Das Zeichen der Vier - Arthur Conan Doyle - E-Book

Das Zeichen der Vier E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Der vielleicht seltsamste und skurrilste der Sherlock-Holmes-Romane mit einer der ersten Verfolgungsjagden in der Geschichte des Kriminalromans Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt von Sherlock Holmes, dem wohl berühmtesten Detektiv aller Zeiten! Eine der ersten wirklich großen Verfolgungsjagden in der Kriminalliteratur und Höhepunkt einer jeden Verfilmung: Auf der Themse versuchen Holmes und Dr. Watson einen Holzbeinigen und eine Pygmäe, die sie mit einem Blasrohr beschießt, einzuholen und zu stellen. Sie ist die Hauptverdächtige am Mord des Vaters von Mary Morstan, der einen gewaltigen Schatz gefunden haben soll. Die temporeiche Geschichte macht diesen zweiten Roman der Sherlock-Holmes-Reihe in der neuen Übersetzung zu einem himmlischen Lesevergnügen. Spannung pur! – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Seitenzahl: 262

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Doyle Arthur Conan

Das Zeichen der Vier

Mit zahlreichen Illustrationen

Aus dem Englischen übersetzt und kommentiert von Holger HanowellMit einem Nachwort von Jürgen Kaube

Reclam

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

 

RECLAM TASCHENBUCH Nr. 962473

2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2025

RECLAM ist eine eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962473-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020754-3

reclam.de | [email protected]

Inhalt

Die Wissenschaft der Deduktion

Die Darstellung des Falls

Auf der Suche nach einer Lösung

Die Geschichte des kahlköpfigen Mannes

Die Tragödie von Pondicherry Lodge

Sherlock Holmes stellt seine Fähigkeiten unter Beweis

Die Episode mit dem Fass

Die Baker-Street-Truppe

Ein Bruch in der Kette

Das Ende des Insulaners

Der große Schatz von Agra

Die seltsame Geschichte des Jonathan Small

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Anmerkung des Übersetzers

Anmerkungen

Nachwort

Zeittafel

Kapitel I

Die Wissenschaft der Deduktion

SHERLOCK Holmes nahm sein Fläschchen von der Ecke des Kaminsimses und seine Injektionsspritze aus dem edlen Etui aus Marokkoleder. Mit seinen langen, weißen, nervösen Fingern richtete er die feine Nadel aus und krempelte den linken Hemdsärmel hoch. Einen kurzen Moment ruhte sein Blick nachdenklich auf dem sehnigen Unterarm und dem Handgelenk, beide von zahllosen Einstichmalen überzogen und vernarbt. Schließlich stieß er die dünne Spitze hinein, drückte den kleinen Kolben nach unten und sank dann mit einem langen Seufzer der Befriedigung in seinen samtbezogenen Lehnstuhl zurück.

Dreimal am Tag war ich seit vielen Monaten Zeuge dieser Darbietung gewesen, doch Gewöhnung hatte mich mit ihr nicht versöhnt. Im Gegenteil, ich war bei dem Anblick von Tag zu Tag immer reizbarer geworden, und nachts regte sich mein Gewissen bei dem Gedanken, dass es mir an Mut gemangelt hatte, dagegen zu protestieren. Immer wieder stieß mir ein Versprechen mir gegenüber auf, mich dieses Themas mit ganzer Seele zu verschreiben; doch da war etwas in der kühlen, nonchalanten Art meines Mitbewohners, dass er der Letzte gewesen wäre, bei dem man sich trauen würde, sich auch nur etwas, das einer solchen Freiheit nahekommt, herauszunehmen. Seine großartigen Fähigkeiten, sein souveränes Auftreten und die Erfahrungen, die ich mit seinen vielen außerordentlichen Eigenschaften gemacht hatte, all das ließ mich zögern und zurückhaltend werden, ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

Doch an diesem Nachmittag, ob es nun der Beaune war, den ich zum Mittagessen zu mir genommen hatte, oder die zusätzliche Verbitterung, die durch die extreme Absicht seines Verhaltens hervorgerufen wurde, spürte ich plötzlich, dass ich mich nicht länger zurückhalten konnte.

»Was ist es denn heute«, fragte ich ihn, »Morphium oder Kokain?«

Er hob seinen Blick träge von dem alten Band mit Frakturschrift, den er aufgeschlagen hatte.

»Es ist Kokain«, sagte er, »eine siebenprozentige Lösung. Möchten Sie es einmal versuchen?«

»Nein, bestimmt nicht«, erwiderte ich schroff. »Meine Konstitution hat den Afghanistanfeldzug noch nicht ganz überwunden. Ich kann es mir nicht erlauben, ihr zusätzliche Strapazen zuzumuten.«

Er lächelte bei meiner Vehemenz. »Vielleicht haben Sie recht, Watson«, sprach er. »Ich nehme an, dass die Wirkung physisch gesehen schlecht ist. Ich finde es jedoch so außerordentlich anregend und erhellend für den Geist, dass die Nebenwirkungen kaum von Belang sind.«

»Aber bedenken Sie doch nur!«, sagte ich ernstlich. »Wie teuer Sie dafür bezahlen müssen! Ihr Gehirn mag, wie Sie sagen, angeregt und erregt werden, aber es ist ein pathologischer und morbider Prozess, der mit einer verstärkten Gewebeveränderung einhergeht und schlussendlich womöglich eine dauerhafte Schwäche hinterlässt. Sie wissen darüber hinaus, was für eine dunkle Reaktion Sie dann überkommt. Die Sache ist sicher nicht der Mühe wert. Warum sollten Sie nur für ein flüchtiges Vergnügen den Verlust jener großartigen Fähigkeiten riskieren, mit denen Sie ausgestattet sind? Vergessen Sie nicht, dass ich nicht nur als Gefährte zu einem anderen Gefährten spreche, sondern als Mediziner zu jemandem, für dessen Verfassung er bis zu einem gewissen Grad verantwortlich ist.«

Er schien nicht beleidigt zu sein. Im Gegenteil: Er legte die Fingerspitzen aneinander und stützte die Ellenbogen auf die Lehnen seines Stuhls wie jemand, der allgemein Vergnügen an Konversation findet.

»Mein Geist«, sagte er, »rebelliert gegen Stillstand. Man stelle mir ein Rätsel, man gebe mir Arbeit, man gebe mir das abstruseste Kryptogramm oder die komplizierteste Analyse, und ich wäre ganz in meinem Element. Dann könnte ich auf künstliche Stimulanzien verzichten. Aber ich verabscheue die triste Routine des Daseins. Ich sehne mich nach dem mentalen Hochgefühl. Deshalb habe ich meinen speziellen Beruf gewählt, oder vielmehr geschaffen, denn ich bin der Einzige auf der Welt.«

»Der einzige inoffizielle Detektiv?«, sagte ich und zog die Augenbrauen hoch.

»Der einzige inoffizielle beratende Detektiv«, erwiderte er. »Ich bin die letzte und höchste Berufungsinstanz, wenn es um Ermittlungsarbeit geht. Wenn Gregson oder Lestrade oder Athelney Jones überfordert sind – was, nebenbei bemerkt, der Normalfall ist –, wird der Sachverhalt mir präsentiert. Ich untersuche das Material als Experte und gebe die Auffassung eines Spezialisten wieder. Ich beanspruche in solchen Fällen keine Anerkennung. Mein Name taucht in keiner Zeitung auf. Die Arbeit an sich, das Vergnügen, ein Betätigungsfeld für meine speziellen Fähigkeiten zu finden, ist meine höchste Belohnung. Aber Sie haben ja selbst einige Erfahrungen mit meinen Arbeitsmethoden im Jefferson-Hope-Fall gemacht.«

»Ja, in der Tat«, sagte ich freundlich. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie von etwas so beeindruckt. Ich habe es sogar in einer kleinen Broschüre zum Ausdruck gebracht, mit dem etwas phantastischen Titel ›Eine Studie in Scharlachrot‹.«

Er schüttelte traurig den Kopf.

»Ich habe es überflogen«, meinte er. »Ehrlich gesagt, kann ich Ihnen dazu nicht gratulieren. Die detektivische Ermittlungsarbeit ist, oder sollte es zumindest sein, eine exakte Wissenschaft und sollte auf die gleiche kühle und nüchterne Weise behandelt werden. Sie haben versucht, ihr einen romantischen Anstrich zu verleihen, was eine ähnliche Wirkung erzeugt, als würde man eine Liebesgeschichte oder ein heimliches Durchbrennen in den fünften Lehrsatz des Euklid einbauen.«

»Aber die Liebesgeschichte gab es ja«, protestierte ich. »Ich konnte doch die Tatsachen nicht verfälschen.«

»Einige Tatsachen sollten ausgelassen werden, oder zumindest sollte ein gesundes Gespür für Verhältnismäßigkeit gewahrt werden, wenn man sich mit ihnen beschäftigt. Der einzige Aspekt in dem Fall, der Erwähnung verdiente, war die eigenartige analytische Schlussfolgerung von den Wirkungen zurück zu den Ursachen, anhand der es mir gelang, den Fall zu lösen.«

Ich war verärgert über diese Kritik an einer Arbeit, die ausdrücklich dafür entworfen worden war, ihm zu gefallen. Ich bekenne darüber hinaus, dass ich mich über den Egoismus ärgerte, der zu verlangen schien, dass jede Zeile meiner Schrift seinen speziellen Vorgehensweisen gewidmet sein sollte. In den Jahren, die ich mit ihm zusammen in der Baker Street gewohnt hatte, war mir mehr als einmal aufgefallen, dass sich hinter der besonnenen und belehrenden Art meines Gefährten eine gewisse Eitelkeit verbarg. Ich machte keine Bemerkung, sondern saß da und kümmerte mich um mein verwundetes Bein. Ich hatte vor einiger Zeit eine Jezail-Kugel durch mein Bein bekommen, und obwohl mich das nicht am Gehen hinderte, schmerzte es bei jedem Wetterumschwung auf zermürbende Weise.

»Meine Praxis hat sich vor kurzem auf den Kontinent ausgedehnt«, sagte Holmes nach einer Weile und stopfte seine alte Bruyère-Pfeife. »Letzte Woche wurde ich von François le Villard konsultiert, der, wie Sie vermutlich wissen, kürzlich in die vordere Reihe der französischen Kriminalpolizei aufgerückt ist. Er besitzt das keltische Talent der raschen Intuition, aber es mangelt ihm an der großen Bandbreite des exakten Wissens, das für die höhere Entwicklung seiner Kunst essenziell ist. Der Fall befasste sich mit einem Nachlass und wies einige interessante Merkmale auf. Ich konnte ihn auf zwei vergleichbare Fälle hinweisen, einen 1857 in Riga, den anderen 1871 in St. Louis, die ihm die richtige Lösung nahelegten. Hier ist der Brief, den ich heute Morgen bekommen habe und der meine Unterstützung würdigt.«

Während er sprach, warf er mir ein zerknittertes Blatt ausländischen Briefpapiers hin. Ich überflog es und nahm eine Fülle von gestreuten Ausdrücken der Bewunderung wahr, wie magnifique, coup-de-maître und tours-de-force, die alle von der glühenden Bewunderung des Franzosen zeugten.

»Er spricht wie ein Schüler zu seinem Lehrmeister«, sagte ich.

»Oh, er schätzt meine Hilfe zu hoch ein«, sagte Sherlock Holmes leichthin. »Er verfügt selbst über beträchtliche Fähigkeiten. Er besitzt zwei der drei Eigenschaften, die für den idealen Detektiv erforderlich sind. Er hat die Fähigkeit der Beobachtung und die der Deduktion. Es fehlt ihm lediglich an Wissen, und das mag mit der Zeit kommen. Er übersetzt gerade meine kleineren Schriften ins Französische.«

»Ihre Schriften?«

»Oh, das wussten Sie nicht?«, rief er lachend. »Ja, ich habe mich mehrerer Monographien schuldig gemacht. Sie behandeln allesamt technische Themen. Hier ist zum Beispiel eine ›Über die Unterscheidung der Ascherückstände der verschiedenen Tabaksorten‹. Darin zähle ich einhundertvierzig Arten von Zigarren-, Zigaretten- und Pfeifentabak auf, mit kolorierten Tafeln, die die Unterschiede bei der Asche illustrieren. Das ist eine Sache, die immer wieder bei Strafprozessen auftaucht und mitunter als Hinweis von höchster Bedeutung ist. Wenn man zum Beispiel definitiv sagen kann, dass ein Mord von einem Mann verübt wurde, der eine indische Lunkah geraucht hat, dann grenzt das offenkundig das Untersuchungsfeld ein. Für das geübte Auge besteht zwischen der schwarzen Asche einer Trichinopoly und den hellen Flocken eines Bird’s-Eye-Tabaks ein genauso großer Unterschied wie zwischen einem Kohlkopf und einer Kartoffel.«

»Sie haben ein außergewöhnliches Talent für Details«, bemerkte ich.

»Ich weiß deren Bedeutung zu schätzen. Hier ist meine Monographie über das Verfolgen von Fußspuren, mit einigen Anmerkungen über die Verwendung von Gips zur Konservierung von Abdrücken. Hier ist noch eine ausgefallene kleine Arbeit über den Einfluss des Berufsstandes auf die Form der Hand, mit Lithographien von Händen von Schieferdeckern, Seeleuten, Korkschneidern, Schriftsetzern, Webern und Diamantschleifern. Für den wissenschaftlichen Detektiv ist das eine Angelegenheit von großem praktischem Nutzen – insbesondere bei Fällen von nicht identifizierten Leichen oder bei der Ermittlung des Vorlebens eines Kriminellen. Aber ich ermüde Sie mit meinem Hobby.«

»Keineswegs«, antwortete ich ernsthaft. »Das ist für mich von größtem Interesse, insbesondere, seitdem ich bereits die Gelegenheit hatte, deren praktische Anwendung durch Sie zu verfolgen. Aber Sie haben vorhin von Beobachtung und Deduktion gesprochen. Das eine impliziert doch bestimmt zu einem gewissen Grad das andere.«

»Nun, kaum«, erwiderte er, wobei er sich genüsslich in seinem Lehnstuhl zurücklehnte und dicke bläuliche Kringel aus seiner Pfeife aufsteigen ließ. »Die Beobachtung verrät mir zum Beispiel, dass Sie heute Morgen beim Postamt in der Wigmore Street gewesen sind, die Deduktion aber lässt mich wissen, dass Sie ein Telegramm aufgegeben haben, als Sie dort waren.«

»Ganz recht!«, sagte ich. »Sie haben in beiden Punkten recht! Aber ich bekenne, dass ich nicht verstehe, wie Sie darauf gekommen sind. Das war ein spontaner Entschluss meinerseits, und ich habe es niemandem gegenüber erwähnt.«

»Nichts einfacher als das«, bemerkte er und lachte leise angesichts meiner Überraschung – »auf so absurde Weise einfach, dass eine Erklärung überflüssig ist; und dennoch könnte es dazu dienen, die Grenze zwischen Beobachtung und Deduktion zu definieren. Die Beobachtung verrät mir, dass ein wenig rötliche Erde auf Ihrem Spann haftet. Genau gegenüber dem Amt in der Wigmore Street hat man die Straßenpflasterung aufgebrochen und etwas Erde aufgeworfen, die so liegt, dass man es kaum vermeiden kann, beim Hineingehen in sie zu treten. Die Erde hat diese eigentümliche rötliche Färbung, die, soweit ich weiß, nirgends sonst in der Nachbarschaft zu finden ist. So viel zur Beobachtung. Der Rest ist Deduktion.«

»Wie haben Sie dann das Telegramm deduziert?«

»Nun, natürlich wusste ich, dass Sie keinen Brief geschrieben hatten, da ich Ihnen den ganzen Morgen gegenübersaß. Außerdem sehe ich dort in Ihrem offenen Schreibtisch, dass Sie einen Bogen Briefmarken und ein dickes Bündel Postkarten liegen haben. Warum sollten Sie also zum Postamt gehen, es sei denn, um ein Telegramm aufzugeben? Man schließe alle anderen Faktoren aus, und der eine, der übrig bleibt, muss die Wahrheit sein.«

»In diesem Fall ist es gewiss so«, erwiderte ich nach kurzem Nachdenken. »Die Sache ist jedoch, wie Sie schon sagen, von einfachster Natur. Würden Sie mich für unverfroren halten, wenn ich Ihre Theorien auf eine härtere Probe stellen würde?«

»Ganz im Gegenteil«, antwortete er, »das würde mich davon abhalten, eine zweite Dosis Kokain zu nehmen. Ich wäre erfreut, mich mit jedem Rätsel zu befassen, das Sie mir unterbreiten können.«

»Ich habe Sie sagen hören, dass es schwierig sei, einen Gegenstand in täglichem Gebrauch zu haben, ohne den Abdruck der Persönlichkeit auf diesem zu hinterlassen, und zwar in einer Weise, dass ein geübter Beobachter ihn möglicherweise lesen könnte. Ich habe hier eine Uhr, die kürzlich in meinen Besitz gekommen ist. Hätten Sie die Freundlichkeit, mir Ihre Meinung über den Charakter oder die Gewohnheiten des früheren Besitzers mitzuteilen?«

Ich reichte ihm die Uhr mit einem Anflug von Heiterkeit in meinem Herzen, denn die Probe war, wie ich glaubte, nicht zu bestehen, und ich wollte ihm damit eine Lektion erteilen für den etwas belehrenden Ton, den er gelegentlich anschlug. Er balancierte die Uhr in der Hand, betrachtete eingehend das Zifferblatt, öffnete die Rückseite und untersuchte das Uhrwerk, zunächst mit bloßem Auge und dann mit einer starken konvexen Linse. Ich konnte mir bei seiner enttäuschten Miene ein Lächeln kaum verkneifen, als er schließlich das Gehäuse zuschnappen ließ und sie mir zurückgab.

»Es gibt kaum Daten«, bemerkte er. »Die Uhr ist vor kurzem gereinigt worden, was mich der aussagekräftigsten Fakten beraubt.«

»Sie haben recht«, erwiderte ich. »Sie wurde gereinigt, ehe sie mir zugesandt wurde.«

In meinem Herzen warf ich meinem Gefährten vor, eine allzu faule und schwache Ausrede vorgebracht zu haben, um sein Versagen zu kaschieren. Was für Anhaltspunkte konnte er von einer nicht gereinigten Uhr erwarten?

»Wenn auch unbefriedigend, so ist meine Untersuchung doch nicht gänzlich fruchtlos geblieben«, merkte er an und schaute mit verträumtem, stumpfem Blick hinauf zur Decke. »Korrigieren Sie mich, aber ich würde meinen, dass die Uhr Ihrem älteren Bruder gehörte, der sie von Ihrem Vater geerbt hat.«

»Das entnehmen Sie zweifellos dem H. W. auf der Rückseite?«

»Ganz recht. Das W. deutet auf Ihren Namen hin. Das Datum auf der Uhr liegt fast fünfzig Jahre zurück, und die Initialen sind so alt wie die Uhr: Also wurde sie für die vorherige Generation angefertigt. Schmuck geht für gewöhnlich auf den ältesten Sohn über, und dieser trägt höchstwahrscheinlich denselben Namen wie der Vater. Ihr Vater ist, wenn ich mich recht erinnere, schon lange tot. Daher hat sie sich in den Händen Ihres ältesten Bruders befunden.«

»So weit richtig«, sagte ich. »Sonst noch etwas?«

»Er war jemand mit schludrigen Angewohnheiten – sehr schludrig und nachlässig. Er hatte gute Aussichten, aber er vergab seine Chancen, lebte einige Zeit in Armut, mit gelegentlichen kurzen Intervallen des Wohlstands, und letzten Endes, dem Trinken verfallen, starb er. Das ist alles, was ich dem entnehmen kann.«

Ich sprang von meinem Stuhl auf und humpelte ungeduldig im Zimmer umher, mit beträchtlicher Verbitterung im Herzen.

»Das ist Ihrer unwürdig, Holmes«, sagte ich. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich so weit herablassen. Sie haben Erkundigungen über die Vergangenheit meines unglückseligen Bruders eingeholt, und nun geben Sie vor, dieses Wissen auf phantasiereiche Weise zu deduzieren. Sie können nicht von mir erwarten, dass ich glaube, Sie hätten all das aus einer alten Uhr abgelesen! Das ist herzlos und hat, um es offen zu sagen, einen Hauch von Scharlatanerie an sich.«

»Mein lieber Doktor«, sagte er freundlich, »bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an. Da ich die Angelegenheit als abstraktes Problem betrachtete, hatte ich vergessen, wie persönlich und schmerzhaft sie für Sie sein könnte. Ich versichere Ihnen indes, dass ich nicht einmal wusste, dass Sie einen Bruder hatten, bis Sie mir die Uhr reichten.«

»Aber woher haben Sie dann, um alles in der Welt, diese Anhaltspunkte? Sie sind in jeder Hinsicht absolut korrekt.«

»Ah, das ist Glückssache. Ich konnte lediglich das sagen, was eine Abwägung der Wahrscheinlichkeiten ergab. Ich hatte keineswegs erwartet, so genau zu sein.«

»Aber es waren keine bloßen Mutmaßungen?«

»Nein, nein, ich mutmaße nie. Das wäre eine erschreckende Angewohnheit – schädlich für das logische Denkvermögen. Es erscheint Ihnen nur deshalb eigenartig, da Sie meinem Gedankengang nicht folgen oder die kleinen Fakten übersehen, von denen weitreichende Schlussfolgerungen abhängen können. Ich begann beispielsweise damit, zu behaupten, Ihr Bruder sei nachlässig. Wenn man sich den unteren Bereich des Uhrengehäuses anschaut, fällt auf, dass es nicht nur an zwei Stellen eingedellt, sondern überall zerschrammt und gezeichnet ist, und zwar von der Angewohnheit, andere harte Gegenstände, wie etwa Münzen oder Schlüssel, in der gleichen Tasche aufzubewahren. Da dürfte es gewiss kein großes Kunststück sein, anzunehmen, dass jemand, der so leichtfertig mit einer Fünfzig-Guineen-Uhr umgeht, ein nachlässiger Mensch sein muss. Ebenso wenig dürfte es eine sehr weit hergeholte Schlussfolgerung darstellen, dass jemand, der einen Gegenstand von solchem Wert erbt, auch in anderer Hinsicht gut versorgt ist.«

Ich nickte, um anzudeuten, dass ich seiner Argumentation folgen konnte.

»Es ist durchaus üblich bei den Pfandleihern in England, dass sie dann, wenn sie eine Uhr annehmen, die Nummer des Pfandscheins mit einer Nadelspitze in die Innenseite des Gehäuses ritzen. Das ist praktischer als ein Etikett, da auf diese Weise kein Risiko besteht, dass die Nummer abhandenkommen oder vertauscht werden könnte. Auf der Innenseite dieses Gehäuses wurden nicht weniger als vier derartige Nummern für meine Linse erkennbar. Schlussfolgerung – Ihr Bruder war des Öfteren knapp bei Kasse. Zweite Schlussfolgerung – er hatte zwischenzeitlich Ausbrüche von Wohlstand zu verzeichnen, denn sonst hätte er das Pfand nicht auslösen können. Schließlich möchte ich Sie bitten, sich die innere Platte anzusehen, die das Schlüsselloch umfasst. Schauen Sie sich die abertausend Kratzer um das Loch herum an – Spuren, wo der Schlüssel abgeglitten ist. Welcher nüchterne Mann hätte diese Schrammen einritzen können? Aber Sie werden nie die Uhr eines Trinkers ohne solche Schrammen sehen. Er zieht sie nachts auf, und er hinterlässt diese Spuren seiner unsicheren Hand. Wo ist bei alldem das Rätselhafte?«

»Es ist sonnenklar«, antwortete ich. »Ich bedaure die Ungerechtigkeit, die ich Ihnen angetan habe. Ich hätte mehr Vertrauen in Ihre ausgezeichneten Fähigkeiten haben sollen. Darf ich fragen, ob Sie gegenwärtig beruflich einer Untersuchung nachgehen?«

»Keiner. Deshalb das Kokain. Ich kann nicht ohne geistige Arbeit leben. Wofür sollte man sonst leben? Stellen Sie sich hier ans Fenster. Gab es je eine so triste, trostlose, unergiebige Welt? Sehen Sie nur, wie der gelbliche Nebel die Straße hinunterwabert und an den düster-braunen Häusern vorbeitreibt. Was könnte hoffnungsloser prosaisch und real sein? Was nützt es, Fähigkeiten zu besitzen, Doktor, wenn man kein Betätigungsfeld hat, auf dem man sie anwenden könnte? Das Verbrechen ist gewöhnlich, das Dasein ist gewöhnlich, und keine Eigenschaften, abgesehen von denen, die gewöhnlich sind, haben irgendeine Funktion hier auf Erden.«

Ich hatte den Mund geöffnet, um auf diese Tirade einzugehen, als unsere Hauswirtin mit einem knappen Klopfen eintrat und eine Visitenkarte auf dem Messingtablett trug.

»Eine junge Dame für Sie, Sir«, sagte sie, zu meinem Gefährten gewandt.

»Miss Mary Morstan«, las er vor. »Hm! An den Namen kann ich mich nicht erinnern. Bitten Sie die junge Dame heraufzukommen, Mrs. Hudson. Gehen Sie nicht, Doktor. Mir wäre es lieber, wenn Sie blieben.«

Kapitel II

Die Darstellung des Falls

MISS Morstan betrat das Zimmer mit festem Schritt und äußerlich gefasst. Sie war eine blonde junge Dame, klein, zierlich, trug tadellose Handschuhe und war äußerst geschmackvoll gekleidet. Ihre Kleidung war jedoch von einer Schlichtheit und Einfachheit, die begrenzte Mittel andeuteten. Das Kleid war von einem düsteren, gräulichen Beige, ohne Besatz und Borten, und sie trug einen kleinen Turban in demselben tristen Farbton, ein wenig aufgelockert durch die Andeutung einer weißen Feder an der Seite. Ihr Antlitz besaß weder ebenmäßige Züge noch Schönheit des Teints, doch war ihr Gesichtsausdruck freundlich und liebenswürdig, und ihre großen blauen Augen waren außergewöhnlich geistvoll und mitfühlend. In meiner Erfahrung mit Frauen, die sich über viele Völker und drei Kontinente erstreckt, hatte ich noch nie ein Gesicht erblickt, das eine deutlichere Verheißung eines kultivierten und empfindsamen Wesens hätte geben können. Als sie sich auf den Stuhl setzte, den Sherlock Holmes für sie zurechtgerückt hatte, musste ich unweigerlich bemerken, dass ihre Lippen bebten, ihre Hand zitterte und dass sie alle Anzeichen heftiger innerer Erregung zeigte.

»Ich bin zu Ihnen gekommen, Mr. Holmes«, sagte sie, »weil Sie einst meiner Dienstherrin, Mrs. Cecil Forrester, dazu verhalfen, eine kleine häusliche Verwicklung zu lösen. Sie war sehr beeindruckt von Ihrer Freundlichkeit und Ihrem Können.«

»Mrs. Cecil Forrester«, wiederholte er nachdenklich. »Ich glaube tatsächlich, dass ich ihr einen kleinen Dienst erwiesen habe. Der Fall war allerdings, wenn ich mich recht entsinne, sehr einfach.«

»Sie ist anderer Meinung. Doch könnten Sie das zumindest von meinem Fall nicht sagen. Ich vermag mir kaum etwas Seltsameres und ausgesprochen Unerklärlicheres vorzustellen als die Situation, in der ich mich befinde.«

Holmes rieb sich die Hände, und seine Augen glänzten. Er beugte sich mit einem Ausdruck äußerster Konzentration auf seinen scharfgeschnittenen, habichtartigen Zügen auf seinem Sessel vor.

»Schildern Sie Ihren Fall«, sagte er in knappem, geschäftsmäßigem Ton.

Ich hatte das Gefühl, dass ich mich in einer unangenehmen Position befand.

»Sie werden mich gewiss entschuldigen«, sagte ich und erhob mich von meinem Stuhl.

Zu meiner Überraschung hob die junge Dame ihre behandschuhte Hand, um mich aufzuhalten.

»Wenn Ihr Freund«, sagte sie, »so freundlich wäre, dies zu unterlassen, könnte er mir einen unschätzbaren Dienst erweisen.«

Ich sank zurück auf meinen Stuhl.

»In aller Kürze«, fuhr sie fort, »sind die Fakten folgende. Mein Vater, Offizier in einem indischen Regiment, schickte mich nach Hause, als ich noch fast ein Kind war. Meine Mutter war verstorben, und ich hatte keinen Verwandten in England. Ich wurde jedoch in einem angenehmen Pensionat in Edinburgh untergebracht, und dort blieb ich, bis ich siebzehn Jahre alt war. Im Jahre 1878 erhielt mein Vater, der Senior Captain seines Regiments war, einen zwölfmonatigen Heimaturlaub und kehrte nach Hause zurück. Er telegraphierte mir aus London, er sei sicher angekommen, und wies mich an, ihn unverzüglich aufzusuchen, wobei er das Langham Hotel als Adresse angab. Seine Nachricht war, wie ich mich erinnere, voller Güte und Liebe. Sobald ich in London eintraf, fuhr ich zum Langham und wurde darüber unterrichtet, Captain Morstan wohne zwar dort, sei aber am Abend zuvor ausgegangen und noch nicht zurückgekehrt. Ich wartete den ganzen Tag ohne Nachricht von ihm. Am selben Abend setzte ich mich auf Anraten des Hoteldirektors mit der Polizei in Verbindung, und am folgenden Morgen schalteten wir Anzeigen in allen Zeitungen. Unsere Nachforschungen führten zu keinem Ergebnis; und von jenem Tag bis heute hat man nie wieder etwas von meinem unglückseligen Vater gehört. Er war heimgekehrt, das Herz voller Hoffnung, um ein wenig Frieden, ein wenig Komfort zu finden, und stattdessen –«

Sie fasste sich mit der Hand an ihren Hals, und ein erstickender Schluchzer brach den Satz ab.

»Das Datum?«, fragte Holmes und schlug sein Notizbuch auf.

»Er verschwand am 3. Dezember 1878 – vor fast zehn Jahren.«

»Sein Gepäck?«

»Blieb im Hotel. Darin fand sich nichts, das ein Hinweis hätte sein können – etwas Kleidung, ein paar Bücher und eine beträchtliche Anzahl an Kuriositäten von den Andamanen. Er war einer der Offiziere gewesen, die dort für die Bewachung der Strafgefangenen verantwortlich waren.«

»Hatte er Freunde in der Stadt?«

»Nur einen, von dem wir wissen – Major Sholto, aus seinem eigenen Regiment, der 34. Bombay Infantry. Der Major war kurze Zeit zuvor aus dem Dienst ausgeschieden und lebte in Upper Norwood. Natürlich setzten wir uns mit ihm in Verbindung, doch wusste er nicht einmal, dass sein Offizierskamerad in England war.«

»Ein sonderbarer Fall«, bemerkte Holmes.

»Ich habe Ihnen den sonderbarsten Teil noch gar nicht erzählt. Vor etwa sechs Jahren – am 4. Mai 1882, um genau zu sein – erschien in der Times eine Anzeige, in der nach der Adresse von Miss Mary Morstan gefragt und angemerkt wurde, es sei zu ihrem Vorteil, sich zu melden. Es war weder ein Name noch eine Anschrift beigefügt. Zu jener Zeit war ich gerade in meiner Eigenschaft als Gouvernante in den Dienst der Familie von Mrs. Cecil Forrester getreten. Auf ihr Anraten hin veröffentlichte ich meine Adresse in der Anzeigenspalte. Noch am selben Tag traf mit der Post eine an mich adressierte Pappschachtel ein, die eine sehr große schimmernde Perle enthielt. Nicht ein geschriebenes Wort war beigelegt. Seither ist jedes Jahr zum gleichen Zeitpunkt eine ähnliche Schachtel aufgetaucht, die eine ähnliche Perle enthält, ohne jeglichen Hinweis auf den Absender. Sie sind von einem Experten als seltene Art und von beträchtlichem Wert eingestuft worden. Sie können sich selbst davon überzeugen, dass sie sehr hübsch sind.«

Mit diesen Worten öffnete sie eine flache Schachtel und zeigte mir sechs der edelsten Perlen, die ich je gesehen hatte.

»Ihr Bericht ist äußerst interessant«, sagte Sherlock Holmes. »Ist sonst noch etwas geschehen?«

»Ja, und zwar genau heute. Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen. Heute Morgen habe ich diesen Brief erhalten, den Sie vielleicht selbst lesen möchten.«

»Danke«, sagte Holmes. »Bitte auch den Umschlag. Poststempel London, S. W. Datum 7. Juli. Hm! Daumenabdruck eines Mannes in einer Ecke – vermutlich der Postbote. Papier von bester Qualität. Umschläge zu Sixpence das Paket. Wählerischer Mann, was das Briefpapier betrifft. Kein Absender. ›Seien Sie heute Abend um sieben Uhr an der dritten Säule auf der linken Seite vor dem Lyceum Theatre. Wenn Sie misstrauisch sind, bringen Sie zwei Freunde mit. Sie sind eine Frau, der Unrecht getan wurde, und nun soll Ihnen Gerechtigkeit widerfahren. Bringen Sie keine Polizei mit. Wenn Sie das tun, wird alles umsonst sein. Ihr unbekannter Freund.‹ Nun, das ist wirklich ein nettes kleines Rätsel! Was beabsichtigen Sie zu tun, Miss Morstan?«

»Genau das wollte ich Sie fragen.«

»Dann sollten wir auf jeden Fall hingehen – Sie und ich und – ja, Dr. Watson wäre genau der Richtige. Ihr Briefschreiber spricht von zwei Freunden. Er und ich haben schon zuvor zusammengearbeitet.«

»Aber wird er auch mitkommen?«, fragte sie mit etwas Flehendem in ihrer Stimme und in ihrer Mimik.

»Ich wäre stolz und glücklich«, sagte ich eifrig, »wenn ich zu Diensten sein könnte.«

»Sie sind beide sehr freundlich«, erwiderte sie. »Ich habe ein zurückgezogenes Leben geführt und keine Freunde, an die ich mich wenden könnte. Ich nehme an, es würde reichen, wenn ich um sechs hier sein würde?«

»Später dürfen Sie nicht kommen«, sagte Holmes. »Da ist aber noch ein anderer Punkt. Ist diese Handschrift dieselbe wie die auf den Adressen der Perlenschachteln?«

»Ich habe sie hier«, antwortete sie und holte ein halbes Dutzend Zettel hervor.

»Sie sind wirklich eine vorbildliche Klientin. Sie haben die richtige Intuition. Nun lassen Sie uns schauen.« Er breitete die Zettel auf dem Tisch aus und warf flüchtige Blicke zwischen ihnen hin und her. »Das sind verstellte Handschriften, außer beim Brief«, sagte er unvermittelt; »aber die Verfasserschaft steht außer Frage. Schauen Sie, wie das nicht unterdrückbare griechische e ausbrechen will, und sehen Sie sich den Schnörkel beim ausklingenden s an. Sie stammen zweifellos von ein und derselben Person. Ich möchte keine falschen Hoffnungen wecken, Miss Morstan, aber besteht zwischen dieser Handschrift und der Ihres Vaters irgendeine Ähnlichkeit?«

»Nichts könnte unterschiedlicher sein.«

»Ich habe damit gerechnet, dass Sie das sagen würden. Wir erwarten Sie dann um sechs Uhr. Bitte gestatten Sie mir, die Papiere zu behalten. Möglicherweise befasse ich mich vorher noch mit der Sache. Es ist erst halb vier. Au revoir.«

»Au revoir«, sagte unsere Besucherin; und mit einem hellen, freundlichen Blick sah sie von einem zum anderen, schob die Perlenschachtel zurück in ihren Busen und eilte davon.

Ich stand am Fenster und verfolgte, wie sie forsch die Straße hinunterging, bis der graue Turban und die weiße Feder nur noch ein Fleck in der dunklen Menge waren.

»Was für eine ausgesprochen attraktive Frau!«, rief ich aus und wandte mich meinem Gefährten zu.

Er hatte seine Pfeife wieder angezündet und lehnte sich mit halb gesenkten Lidern zurück. »Ist sie das?«, sagte er träge. »Das ist mir nicht aufgefallen.«

»Sie sind wirklich ein Automat – eine Rechenmaschine«, rief ich aus. »Sie haben bisweilen etwas eindeutig Unmenschliches an sich.«

Er lächelte nachsichtig.

»Es ist von höchster Bedeutung«, rief er, »nicht zuzulassen, dass das Urteilsvermögen durch persönliche Eigenschaften beeinflusst wird. Ein Klient ist für mich eine bloße Einheit, ein Faktor in einem Problem. Die emotionalen Qualitäten laufen dem klaren Denkvermögen zuwider. Ich versichere Ihnen, dass die anziehendste Frau, die mir je begegnet ist, gehängt wurde, weil sie ihre drei kleinen Kinder wegen der Versicherungsprämie vergiftet hatte, und der abstoßendste Mann aus meinem Bekanntenkreis ist ein Philanthrop, der fast eine Viertelmillion für die Armen Londons gespendet hat.«

»In diesem Fall indes –«

»Ich mache keine Ausnahmen. Eine Ausnahme widerlegt die Regel. Hatten Sie je Gelegenheit, die Charaktereigenschaften aus einer Handschrift zu studieren? Was halten Sie von der Kritzelei dieses Burschen?«

»Sie ist lesbar und regelmäßig«, antwortete ich. »Ein Mann mit Geschäftsgewohnheiten und einer gewissen Charakterstärke.«

Holmes schüttelte den Kopf.

»Schauen Sie sich seine langen Buchstaben an«, sagte er. »Sie ragen kaum über die gewöhnliche Masse hinaus. Das d könnte ein a sein, und dieses l ein e. Menschen mit Charakter unterscheiden stets zwischen ihren langen Buchstaben, so unleserlich sie auch schreiben mögen. Da ist Unschlüssigkeit in seinen ks und Selbstüberschätzung in seinen Großbuchstaben. Ich gehe jetzt aus. Ich muss ein paar Dinge in Beziehung zueinander setzen. Ich empfehle Ihnen dieses Buch – eines der bemerkenswertesten, die je geschrieben wurden. Es ist Winwood Reades Martyrdom of Man. Ich bin in einer Stunde zurück.«

Ich saß mit dem Band in der Hand am Fenster, doch waren meine Gedanken weit entfernt von den gewagten Ansichten des Verfassers. Mein Geist kreiste unaufhörlich um unsere letzte Besucherin – um ihr Lächeln, den volltönenden Klang ihrer Stimme, das seltsame Geheimnis, das ihr Leben überschattete. Wenn sie zu dem Zeitpunkt des Verschwindens ihres Vaters siebzehn war, so müsste sie jetzt siebenundzwanzig sein – ein schönes Alter, wenn die Jugend ihre Befangenheit verloren hat und durch Erfahrung ein wenig besonnener geworden ist. So saß ich da und sann vor mich hin, bis mir derart gefährliche Gedanken in den Sinn kamen, dass ich zu meinem Schreibpult eilte und mich ungestüm in die jüngste Abhandlung über Pathologie vertiefte. Wer war ich denn schon, ein Militärarzt mit einem schwachen Bein und einem noch schwächeren Bankkonto, dass ich es wagen könnte, an derlei Dinge zu denken? Sie war eine bloße Einheit, ein Faktor – nichts weiter. Wenn meine Zukunft düster war, dann war es gewiss besser, ihr wie ein Mann entgegenzutreten, als zu versuchen, sie durch bloße Irrlichter der Vorstellungskraft aufzuhellen.

Kapitel III

Auf der Suche nach einer Lösung

ES war halb sechs, als Holmes zurückkehrte. Er war fröhlich, lebhaft und bester Laune, eine Stimmung, die sich in seinem Fall mit Anfällen schwärzester Depression abwechselte.

»Es gibt kein großes Geheimnis bei dieser Angelegenheit«, sagte er und nahm die Tasse Tee entgegen, die ich ihm eingegossen hatte; »die Fakten scheinen nur eine Erklärung zuzulassen.«

»Was! Sie haben es bereits gelöst?«

»Nun, das wäre zu viel gesagt. Ich habe eine vielversprechende Tatsache entdeckt, das ist alles. Sie ist jedoch sehr vielversprechend. Die Einzelheiten müssen natürlich noch hinzugefügt werden. Ich habe soeben herausgefunden, als ich die älteren Ausgaben der Times herangezogen habe, dass Major Sholto aus Upper Norwood, ehemals in der 34. Bombay Infantry, am 28. April 1882 gestorben ist.«

»Ich mag sehr begriffsstutzig sein, Holmes, aber ich verstehe nicht, was dies nahelegt.«

»Ach, nein? Sie überraschen mich. Betrachten Sie es doch einmal auf diese Weise. Captain Morstan verschwindet. Die einzige Person in London, die er aufgesucht haben könnte, ist Major Sholto. Major Sholto bestreitet, davon erfahren zu haben, dass er in London war. Vier Jahre später stirbt Sholto. Innerhalb einer Woche nach seinem Tod