Das zweite Gesicht - Hermann Löns - E-Book

Das zweite Gesicht E-Book

Hermann Löns

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Beschreibung

Der Lebensroman von Hermann Löns. Im Mittelpunkt der Handlung wie auch in einer Dreiecksbeziehung steht der Künstler Helmold Hagenrieder. "Er malt mit dem toten Herzen Bilder, schießt Hirsche und behält einen Hang fürs Küchenpersonal und für unkultivierte Dorfmädchen, die sich ihm, Gott weiß warum, fortgesetzt anbieten und anderen Herzen er dem Volke nahe ist. Schließlich wird er Geheimrat, wird sogar geadelt, muss sich noch weiter ärgern, dass ihm eine Erbschaft von einer halben Million zufällt", und erkrankt an einer doppelseitigen Lungenentzündung. (Carl Busse, Neues vom Büchertisch, in Velhagen und Klasings Monatshefte, 26 Jg. (1911/12) Heft 10 (Juni 1912). Hermann Löns (* 29. August 1866 in Culm bei Bromberg in Westpreußen; † 26. September 1914 bei Loivre in der Nähe von Reims, Frankreich) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Schon zu Lebzeiten ist Löns, dessen Landschaftsideal die Heide war, als Jäger, Natur- und Heimatdichter sowie als Naturforscher und -schützer zum Mythos geworden.

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Das zweite Gesicht

Vorspuk

Die Sektflasche

Das Stapelienbild

Der Vollmond

Der eiserne Ritter

Das Seelenhaus

Der Mohnblumenkranz

Der Platzhirsch

Die Wundfährte

Der graue Engel

Der weiße Garten

Der Sarg

Die Panne

Nachspuk

Über den Autor

Impressum

Hinweise und Rechtliches

E-Books im Reese Verlag (Auswahl):

Hermann Löns

Das zweite Gesicht

Roman

Reese Verlag

Das zweite Gesicht

Vorspuk

Die Brennhexe lag im Moore und schlief. Da kam der Südostwind angegangen und kitzelte sie mit einem Grashalm in der Nase, so daß sie niesen mußte, und davon wachte sie auf.

Sie gähnte herzhaft, reckte sich, sprang auf, schüttelte ihre Röcke zurecht, klopfte sich die Schürze glatt, bückte sich über eine Torfkuhle, um zu sehen, ob ihr Haar noch in Ordnung sei und ob die Haube nicht schief sitze, stemmte die Hände auf die strammen Lenden, wiegte den Kopf hin und her, lächelte, summte eine frische Weise vor sich hin und tanzte los.

Schön war das anzusehen, wie sie sich herumdrehte, daß der feuerrote Rock, die knallgelbe Schürze und die schwarzen Bindebänder an der goldenen Haube nur so flogen; so schön war das anzusehen, daß dem dürren Moose, dem mürben Wollgrase und dem trockenen Haidkraute ganz sonderbar zumute wurde, denn sie bekamen allerlei Hübsches zu sehen: die Schleifenschuhe mit den roten Absätzen, die weißen Strümpfe mit den grünen Zwickeln, die blauen Strumpfbänder und was es sonst noch gab. Darum verliebte sich alles, über dem der rote Rock und das weiße Hemd sich drehte, so sehr in sie, daß es auf einmal lichterloh brannte, sogar der stumpfsinnige Torf; aber als er mit heißen Händen nach den strammen Waden packte, juchte die Brennhexe auf und sprang ein Ende weiter.

So ging es eine ganze Weile. Sie tanzte hier, sie tanzte da; aber sobald die Flammen sie in die Beine kneifen wollten, wipps war sie schon anderswo und drehte sich dort umher, und ging es da ebenso, wupps war sie wieder fort, und die Flammen machten lange Hälse hinter ihr her.

Doch auf die Dauer wurde ihr das ledige Tanzen zu langweilig; sie blieb stehen, daß das weiße Hemd über der runden Brust auf- und abging, hielt die Hand über die Augen und sah über das Moor, das ganz weiß vom Wollgrase war.

Mit einem Male erblickte sie dort, wo hinter den Birkenbüschen Wasser blitzte, etwas Rotes, das hin und her sprang, und das war ein menschliches Angesicht, und es gehörte zu einem Manne im grünen Rocke, der ein Schießgewehr auf dem Rücken trug, an dem Rucksacke drei Birkhähne hängen hatte und mit einem Springstocke über die Gräben und Abstiche hinwegsetzte.

»Deubel auch!« sprach die Brennhexe und lachte; »das ist aber ein glatter Danzeschatz für mich; der kommt mir gerade paßlich.« Sie ging schneller, aber sie konnte den Mann nicht einholen. Sie hielt die Hände um den Mund und rief: »He, du!«, aber der Jäger hörte sie nicht. Sie versuchte zu flöten; doch damit hatte sie erst recht kein Glück.

So lief sie denn, was sie laufen konnte, blieb ab und zu stehen und schrie: »He!« und »Holla!« oder »Teuf!«, bis der Mann, als sie schon ganz außer Atem war, sich endlich umdrehte und nach ihr hinsah. Sie winkte ihm zu, aber da merkte der Jäger, mit wem er es zu tun hatte, setzte den Springstock ein und machte, daß er weiterkam.

»Du Flegel!« schimpfte die Brennhexe und lief wieder hinter ihm her, so daß er hin und her springen mußte, denn sie kam ihm immer dichter auf die Hacken. Als es gar nicht mehr anders ging, sprang er in einen alten Abstich, warf Gewehr und Rucksack von sich, duckte sich so tief, daß ihm das Wasser bis an die Brust ging, und wartete, bis das verliebte Frauenzimmer an ihm vorbeigerannt war.

Dann stieg er heraus, schüttelte sich, lachte, hängte den Drilling und den Rucksack um, nahm den Stock wieder zur Hand und sprang nach der anderen Seite hin über das schwelende Haidkraut, den glimmenden Torf, an den knisternden Wacholderbüschen und den lichterloh brennenden Krüppelkiefern vorüber, ab und zu hinter sich sehend, wo alles ein Rauch und eine Glut war; einmal blieb er stehen, verpustete sich und zog ein Büschel Torfmoos aus, das er aus einem Graben riß; aber da sah er auch schon das rote Gesicht der Hexe hinter sich und hörte die gemeinen Schimpfworte, die sie ihm nachschrie, und so sprang er dahin, wo der Bach an den Wiesen vorbeilief.

Erst als er den hinter sich hatte und an dem großen Weidenbaume angekommen war, machte er halt, ließ den Stock fallen, hängte die Büchse an den Baum, legte den Rucksack ab, warf sich in das Gras, lehnte den Rücken gegen den Stamm und atmete tief, dahin sehend, wo die Brennhexe stand und ihm mit der Faust drohte, während um sie her allerhand schwarze und graue Gesichter nach ihm hinglotzten, ihm Fratzen schnitten, Ruß nach ihm spuckten, Rauch nach ihm pusteten und ihm ihre roten Zungen ausstreckten. Er lachte sie aus, machte ihnen eine lange Nase, steckte sich eine Pfeife an und blies dem Gelichter den Dampf entgegen, mit kleinen Augen nach ihm hinsehend.

Die grauen Fratzen verzogen sich langsam, und auch die Brennhexe war verschwunden; aber nun kam ein Mädchen über das ausgebrannte Moor gegangen. Schlank war es und hatte einen stolzen Schritt; ihr aschblondes Haar sah sanft aus, ihre Augen hatten einen zärtlichen Glanz, und ihre Hände waren weiß und sehr klein. Sie nahm damit an beiden Seiten ihr Kleid auf; das war von weißem Wollstoffe und so lose geschnitten, daß es schöne Falten warf; der Halsausschnitt und die halblangen, weiten Ärmel waren mit einer goldenen Borte besetzt.

Immer näher kam das Mädchen, ging gerade auf ihn zu und blickte ihn mit freundlichen Augen an; sie kamen ihm erst schwarz vor, dann meinte er, sie wären braun, und schließlich sah er, daß sie blau waren, blau mit goldenen Blumen darin. Da erkannte er das Mädchen, nickte ihm zu und rief: »Swaantje, wie kommst du denn hierher?«

Davon wachte er auf und merkte, daß er eingeschlafen war und geträumt hatte; aber er war über den Traum so erschrocken, daß ihm das Herz bis in den Hals hinein schlug. Er stand auf, warf die Büchse über den Rücken, stellte den Springstock in den Busch und sah sich nach seinem Hute um, bis ihm einfiel, daß er ihm vom Kopfe geflogen war, als er vor der Brennhexe fortlaufen mußte. Er lachte und ging langsam dem Walde zu, in dem der wilde Täuber ihn bedauerte: »O du, du, du!« rief er; aber der Häher lachte den Jäger aus, weil er so schwarz und schmierig im Gesichte aussah und nichts davon wußte; er flog vor ihm her und schrie in einem fort: »Ätsch, ätsch, ätsch!« Doch als der Jäger ihm drohte und zum Spaß nach der Flinte griff, kreischte der bunte Vogel laut auf: »Nein, nein!« schrie er und flog schnell in den tiefen Wald hinein.

»Du lieber Himmel, Herr Hagenrieder«, rief die Wirtin vom Blauen Himmel und schlug die Hände zusammen; »wie sehen Sie denn aus!« Als der Jäger ein dummes Gesicht machte, drehte sie ihn an der Schulter um, daß er in den Spiegel sehen mußte, und da lachte er, denn er war schwarz und grau gestreift von Ruß und Schweiß. Die Wirtin hatte die Hände auf die Hüften gestemmt und lachte, daß ihre Zähne blitzten. »Auch noch auslachen!« rief der Jäger, faßte sie um und küßte sie so lange, bis sie ebenso aussah wie er und ihn halb böse, halb verliebt ansah; er aber lachte und sagte: »So, nun haben Sie nichts mehr vor mir voraus, und jetzt muß ich für drei Taler Waschwasser und drei Handtücher auf mein Zimmer haben, und wenn ich wieder herunterkomme, ordentlich etwas zu essen und zu trinken, denn die Brennhexe hat mich über das ganze Moor gejagt.« Da wurde die Frau ganz blaß und sagte: »Und ich dachte, Sie hätten bloß ein bißchen beim Löschen geholfen.«

Er stieg die Treppe hinauf und ging in sein Zimmer, legte sein Zeug ab und wusch sich von oben bis unten; dann zog er einen städtischen Anzug an. Als er vor dem Spiegel stand, die Halsbinde zur Schleife band und die gleichfarbige Schärpe um den Leib knüpfte, mußte er wieder an Swaantje denken. Er hatte sie einmal zu einem Ausfluge abgeholt, und weil es sehr heiß war, kam er in weißer Bluse und mit gegürteten Lenden, die Jacke auf dem Arme. »Reizend siehst du aus, Vetter Helmold, ganz reizend«, hatte das Mädchen ausgerufen und vor Vergnügen in die Hände geklatscht; »ich finde, Westen sind scheußlich, und warum die Männer selbst bei dieser Hitze dreifaches Zeug anhaben, das verstehe ich nicht. Und sieh bloß, wir sind ja ganz auf eine Melodie gestimmt: beide in Weiß und Weinrot! Hast du dich vielleicht vorher bei Fride erkundigt, was ich anziehen wollte?«

In der Eisenbahn saß ihm ein junges Mädchen gegenüber. Es war sehr hübsch; aber da es eine bräunliche Hautfarbe, dunkle Augen und schwarzes Haar hatte, so machte er sich aus den anerkennenden Blicken nichts, mit denen es ihn musterte. Ab und zu, wenn er aus dem Fenster sah, mußte er mit den Augen über es hingehen, und dann fiel es ihm auf, welchen Gegensatz zu Swaantje es darstellte, mit den zackigen Bewegungen, dem grellen Augenaufschlag, den rastlosen Händen, der wirbelnden Stimme und dem klirrenden Lachen, denn es unterhielt sich eifrig mit einem alten Herrn, in dessen Begleitung es fuhr.

Da hörte er Swaantjes milde Stimme und vernahm ihr weiches Lachen, sah ihre abgemessenen Bewegungen und dachte an ihre kleinen, fast zu kleinen Hände, die niemals hin und her sprangen, sondern still auf ihrem Schoße lagen oder bedächtig die Nadel führten, und ab und zu schlug sie langsam die Augen auf und sah ihn mit schwesterlicher Zärtlichkeit an. »Ich habe sie lange nicht mehr gesehen«, dachte er.

Als er sein Haus aufschloß, fuhren ihm seine Hunde winselnd und kläffend um die Beine, und eine lustige Frauenstimme rief: »Schon da? Das ist ja prächtig!« Seine Frau kam ihm entgegen, frisch und fröhlich wie immer; sie hielt ihm den lachenden Mund hin, und er küßte ihn dreimal.

Sodann fragte sie ihn: »Wir haben Besuch; rate einmal, wer es ist?« Er lachte: »Du weißt doch, Grete, der Verstand ist zum Glück meine schwache Seite!« Aber da tat sich die Tür zum Eßzimmer auf und Swaantje Swaantenius stand vor ihm, genau so, wie er sie im Traume gesehen hatte, in dem weißen losen Wollkleide mit der goldenen Borte am Halse und unter den Ellenbeugen, goldene Blumen in den blauen Augen. Sie gab ihm die Hand und sagte: »Willkommen, lieber Helmold! Wie schön, daß du so früh kommst; da wird uns das Essen gleich dreimal so gut munden.«

Seine Augen freuten sich, als er sie so dastehen sah, und sein Herz lachte, als er ihre Stimme hörte. Er nahm seine Frau in den rechten Arm und ihre Base in den linken und sagte: »Das ist hübsch von dir, Swaantje, daß du einmal wieder hergefunden hast; dafür bekommst du auch ein Glas Sekt. Nicht wahr, Weibchen?«

Seine Frau nickte eifrig: »Natürlich, wenn eine so liebe Kusine da ist!«

Die Sektflasche

Als die alte Kastenuhr auf dem Vorplatze zwölf Male geschlagen hatte, kam etwas über die Straße getaumelt, wankte bald auf dem Fahrdamm, bald auf dem Bürgersteige umher, rannte fast den Laternenpfahl um, der vor Helmold Hagenrieders Hause stand, schob sich an der Mauer entlang, kehrte nach einer Weile um, sah nach den Hausnummern und Namensschildern, fand sich wieder zu dem Hause mit der Laterne vor der Tür hin, tippte sich vor den Kopf, murmelte etwas, langte in die Tasche, suchte mühsam darin umher, brachte einen Schlüssel zum Vorschein, besah ihn genau, steckte ihn wieder ein, fand endlich den richtigen, schloß die Haustür auf und trat ein.

Die Hunde im Gange knurrten, als es bei ihnen vorüberschlich, aber wach wurden sie nicht. So konnte es mit dem Drücker, den es aus der Tasche nahm, die Türe des Windfanges aufmachen. Es trat ein, klinkte die Türe des Eßzimmers auf, schlug den Vorhang zum Nebenzimmer zurück, schlich sich hinein, wobei es gegen eine Truhe anlief und sich das eine seiner Beinchen so stieß, daß es zurückprallte, sich umdrehte und mit dem dicken Bäuchlein, das gleich unter dem Halse anfing, gegen den Nähtisch stieß, daß es krachte. Aber nun hatte es auch, was es wollte; denn es zog die Schieblade auf und suchte so lange in den Fächern umher, bis es ein Stück Kreide fand.

Damit malte es eine gewaltige Sektflasche auf die Flügeltür, holte ein Messer aus der Tasche, klappte den Champagnerhaken auf, setzte ihn an den Stöpsel der Flasche, brach die Drahtverschlüsse auf, und buff flog der Kork heraus. Schäumend stieg der heitere Trank aus der Mündung, lief über, floß auf den Fußboden, quoll unter den Türen durch in die Schlafzimmer, in die Küche, in das Kinderzimmer, auf die Veranda, über den Vorplatz, tropfte die Treppenstufen hinunter, geriet in den Gang und von da in den Garten, erfüllte die Malwerkstatt, die an dessen Ende lag, kehrte wieder um, hüpfte die Treppe empor und krabbelte sogar in die Mädchenkammer. Als nun das ganze Haus nach Sekt roch, suchte der Eindringling mühsam den Propfen auf, quälte ihn ächzend in den Flaschenhals hinein, band ihn mit zwei Kreidestrichen, die er übereinanderbog, fest, löschte die Flasche von der Türe weg und stahl sich kichernd wieder aus dem Hause heraus.

Um sechs Uhr in der Frühe sprang die hübsche Dienstmagd trällernd die Treppe hinunter und ließ die Hunde auf die Straße, und die stellten sich ganz übermütig an. Dann erschien das Kindermädchen und summte ein fröhliches Liedchen vor sich hin. Um sieben kam die Hausfrau heiteren Angesichts aus dem oberen Stocke und hinter ihr ihr Mann, eine kecke Weise durch die Zähne flötend, und nun gab es im Kinderzimmer ein großes Lachen und Quieken. Als dann die ganze Familie am Kaffeetische saß, auf dem ein knallbunter Blumenstrauß stand, wurden die Vorhänge aufgeschlagen, und mit einem Lächeln, so freundlich wie die Sonne, die durch die offene Treppentür in die Veranda schien, trat Swaantje in ihrem weißen Kleide ein, küßte die Hausfrau und die Kinder und gab ihrem Vetter die Hand. Als der brummigen Gesichtes, aber mit lustigen Augen sagte: »Mich auch Kuß haben!« bekam er einen auf die Backe, sagte »Ah!«, strich sich den Magen, und alle lachten.

Es wurde viel gelacht bei Tische und nachher auch; denn als Swaantje hinter Helmold, der ihr seine neuen Bilder zeigen wollte, die Gartentreppe hinunterstieg, rief Frau Grete, die gesehen hatte, daß es über Nacht schwer getaut hatte, ihr besorgt nach: »Mach dich nicht naß!«, worauf das Mädchen sich entsetzt umsah und entrüstet ausrief: »Aber Greete!« Nun hallte der ganze Garten von Gelächter, und Swaantje nahm ihre Röcke zusammen und huschte in die Werkstatt. Dort aber vergaß sie das Lachen; sie ließ die Hände an den Hüften herabhängen, hob sie dann langsam wieder hoch, schlug sie vor der Brust ineinander, seufzte tief auf, wandte sich nach ihrem Vetter hin und flüsterte: »Oh, das ist ja wundervoll, lieber Helmold; das ist das Schönste, was du bisher gemalt hast.« Sie nahm seine Hand in ihre beiden Hände, drückte sie und sagte: »Ich danke dir viele Male, und ich bin sehr stolz auf dich!«

Der Maler betrachtete mit zugekniffenen Augen das Bild und lächelte. Es war von gewaltigem Umfange und stellte mehrere hünenhafte, unbekleidete Männer dar, die auf Tod und Leben mit bunten Tigertieren rangen. Die hell und dunkel gestreiften Körper der Riesenkatzen, die nackten Menschenleiber mit den bis auf das höchste angespannten, durch helle Lichter und dumpfe Schatten betonten Muskeln, das zertretene Gras, die wirbelnden Staubwolken, von schräg fallenden Sonnenstrahlen geteilt, das war eine Menge von scharfen Gegensätzen, die eine reife Anschauung durch einen starken Willen zu einer einheitlichen Wirkung zusammengefügt hatte.

Swaantje hatte sich in den bequemen Ledersessel gleiten lassen, stützte ihre schmalen Schuhe, über denen das weiße Kleid ein Stück der seidenen Strümpfe sehen ließ, auf eine mächtige Elchschaufel, die als Fußbank diente, und vergrub sich ganz in die Stimmung, die von dem Gemälde ausging. Helmold stand am Fenster und freute sich über den stolzen Schnitt ihres Gesichtes, über den bescheidenen Glanz, der auf ihrem aschenblonden Haare lag, über die vornehme Sprache ihres Unterarmes und fand, daß ihre Hände zu klein waren, und der unentschlossene Zug, der sich darin ausprägte, paßte schlecht zu der ganzen Erscheinung des Mädchens. Auch sah er, daß ihr Gesicht zu durchgeistigt war, und mit Betrübnis entdeckte er hinter ihren Mundwinkeln eine Falte, die er dort nicht haben wollte.

Aber da fing Swaantje zu sprechen an: »Weißt du, Helmold, was ich mir bei dem Bilde denke? Ich ginge unter den Rabenbergen her, wenn die Abendsonne darauf liegt. Dann sieht’s dort genau so aus.« Ihr Vetter machte ein ganz ernstes Gesicht. Dann zeigte er auf das Bild und sagte: »Vorgestern war Frau Jucunda Othen-Othen hier, du weißt doch, die berühmte Kunstgewerblerin, um nicht zu sagen, die berüchtigte Eklektikerin, besser wohl Ekleptikerin. Sie rauschte mir hier mit ihren gräßlichen seidenen Unterröcken herum; schauderhaft, dies Seidenpapiergeraschel!, tat so, als interessiere sie sich für Kunst, wollte natürlich nur Technik schinden und Motive klauen; na, und als sie das Bild sah, steckte sie ihre Nase unter das Lorgnon, machte ihr überlegenstes Gänsegesicht und fragte: ›Was soll denn das bedeuten, Herr Hagenrieder?‹ Abendsonne auf der Haide, gnädige Frau‹, sagte ich. Die Miene, die sie da aufsteckte, war zum Heulen, sage ich dir. Sie glaubte, ich wollte sie uzen. Na, das wollte ich ja auch wohl, denn sonst hätte ich ihr nicht die blanke Wahrheit gesagt. Das ist in manchen Fällen die höchste Raffiniertheit. Bismarck, der verstand sich großartig darauf.«

Er warf die blonde Stirnlocke zurück. »Weißt du, die habe ich den Tag erst klug und dann wieder dumm gequatscht. ›Ja‹, sagte ich zu ihr, ›wenn man den Eindruck einer Landschaft gänzlich falsch wiedergeben will, tut man am besten, sie zu porträtieren, vorausgesetzt, daß sie stille sitzt und nicht alle fünf Bierminuten ein anderes Beleuchtungsgesicht schneidet. Das tun die meisten sogenannten Landschafter oder, besser gesagt, Landschaftsschuster, und darum hängt überall so viel Schauderschund herum.‹ Sie machte ein Gesicht wie eine Meerkatze, die niesen muß. ›Ja‹, sagte ich dann, ›wenn man das aber nicht will, dann muß man eben durch ganz etwas anderes sein Ziel zu erreichen suchen, oder vielmehr, man muß warten, bis das von selber kommt, denn mit Überlegung, Verstand und anderen billigen Malmitteln kommt man doch zu nichts.‹ Mit einem Male fuhr sie mir dazwischen: ›Danach müßten Sie ja einen Menschen durch eine Landschaft wiedergeben!‹ Ich nickte und bewies ihr das so scharf, daß sie ganz begossen dastand, und da fragte sie: ›Wie würden Sie denn den Eindruck wiedergeben, den ich auf Sie mache?‹ Und da sagte ich zu ihr: ›Gnä’ Frau, Sie haben doch schon gesehen, wenn bei windstillem Wetter auf einmal die Luft küsselt und Papier, Stroh, Blätter und Staub umeinanderdreht und mit nach Hause nimmt, eine der lieblichsten Erscheinungen in der Natur, so flüchtig, so lustig, so entzückend vergänglich. So kommen Sie mir vor.‹«

Er lachte unbändig, und Swaantje ließ ihre Fröhlichkeit dazwischenläuten. »Was hat sie denn darauf gesagt?« forschte sie. »Gar nichts«, antwortete ihr Vetter. »Erst hat sie ein fuchtiges Gesicht gemacht, und mit einem Male wurde sie wie Margarine; ich konnte sie hinschmieren, wo ich sie hinhaben wollte. Aber ich mache mir aus Kunstbutter nichts; lieber schon Schmalz. Unsere Luise ist mir dreimal so lieb als diese Donnja. Sie macht in Kunstgewerbe, wie andere in Heringen oder Flanell.« Er sah Swaantje an: »Weißt du, was ich malen würde, um den Eindruck wiederzugeben, den du auf midi machst? Weiße Haide, aber Sandhaide!«

Das Mädchen fuhr in die Höhe: »Aber weiße Haide bedeutet doch Unglück! Wirke ich so auf dich?« Er schüttelte den Kopf: »Im Gegenteil! Und warum bedeutet weiße Haide Unglück? Weil sie zu der Zeit, da unser ureigenes Wesen von der welschfränkischen Vergewaltigung noch nicht vermanscht war, eine Glücksblume war, was sie in England heute noch ist und ebenso in der Haide. Der Freitag war der Tag der Frigge, der Friggetag, der Glückstag; an ihm wurden die Ehen geschlossen, und unsere Haidbauern heiraten heute noch möglichst an diesem Tage. Die Dreizehn war die heilige Zahl und die Sieben auch; unsere Ahnen liebten nichts, was aufging, denn damit hörte es auf, ein Problem zu sein. Aber die Taktik der karolingischen Mönche verkehrte alles das ins Gegenteil; der brave Deutsche fiel darauf hinein und gab sein naturfreudiges Wesen gegen eine asiatische Naturentfremdung auf. Und daher unser tiefes, weites und hohes Unverständnis für alles, was Kunst heißt.«

Er schob das Bild, das auf einer Rollstaffelei stand, zur Seite und sagte: »Bitte, setz dich einmal da hin, nein, rechts von der Tür!« Dann zog er den goldbraunen Vorhang zurück, der die Hinterwand des Raumes verhüllte, und ein anderes Gemälde wurde sichtbar, doch nur in seinen großen Umrissen, da das Oberlicht abgeblendet war, und auch dem Seitenlichte war durch Vorhänge der Zutritt verwehrt. Das Mädchen richtete sich in dem Sessel auf, beugte sich vor, öffnete ihre Augen ganz weit und fragte verwundert:

»Seit wann malst du denn Dolomiten, Helmold? Du sagtest doch, bloß die Haide könne dir zur visionären Erscheinung werden? Aber dieses Bild gibt ganz und gar die Geheimnisse der Sellagruppe wieder. Das heißt, so ganz verstehe ich es doch nicht.«

Der Maler lächelte, zog erst die Vorhänge von dem Seitenlichte fort und machte dann dem Oberlichte Platz, und da sprang Swaantje auf, brach in ein helles Jubellachen aus und rief: »Nein, nein, Helmold, du bist ja ein Zauberer! Das ist ja, ja das ist ja der Kreuzestod Christi!« Sie schüttelte den Kopf, bewegte die Lippen, als wenn sie etwas sagen wollte, und dann ließ sie sich wieder in den Sessel fallen, lehnte den Kopf gegen die alte Stickerei, die darüber hing, blendete sich mit den Händen das Ober- und das Seitenlicht ab und flüsterte: »Die Sella und die Kreuzigung; wie geheimnisvoll! Helmold, wo ist die Lösung?«

»Ja, Swaantje«, antwortete er, und ein bißchen Selbstverspottung lag in seiner Stimme; »ja, ich sage: ›ich will dies‹, und hinter mir steht wer und sagt: ›du sollst das!‹ Sieh mal, die Sellagruppe hat damals auf mich denselben blödsinnigen Eindruck gemacht wie auf dich, aber mein bewußtes Ich sagte mir: du hast doch weiter nichts davon, als daß du durch die Komplementärwirkung zu einem tieferen Verständnis deiner Heimlandschaft kommst. Niemals habe ich daran gedacht, Dolomiten zu malen. Als ich dann eines Abends bei Hennecke saß, kam die Rede auf den Verlust der Überlieferung in der bildenden Kunst und auf das Effekthaschen und Sensationsmachen in der Wahl der Stoffe, und da sagte der Prinz: ›Der Staat müßte einmal zehn Jahre lang verbieten, daß etwas anderes gemalt würde als Kreuzigungen; dann würde man bald sehen, wer wirklich etwas kann.‹ Dieses Wort juckte mich so lange, bis ich mir eines Tages sagte: ›So, jetzt wird eine Kreuzigung gemalt, damit du endlich Ruhe hast.‹ Ja - Kuchen: Als ich den Schaden besah, stand die schöne Frau Sella neben mir, machte mir eine lange Nase, knickste und sagte: ›Schau, da hast du mich doch malen müssen, ätsch!‹ Na, und so war es! Der lange schwarze Mann im Vordergründe wirkt als tiefe schmale Schlucht, die anderen Figuren und die Längsbalken der Kreuze geben die senkrechten, die Querbalken und die Arme der Gerichteten die waagerechten Linien der Sellaarchitektur wieder, und so hatte ich Dolomiten gemalt und keinen Dunst davon gehabt. Ja, bei uns muß es wohl heißen: Suchet nicht, so werdet ihr finden.«

Das Mädchen nickte ernsthaft. »Ja«, meinte sie dann, »Kunst und Glaube sind zweierlei.« Ihr Vetter schüttelte den Kopf. »Nein, Swaantje, sie sind dasselbe, und deshalb sind alle wahren Künstler gottlose Menschen in landläufigem Sinne. Sie suchen Gott nicht; sie haben ihn in sich; ihn oder den Ungott.«

Er drehte sich eine Zigarette, zündete sie an und blies den Rauch weit von sich, schob das Bild zur Seite, verhüllte es und desgleichen das andere Gemälde und machte die Tür zu dem Nebengemache auf. Das Mädchen stieß einen Laut aus, halb Seufzer, halb Schrei und sprang auf, die Hand auf dem Herzen und mit weit aufgerissenen Augen nach dem Gemälde starrend, das hinter dem Türloche stand. Als der Maler, den ihr jähes Erbleichen erschreckt hatte, neben sie trat, umklammerte sie seinen Arm, und er fühlte, wie ihr Herz zitterte, und er sah, wie ihr der Atem hastig über die Lippen sprang. Er warf ebenfalls seine Augen auf das Bild, und da erschrak auch er, denn einen so gemeinen Ausdruck hatte er noch nie in den Augen des Weibes gesehen, das er da gemalt hatte.

»Chali«, flüsterte es an seiner Schulter, und er murmelte: »Das ist es! Ich habe gedacht, es gibt keinen Namen dafür, aber du hast sofort den einzig möglichen dafür gefunden. Das böse Prinzip des Weibes.« Sie ließ sich, wie vor Erschöpfung, in den Sessel gleiten und fragte, immer das Bild anstarrend: »Wirst du es mir sagen?« Er nickte. »Ja, Kind, gern, soweit es sich um den äußeren Anstoß dazu handelt. Du weißt ja, wie der Prinz ist. Eines Tages kommt er hier angetobt und stellt mir eine kostbare Schüssel vor die Nase, in der auf bleichem Moose dreißig unheimliche Blumen lagen und mich auf ganz hundsgemeine Weise anschielten. Ich machte ein dummes Gesicht und fragte: ›Bist du auf dem Mars gewesen?‹ Denn in meinem Leben hatte ich solche Satansblumen noch nicht gesehen. Da lachte er und sagte, es wären Stapelien, Kusinen von Kakteen, und sie wären aus seinem Treibhause, und er kritzelt mir eine argentinische Stapelienlandschaft in das Skizzenbuch.«

Er holte tief Atem und fuhr fort. »Den ganzen Tag war ich zu nichts zu gebrauchen. Wie ein Affe saß ich da und sah diese niederträchtigen Blumen an, diese Katerideen von Blumen, diese Antiblumen oder was weiß ich. Ein Vierteljahr war ich ganz elend. Erst dachte ich, es wäre die Grippe, nahm Dampfbäder, ließ mich massieren und trank Grog. Dann hielt ich es für einen Darmkatarrh, trank Boonekamp und ließ mir heiße Pottdeckel auf den Magen legen, wenn ich zu Bett ging. Dann wieder schien es mir Nervenüberreizung zu sein; ich aß Sanatogen, schluckte Hämatogen, verkniff mir den Tabak, den Kaffee und den Wein, trank abends Fliedertee und morgens Brombeerblätteraufguß und wurde immer elender, bis ich mich auf einmal benahm wie ein Brunnendelphin, der abends vorher zuviel Bier getrunken hat. Darauf schlief ich drei Tage, und dann malte ich das Bild aus dem Handgelenk in acht Tagen und war kreuzfidel, als ich es hinter mir hatte, denn mir fehlte gar nichts, mir hatte nur das scheußliche Bild verquer im Leibe gesessen, ein Meter vierzig zu eins zwanzig. Aber sieh es dir einmal genau an!«

Swaantje stand auf, doch sie zögerte noch. Sie sah den schweren, klobigen, in den massigen Formen der sumerischen Bauweise gehaltenen, reich geschnitzten, mit buntem Glasflüsse ausgelegten und mit goldenen und silbernen Ziernägeln beschlagenen Rahmen und dann das unheimliche nackte Weib an, das vor einem unglaublich klaren und grundlosen Wasser, das eine unbekannte Farbe hatte und von der Abendsonne eiterrote Glanzlichter bekam, auf der Seite lag, die brutalen Knie gegen den üppigen Leib gezogen, den stützenden Arm halb überschattet von einem Sturzbache straffen Haares von einer rohen roten Farbe, und das sie mit seelenlosen Tieraugen ansah, ebenso schrecklich, wie die unheimlichen großen Blumen, die an den starren Stämmen hinter ihrem Rücken hingen, aber auch ebenso schön, Chali, die Göttin des unblutigen Meuchelmordes, das greuliche Geheimnis des bengalischen Bambusdickichts.

Langsam ging sie darauf zu und sah, daß das Weib keine Tigeraugen, sondern Menschenaugen hatte, doch mit dem Blicke des Tigers, oder vielmehr, mit gar keinem Blicke, aber dadurch wirkten sie gerade so tigerhaft. Als sie noch näher kam, nahmen ihre Züge den Ausdruck kindlicher Neugier und einer dummen Verwunderung an, denn das Bild war auf Holz gemalt, und der Leib des Weibes war nicht gemalt, sondern ausgespart, so daß überall die Maserung und hier und da ein Astfleck zu sehen war. Der Gesamteindruck war aber so mächtig, daß diese Dinge vor ihm völlig zurückgingen.

Helmold, der hinter sie getreten war, nickte ihr zu und sagte: »Ja, ja, es ist wunderlich, was man nicht alles macht, wenn man so dumm dahertolpatscht. Warum habe ich das auf Holz gemalt und nicht auf Leinwand? Im allgemeinen male ich nicht gern auf Holz, und wennschon, so kleine Bilder. Aber dieses mußte ich auf Holz malen, scheinbar, weil das Brett gerade dastand, in Wirklichkeit aber, weil dieses Weib nicht gemalt, sondern ausgespart werden mußte. Es verkörpert das negative Prinzip des weiblichen Wesens, konnte also am besten durch eine Negativität wiedergegeben werden. So ist es auch im Leben; das Schlechte, das Unheimliche, das Gemeine: tritt dicht davor, und siehe, es ist ein Nichts, es ist Holz, dumm gemasert und mit Kienstellen durchsetzt. Ein wirkliches Weib, ein Weib von Herz und Gemüt, von Fleisch und Blut, das hat nicht hier mitten auf dem Bauche einen Leberfleck aus Kien und auf der Kalipygie eine Maserung, soweit meine geringen Erfahrungen auf diesem interessanten, aber schwierigen Gebiete reichen.«

Er zog den Vorhang zu, nahm Swaantje um die Mitte, führte sie zu dem Ruhebett, stellte einen alten Bauernteller mit Äpfeln und eine Dose mit Biskuit vor sie hin und nötigte zum Zulangen: »Iß, Mädchen, desto eher wirst du elend! Und hier sind auch Nüsse.« Swaantje nahm eine, steckte sie dem wunderlichen Nußknacker in das Maul, zerbrach sie und rief dann: »Oh, ein Vielliebchen! Wer ißt es mit mir?« Ihr Vetter hielt die Hand auf. »Dir zuliebe tue ich alles«, lachte er; »sonst esse ich nur Nüsse, wenn sie mir einer kaut, aber das will keiner. Wenn man nämlich nicht aufpaßt, kaut man acht Tage lang an einer Nuß herum.« Er steckte die Nuß in den Mund, schluckte und sagte, indem er auf seine Weste zeigte: »Es geht auch ohne die alte Kauerei.«

Da lernte Swaantje das Lachen wieder und vergaß das unheimliche Bild und den entsetzten Blick, den Helmold darauf geworfen hatte. Dann zeigte er ihr einige Porträts und eine Anzahl von Studien, die er zu Hunderten in den Schiebladen der großen Schränke liegen hatte, schwatzte Kraut und Rüben durcheinander und hetzte einen Witz nach dem anderen her, bis sie vor Lachen nasse Augen bekam und ihn händeringend bat, aufzuhören: »Denn ich habe nur ein Zwerchfell, Helmold, und das ist schon dreimal gestopft!«

Sie kuschelte sich bequem auf das Ruhebett hin, biß in einen Apfel und sah zu, wie er überall herumkramte und ihr allerlei zeigte, das bravste Gehörn von dem letzten Jahre, eine Pfeilspitze aus Feuerstein, die er in der Haide gefunden hatte, eine alte Schnapsflasche mit einem himmelblauen Vogel Phönix darauf und der Inschrift: »So wie der Phönix der Flamme entspringt, so meine Liebe zu dir hin dringt«, und ähnliche Seltsamkeiten, die er bei seinen Jagdfahrten in den Dörfern aufgegabelt hatte. Dann, als er eine Schieblade aus einem grell gestrichenen Schranke zog, rief er: »Holla! Beinahe vergessen!« Er langte ein Kästchen heraus, machte es auf, nahm etwas heraus und drückte es dem Mädchen in die Hand. Es war eine Fibel aus dickem, gerieftem Silberdraht, aus zwei engen Spiralen gebildet, deren jede einen prachtvoll gebräunten Hirschhaken umschloß. »Da!« sagte er, »als Dank für diesen schönen Morgen!«

Sie errötete und klatschte in die Hände: »Wie entzückend! So eine fehlte mir gerade. Die hast du doch selbst entworfen? Und wie reizend von dir, mir die zu schenken, mit den prachtvollen Kusen darin!«

Sie drehte das Schmuckstück hin und her, nahm die Pfeilspitze von Flintstein von dem Tischchen, hielt beide Gegenstände aneinander und sagte: »Die gehörten einmal zusammen, paß auf: der alte Oberpriester war voller Wut, denn seine Tochter, Loide hieß sie, sah Wuni gern; aber der war ihrem Vater ein Greuel, weil er die Kunst, Waffen und Geräte aus Metall zu schmieden, aus der Fremde mitgebracht hatte und deshalb der Priesterschaft als gottloser Mensch galt. Nun war noch jemand da, der die schöne Loide liebte; Ulahu hieß er und war ihrem Vater genehm, dieweil er ein Steinschmied war und jede Neuerung haßte. Aber Wuni war stark und Ulahu schwach, und da sprach der Oberpriester, Krwo hieß er: ›Der Rabe jagt dem Adler den Fraß ab, obwohl dieser siebenmal so stark ist.‹ Ulahu merkte sich diese Rede, und als er Loide einmal in das Haus ihres Vaters eintreten sah, mit flammenden Augen, brennenden Wangen und glühenden Lippen, und bemerkte, daß ihr Kleid vor der Brust mit einer silbernen Fibel, in der zwei Hirschhaken befestigt waren, geschlossen war, da ging er zu seiner Hütte, weinte, nahm den Eibenbogen und drei Pfeile zur Hand und schlich Wuni nach, als er in der Frühe auf Jagd ging, und schoß ihm den Pfeil von hinten durch das Herz, daß er sterben mußte. Ulahu aber freite Loide, doch am Morgen nach der Hochzeit lag er tot in seiner Hütte; Loide aber war verschwunden, und wenn die Nachtschwalbe rief, sagten die Mädchen: ›Da schreit Loide nach Wuni.‹«

Während sie so sprach, verhärteten sich ihre Augen, so daß es Helmold, der ihr anfangs mit vieler Freude zugehört hatte, erschien, sie hätten ein wenig von dem, was die Augen der Chali aufwiesen, und sein Herz kehrte sich um. Doch er jagte die graue Fledermaus, die auf ihn zuflog, mit einer heftigen Bewegung fort, nickte, lächelte und sagte: »Das ist sehr schön, Swaantje, und du wirst das aufschreiben und mir als Gegengeschenk verehren. Du solltest überhaupt deine Gesichte zu Papier bringen. Ich habe es schon oft gedacht: Du bist eine Künstlerin! Und wem eine Gabe ward, der soll ihrer pflegen, sonst bleibt er unfroh sein Leben lang.«

Doch als er das gesagt hatte, schüttelte er in sich darüber den Kopf, denn er glaubte nicht an eine künstlerische Begabung des Weibes. Er hatte, als er einst einer schönen Frau, die acht gesunde Kinder besaß, einen Spruch in ihr Gästebuch schreiben sollte, folgendes eingetragen: »Der größte Künstler ist klein gegen eine Mutter; denn er kann keinen Menschen von Fleisch und Blut schaffen.«

Während er nun Swaantje freundlich ansah, besah er ihr Gesicht genau und dachte: »Ihr ganzes Wesen ist weiblich, aber ihr Geist ist männlicher Art. Am Ende ist sie kein völliges Weib; das wäre ein Jammer, denn dann wird sie das wahre Glück nie kennenlernen. Denn die Liebe ist alles, und das andere ist nichts.«

Da kam Swaan angelaufen und rief: »Väterchen und Muhme Swaantje, ihr möchtet zum Essen kommen, aber schnell, sonst wird der Braten kalt!« Stolz setzte er hinzu: »Es gibt Birkhahn, den Vater geschossen hat.« Sweenechien aber, die hinter ihm hergetappelt war, rief: »Und Flammerie! Hast du das auch geschossen?« Da lachte Swaan sie aus und Helmold und Swaantje auch; unter viel Lachen und Scherzen ging es in die Veranda, wo Frau Grete sie mit den Worten empfing: »Was ist das bloß heute? Alles im Hause lacht in einem fort! Die Mädchen sind aus Rand und Band und ihr auch. Der Sekt kann doch nicht nachspuken?«

Das schien aber doch so, denn es blieb bei dem Lachen. Helmold lachte, wenn er zu Bett ging, und er lachte, wenn er aufstand. Die Arbeit flog ihm nur so von der Hand, und während der Pinsel bald langsam und vorsichtig, bald schnell und sorglos über die Leinwand ging, sang und pfiff er, daß man es über den ganzen Garten bis in das Haus hören konnte.

Wenn aber aus der Werkstatt kein Singen und Pfeifen kam, so wußte Grete, daß Swaantje dort war. Die saß dann in einem Sessel und arbeitete an einer Stickerei oder lag auf dem Ruhebett, sah ihrem Vetter zu und freute sich an seinen schnellen und doch so sicheren Bewegungen, an seiner frohen Laune und seiner Urwüchsigkeit; denn wenn er mitten in der Arbeit war, vergaß er alles um sich und konnte, fuhr er einmal gegen einen Baum, mit den saftigsten Ausdrücken um sich werfen, und Swaantje rief dann wehklagend: »Aber Herr Hagenrieder, ich bin eine deutsche Jungfrau!« Wenn er dann sagte: »Leider! vergaßen Sie zu bemerken, mein allergnädigstes Fräulein«, dann lachte sie. Einmal wäre ihm beinahe die Antwort entwischt: »An mir liegt es wahrhaftig nicht«, doch er packte rechtzeitig den schlechten Witz noch am Nackenfell, denn es war ihm wirklich nur Spaß damit gewesen.

Das Stapelienbild

Chali langweilte sich. Früher konnte sie fast den ganzen Tag mit dem Maler sprechen; seitdem aber das junge Mädchen da war, war es aus damit, denn Swaantje fürchtete sich vor ihr, und so hatte Helmold das Bild in den Nebenraum gestellt, wo es weiter nichts gab als Bilder, Rahmen, Kisten und Kasten, Töpfe und Kruken.

Aber wenn Chali auch nicht dort hätte sein müssen, sondern in der Werkstätte hätte weilen dürfen, so hätte ihr das doch nichts genützt. Holz und Stoffe boten ihren Blicken keinen Widerstand, und so mußte sie es einen Tag wie den anderen mit ansehen, wie der Maler sich mit dem blonden Mädchen unterhielt und ihm liebreiche Blicke zuwarf. Sie lag da und starrte auf die Tür; ihre Augen wurden von Tag zu Tag böser und leuchteten im Dunkeln grün.

Eines Abends, als Helmold und Swaantje in der Werkstätte waren, holte der Maler sich aus der Vorratskammer ein neues Malbrett, was er immer tat, wenn er ein neues Bild begann, das ihm aus dem Herzen kam, und da er an das Bild dachte, das er anfangen wollte, so ließ er in Gedanken die Tür offen stehen. Er wollte nämlich Swaantje malen; er hatte es schon bei Tage mehrfach versucht, war aber nie über den Anfang hinweggekommen, bis ihm einfiel, daß er eine andere Beleuchtung haben müsse als das Tageslicht, und er hatte gefunden, daß das Mädchen im Halbschatten sitzen müsse, während ringsumher alles hell von Licht war. So setzte Swaantje sich also an das große Fenster, vor dem die Vorhänge zusammengezogen waren, und drehte der zweiten Tür den Nacken zu.

»Heute wird es etwas, Swaantje«, rief Helmold; »das kommt wohl daher, weil ich dich gestern eigentlich zum ersten Male in Erregung gesehen habe. Du bist übrigens der einzige Mensch, mit dem ich Walzer tanzen kann. Sonst liegt mir der Walzer nicht; mein Blut geht im Polkatakt. Hamburger, Schwedische Quadrille, der Achttourige, Tschardasch, Kasatschka und dergleichen, wobei man seine Knochen rühren und ordentlich trampeln kann, das ist mein Fall. Aber sich wie ein Brummkreisel andauernd um seine Perpendikulärachse zu drehen, das ist nichts für mich. Gestern bin ich aber auf den Geschmack gekommen. So wie du den Walzer tanzst, so glaube ich, tanzen die Nebelfrauen ihn auch. Ich will sie nächstens mal fragen.«

Chalis Augen sprühten, als sie das mit anhören mußte, und sie stach mit spitzen Blicken nach dem Nacken des Mädchens; jedesmal, wenn Helmold hinzutrat und mit seiner Hand ihre Kopfhaltung ein wenig änderte, fuhren grüne Blitze aus dem Nebenraume dahin, wo die aschenblonden Nackenlocken auf der roten Stuhllehne schimmerten. Solange ihr Vetter mit ihr plauderte, merkte Swaantje nichts von dem, was hinter ihr vorging; aber nun fing Helmold an, eine neue Melodie zu suchen, indem er ganz leise durch die Zähne pfiff, und das bedeutete, wie sie wußte, daß er dem Reime zwischen Stoff und Form nahe war. Darum rührte sie sich nicht, so gern sie das auch getan hätte.

Denn ihr war so merkwürdig schwach und hilflos zumute. Sie hatte ein bißchen viel getanzt und gelacht und vielleicht auch ein Glas Sekt mehr getrunken, als ihr gut war; aber es war so wunderschön auf dem Frühlingsfeste gewesen; so viele hübsche, fröhliche Frauen und Mädchen, und so viele nette, lustige Männer hatte sie noch nie beisammen gesehen, und so hatte sie mit den anderen getollt und sich prachtvoll vergnügt.

Jetzt aber fühlte sie sich müde; sie hatte einen peinlichen Druck in der Herzgrube, und ihr war, als klemmte etwas ihre Halsschlagadern ein. Am liebsten hätte sie ihrem Vetter nicht gesessen, aber sie wußte, wie gern er sie malen wollte, und daß er endlich dazukam; denn nun pfiff er nicht mehr durch die Zähne und trat nicht fortwährend vor und zurück, sondern er stand still, malte eifrig, summte erst eine Melodie vor sich hin, und dann sang er: »Rose Marie, Rose Marie, sieben Jahre mein Herz nach dir schrie, Rose Marie, Rose Marie, aber du hörtest es nie.« Er war in voller Fahrt.

Sie hielt still, obgleich ihr von Minute zu Minute hilfloser zumute wurde; denn Chali ärgerte sich über die zärtlichen Blicke, die der Maler fortwährend nach dem Mädchen warf, und über das Lied, das er sang, während er malte, und so wandte sie ihre Meuchelmörderaugen nicht .einen Pulsschlag lang von dem Nacken Swaantjes.

»Erzähle was, Maus!« sagte Helmold, und Swaantje war froh, aber ihr fiel nichts weiter ein als das, wovon sie noch zu keinem Menschen gesprochen hatte und was sie auch keinem sagen wollte. Aber da dachte sie an die Faschingsnacht in München, als ihr Vetter zwischen all dem tollen Lärm zu ihr gesagt hatte: »Kleine, wenn du einmal etwas hast, das dich drückt, und du magst es niemandem sagen, so sage es mir; wenn ich dir irgend helfen kann, so tue ich es.«

Sie hatte ihm die Hand gereicht und gesagt: »Das werde ich, Helmold!« Aber dann hatte sie lachen müssen, wie er so dasaß, vollkommen im Ballanzuge, aber mit einem Radieschen im Knopfloch, mit gebrannten, gepuderten Haaren, weißgeschminktem Gesicht und kohlschwarzem Schnurrbart und dazu die vergoldeten Ohren, das hatte zu närrisch ausgesehen, zumal seine blauen Augen so treuernst blickten.

Weil sie nun an diese Augen dachte, fing sie an: »Lieber Helmold, ich muß dir jetzt etwas sagen, weil ich deinen Rat brauche: ich liebe einen Mann.« Helmold blieb ganz ruhig und malte weiter; ihm war zumute, als habe ihm jemand ganz heimlich sein Herz weggenommen und ihm nur den Verstand gelassen. Darum fragte er, ohne daß seine Stimme anders klang als sonst: »Weiß er es?« Swaantje sah geradeaus: »Nein; das glaube ich nicht.« Ihr Vetter fragte weiter: »Ist er deiner würdig?« Sie erwiderte: »Er ist viel besser als ich.« Er brummte: »Danach liebst du ihn also; deine Behauptung bezweifle ich übrigens. Kenne ich ihn?« Sie schüttelte den Kopf. »Darf ich wissen, wer es ist?« Sie nickte: »Professor Groenewold, bei dem ich Literatur und Kunstgeschichte hatte.« Er fragte weiter: »Wie alt ist er?« und als sie sagte: »Fünfundvierzig«, brummte er, eifrig weitermalend: »Zu jung für eine Backfischliebe! Verheiratet?« Swaantje sah ihn groß an: »Dann würde ich ihn doch nicht lieben können!«

Er lächelte und dachte: »Heilige Einfalt!« Aber dann steckte er die Pinsel in das Glas, legte das Malbrett hin und sagte: »So, nun rüttele dich und schüttele dich, aber wirf nicht alle deine Blätter über mich, sondern behalte noch ein paar für dich übrig. Wir wollen einmal eine Pause machen; mich räuchert.«

Swaantje stand auf und reckte sich, und er holte sich eine Zigarre. Als er sie angezündet hatte, sah er, daß die Tür nach dem Nebenraume offen stand; Chalis Augen starrten ihn höhnisch an. Wütend warf er ihr das Streichholz in das Gesicht und wunderte sich, daß es grüne Funken gab.

»Helmold, um Himmels willen, was machst du?« rief Swaantje, »dein schönstes Bild.« Er zog die Tür zu, daß es krachte, und knurrte: »Schönes Bild? Scheußliches Bild! Chali? Schon mehr Zyankali!« Swaantje lachte und rief: »Das war aber ein echter Kalauer!« Er schüttelte den Kopf: »Das ist noch gar nichts; wenn mir ganz schlecht ist, setzt es nicht nur Kalauer, sondern sogar Kawärmer, wenn nicht Kaheißer.« Das Mädchen hielt sich die Ohren zu: »Kommt das noch schlimmer?« Dann lachten sie beide aus vollem Herzen, bis es Helmold einfiel, daß er sein Herz irgendwo habe liegen lassen müssen, denn ihm war so leer in der Brust und so schön leicht, als ob er tot wäre.

Aber er dachte doch mehr an das Mädchen als an sich und sprach: »Ja, liebe Swaantje, das ist eine sehr traurige Sache. Du liebst ihn, und er weiß es nicht. Du liebst ihn seit sieben Jahren, und er ahnt es nicht. Entweder ist er blind, oder er liebt eine andere, oder aber, denn es gibt solche Männer, so unglaublich das auch klingt«, und er lachte, als er das sagte, »er hat kein Verlangen nach dem Weibe. Hier kann dir niemand helfen, sogar ich nicht, der ich doch verdammt dem Teufel die Zähne ausziehen würde, wenn ich dir damit einen Gefallen tun könnte.«

Er ging mit großen Schritten auf und ab. »Sieh mal, Swaantje«, fuhr er dann fort, »alles, was ich von dem Manne gehört habe, spricht für ihn. Er hat den Mut gehabt, eine Schrift herauszugeben, in der er den Unwert der karolingischen Zivilisation für uns nachweist. Wir Stedinger Blutsbrüder haben ihm damals ein Horüdhotelegramm geschickt und noch eins, als ihm die hochwohllöbliche Behörde in ihrer Eselhaftigkeit den Geschichtsunterricht abknöpfte, damit er nicht mehr in der Lage sei, gegen die Verherrlichung des Schlachterkarls und seines edlen Filiusses Louis des Frömmlers anzuarbeiten. Insofern freue ich mich, daß deine Wahl gerade ihn getroffen hat, abgesehen von dem famosen farbigen Namen, den du dir ausgesucht hast. Aber, wie gesagt, es ist nichts zu machen. Hingehen und ihm sagen: ›Bitte, seien Sie so gütig und heiraten Sie mich!‹ das kannst du nicht gut, und ich kann auch nicht zu ihm gehen und ihm sagen: ›Heiraten Sie meine liebe Base, oder ich fordere Sie auf dreimaligen Kugelwechsel ohne Binden und Bandagen!‹ Denn je besser ein Mann ist, um so mehr Verlangen hat er danach, sich das Weib seines Herzens zu erobern, und er wird sofort auf der Hinterhand kehrtmachen, wenn der Fall sich umgekehrt entwickelt. Daß auch gerade dir so etwas zustoßen muß! Wenn du dich wenigstens in mich verliebt hättest! Ich hätte es schon gemerkt. Ich schlüge sofort mein Zelt in der Türkei auf und betete zu Allah. Hol’s der sogenannte Dieser und Jener!« Er warf seine Zigarre gegen den Ofen, daß es ein kleines Feuerwerk gab, und steckte sich eine Zigarette an.

Dann stellte er sich vor das angefangene Bild, auf dem Swaantjes Kopf schon deutlich vor einem Haidberge zu erkennen war, aus dessen rosiger Pracht ein Busch weißer Haide verschämt hervorschimmerte, und als spräche er zu dem Bilde, fuhr er fort: »Dein Fall ist so gut wie hoffnungslos, liebe Swaantje. Liebst du ihn wirklich so sehr?« Sie nickte. »Als Schülerin oder als Weib?« Sie wurde rot. »Nicht nur als Schülerin.« Er räusperte sich, und dann fragte er in trockenem Tone: »Entschuldige, Swaantje, und wenn es dir nicht paßt, so antworte nicht: Grete und ich glaubten bisher, du wüßtest noch nicht, daß du ein Weib bist; das kommt oft sehr spät zum bewußten Ausdrucke. Du kamst mir bisher gänzlich unsinnlich nach dieser Richtung hin vor. Für kalt von Natur hielt ich dich nicht, aber für unaufgewacht. Du weißt, ich spreche als Freund und Bruder, und darum darfst du mir diese Frage nicht übelnehmen: Wie steht es damit?« Das Mädchen sah ihn mit klaren Augen an. »Weißt du, Helmold, nach dem, was ich in den Büchern las und von anderen jungen Mädchen hörte, glaubte ich, daß ich anders bin als die anderen Menschen. Nur ein einziges Mal merkte ich, daß ich doch so bin. Das war«, sie wurde blaß und stockte, fuhr aber dann fort: »Doch das ist ja Nebensache!« Helmold runzelte die Stirn: »Leidest du sehr unter deiner Neigung?« Sie nickte: »Sehr; ich glaube, ich gehe daran zugrunde.«

Ihr Vetter sah sie böse an: »Möglich, das heißt, wenn du dieses zwecklose, unbefriedigte Leben weiterführst. Sieh mal, ich kenne dich ziemlich gut. Ich habe früher schon Grete aufgehetzt, sie solle Muhme Gesina so lange zwiebeln, bis sie dich aus dem Käfig läßt. Grete hat das auch getan; den Erfolg kennst du: es stellte sich glücklich der so bequeme Herzkrampf ein, und dann sprach die gute Swaantien: ›Nein, liebstes Tantchen, ich verlasse dich nicht!‹ Deine Muhme in Ehren; wäre sie nicht gewesen, so könntest du vielleicht als Gouvernante oder Gesellschafterin dich piesacken lassen, das weiß ich. Aber vielleicht wäre das besser gewesen; denn was hast du von deinem vielen Gelde? Du willst deinen Geist betätigen, möchtest schaffen; statt dessen mottet Muhme Gese deinen Geist ein und zwingt dich, zu murksen. Lauter dumme Arbeiten sind es, zu denen sie dich antriezt, und da keine davon dein Denken ausfüllt, zerfetzt dich diese hoffnungslose Neigung völlig. Daß deine Nervenschmerzen, die dich seit einigen Jahren quälen, einen anderen Grund haben, als weil du dir einmal beim Schlittschuhlaufen nasse Beine geholt hast, das ist mir und Grete schon lange klar.«

Er setzte sich in den Vierländer Bauernstuhl, nahm die Laute und begann die Weise zu klimpern, die er vorhin gesungen hatte. »Sieben Jahre mein Herz nach dir schrie«, flüsterte es in ihm und dann: »Mensch, weißt du es denn nicht, daß du sie liebst! daß du sie zum Verrücktwerden liebst! von dem Tage an liebst, als du sie zum ersten Male sahst, als sie ein Backfisch und du ein glücklicher Bräutigam warst?« Sein Herz zuckte zusammen; das war wahr, war wirklich wahr. Er mochte nicht auf sehen und steckte sich aus Verlegenheit eine neue Zigarette an, denn wenn er jetzt, in diesem Augenblicke, das Mädchen ansah, dann, das fühlte er, lag er vor ihr, küßte ihre Hände und bettelte um einen Kuß von den Lippen, die nach einem anderen Manne seufzten.

Er griff in die Saiten und spielte das frechste von allen Liedern, die er kannte, und summte dabei halblaut die ersten beiden Verszeilen: »Auf der Lüneburger Haide ging ich auf und ging ich unter«, und dann setzte er das Singen durch Flöten fort. Als er in den Spiegel blickte, erkannte er, daß er tiefe Schatten unter den Augen hatte. »Swaantje«, rief er und legte die Laute fort: »hier gibt es nur ein Mittel: eine Tätigkeit für dich, die dir Freude macht. Dieser Kram da zu Hause, wo du nur die Rolle eines unmaßgeblichen Haushaltsreferendars spielst und nie eine freie Stunde für dich hast, das ist Gift für dich. Raus mußt du, auf einen verantwortungsreichen Posten, der dich müde, aber nicht matt macht und auf dem du die Hauptperson bist und nicht bloß ein Tantenschwanz, der alles machen muß, aber nichts zu sagen hat. Entweder du verabschiedest die Tante, aber dann würde sie sich natürlich sofort einen ihr gut stehenden Sarg anmessen lassen, oder du kündigst ihr und ziehst mit lautem Hörnerklang in die Hinausferne, siehst dir die Welt einmal ohne die Tante an und siehst zu, daß du eine Arbeit findest, als Krankenschwester, als Redakteurin, meinetwegen auch als sozialdemokrätzige Agittattersche der Frauenbewegungspropagandame. Aber zu Hause sitzen, Strümpfe für Niggerblagen stricken, Missionspredigten anhören, Traktätchen verteilen und sonst die Einmacherei überwachen und die Eierproduktion des Federviehs statistisch aufnehmen, und den ganzen Tag die Tante auf den Hacken haben mit ihrer kamigen Liebe, dafür halte ich mir keine so hübsche Kusine!«

Da lachte Swaantje wieder, stand auf und schüttelte die Falten aus ihrem Rocke, und wie ein Blitz schlug in Helmold eine Erinnerung ein. Er war vor Jahren einmal mit ihr Rad gefahren, und zwar an einem Tage, an dem seine Lippen abscheulich heißhungrig waren, denn er war seit drei Wochen Strohwitwer und sah, ohne sich viel dabei zu denken, allem nach, was Röcke trug und jung und hübsch war. Als er so mit Swaantje dahin radelte und ihr allerlei dumme Witze zuwarf, paßte sie nicht auf, fuhr gegen einen Stein und kippte um. Er sprang sofort ab, aber ehe er bei ihr war, stand sie schon wieder auf den Füßen, lachte, faßte ihren Rock und schüttelte ihn in der Aufregung so gehörig, daß er in die Höhe flog und er ihre Hosen bis oben hin sah. Nun konnte er alles vertragen, bloß keine weißen Mädchenhosen; aber das einzige Gefühl, das er damals gehabt hatte, war: »Wenn sie es bloß nicht gemerkt hat, daß ich es gesehen habe!«

Jetzt, wo sie mit derselben Bewegung, wie an jenem Maienmorgen, ihre Röcke schüttelte, brannte ihn eine nesselnde Vorstellung. Ihm, das wußte er, konnte sie nie gehören, und er wünschte ihr alles Gute, und dazu gehört für ein Weib ein Mann; aber der Gedanke, daß ein Mann einmal so vertraut mit ihr stehen würde, daß er sie in den verschwiegensten Hüllen sehen durfte, diese Vorstellung flog ihm wie Schwefeldampf in den Hals und klemmte ihm die Lunge zusammen. Aber sobald er das Mädchen wieder ansah, wurde ihm leichter zumute, und während er sie in das Wohnhaus geleitete, fielen ihm schon wieder ein paar Schnurren ein, und lachend kam er mit ihr in das Wohnzimmer.

Sie gingen alle früh zu Bett, und er schlief auch bald ein; aber am anderen Morgen sah er so wenig frisch aus, denn er hatte fast die ganze Nacht die quersten Sachen geträumt, daß seine Frau ihn fragte, ob er nicht wohl wäre.

Da erzählte er ihr von Swaantjes tauber Liebe zu Professor Groenewold, und Grete, die den Mann kannte, meinte ernst: »Das ist eine ganz dumme Geschichte; nun wollen wir doppelt so lieb zu ihr sein und sie möglichst lange hierbehalten.« Sie wunderte sich weiter nicht, daß ihr Mann nicht mehr sang und pfiff, wenn er malte, und nicht mehr so frisch und fröhlich aussah, außer wenn das Mädchen zugegen war, und dann dachte sie: »Er nimmt sich ihr Schicksal sehr zu Herzen.« Deshalb schickte sie die beiden möglichst oft allein aus und freute sich, wenn sie mit blanken Augen und roten Backen zurückkamen, und sie machte sich weiter keine Sorgen darüber, daß Helmold, wenn er im Garten bei den Blumen beschäftigt war, meist einen trüben Zug um den Mund hatte.