mir auch eins. »Unser Freund Zah redet Blabla.«

»Unser Freund Jeremia ruft laut Mamma mia.«

»Unser Freund Otto isst gerne Spaghetto.«

»Reim dich oder ich fress dich«, sagt Ma.

»Ach, Mensch«, maule ich wie Swiper immer. »Unser Freund, das Jesuskind, … spielt am liebsten Labyrinth.«

»Unser Freund Oberlicht schaut dem Mond in sein Gesicht.«

Der Mond ist das silberne Gesicht von Gott und kommt nur bei besonderen Anlässen raus.

Ich setze mich auf und tue mein Gesicht an die Ritzen. Ich kann ein paar Scheiben von Fernseher sehen, er ist aus, dann von Klo, von meinem kringeligen blauen Tintenfisch und wie Ma unsere Sachen wieder in Kommode tut. »Ma?«

»Mmm?«

»Warum werde ich versteckt so wie die Schokolädchen?«

Ich glaube, sie sitzt jetzt auf Bett. Sie spricht leise, deshalb kann ich kaum was hören. »Ich will einfach nur nicht, dass er dich sieht. Schon als du noch ein Baby warst, habe ich dich immer in die Mummeldecke gewickelt, bevor er hereinkam.«

»Würde es Aua machen?«

»Würde was Aua machen?«

»Wenn er mich sehen täte?«

»Aber nein. Jetzt schlaf ein«, sagt Ma.

»Sag noch mal das mit den Läusen.«

»Machst du schnell die Äuglein zu, geben alle Läuse Ruh.«

Die Läuse sind unsichtbar, aber ich spreche mit ihnen, und manchmal zähle ich sie, beim letzten Mal bin ich bis 347 gekommen. Ich höre, wie der Schalter schaltet, und in derselben Sekunde geht Lampe aus. Dann das Geräusch, wie Ma unter Zudeck kriecht.

Ein paarmal habe ich Old Nick nachts durch die Ritzen gesehen, aber nie ganz und von richtig nah. Bei seinen Haaren ist ein bisschen Weiß dabei, und sie sind kürzer als seine Ohren. Vielleicht würden seine Ohren mich ja in Stein verwandeln. Zombies beißen kleine Kinder und machen sie untot, Vampire saugen sie aus, bis sie ganz labberig sind, und Ungeheuer lassen sie an den Beinen baumeln und fressen sie auf. Riesen können auch ganz schön böse sein, ich rieche Menschenfleisch, aber Jack ist mit der goldenen Henne weggelaufen, und dann ist er den Bohnenstängel runtergerutscht, schnell, schnell. Der Riese ist hinter ihm runtergeklettert, und Jack hat seiner Ma zugerufen, sie soll die Axt holen, das ist so was wie unsere Messer, nur größer. Aber seine Ma hatte zu viel Angst, den Bohnenstängel allein abzuhauen, deshalb haben sie es zusammen gemacht, und da ist der Riese auf der Erde zermanscht, und seine ganzen Innereien sind rausgequatscht, haha. Und danach war Jack der Riesentöter Jack.

Ich frage mich, ob Ma schon ausgeschaltet ist.

In Schrank versuche ich immer, meine Augen ganz fest zuzumachen und schnell auszuschalten, damit ich nicht höre, wenn Old Nick kommt. Dann wache ich am Morgen auf und liege mit Ma im Bett und kriege was, und alles ist okay. Aber heute Abend bin ich noch an, der Kuchen sprudelt in meinem Bäuchlein. Mit der Zunge zähle ich meine oberen Zähne von rechts nach links bis zehn und dann meine unteren Zähne von links nach rechts und dann noch mal in die andere Richtung. Jedes Mal muss ich bis zehn kommen, und zweimal zehn ist zwanzig, so viele habe ich.

Es kommt kein piep piep piep, dabei muss es schon lange nach neun sein. Ich zähle meine Zähne noch mal und kriege neunzehn raus, irgendwas muss ich falsch gemacht haben oder einer ist verschwunden. Ich kaue an meinem Finger, nur ein kleines bisschen und dann noch ein bisschen. Ich warte stundenlang. »Ma?«, flüstere ich. »Kommt er nicht, oder doch?«

»Sieht nicht so aus. Komm rein.«

Ich springe hoch und schiebe Schrank auf. In zwei Sekunden bin ich in Bett. Unter Zudeck ist es unheimlich heiß, ich muss meine Füße raushalten, damit sie nicht verbrennen. Ich kriege eine Menge, erst links und dann rechts. Ich will nicht am Schlafen sein, weil dann ist nicht mehr mein Geburtstag.

Licht blitzt mich an, es sticht in meinen Augen. Ich gucke aus Zudeck raus, aber nur blinzelig. Ma steht neben Lampe und alles ist hell, dann zack wieder dunkel. Dann wieder Licht, sie lässt es drei Sekunden an, dann wieder dunkel. Dann nur eine Sekunde hell. Ma starrt hinauf zu Oberlicht. Jetzt wieder dunkel.

Ich warte, bis der Lampe richtig aus ist, dann flüstere ich: »Fertig?«

»Tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe«, sagt sie.

»Macht nichts.«

Sie kommt wieder in Bett, sie ist kälterer als ich. Ich lege meine Arme um ihre Mitte.

Jetzt bin ich fünf und einen Tag.

Das dumme Peterchen steht am Morgen hoch. Ich drücke es runter.

Als wir nach dem Pipi die Hände schrubben, singe ich He’s Got the Whole World in His Hands, sonst fällt mir keins mehr mit Händen ein, aber das vom Vögelchen geht mit Fingern.

»Fly away Peter,

Fly away Paul.«

Meine zwei Finger zoomen überall durch Raum, und beinahe gibt es mitten in der Luft einen Zusammenstoß.

»Come back Peter,

Come back Paul.«

»Ich glaube, eigentlich sind damit Engel gemeint«, sagt Ma.

»Häh?«

»Nein, falsch. Heilige meinte ich.«

»Was sind Heilige?«

»Ganz besonders fromme Leute. Wie Engel ohne Flügel.«

Ich bin durcheinander. »Wie kommt es dann, dass sie von der Wand wegfliegen?«

»Nein, das sind die Vögelchen, die können ganz prima fliegen. Ich meine nur, sie sind nach dem heiligen Peter und dem heiligen Paul benannt, zwei Freunden vom Jesuskind.«

Ich wusste gar nicht, dass er noch mehr Freunde hat als Johannes den Täufer.

»Peter war sogar einmal im Gefängnis …«

Ich lache. »Babys kommen doch nicht ins Gefängnis.«

»Das ist erst passiert, als sie alle schon groß waren.«

Ich wusste gar nicht, dass das Jesuskind mal groß wird. »Ist der heilige Peter ein böser Bube?«

»Nein, nein, der war nur aus Versehen im Gefängnis. Besser gesagt, die ihn da reingesteckt haben, waren böse Polizisten. Egal, jedenfalls hat er gebetet und gebetet, dass er da wieder rauskommt, und weißt du, was dann? Dann kam ein Engel geflogen und hat die Tür aufgebrochen.«

»Cool«, sage ich. Aber trotzdem sind sie mir lieber, als sie noch Babys sind und zusammen ganz nackig rumlaufen.

Plötzlich ist da ein komisches Bumsen und dann knirsch knirsch. Von Oberlicht kommt was Helles rein, der dunkle Schnee ist fast weg. Ma guckt auch hoch, sie lächelt ein bisschen. Ich glaube, ihr Gebet hat gezaubert.

»Ist immer noch das mit der Gleiche?«

»Ach so, die Tagesundnachtgleiche?«, sagt sie. »Nein, langsam gewinnt das Licht die Oberhand.«

Zum Frühstück darf ich Kuchen haben, das hatte ich noch nie. Er ist krustig geworden, aber immer noch gut.

Der Fernseher hat Wonder Pets, ziemlich fusselig. Ma schiebt andauernd das Häschen hin und her, aber das macht die Sachen auch nicht besonders viel schärfer. Mit dem roten Band mache ich ihm eine Schleife um sein Drahtohr. Ich wünschte, die Hinterhofzwerge kämen, die habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Das Sonntagsgutti ist noch nicht da, weil Old Nick letzte Nacht nicht gekommen ist. Das war eigentlich das Beste an meinem Geburtstag. Was wir uns als Sonntagsgutti gewünscht haben, war sowieso nicht besonders interessant, nur eine Hose, weil meine schwarze Löcher statt Knien hat. Mir sind die Löcher egal, aber Ma sagt, damit sehe ich aus wie ein Obdachloser. Was das ist, kann sie auch nicht erklären.

Nach dem Baden spiele ich mit den Anziehsachen. Mas rosa Bluse ist heute Morgen eine Schlange, die zankt sich mit meiner weißen Socke. »Ich bin Jacks bester Freund.«

»Nein, ich bin Jacks bester Freund.«

»Ich hab dich weggeputzt.«

»Ich hab dich weggezappt.«

»Ich erschieß dich gleich mit meiner fliegenden Pumpgun.«

»Ach ja? Ich habe einen Jumbo-Megatron-Tranformer-Blaster.«

»He«, sagt Ma, »sollen wir nicht Fangen spielen?«

»Aber wir haben Beachball gar nicht mehr«, erkläre ich ihr. Der ist nämlich aus Versehen geplatzt, als ich ihn einmal superschnell gegen Schränkchen geschossen habe. Anstatt der doofen Hose würde ich lieber nach einem neuen fragen.

Aber Ma sagt, wir können uns einen basteln. Wir knüllen die ganzen Blätter zusammen, auf denen ich Schreiben geübt habe, machen damit eine Einkaufstüte voll und drücken sie so lange, bis sie irgendwie aussieht wie ein Ball. Dann malen wir ein gruseliges Gesicht mit drei Augen drauf. Wörterball fliegt nicht so hoch wie Beachball, aber dafür macht er jedes Mal, wenn wir ihn fangen, knister knister. Ma ist die Beste beim Fangen, nur tut dabei manchmal ihr schlimmes Handgelenk weh. Beim Werfen bin ich der Beste.

Wegen dem Kuchen zum Frühstück gibt es außer der Reihe zum Mittagessen Sonntagspfannkuchen. In der Packung ist nicht mehr viel übrig, deshalb sind sie ganz dünn und zerlaufen, das mag ich. Ich darf sie zusammenfalten, ein paar reißen. Gelee ist nicht mehr viel übrig, deshalb verdünnen wir den auch mit Wasser.

Eine Ecke von meinem tropft, und Ma schrubbt Boden mit dem Schwamm. »Der Kork ist schon ganz schön abgewetzt«, sagt sie mit zusammenen Zähnen. »Wie soll man da alles sauber halten?«

»Wo?«

»Hier, wo unsere Füße drauf herumschurgeln.«

»Ich klettere unter Tisch, da ist ein Loch in Boden und darunter so braunes Zeug, an meinem Fingernagel ist es härter.

»Mach es nicht noch schlimmer, Jack.«

»Tu ich ja gar nicht. Ich gucke nur mit meinem Finger.« Es ist wie ein kleiner Krater. Wir schieben Tisch rüber zu Wanne, damit wir auf Teppich sonnenbaden können, da ist es extra warm. Ich singe Ain’t No Sunshine, Ma singt Here Comes the Sun, ich komme mit You Are My Sunshine. Dann will ich was trinken, die Rechte ist heute Nachmittag besonders sahnig.

Das gelbe Gesicht von Gott macht durch meine Lider alles rot. Wenn ich sie aufmache, ist es zu hell zum Gucken. Meine Finger machen Schatten auf Teppich, ganz klein und zusemmengequetscht.

Ma döst.

Ich höre ein Geräusch, deshalb stehe ich auf, ohne sie zu wecken. Es ist drüben bei Herd, kritze kratze.

Ein lebendiges Ding, ein Tier, ganz in echt und nicht Fernseher. Es ist auf Boden und knabbert was, vielleicht ein Stückchen Pfannkuchen. Es hat einen Schwanz. Ich glaube, ich weiß, was das ist, ein Maus.