Das zweite Leben des Nick Mason - Steve Hamilton - E-Book

Das zweite Leben des Nick Mason E-Book

Steve Hamilton

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Beschreibung

Ein packender Gangsterthriller des vielfach ausgezeichneten US-Thrillerautors, der fesselnde Auftakt zur Serie mit Nick Mason, dem "Hitman wider Willen" - für Fans von Lee Child, Harlan Coben und Dennis Lehane Nick Mason war immer ein sauberer Gangster - soweit das in seinem Gewerbe möglich ist. Bis einer seiner Kumpels einen verdeckten Ermittler erschoss. Nick hielt sich an den Ehrenkodex, verriet seinen Komplizen nicht und ging in den Bau. Totschlag, Mindeststrafe: 25 Jahre. Im Gefängnis wird Darius Cole, der Pate von Chicago, auf ihn aufmerksam und macht ihm ein verlockendes Angebot: Nick soll Coles Mann für besondere Aufgaben werden, sein Ausputzer - und dafür wird er ihn raushauen. Und so ist Nick nach fünf Jahren wieder draußen. Eigentlich könnte er jetzt sein Leben in Freiheit genießen. Wenn da nicht dieses Handy wäre, das man ihm bei der Rückkehr nach Chicago überreicht hat. Wann wird es das erste Mal klingeln? "Umwerfend. Ein packender Nonstop-Thriller, fesselnd von der ersten Seite an." Don Winslow

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Seitenzahl: 388

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Steve Hamilton

Das zweite Leben des Nick Mason

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Diemerling

Knaur e-books

Über dieses Buch

Nick Mason war immer ein sauberer Gangster – soweit man das sein kann in seiner Profession. Bis zu einem verhängnisvollen Coup, bei dem einer seiner Kumpels einen verdeckten Ermittler erschoss. Doch Nick hielt sich an den Ehrenkodex, verriet seinen Komplizen nicht und ging in den Bau. Totschlag, Mindeststrafe: 25 Jahre.

Im Gefängnis wird Darius Cole, der Pate von Chicago, ein bulliger Schwarzer, auf Nick aufmerksam. Selbst aus dem Knast heraus kontrolliert Cole so gut wie jedes illegale Geschäft in der Windy City. Mindestens noch zwanzig Jahre Haft ohne jede Aussicht auf vorzeitige Entlassung – oder ein Angebot annehmen, das man eigentlich nicht ablehnen kann. Nick hat keine Wahl: Er willigt ein, in Chicago Coles Mann für besondere Aufgaben zu werden, sein Ausputzer, sein Hitman. Und so ist Nick nach fünf Jahren wieder raus, ganz offiziell, ein bedauerlicher Justizirrtum. Er könnte mit weißer Weste ein neues Leben beginnen. Wenn da nicht dieses Handy wäre, das man ihm bei der Rückkehr nach Chicago überreicht hat. Wann wird es das erste Mal klingeln?

Inhaltsübersicht

WidmungMotto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. KapitelEpilogDanksagungLeseprobe »Drei Zeugen zu viel«
[home]

Für Shane,der ein besseres Leben sah,als ich es noch nicht konnte.

[home]

Denn kein Mensch kann für längere Zeit sich selbst

das eine und der Menge ein anderes Gesicht zeigen, ohne am Ende in Verwirrung zu geraten,

welches das echte ist.

 

Nathaniel Hawthorne,Der scharlachrote Buchstabe

 

 

 

Everybody’s got a secret, Sonny,

Yeah, something that they just can’t face,

Some folks spend their whole lives trying to keep it,

They carry it with them every step that they take.

 

Bruce Springsteen,Darkness on the Edge of Town

[home]

1

Nick Mason blieb kaum eine Minute in Freiheit.

Damals merkte er nichts davon, aber später dachte er oft an diesen Tag zurück und an seine ersten freien Schritte durch das Tor nach fünf Jahren und achtundzwanzig Tagen im Knast. Niemand bewachte ihn, niemand beobachtete ihn, niemand sagte ihm, was er zu tun hatte und wann. Er hätte in diesem Moment überallhin gehen können. Irgendeine Richtung einschlagen und los. Doch der schwarze Escalade wartete schon auf ihn, und sobald er die dreißig Schritte darauf zugemacht und die Beifahrertür geöffnet hatte, war es mit seiner Freiheit auch schon wieder vorbei.

Mason hatte im Prinzip einen Vertrag geschlossen. Dabei weiß man normalerweise, was von einem erwartet wird. Man liest die Bedingungen, ist sich über den Inhalt im Klaren, weiß, was auf einen zukommt. Mason aber hatte nichts zu lesen bekommen, weil sein Vertrag nicht auf Papier stand. Statt irgendetwas zu unterzeichnen, hatte er nur sein Wort gegeben, und das ohne eine Ahnung, wie es weitergehen würde.

Es war bereits früher Abend, der größte Teil des Tages mit Formalitäten und Umziehen draufgegangen. Das tägliche Entlassungsritual im Bundesgefängnis Terre Haute. Ein typischer Gefängnisvorgang, erst beeilen, dann rumstehen, während die Schließer sich endlos Zeit ließen. Er war in Begleitung zweier Mithäftlinge gewesen, die es beide kaum erwarten konnten rauszukommen. Den einen hatte er noch nie gesehen. Nicht ungewöhnlich in einem Gefängnis mit so vielen separaten Abteilungen. Der andere kam ihm bekannt vor. Einer aus seinem ursprünglichen Block, bevor er verlegt worden war.

»Du kommst heute raus!«, hatte der Mann überrascht gerufen. Man redete mit den meisten nicht über die Länge der Haftstrafe, machte aber auch kein großes Geheimnis draus. Der andere hatte ihn offensichtlich für einen Langzeitinsassen gehalten. Oder etwas dergleichen über ihn gehört. Mason kümmerte das nicht. Er hatte nur wortlos die Achseln gezuckt und sich wieder seinen Entlassungspapieren zugewandt.

Als er damit fertig war, schob der Beamte ein Plastiktablett mit den Kleidern, die er am Tag seiner Einweisung getragen hatte, über die Theke. Das schien ein ganzes Leben lang her zu sein. Er war in demselben Raum hier angekommen und hatte sich ausziehen und die Kleider auf das Tablett legen müssen. Die schwarze Jeans und das weiße Oberhemd. Jetzt kam es ihm seltsam vor, seine khakifarbene Kluft abzulegen, als wäre die Farbe ein Teil von ihm geworden. Aber die alten Sachen passten noch.

Die drei Männer gingen zusammen hinaus. Die Betonwände, die Stahltüren, die zwei Reihen Maschendrahtzaun mit Stacheldraht obendrauf – all das ließen sie hinter sich, als sie hinaus in den heißen Vorhof traten und darauf warteten, dass das Tor sich schnarrend öffnete. Zwei Familien standen davor. Zwei Frauen, fünf Kinder, und alle wirkten, als würden sie schon seit Stunden dort ausharren. Die Kinder hielten selbstgemalte Schilder mit bunten Buchstaben in den Händen, mit denen sie ihre Väter willkommen hießen.

Auf Nick Mason wartete keine Familie. Keine Schilder für ihn.

Er blinzelte einen Augenblick in die Helligkeit und spürte die heiße Sonne Indianas im Nacken. Er war glatt rasiert und hellhäutig, etwa eins fünfundachtzig groß und muskulös, aber sehnig-schlank wie ein Mittelgewichtler. Über seiner rechten Augenbraue verlief eine alte Narbe.

Dann erblickte er den schwarzen Escalade, der mit laufendem Motor gegenüber dem Tor stand. Da das Fahrzeug sich nicht in Bewegung setzte, ging er darauf zu.

Die Scheiben waren dunkel getönt, so dass er nicht erkennen konnte, wer darin saß, bevor er die Beifahrertür öffnete. Der Fahrer war ein Latino, dessen Augen von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt wurden. Einen Arm lässig über das Lenkrad gelegt, den anderen unten auf der Gangschaltung. Er trug ein einfaches weißes T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln, Jeans und Arbeitsstiefel, eine dünne Goldkette um den Hals. Seine dunklen Haare waren zurückgekämmt und mit einem schwarzen Band zusammengehalten, und als Masons Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse angepasst hatten, sah er die grauen Strähnen darin und die Falten im Gesicht des Mannes. Er war mindestens zehn Jahre älter als er, aber kompakt und muskulös. Beide Arme waren bis zu den Fingern hinunter tätowiert, und er hatte drei Ringe im rechten Ohr. Das andere Ohr konnte Mason nicht sehen, da der Mann sich nicht zu ihm umdrehte.

»Mason«, sagte er. Eine Feststellung, keine Frage.

»Ja«, sagte Mason.

»Steig ein.«

Kaum fünf Minuten draußen, sagte sich Mason, und schon bin ich dabei, gegen meine Regeln zu verstoßen. Regel Nummer eins: Nie mit Fremden zusammenarbeiten. Fremde bringen dich in den Knast oder unter die Erde. Ein Fremder hatte bereits für Ersteres gesorgt, er war nicht scharf auf Letzteres.

Doch ihm blieb keine andere Wahl, also stieg er ein und schloss die Tür. Der Mann hatte sich immer noch nicht zu ihm umgedreht. Er legte den Gang ein und fuhr schnittig vom Gefängnisparkplatz herunter.

Mason sah sich in dem Wagen um. Der Innenraum war sauber. Die Ledersitze, der Teppichboden, die Fenster. Das musste er dem Typ lassen, die Karre sah aus wie frisch aus dem Autosalon.

Er musterte die Tattoos genauer. Keine Gefängnistinte hier, keine Spinnennetze, keine zeigerlosen Uhren. Der Kerl hatte eine Menge Zeit und Geld auf dem Stuhl eines Profis gelassen, auch wenn die Farben hier und da etwas verblasst waren. Ein aztekisches Gittermuster zog sich über den gesamten rechten Arm, eingewoben darin eine Schlange, ein Jaguar, ein Grabstein und irgendetwas auf Spanisch, das Gott weiß was hieß. Unmissverständlich dagegen waren die drei Buchstaben in Grün, Weiß und Rot auf der Schulter: LRZ. La Raza. Die mexikanische Gang, die den Westen Chicagos beherrschte.

Noch eine Regel verletzt, dachte Nick. Regel Nummer neun: Nie mit Gang-Mitgliedern zusammenarbeiten. Sie haben einen Treue-Blutschwur geleistet. Aber nicht dir.

Eine Stunde verging schweigend. Der Fahrer hatte ihn nicht mal eines Seitenblicks gewürdigt. Mason fragte sich müßig, was wohl passieren würde, wenn er das Radio anmachte. Oder gar etwas sagte. Irgendetwas veranlasste ihn dazu, stumm zu bleiben. Regel Nummer drei: Im Zweifelsfall den Mund halten.

Nachdem sie auf der US-41 eine Ausfahrt nach der anderen passiert hatten, fuhren sie endlich ab. Mason schoss die Frage durch den Kopf, ob das Ganze am Ende eine Falle war. Ein unvermeidlicher Knastreflex, jederzeit mit dem Schlimmsten zu rechnen. Zwei Autostunden vom Gefängnis entfernt, irgendwo mitten im westlichen Indiana, wäre es für den Fahrer ein Leichtes, an einer kaum frequentierten Ausfahrt abzubiegen, ein paar Meilen in das öde Farmland hineinzufahren und seinem Beifahrer eine Kugel in den Kopf zu jagen. Seine Leiche anschließend im Straßengraben zu entsorgen. Unwahrscheinlich, dass man sich die Mühe machen würde, wenn das doch an jedem beliebigen Tag im Gefängnishof hätte erledigt werden können, aber Mason merkte trotzdem, wie er sich kampfbereit anspannte, als der Escalade langsamer wurde.

Der Fahrer hielt an einer Tankstelle. Stieg aus und tankte. Mason blieb sitzen und blickte zu dem Minimarkt hinüber. Eine junge Frau kam durch die automatische Glastür, vielleicht zwanzig Jahre alt. Shorts und ein Spaghettiträger-Top, Flipflops an den Füßen. Seit fünf Jahren hatte er keine so leicht bekleidete Frau mehr gesehen, jedenfalls nicht aus Fleisch und Blut.

Der Latino kam zurück und ließ den Motor an. Er fuhr zurück auf den Highway, in nördliche Richtung, beschleunigte, bis der Tacho siebzig Meilen pro Stunde anzeigte. Dunkle Wolken ballten sich am Himmel zusammen, und als sie die Grenze nach Illinois erreichten, fing es an zu regnen. Der Fahrer stellte die Scheibenwischer an. Der Verkehr wurde dichter, und die Lichter der entgegenkommenden Fahrzeuge spiegelten sich auf der regenglänzenden Straße.

Die Skyline verschwand oben in den Wolken, aber Mason hätte diese Stadt jederzeit wiedererkannt, egal wie dunkel der Himmel war oder wie tief die Wolken über ihren Straßen hingen.

Er war fast zu Hause.

Zuvor aber noch die lange Fahrt über den Calumet River, die Kräne und Klappbrücken und Hochspannungsleitungen. Der Hafen lag dort unten. Der Hafen und jene Nacht, die sein Leben verändert hatte. Die ihn nach Terre Haute und zu einem Mann namens Cole geführt hatte. Und nun wieder zurück, sehr viel früher als erwartet.

Er zählte die Straßen ab. Eighty-seventh Street. Seventy-first. Jetzt waren sie auf der South Side. Es regnete und regnete. Der Fahrer fuhr und fuhr. Garfield Avenue. Fifty-first Street. Wenn man einen Streit anfangen wollte, brauchte man nur in eine der Kneipen hier in der Gegend zu gehen und die Stammgäste zu fragen, ob Canaryville an der Fifty-first oder der Forty-ninth begann. Man konnte zusehen, wie ein Wort das andere gab. Dann, wenn es spät genug war, wie die Fäuste flogen.

Sie kamen an dem großen Rangierbahnhof vorbei, Tausende von Güterwaggons, die auf eine Lok warteten. Den Hochbahngleisen, die sein altes Viertel nach Osten hin begrenzten. Mason atmete tief durch, als sie die Forty-third Street passierten. Erinnerungen an sein altes Leben überfluteten ihn beinahe wahllos, sowohl gute als auch schlechte – wie Eddies Dad sie zum alten Comiskey-Park-Baseballstadion mitgenommen hatte, das erste Auto, das er je geknackt hatte, das einzige Mal, als er Michael Jordan hatte spielen sehen. Seine erste Nacht im Knast, die Party, auf der er ein Mädchen aus Canaryville namens Gina Sullivan kennengelernt hatte, der Tag, an dem er ihr gemeinsames Haus gekauft hatte, das einzige echte Zuhause, das er je gehabt hatte … Das alles war hier, das alles war mit Chicago verbunden. Die Straßen und Gassen dieser Stadt zogen sich durch ihn hindurch wie die Adern seines Körpers.

Das Flutlicht brannte im neuen Sox-Stadion, aber es regnete immer noch zu stark für ein Spiel. Der Escalade fuhr bis ganz nach Downtown hinein, überquerte den Chicago River. Der Sears Tower, der immer der Sears Tower bleiben würde, da konnten sie noch so sehr versuchen, ihn umzubenennen, dominierte die Skyline und reckte sich durch ein plötzliches Wolkenloch in den Himmel, seine beiden Antennen wie Teufelshörner.

Endlich fuhren sie vom Highway ab und durchquerten die North Side auf der North Avenue, bis Mason das Ufer des Lake Michigan sehen konnte. Die weite Wasserfläche mit ihren Blau- und Grautönen erstreckte sich bis zum Horizont, wo sie mit den Regenwolken verschmolz. Als sie in die Clark Street einbogen, hätte Mason beinahe etwas gesagt. Wozu fährst du mich bis hier rauf in die North Side, Kumpel? Zu einem Spiel der Cubs vielleicht? Ohne mich.

Mason hasste die Chicago Cubs. Er hasste alles an der North Side. Alles, wofür sie stand. Schon als Jugendlicher hatte sie für ihn immer nur das verkörpert, was er nicht hatte und nie haben würde.

Der Fahrer bog ein letztes Mal ab, in die letzte Straße, die Mason an diesem Tag zu sehen erwartet hätte: Lincoln Park West. Vier Blocks Luxus-Apartmentgebäude mit Blick auf den Park, das Gewächshaus und den See dahinter. Ein paar einzelne Stadthäuser standen zwischen den Gebäuden, auch die immer noch hoch genug, um auf die Straße unten und die Passanten herabzusehen. Der Fahrer bremste ab und hielt direkt vor einem dieser Stadthäuser. Es lag am Ende eines Blocks, zwei Stockwerke hoch über der massiven Haustür und den Garagen, die Fenster der oberen Etagen alle mit schmiedeeisernen Gitterranken versehen. An der Seite gab es einen einstöckigen Anbau mit einem Balkon darauf, von dem man bestimmt eine schöne Aussicht auf den Park und den See hatte. Fünf Millionen wert das Ganze? Teufel, wahrscheinlich mehr.

Endlich brach der Fahrer sein Schweigen. »Ich heiße Quintero.« Der Name klang aus seinem Mund, als stiege er vom Boden einer Tequilaflasche auf. Kintähro.

»Du arbeitest für Cole?«

»Hör gut zu«, sagte Quintero. »Denn alles, was ich dir jetzt sage, ist wichtig.«

Mason sah ihn an.

»Wenn du was brauchst«, fuhr Quintero fort, »rufst du mich an. Wenn du in der Klemme steckst, rufst du mich an. Komm nicht auf irgendwelche Ideen. Versuch nicht, irgendwas selbst geradezubiegen. Du rufst mich an. So weit klar?«

Mason nickte.

»Abgesehen davon ist es mir scheißegal, was du mit deiner Zeit anfängst. Du hast fünf Jahre lang gesessen, also geh einen trinken, lass dich flachlegen, ist mir schnurz. Denk nur daran, dass du dir keinen Ärger einhandeln darfst. Wenn du wegen irgendwas einkassiert wirst, hast du gleich zwei Probleme. Die Sache, wegen der du einkassiert wurdest, und … mich.«

Mason blickte zum Seitenfenster hinaus.

»Warum halten wir hier?«

»Du wohnst jetzt hier.«

»Leute wie ich wohnen nicht in Lincoln Park«, sagte Mason.

»Ich gebe dir jetzt ein Handy. Du gehst ran, wenn ich dich anrufe, egal, wann das ist. Tag oder Nacht. ›Zu beschäftigt‹ gibt es nicht, ›nicht erreichbar‹ gibt es nicht. Es gibt nur ›rangehen‹. Um dann genau das zu tun, was ich dir sage.«

Mason saß da und verarbeitete das.

»Das Handy ist hier drin«, sagte Quintero, griff hinter den Sitz und zog einen großen Umschlag hervor. »Zusammen mit den Hausschlüsseln und dem Sicherheitscode.«

Mason nahm den Umschlag. Er war schwerer als erwartet.

»Zehntausend Dollar in bar plus der Schlüssel zu einem Schließfach in der First Chicago an der Western Avenue. Du bekommst jeden Monatsersten weitere Zehntausend.«

Mason starrte ihn an.

»Das war’s«, sagte Quintero. »Lass dein Handy an.«

Mason machte die Beifahrertür auf. Bevor er aussteigen konnte, packte Quintero ihn am Arm. Mason spannte sämtliche Muskeln an, noch so ein Gefängnisreflex. Jemand packt dich, und deine unmittelbare Reaktion ist, zu entscheiden, welchen Finger du ihm zuerst brichst.

»Eins noch«, sagte Quintero, ihn festhaltend. »Das ist nicht die Freiheit. Das ist nur Bewegungsfreiheit. Verwechsel beides nicht.«

Damit ließ er ihn los. Mason stieg aus und warf die Tür zu. Es hatte aufgehört zu regnen. Er stand auf dem Bürgersteig und sah Quinteros Wagen nach, der davonfuhr und in der Nacht verschwand. Dann griff er in den Umschlag und holte den Schlüssel heraus, schloss die Haustür auf und ging hinein.

Die Diele hatte eine hohe Decke, und die Hängelampe über seinem Kopf war ein modernes Kunstwerk aus tausend Glassplittern. Der Fußboden bestand aus großen, in einem diagonalen Rautenmuster verlegten Fliesen, die Treppe aus poliertem Kirschholz. Er sah sich einen Moment um, bis er ein Piepen hörte und die Bedienplatte der Alarmanlage an der Wand entdeckte. Rasch nahm er den Code aus dem Umschlag und tippte ihn über die Tastatur ein. Das Piepen hörte auf.

Die Tür rechts von ihm führte in eine Doppelgarage. In der einen Bucht sah er einen schwarzen Mustang. Er wusste genau, was das für einer war. Ein 1968er 390 GT Fastback, eine pechschwarze Version des Modells, das Steve McQueen in Bullitt fährt. So einen Wagen hatte er nie gestohlen, denn man stiehlt kein Meisterwerk und bringt es dann zum Ausschlachter. Man stiehlt es auch nicht, um es selbst zu fahren, auch wenn es einen noch so sehr juckt. So lassen sich Amateure schnappen.

Der andere Garagenplatz war leer, aber er sah schwache Reifenspuren. Dort gehörte ein zweites Fahrzeug hin.

Mason öffnete eine andere Tür und blickte in einen voll ausgestatteten Fitnessraum. Eine Reihe von paarweise angeordneten Hanteln, die von so gut wie nichts bis hin zu den großen Zweiundzwanzig-Kilo-Dingern am Ende reichten. Eine Bank mit einem Hantelgestell, ein Laufband, ein Crosstrainer. Hoch oben in einer Ecke hing ein Fernseher, ein Sandsack in einer anderen. Die rückwärtige Wand war ganz mit einem Spiegel verkleidet. Mason sah sich selbst aus acht Meter Entfernung. Cole hatte mal zu ihm gesagt, dass er es mit seinem Gesicht weit bringen könne, aber er hätte nie gedacht, dass er in einem Stadthaus am Lincoln Park landen würde.

Er stieg eine lange Treppe nach oben, wo sich offensichtlich die Hauptetage befand. Die schicke moderne Küche hatte Arbeitsflächen aus glänzendem Granit und eine Kochinsel mit einem Viking-Herd und einer Restaurant-Dunstabzugshaube darüber. Vom Frühstückstresen aus blickte man in einen saalartigen offenen Wohnbereich, beherrscht von dem größten Fernsehbildschirm, den Mason je gesehen hatte. Er schätzte, dass er mehr Quadratmeter hatte als die Zelle, in der er am Morgen aufgewacht war. Davor gab es eine hufeisenförmig angeordnete Sitzlandschaft aus schwarzem Leder mit einem breiten Couchtisch aus Eiche in der Mitte. Ein Dutzend Leute würde mit Leichtigkeit dort Platz finden. Die stille Leere des Raums wirkte beinahe sündhaft.

In dem eleganten Esszimmer stand ein Tisch, der lang genug für das Dutzend Gäste vor dem Fernseher nebenan war. Er ging weiter in den nächsten Raum, der sich als Billardzimmer herausstellte. Ein richtiger Billardtisch mit rotem Filzbelag und Netzen unter jedem Loch, zwei Tiffany-Lampen darüber, dunkle Holztäfelung an den Wänden. Am anderen Ende war ein Bereich für Darts eingerichtet, und in einer weiteren Ecke stand ein Paar dick gepolsterte Ledersessel mit einem ein Meter hohen Humidor dazwischen. Als er durch die Glasscheibe auf die Zigarrenauswahl darin blickte, dachte Mason daran, dass eine einzige Zigarette in Terre Haute manchmal für zehn Dollar wegging. Für eine Stange wurde schon mal jemand umgebracht.

Mason stieg die Treppe zum obersten Stock hinauf. Dort gab es mehrere Schlafzimmer zu beiden Seiten eines langen Flurs. Als er am Knauf der letzten Tür drehte, musste er feststellen, dass sie abgeschlossen war.

Mason ging wieder hinunter und entdeckte noch eine Tür auf der anderen Seite der Küche. Er öffnete sie und sah ein weiteres Schlafzimmer mit eigenem Bad. Auf einem Eisenbettgestell mit schwarzer Bettwäsche lagen mehrere Einkaufstüten. Er warf einen Blick hinein: Hosen, Hemden, Schuhe, Socken, Unterwäsche. Gürtel, Brieftasche, alles, was ein Mann brauchte. Die meisten Tüten waren von Nordstrom und Armani. Eine von Balani, dem Designerladen an der Monroe Street. Er prüfte die Etiketten – alles in seiner Größe.

Kann mir nicht vorstellen, dass das mein neuer Freund Quintero war, dachte er.

Er ging zurück in die Küche und machte den Kühlschrank auf. Nach fünf Jahren Gefängnisfraß starrte er lange auf den Lachs, den gekochten Hummer, die abgehangenen Steaks. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Dann sah er die Bierflaschen im untersten Fach. Er ging die Auswahl durch, die meisten stammten von Kleinbrauereien, von denen er noch nie was gehört hatte. Endlich fand er eine Flasche Goose Island.

Er machte sie auf und trank einen langen Zug. Fühlte sich an Sommernächte auf seiner Veranda erinnert, wenn er sich zusammen mit Eddie und Finn die Übertragung eines Baseballspiels angehört hatte. Oder seiner Frau zugehört und seiner Tochter dabei zugesehen hatte, wie sie versuchte, Glühwürmchen zu fangen.

Er stieß auf eine Fertigmahlzeit aus Rinderfilet mit Shiitakesoße und Engelshaarpasta. Nachdem er mehrere Schubladen aufgezogen und das Besteck gefunden hatte, schnappte er sich eine Gabel und aß das Ganze kalt und im Stehen. Er fragte sich, was die Jungs in Terre Haute heute wohl zum Abendessen bekamen.

Mittwoch, überlegte er. Meistens Hamburger-Abend. Was immer sie dort Hamburger nannten.

Als er mit Essen fertig war, ging er zu der schwarzen Couchgarnitur hinüber, griff sich die Fernbedienung und machte den Fernseher an. Zurückgelehnt, die Füße auf dem Tisch, nahm er noch einen langen Zug von seinem Bier, schaltete das durch den Regen verzögerte Spiel der White Sox ein und sah sich das letzte Inning an. Die Sox gewannen. Danach zappte er noch eine Weile durch die Kanäle, einfach nur so, aus Spaß. Versuch das mal im Gemeinschaftsraum im Knast, dann ist sofort die Hölle los. Er machte den Fernseher wieder aus.

Er nahm sich noch ein Goose Island aus dem Kühlschrank und trat durch die breite Glasschiebetür hinter dem Küchenbereich nach draußen. Man war immer noch hoch über der Straße hier, und es gab einen Swimmingpool, der in den großen Betonblock des Anbaus eingelassen war, das Wasser von Blaustein umgeben und mit Unterwasserstrahlern beleuchtet, so dass es in der Dunkelheit aquamarinfarben schimmerte. Ein Tisch, Stühle, ein Grill und eine Poolbar standen für eine Party im Freien bereit.

Mason ging zum Terrassengeländer hinüber und blickte hinaus auf den Park und den sich bis zum Horizont erstreckenden Lake Michigan. Er konnte die Lichter mehrerer Schiffe draußen auf dem Wasser sehen. Er hörte das ferne Basswummern von einem unten auf der Straße vorbeifahrenden Auto. Eine herrliche Sommernacht in der Stadt, perfekt zum Ausgehen, wohin auch immer.

Ein kühles Lüftchen wehte vom See heran, und er fröstelte leicht. Vor sechzehn Stunden war er in einer Zelle eines Hochsicherheitsgefängnisses aufgewacht. Jetzt stand er in einem Haus am Lincoln Park und trank ein Goose Island mit Blick auf den See.

Als er sich umwandte, fiel sein Blick auf eine Überwachungskamera oben, deren kleines rotes Kontrolllämpchen blinkte. Gleiche Kameras hingen an den drei anderen Eckpfeilern der Überdachung. Irgendwo beobachtete ihn jemand.

Das war jetzt also sein Leben. Es kam ihm vor, als würde er die ganze Zeit mit angehaltenem Atem darauf warten, die Rechnung präsentiert zu bekommen. Wie lange noch, bis er erfuhr, was ihn das alles kostete?

Wie lange noch, bis dieses Handy klingelte?

Irgendwann ging er in sein Schlafzimmer und legte sich ins Bett, wo er noch lange an die Decke starrte. Er war müde, aber sein Unterbewusstsein wartete auf das »Licht aus« des Wärters. Wartete auf das metallische Klicken der automatisch schließenden Zellentür und das Hornsignal danach, dieses einsame, ferne Tuten, das ihn jeden Abend während der vergangenen fünf Jahre ins Bett geschickt hatte.

Er lag wach und wartete.

Es kam kein Signal.

[home]

2

Nick Mason hörte den Namen Darius Cole zum ersten Mal, als er bereits vier seiner fünfundzwanzig Jahre bis lebenslänglich in Terre Haute abgesessen hatte.

Terre Haute war eine Hochsicherheitseinrichtung, streng unterteilt in sechs verschiedene Zellenblocks, ein Labyrinth aus aufeinanderfolgenden Trakten mit sich endlos hinziehenden grauen Wänden. Das ganze Gelände war von einem hohen Zaun und Stacheldraht umgeben. Dahinter kam ein Niemandsland. Dann noch ein Zaun mit noch mehr Stacheldraht obendrauf. Ein Wachturm an jeder der vier Ecken.

Das Gefängnis beherbergte fünfzehnhundert Insassen, darunter einige der berüchtigtsten Verbrecher des Landes. Serienmörder, islamistische Terroristen. Einen Mann, der vier Kinder vergewaltigt und ermordet hatte. Alle waren sie hierhergeschickt worden, und die in einem bestimmten Block waren zum Sterben vorgesehen, so wie Timothy McVeigh, auf einen Tisch geschnallt und mit Kaliumchlorid totgespritzt, denn Terre Haute war inzwischen für sämtliche von den Bundesgerichten angeordneten Hinrichtungen zuständig.

Die Wärter sagten einem, wann man aufzuwachen und wann man einzuschlafen hatte. Sie sagten einem, wann man seine Zelle verlassen durfte oder wann man sich innerhalb von dreißig Sekunden darin einzufinden hatte. Sie konnten einen jederzeit filzen. Sie konnten deine Zelle durchsuchen, dein Bett umkippen und all deine Besitztümer durchwühlen, während du mit dem Gesicht zur Wand im Gang standst.

So hatte Nick Masons Leben ausgesehen.

Er war draußen an dem Tag, als er Darius Cole zum ersten Mal begegnete, saß auf einem der Picknicktische und sah den Latinos beim Baseball zu. Es war einer von diesen vollkommenen Sommertagen, die einen wirklich fertigmachen konnten, wenn man es zuließ. Mason hatte stets nach seinen eigenen, gut durchdachten Regeln gelebt und sie im Laufe der Jahre immer wieder verfeinert, damit sie jede Situation abdeckten und er am Leben blieb und nicht ins Gefängnis wanderte. Seit er hier war, hatten sich diese Regeln jedoch auf das Wesentliche reduziert. Es ging jetzt ums reine Überleben, darum, einen Tag nach dem anderen durchzustehen, bei Verstand zu bleiben und nicht daran zu denken, wie schön das Leben auf der anderen Seite des Zauns wäre. Nicht an die Vergangenheit zu denken oder an die Menschen, die er zurückgelassen hatte. An die Nacht im Hafen, wegen der er hier saß. Nicht an die Zukunft zu denken und an die endlosen Tage wie diesem, die noch vor ihm lagen.

Das war seine neue Regel Nummer eins, Gefängnisfassung: Komm mit dem Heute klar. Das Morgen existiert nicht.

Jeden Morgen um sechs wurde abgezählt. Ein lautes Summen dröhnte vom Ende des Gangs her, woraufhin die Wärter kamen und nachsahen, ob auch zwei Männer in jeder Zelle waren. Man hatte bis sieben Zeit, um aus dem Bett heraus und angezogen zu sein. Dann ging die Zellentür auf.

Man schlurfte im Gänsemarsch zum Frühstück. Stand man am Ende der Schlange, musste man schnell essen, denn die Arbeit begann um acht. Mason war der Wäscherei zugeteilt, angeblich einer der leichteren Jobs, aber er hasste es, die dreckigen Sachen seiner Mitgefangenen anfassen zu müssen. Die morgendliche Arbeitsperiode dauerte vier Stunden. Um zwölf gab es Mittagessen, wieder ein Gehetze, wenn man sich am Ende der Schlange befand. Danach eine Stunde Unterricht oder psychologische Betreuung oder einfach Rumhocken in der Zelle. Um zwei ließen sie einen endlich raus.

Das war der Moment, für den Nick lebte, jeden Tag. Wenn er den grauen Wänden und dem Kunstlicht entkommen und die Sonne auf dem Gesicht spüren konnte. Hinterm Zaun die Bäume in der Ferne sah. Wenn er sich die Beine vertreten und über das Gras gehen konnte, diese einfachen Dinge, die er einmal für selbstverständlich gehalten hatte. Oder einfach nur an einem der Tische saß und frische Luft atmete.

Die anderen Gefangenen brachten oft ihre Post mit heraus. Sie lasen ihre Briefe von zu Hause und ließen manchmal sogar die Männer um sie herum daran teilhaben. Auch eine Art von Zeitvertreib.

Mason brachte keine Post mit heraus und hatte kein Interesse an der von anderen. Nachdem der Postkarren vier Jahre lang an ihm vorbeigerollt war, an sechs Tagen die Woche, hatte er gelernt, nichts mehr zu erwarten. Nichts mehr zu empfinden, wenn die anderen sich begierig ihre Briefe schnappten und sie aufrissen.

Noch so eine bittere Lektion des Gefängnislebens: Wenn du dir keine Hoffnungen machst, kannst du auch nicht enttäuscht werden.

An diesem Nachmittag hörte er einen der Männer etwas laut vorlesen, einen lustigen Vorfall, den ihm seine Frau berichtete. Mason saß nahe genug am Spielfeld, um das Spiel verfolgen zu können, aber nicht zu weit weg von den anderen Weißen an den Tischen hinter ihm. Solche Dinge waren ihm inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Der Hof war stets in drei Lager unterteilt, und zu dieser Tageszeit hieß das: Weiße bei den Tischen, Schwarze im Work-out-Bereich, Latinos auf dem Baseballplatz, und man blieb immer bei seinen eigenen Leuten. Verletzte man diese Grenzen zum ersten Mal, bekam man eine Verwarnung. Beim zweiten Mal bekam man, was man verdiente.

Ein Wärter näherte sich ihm, einer von denen, die ein bisschen zu sehr auf Respektsperson machten. Vielleicht, weil er nur knapp eins siebzig groß war und seine autoritäre Haltung jeden Morgen zusammen mit der Uniform anlegen musste.

»Mason«, sagte er.

Mason sah ihn fragend an.

»Kommen Sie mal mit, ja? Jemand will mit Ihnen sprechen.«

Mason rührte sich nicht vom Fleck.

»Auf geht’s, Gefangener. Bewegen Sie sich.«

»Sagen Sie mir zuerst, zu wem es gehen soll.«

Der Wärter trat näher an ihn heran. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und da Mason auf dem Picknicktisch saß, waren sie auf Augenhöhe.

»Wir besuchen Mr. Cole«, sagte der Wärter. »Stehen Sie auf und kommen Sie mit.«

»Mr. Cole arbeitet hier?«

»Nein, er ist auch ein Gefangener.«

Was das auch sollte, es hatte jedenfalls nichts mit der Gefängnisverwaltung zu tun.

»Ich verzichte«, sagte Mason. »Sagen Sie ihm, nichts für ungut.«

Der Wärter stand da, und es war ihm anzusehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Offensichtlich hatte er keinen Plan B.

»So können Sie ihm nicht kommen«, sagte er nur und zog seinen Hosenbund hoch. Dann verschwand er.

Mason ahnte, dass die Sache damit nicht erledigt war. Deshalb überraschte es ihn nicht sonderlich, als er später einen Schatten im Gang vor seiner Zellentür bemerkte. Was ihn allerdings überraschte, war, dass der Schatten nicht dem kleinen Wärter wich, sondern zwei Mithäftlingen, die er noch nie gesehen hatte. Beide waren sie schwarz und sahen aus wie Linebacker von den Chicago Bears, zusammengenommen rund dreihundert Pfund Körpermasse in Gefängniskhaki, die die ganze Tür ausfüllte und das Licht abhielt wie bei einer verdammten Sonnenfinsternis.

Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Das war Regel Nummer zwei, Gefängnisfassung: Keine Schwäche zeigen. Keine Angst zeigen. Einen Scheißdreck zeigen.

»Kann ich euch irgendwie helfen, Leute?«, fragte er. Er saß auf seiner Pritsche und stand nicht auf. »Ihr seht aus, als hättet ihr euch verirrt.«

»Mason«, sagte der Linke. »Mr. Cole will mit dir reden. Ist keine Bitte.«

Mason stand auf. Die beiden blieben ruhig und freundlich.

Sie nahmen ihn in die Mitte, und alle Gefangenen, an denen sie vorbeikamen, starrten ihnen nach. Als sie das Ende des Zellenblocks erreichten, warf der Wärter dort nur einen Blick auf sie und ließ sie kommentarlos hinaus in den Verbindungsgang. Während der wenigen Sekunden, die sie dort allein waren, fühlte Mason sich schwach und verwundbar. Die beiden hätten jederzeit anhalten und Hackfleisch aus ihm machen können. Doch sie gingen weiter, er immer zwischen ihnen. Er sagte kein Wort. Das war die eine Regel, die drinnen genauso galt wie draußen, Regel Nummer drei: Im Zweifelsfall den Mund halten.

Sie kamen am nächsten Aufseher vorbei. Mason befand sich jetzt in der Spezialsicherheitsabteilung, einem separaten Flügel für sogenannte prominente Straftäter. Männer, die man besser vom Pöbel absonderte, ohne dass die Notwendigkeit bestand, sie auch voneinander zu isolieren. Alles wirkte hier ein bisschen neuer und moderner – Glasscheiben vor den Zellen statt Gitter und eine zentrale Wachstation im Obergeschoss, von der der Gemeinschaftsbereich überblickt werden konnte. Manche Männer spielten Karten an den Tischen, andere sahen fern. Mason fiel sofort auf, dass sie sich hier nicht nach Rassen getrennt verteilten. Er sah Weiße, Schwarze und Latinos zusammensitzen, etwas, das es im Normalotrakt nie geben würde.

Seine Begleiter führten ihn zu einer Zelle am äußersten Ende des zweiten Stocks. Das Erste, was er beim Näherkommen bemerkte, waren die vielen Bücher darin. Auf einem der beiden Betten lagen hohe Stapel davon. Das andere Bett war ordentlich gemacht und hatte eine rote Decke, eine sehr viel schönere, als er sie je im Knast gesehen hatte.

Als Nächstes fiel ihm der kahle Kopf des Insassen ins Auge. Er stand mit dem Rücken zur Tür und blickte in den Spiegel, ein Mann von der Sorte, die ebenso gut fünfzig wie fünfundsechzig sein konnte, kein einziges Haar auf dem Schädel, das ihn verriet. Sein Gesicht war so glatt wie sein Kopf, keine Falten. Aber das sah man häufiger bei Lebenslänglichen hier drin, all die Jahre ohne Sonne. Nur seinen Augen war das Alter anzusehen. Er trug eine schmale, randlose Lesebrille, die weit vorn auf seiner Nase saß.

Darius Coles Alter mochte schwer bestimmbar sein, aber dafür war er unzweifelhaft schwarz. Schwarz wie die Nacht, schwarz wie eine linke Gerade von Ali oder ein Riff von Muddy Waters live aus der »Checkerboard Lounge« in einer heißen Sommernacht.

»Nick Mason.« Er klang ruhig und sanft. In jeder anderen Umgebung hätte man ihn für einen friedfertigen Menschen gehalten.

Mason sah sich weiter in der Zelle um und fand immer mehr Verstöße gegen die Vorschriften. Eine Kabellampe mit Glühbirne. Einen Laptop. Eine Teekanne auf einer Heizplatte.

»Mein Name ist Darius Cole«, sagte er. »Kennst du mich?«

Mason schüttelte den Kopf.

»Du bist aus Chicago, oder?«

Mason nickte.

»Mein Name sagt dir trotzdem nichts?«

Mason schüttelte wieder den Kopf.

»Gut. Du sollst ihn auch nicht kennen«, fuhr Cole fort. »Du sollst gar nichts über mich wissen. Das ist deine erste Lektion, Nick: Das Ego eines Mannes bringt ihn schneller um als jede Kugel.«

»Bei allem Respekt«, entgegnete Nick, »ich kann mich nicht erinnern, mich heute für irgendeinen Unterricht angemeldet zu haben.«

Er wartete darauf, dass die beiden Männer ihn packten, stellte sich schon darauf ein, zwei Schraubzwingen an jeder Schulter. Doch Cole lächelte nur und hob die Hand.

»Du musst dir hier drin eine bestimmte Haltung geben«, sagte er. »Das verstehe ich. Aber bei mir kannst du das sein lassen.«

Er zog den Stuhl von seinem Schreibtisch mitten in die Zelle und setzte sich. Dann musterte er Mason eingehend.

»Ich bezahle diesen Wärter jede Woche dafür, dass er Laufereien für mich erledigt. Jetzt lässt du ihn wie einen kleinen Trottel dastehen. Meinst du, er vergisst das?«

Mason zuckte die Achseln. »Wärter vergessen nie etwas.«

»Ist dir wohl komisch vorgekommen, vielleicht hast du deshalb nein gesagt. Warst du denn gar nicht neugierig?«

Mason holte tief Luft, während er sich seine Antwort überlegte. »Wenn ich einem Treffen mit Ihnen zustimme«, sagte er, »ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie etwas von mir wollen. Lehne ich das ab, habe ich Sie nicht nur indirekt beleidigt, sondern von Angesicht zu Angesicht. Damit mache ich Sie mir zum Feind.«

Cole beugte sich ein Stück vor und hörte aufmerksam zu.

»Lasse ich mich aber darauf ein, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es etwas Schlechtes ist, etwas, das ich nicht tun will. Möglicherweise habe ich aber trotzdem das Gefühl, dass ich es tun muss. Also mache ich mir wieder Feinde. Vielleicht sogar viele.«

Cole nickte langsam.

»Deshalb ist die einzig richtige Reaktion für mich …«

»Die einzig richtige Reaktion ist«, unterbrach ihn Cole, »sich gar nicht mit mir zu treffen.«

Cole nickte weiter vor sich hin. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Du hättest nach Marion kommen sollen«, sagte er. »Stattdessen hab ich dich hierher bringen lassen.«

Mason stand wie angewurzelt da und versuchte zu begreifen, was der Mann da sagte. Marion war ein anderes Bundesgefängnis. Wenn man in Chicago von einem Bundesgericht verurteilt wurde, kam man entweder nach Marion oder nach Terre Haute.

»Bringt ihn zurück«, sagte Cole mit einem Winken zu den beiden Kolossen. »Ich bin fertig mit ihm. Für heute.«

Er lächelte immer noch, als Mason hinausgeführt wurde.

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3

Mason erwachte früh, tickte immer noch nach der Gefängniszeit. Er stand auf, ging hinaus auf die Terrasse und blickte über den stillen Park auf die langsam aus dem Wasser steigende Sonne. Dann sah er zu der nächstgelegenen Überwachungskamera hinauf. Zu diesem starren Auge, das ihn beobachtete.

Er ging zurück ins Schlafzimmer und das angrenzende Bad. Die Dusche war ganz mit Natursteinen vom Seeufer ausgekachelt. Er drehte das Wasser weit auf und stellte sich unter den Strahl. Zum ersten Mal seit fünf Jahren hatte er unbegrenzt heißes Wasser, konnte er unbegrenzt lange dort stehen. Er konnte es auf sich prasseln lassen, bis er krebsrot war und vor lauter Dampfschwaden nichts mehr sah. Er spürte, wie die Knoten in seinen Muskeln sich lösten. Bis sich ein weiterer Gefängnisreflex einstellte und die Entspannung zunichtemachte – dieses plötzliche ungute Gefühl, dass Gefahr im Rücken lauerte, dieser Drang, der ihn wohl nie verlassen würde, stets hinter sich zu blicken, sogar unter der Dusche.

Besonders unter der Dusche.

Er stellte das Wasser ab und stand tropfend da. Schob die Glastür auf und tastete durch den Dampf nach einem Handtuch.

»Suchen Sie das hier?«, sagte eine Stimme. Eine Frau stand dort, die ihm mit abgewandtem Blick das Handtuch hinhielt.

Mason nahm es und wickelte es um seine Hüften. Die Frau war etwa in seinem Alter, groß und sehr schlank, gekleidet in ein schwarzes Businesskostüm mit einer korallenfarbenen Bluse. Ihre dunklen Haare waren hochgesteckt. Sie trug kaum Make-up, und nach seinem ersten Eindruck hatte sie das auch nicht nötig.

Er schüttelte das Wasser aus seinen Haaren. »Wer sind Sie?«

»Diana Rivelli. Hat Ihnen niemand was von mir erzählt?«

»Nein.«

Kopfschüttelnd stellte sie die Entlüftung an der Decke an. »Typisch.«

»Das Zimmer am Ende des Flurs«, sagte Nick. »Das abgeschlossen war.«

»Ja«, sagte sie und sah nicht erbaut davon aus, dass er versucht hatte, ihre Tür zu öffnen. »Das ist mein Zimmer.«

Ich habe eine Mitbewohnerin, dachte er.

»Die Kleider auf dem Bett. Die haben Sie für mich gekauft. Das hätten Sie nicht zu tun brauchen.«

»Doch. Trotzdem gern geschehen.«

Er hatte noch mehr Fragen, aber sie war schon hinausgegangen. Er trocknete sich ab und zog sich an, probierte ein paar von den neuen Sachen. Jeans und ein schlichtes weißes Oberhemd.

Als er in die Küche kam, sah er sich noch einmal um und entdeckte eine begehbare Speisekammer. Am anderen Ende gab es noch eine Tür. Er merkte, wie die Temperatur abrupt fiel, als er sie öffnete und das Licht anmachte, dann sah er ein Gitterwerk aus Holz an der Wand mit einer Weinflasche in jeder Öffnung. Hier mussten mindestens dreihundert Flaschen lagern, dazu noch ein Dutzend Champagnerflaschen in einem kleinen Kühlschrank mit Glastür, der auf einem Tisch neben den Korkenziehern und Dekantierkaraffen stand.

Sein erster zellengekelterter Gefängniswein, gemacht aus Obst, das er von seinem Küchenjob herausgeschmuggelt hatte, etwas Zucker, ein paar Toastbrocken, alles in einer Plastiktüte zusammengemanscht und eine Woche lang warm gehalten. Aus jener Welt in diese innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Er schüttelte den Kopf, machte das Licht aus und ging zurück in die Küche.

In einem Schrank unter der Kochinsel fand er eine Bratpfanne, holte ein paar Eier und Käse aus dem Kühlschrank, schnippelte Zwiebeln und eine Paprika. Diana kam die Treppe herunter.

»Möchten Sie ein Omelette?«

Sie setzte sich auf einen Barhocker auf der anderen Seite und betrachtete das Durcheinander. »Okay, das ist schon mal die falsche Pfanne. Wenn Sie ein Omelette machen wollen, nehmen Sie die Omelettepfanne. Außerdem ist das Fett viel zu heiß.«

Mason fuhr mit dem Heber unter den Rand des Omelettes und sah, dass es schon anbrannte. »Ist ’ne Weile her.«

Sie sah zur Seite und strich sich eine lose Strähne hinters Ohr.

»Wo arbeiten Sie?«, fragte er.

»Ich leite ein Restaurant in der Rush Street. ›Antonia’s‹. Kommen Sie heute Abend vorbei und essen Sie dort, sehen Sie sich Ihren neuen Arbeitsplatz an.«

Mason stutzte. »Meinen neuen Arbeitsplatz?«

»Sie sind der stellvertretende Geschäftsführer. Nehmen Sie das Omelette aus der Pfanne. Oder die Rühreier, wie auch immer Sie das jetzt nennen wollen.«

Mason schabte das Ergebnis auf einen Teller.

»Kochen werden Sie nicht«, bemerkte sie. »Nicht böse gemeint.«

»Keine Ahnung, ob ich als zweiter Geschäftsführer mehr tauge. Was weiß ich schon über Restaurants?«

Eddie könnte sich da durchbluffen, dachte er. Er war schon immer groß im Improvisieren gewesen, schon als Kind. Wie oft hatten sie zusammen irgendwelche Dinger gedreht, bei denen Eddie tat, als würde er irgendwo dazugehören, ohne je aufzufliegen?

»Sie bekommen eine Gehaltsabrechnung für den Fall, dass jemand die sehen will. Das Finanzamt, wer auch immer. Abgesehen davon sieht Ihre Stellenbeschreibung so aus, dass Sie sich rar machen und niemandem im Weg rumstehen.«

Mason aß einen Bissen von seinem Omelette. »Was können Sie mir über Quintero sagen?«

»Ich glaube, wir haben noch nie mehr als eine Minute im selben Raum miteinander verbracht. Meinetwegen kann das auch gern so bleiben.«

Mason betrachtete sie. Er kam nicht dahinter, weshalb sie das alles so nüchtern hinnahm, ein gestern entlassener Straftäter, der heute in ihrer Küche stand.

Möchte wissen, ob ich der Erste bin, dachte er. Vielleicht wechseln die sich hier ab wie die Wachsoldaten.

»Wie kommen Sie hierher?«, fragte er. »Was machen Sie hier?«

»Wie gesagt, ich leite ein Restaurant.«

»Gehört es Cole?«

Sie zögerte. »Nicht offiziell. Nicht auf dem Papier.«

»Wie lange kennen Sie ihn schon?«

Sie zögerte erneut. Vielleicht ist sie auch eine überzeugte Verfechterin meiner Regel Nummer sieben, dachte Mason. Privatleben und Beruf streng voneinander getrennt halten. So streng wie angereichertes Uran und die Mullahs im Iran.

»Ich kenne Darius schon lange«, antwortete sie schließlich. »Mein Vater war einer seiner ersten Geschäftspartner. Das Restaurant gehörte ihm.«

»Wo ist er jetzt?«

»Er ist tot«, sagte sie, seinem Blick ausweichend. »Er hat das Falsche zu der falschen Person gesagt. Darius hat sich um diese Person gekümmert und auch um alle anderen, die daran beteiligt waren.«

Mason ließ sie nicht aus den Augen. Sie sprach jetzt von etwas anderem, etwas, das über das Restaurant oder das Besorgen von Kleidern für ihn hinausging. Sie wohnte in Coles Haus und hatte offenbar eine gemeinsame Vergangenheit mit dem Mann. Sie nannte ihn beim Vornamen.

»Sie haben die ganze Zeit hier gewohnt«, stellte er fest. »Seit er nach Terre Haute kam.«

Sie war eine Klassefrau, sagte er sich. Klug genug, um zu wissen, wie attraktiv sie war. Klug genug, um zu wissen, dass sie mit ihrem Aussehen und ihrer Intelligenz so ziemlich alles erreichen konnte.

Aber sie blieb hier.

Sie richtete den Blick auf ihn. »Wir brauchen nicht darüber zu reden«, sagte sie. »Ich muss jetzt zur Arbeit.«

Mason verstand dieses Bedürfnis nach Abgrenzung gut. Alles andere beiseitezuschieben, damit man sich auf das konzentrieren konnte, was man tun musste. Für ihn hatte das geheißen, ein Auto zu stehlen, einen Drogendealer zu überfallen oder, am Ende, in ein Gebäude einzubrechen und einen Safe aufzubohren. Hinterher war er nach Hause gegangen und hatte die Arbeit außen vor gelassen. Er hatte Geld, er hatte Zeit, er konnte seinen Lebensunterhalt bestreiten, bis es nötig wurde, wieder zu arbeiten.

Nun bemerkte er das Gleiche bei Diana, dieses Bestreben, sich auf den Job zu konzentrieren und alles andere davon fernzuhalten. Ihr Vater wird ermordet, und Cole »kümmert sich darum«. Sie wohnt hier mit ihm und bleibt hier wohnen, auch noch Jahre nachdem er fort ist. Sie steht jeden Morgen auf und geht zur Arbeit.

Sie macht ihren Job.

Wenn er nur wüsste, wie sein Job aussehen würde.

»Können Sie mir sagen, was ich hier tun soll?«, fragte er. »Außer im Restaurant nicht im Weg zu sein?«

»Das ist eine Sache zwischen Ihnen und Darius.«

»Ich habe das Gefängnis gehasst, aber wenigstens weiß man da, was man zu erwarten hat. Auf die Minute genau. Jetzt habe ich nicht die geringste Ahnung, was auf mich zukommt.«

Er dachte an den auf zwanzig Jahre angelegten Vertrag, den er mit Cole geschlossen hatte, und dass nur Cole wusste, was wirklich darin stand.

»Wenn es so weit ist«, sagte Diana, »tun Sie einfach genau, was man Ihnen sagt. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Diese Kameras da draußen«, sagte er und deutete mit einem Nicken auf den Pool. »Stören die Sie nicht?«

Sie sah hinaus und zuckte die Achseln. »Ich nehme die gar nicht mehr wahr.«

»Er hätte mich sonst wo unterbringen können«, sagte Mason. »Warum hier? Warum bei Ihnen? Damit Sie mich im Auge behalten? Gehört das zu Ihren Aufgaben?«

»Vielleicht gehört es ja zu Ihren Aufgaben, mich im Auge zu behalten.« Damit nahm sie ihre Handtasche, fischte die Schlüssel heraus und ging die Treppe hinunter.

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4

Nach fünf Jahren ohne einen Besuch oder einen Anruf wusste Nick Mason nicht, ob es das Leben, das er zurückgelassen hatte, überhaupt noch gab, aber er musste nachsehen.

Er begutachtete die Kleider in seinem Zimmer und zog ein schwarzes Sakko über seine Jeans und das weiße Hemd. Unten in der Garage sah er, dass der Schlüssel des Mustang im Zündschloss steckte. Er war seit fünf Jahren nicht mehr Auto gefahren. Er machte das Garagentor auf, legte den Rückwärtsgang ein und stieß hinaus auf die Straße. Dann fuhr er Richtung Süden.

Wenn man in Chicago aufgewachsen ist, weiß man, dass es eine Stadt vieler unterschiedlicher Viertel ist, ein großer Flickenteppich aus sich voneinander abgrenzenden Gemeinden, der vom Ufer des Lake Michigan weit in drei Himmelsrichtungen reicht. Jedes Viertel hat seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Lebensweise und seine eigene Küche – von der dicken Pizza mit hohem Rand in Streeterville über die Piroggen in Avondale bis hin zu gebratener Klapperschlange in La Villita.

Und wenn man wie Nick Mason in der offiziell so genannten »New City« aufgewachsen ist, weiß man, dass sie eigentlich aus zwei Stadtteilen besteht: Back of the Yards und Canaryville. In Back of the Yards trifft man die Kinder mit den polnischen Nachnamen an, die Enkel und Urenkel der Männer, die in dem großen Fleischverarbeitungsbetrieb Union Stock Yards gearbeitet hatten. Auf der anderen Seite der ehemaligen Schlachthöfe liegt Canaryville. Dort trifft man die irischstämmigen Kids an. Mit Namen wie Eddie Callahan oder Finn O’Malley. Oder halb irischen, halb sonst was Namen wie Nick Mason.

Eddie war der Cleverste von ihnen dreien. Ein kleiner rothaariger Junge mit Sommersprossen, dabei aber kräftig gebaut wie ein Fullback. Erstaunlich schnell, wenn es sein musste. Er redete nicht immer wie ein Kind aus Canaryville. Seine Eltern waren sogar beide meistens anwesend.

Finn war groß und unterernährt und hatte einen gehetzten Blick, der auf manche Mädchen unwiderstehlich wirkte und auf alle anderen Leute beunruhigend. Seine Mutter arbeitete in dem Lebensmittelgeschäft an der Ecke, und sein Vater war meistens verschwunden oder saß in einer der Bars an der Halsted Street.

Nicks Mutter zog von einer winzigen Wohnung in die andere und war manchmal auf Almosen der St.-Gabriel-Kirche angewiesen. Er hatte eine verschwommene Erinnerung an irgendwelche Männer, die zu Besuch kamen, wusste aber nicht, ob einer davon sein Vater war, sosehr er sich auch den Kopf darüber zerbrach. Hin und wieder litt er darunter, aber dann sagte er sich, was soll’s, ist wahrscheinlich eh nur irgendein Loser aus der Gegend, der vielleicht noch lebt, vielleicht auch nicht. Zuweilen überlegte er sogar, was er tun würde, wenn er einem älteren Mann in der Kneipe begegnete und eine auffallende Ähnlichkeit sah. Er wusste ehrlich nicht, was dann passieren würde, aber vermutlich nichts Gutes.